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    Post [Story]Eine Woche Schnee. Notizen einer Nordmarreisenden

    Eine Woche Schnee
    - Notizen einer Nordmarreisenden -



    für Ajnif


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    Geändert von John Irenicus (09.01.2018 um 18:43 Uhr)

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    Blitz und Donner zuckten am Himmel, als sich der große, böse Troll vor der kleinen Nina aufbaute. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, so sehr, dass sie nicht einmal mehr weglaufen konnte.
    Troll: Na, was haben wir denn da? Ein kleines Menschlein, das passende Betthupferl nach einem anstrengenden Tag!
    Nina: Du … du hast doch den ganzen Tag über nur geschlafen, ich habe es genau gesehen! Du brauchst jetzt kein Betthupferl!
    Troll (lachend): Harhar, kleines Menschlein! Was weißt du schon! Ein Troll bestimmt, wann ein Troll ein Betthupferl braucht, da haben Menschen, ob groß oder klein, nicht mitzureden!
    Nina: Das ist nicht fair! Und überhaupt: Woher kannst du eigentlich unsere Sprache so gut?
    Das riesige, behaarte Wesen beugte sich zur ihr herunter und fletschte seine Zähne. Jetzt war es wohl aus.
    Troll: Weil mich schon so viele Menschen im Angesicht ihres Todes um Gnade angefleht haben.
    Der Troll streckte seine riesige Pranke aus und war kurz davor, sich Nina zu schnappen, als

    Krümel landeten auf dem Papier. Sie kamen von einer Apfeltasche.
    „Kommt jetzt endlich mein Auftritt? Jetzt muss doch der Lord kommen und den Troll erlegen, mit nur einem einzigen Schuss!“
    Alina entfuhr ein entnervter Seufzer. Sie schaute rauf zu Rogas, der sich neben den Schreibtisch gestellt hatte, und bemühte sich um einen angemessen strengen Blick. Aber da war es wieder, dieses schalkhafte Grinsen. Es war manchmal schon ein Kreuz, mit einem Mann zusammen zu sein, dem man einfach nicht böse sein konnte.
    „Mit einem einzigen Pfeil“, wiederholte Alina lakonisch. „Ich habe nicht die Absicht, eine schlechte Geschichte zu schreiben, und deshalb sollte sie auch nicht schlecht werden. Und überhaupt, sie sollte wenigstens fertig werden, aber mit den ständigen Unterbrechungen und Ablenkungen wird das auch schwierig. Du hast da echt ein Talent für, mich vom Schreiben abzuhalten, Rogas! Wenn das auf der Reise auch so geht, dann setze ich dich noch in Faring wieder aus, darauf kannst du aber wetten!“ Alina hatte mit halbwegs verärgertem Tonfall begonnen, musste gegen Ende aber trotzdem selbst schmunzeln und sogar ein Lachen unterdrücken. Ob daran das Lächeln ihres Liebsten schuld war oder doch eher die Vorstellung, wie sie Rogas alleine in Faring stehen ließ, das konnte sie nicht genau sagen.
    „Nichts da“, konterte Rogas. „Eine Frau hat nicht ohne ihren Mann zu verreisen. Irgendjemand muss doch an deiner Seite sein, um dich im Ernstfall zu beschützen!“
    Alina überlegte kurz. „Wenn mir das Beschützen nicht beim Schreiben in die Quere kommt, dann kannst du gerne auch das tun. Und jetzt gib mir wenigstens noch ein paar Minuten, damit ich das hier zu Ende schreiben kann. Du weißt doch, wie Nina ist, wenn sie ihre Gute-Nacht-Geschichte nicht bekommt. Das will ich meiner Mutter nicht zumuten, wenn sie sich doch schon bereiterklärt hat, auf die Motte aufzupassen. Dann muss ich ihr wenigstens diese Geschichte hier vorschreiben, damit sie die vorlesen kann.“
    „Ich weiß, ich weiß“, sagte Rogas und legte Alina die Hände auf die Schultern. „Du machst das schon. Genau so, wie du den Wettbewerb auch gewinnen wirst. Auch wenn ich immer noch nicht viel davon halte, dass du bei diesem Magazin anfangen willst. Die Goth’sche Zeitung ist doch ein renommiertes Blatt, da hast du deine Stelle doch sicher!“
    Alina legte die Feder zurück ins Tintenfass und sah Rogas über ihre Schulter hinweg an. „Die Diskussion hatten wir jetzt schon so oft. Nichts gegen die Goth’sche Zeitung, aber für den Midländischen Kurier wollte ich schon immer schreiben. Ich habe doch nur deshalb überhaupt erst angefangen, für die Journaille zu arbeiten. Und ich muss dich wohl nicht daran erinnern, mit was für Schweinkram ich damals notgedrungen angefangen habe.“
    „Nein, musst du nicht“, sagte Rogas, setzte sich in neckischer Pose auf den Schreibtisch, an dem Alina saß, und verschlang den letzten Rest seines Nachmittagsimbisses. „Ist ja gut, ich verstehe es ja. Aber sei nur nicht enttäuscht, wenn es doch nicht klappen sollte.“
    Alina schüttelte den Kopf. „Bin ich nicht. Ich wäre nur enttäuscht, wenn ich es nicht wenigstens versuchen würde. Das ist alles.“
    „Mama, Papa, darf ich noch eine Apfeltasche?“, schallte es aus der Küche. Kurze Zeit später kam Nina in den Wohnraum ihres kleinen Hauses gerannt. Zielsicher steuerte das Mädchen auf ihren wartenden Vater zu, der sie sogleich in seine Arme schloss. Alina zwinkerte ihrer Tochter zu und wandte sich sodann an Rogas. „Ja, das ist doch eine gute Idee“, sagte sie dann. „Der Papa isst mit dir in der Küche noch eine Apfeltasche, ja? Und dann liest er dir noch was aus dem Grummelgnom vor.“
    „Au jaa!“, rief Nina und rannte schon einmal in die Küche vor. Rogas konnte nicht anders, als grinsend mit den Schultern zu zucken und seiner Tochter zu folgen. Alina seufzte erneut und griff wieder nach dem Federkiel. Ein paar Zeilen noch, dann war sie fertig. Fertig für heute. Denn morgen ging es erst richtig los.

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    „Und ihr seid euch auch wirklich sicher, dass ihr alles habt?“, fragte Hilde und musterte Alina mit typischer Miene: Durchaus zugetan und wohlwollend, aber eben auch leicht besorgt.
    „Ja, sind wir, Mutter“, gab Alina in gleichfalls typischem Tonfall die Antwort: Durchaus dankbar für die mütterliche Fürsorge, aber eben auch leicht genervt. „Rogas packt gerade noch ein paar Wechselklamotten in den Gepäckraum, und dann sind wir auch schon startklar.“ Sie warf einen Blick über die Schulter und beobachtete, wie sich Rogas dabei abmühte, eine Reisetasche in den Gepäckraum am hinteren Ende ihres kleinen Pferdewagens zu quetschen. Schnell wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu.
    „Und bei dir ist auch alles klar? Wo was ist, weißt du ja. Danke, dass du in der Zeit das Haus und die Motte hütest.“ Alina biss sich beinahe auf die Zunge.
    Hilde zog ihre dünnen Augenbrauen hoch. „Die was? Motte?“
    „Ähm, ja, ich meine, Nina, also, wir nennen sie manchmal so“, erklärte Alina etwas ertappt. „Sie mag das!“
    Hilde öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, da wurde sie unterbrochen.
    „Oooomaaa, guck mal! Ich hab schon alles vorbereitet zum Basteln!“
    Nina kam aus dem kleinen Haus herausgelaufen und zupfte Hilde ungeduldig am Rocksaum herum.
    „Sieh zu, dass du artig bist, während wir weg sind“, sagte Alina, während sie Nina am Kopf streichelte und ihre blonden Haare etwas verwuschelte. „Und dass du auf Oma hörst, wenn sie dir was sagt! Denk dran, Weihnachten ist nicht mehr lang hin. Bis dahin musst du schön brav sein!“
    „Ja okay“, sagte Nina und nickte artig. Dann: „Oma, kommst du jetzt?“
    „Jaja, mein Schätzelein“, sagte Hilde und verwuschelte Ninas Haar noch ein bisschen weiter. „Geh schonmal vor, ich komme gleich.“
    Nina rannte los, wurde aber noch einmal von Alina aufgehalten. „Na, willst du dich nicht noch einmal verabschieden?“, fragt sie.
    Nina stutzte, überlegte kurz. Dann nickte sie lächelnd. „Tschüss Mama“, sagte sie. Und etwas lauter: „Tschüss Papa!“ Rogas blickte kurz von seinen nicht enden wollenden Tätigkeiten am Wagen auf und winkte zum Abschied, aber das sah Nina schon gar nicht mehr, denn sie war wieder ins Haus hineingerannt.
    „Naja, dann vermisst sie uns wenigstens nicht so doll“, murmelte Alina leicht amüsiert. „Du kannst ihr ruhig einmal Apfeltaschen backen, wenn sie will“, sagte sie, wieder an ihre Mutter gewandt. „Aber nicht zu viele! Sie weiß da noch nicht wann genug ist beim Essen. Und wenn sie abends quengelt, ich habe die Gute-Nacht-Geschichte vorgeschrieben, habe ich dir ja gezeigt.“
    „Ja …“, begann Hilde, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Aber sag mal, Linchen … meinst du denn, das ist für Nina überhaupt geeignet? Sie ist doch noch so ein zartes Persönchen! Und dann gleich was mit Trollen, die Menschen fressen …“
    Alina winkte amüsiert ab. „Ach“, sagte sie. „Du würdest dich wundern, was Nina für Fantasien hat. Warte mal ab, bis sie selbst irgendwann schreiben kann und sich Geschichten ausdenkt. Dagegen sind meine Gute-Nacht-Geschichten dann wirklich nur noch harmlos.“
    „Ja aber meinst du denn nicht -“
    „So, Gepäck ist drin, ich wäre dann so weit! Von mir aus können wir!“, rief Rogas aus der Ferne zu ihnen herüber. Er tätschelte Peter, ihren alten Gaul, den sie vor den Wagen gespannt hatten, demonstrativ an der Seite.
    „So Mutter, das wär’s dann“, sagte Alina und fiel ihrer Mutter um den Hals. „Danke noch einmal, dass du das für uns machst. Sonst ginge das ja gar nicht. In einer Woche sind wir dann wieder da.“
    „Na schön“, sagte Hilde, und verkniff sich weitere sorgenvolle Nachfragen. „Dann wünsche ich euch viel Spaß. Fahrt vorsichtig!“
    Alina wandte sich ab, um die Abschiedszeremonie zu beschleunigen. Wenig später war Hilde im Haus verschwunden und hatte die Tür geschlossen, um die Winterkälte nicht in die Stube hineinzulassen.
    Alina ging zum Pferdewagen herüber, der auf einem kleinen Vorplatz vor ihrem Häuschen, welches etwas außerhalb von Montera gelegen war, bereitstand. Rogas lächelte sie stolz an, als er sich auf den Fahrersitz schwang und die Zügel in die Hand nahm. Nachdem Alina kontrolliert hatte, ob das kleine Gepäckfach hintendran auch wirklich sicher geschlossen war, stieg sie auf den Wagen auf.
    „Und du bist dir sicher, dass du fahren willst, Rogas?“, fragte sie, als sie Platz nahm und noch einmal ihre Mütze zurechtrückte. Die Winde waren heute wirklich biestig, und Rogas hatte schon ganz rote Ohren bekommen. Ein offener Wagen war nochmal etwas anderes als eine geschlossene Kutsche, das würden sie auf der Fahrt noch ordentlich zu spüren bekommen.
    „Na klar, wozu habe ich denn meinen Kutschenschein gemacht?“
    „Aber du hast ihn doch erst seit einer Woche!“
    Rogas raffte die Zügel. „Ach, und wenn schon!“
    Sprach’s, und gab den Zügeln einen Ruck. Peter setzte sich in Bewegung. Die Fahrt begann.

    „Bei Innos, Rogas, pass doch auf! Hast du nicht gesehen, wie knapp das war?“
    „Ach was“, meinte Rogas, den Blick stur nach vorne gerichtet, während sie unaufhaltsam über die unebene Straße rollten. „Da war doch noch mindestens eine Handbreit Platz zwischen!“
    Alina drehte sich auf dem Wagen um und schaute nach hinten, sie sah noch, wie der Fahrer des Milchwagens, der ihnen entgegengekommen war, wütend die Faust gen Himmel reckte, während die großen Kannen auf seiner Ladefläche gefährlich wackelten. Alina drehte sich wieder zurück und schüttelte stumm den Kopf. Wenn das mit Rogas’ Fahrweise so weiterging, würde sie bald selbst die Zügel in die Hand nehmen müssen.
    Sie waren schon eine Weile gefahren, und die Straße nach Montera war schlecht wie eh und je. Schlaglöcher, Unebenheiten und im Weg liegende Steine oder gar Baumstämme erschwerten ihre Reise. Die Wetterbedingungen – trüber Himmel, kalter Wind – machten es auch nicht gerade besser. Immerhin regnete es nicht, aber das wollte Alina mal lieber nicht beschreien.
    Bis nach Faring war es nur noch ein kleines Stück, sie hatten bereits die Steinbrücke überquert, und hoch über ihnen im Berg ragte die alte Burg der Paladine hinauf. Man konnte Rogas zugute halten, dass er sehr stramm fuhr und ihren Gaul nicht trödeln ließ. Das war dann aber auch wirklich schon alles, was Alina dem Fahrstil ihres Lebensgefährten abgewinnen konnte.
    Alina zog sich ihre Mütze etwas tiefer, damit sie wieder über den Ohren auflag. Sie fror jetzt schon ein bisschen, dabei würde es mit der Kälte in Nordmar erst so richtig losgehen. Sie hoffte außerdem, dass im hohen Norden ihre Schreibutensilien nicht versagen würden. Wenn die teure Spezialtinte nicht hielt, was Sanford versprochen hatte, dann würde Alina ihn Mores lehren – aber mitten unter den Nordmarer Gletschern würde ihr diese Aussicht auch nicht helfen, denn dann würde sie so oder so erst einmal ziemlich aufgeschmissen sein.
    Alina vertrieb diese unguten Gedanken, als sie sich dem Tor Farings näherten. Nach dem Ende des Orkkriegs und der Versöhnung mit ihren einstmaligen Feinden – Innos sei Dank! – war die Wirtschaft Myrtanas wieder aufgeblüht, die Wirtschaft der umliegenden Reiche, insbesondere des Reichs Nordmar, jedoch noch weiter ins Wanken geraten. Man hatte sich schließlich darauf geeinigt, den freien Warenverkehr durch Zollvorgaben einzuschränken, damit das wirtschaftliche Gleichgewicht der Reiche nicht noch größere Unwucht bekam – so hatte es Alina jedenfalls damals in ihrem entsprechenden Artikel in der Goth’schen Zeitung formuliert. Da nun oben auf der Bergstadt Faring am Übergang zum Pass schon aus topographischen Gründen eine Zollgrenze nicht sinnvoll zu organisieren war, hatte man aus Faring eine Art Sonderwirtschaftszone gemacht, bei der bereits unten am Fuße der Stadt an ihrem Eingang Kontrollen durchgeführt wurden, die mal mehr, mal weniger streng ausfielen.
    Heute waren zwei Wagen vor ihnen, direkt am Eingangstor wurde ein dick in Tüchern eingekleideter Händler aus Varant von zwei missgelaunten Zöllnern kontrolliert, was den Südländer nach und nach ebenso immer unleidlicher und vor allem lauter werden ließ.
    Alina schüttelte den Kopf. Das war kein Zufall, dass sie gerade ihn so gängelten. Sie und Rogas würden sie wahrscheinlich einfach durchwinken.
    „Frische Fische! Ich habe es doch gesagt, es sind frische Fische! Natürlich sind die noch frisch! Ja meint ihr denn, ich habe die aus Bakaresh bis hier hoch gefahren? Ich habe die aus Silden! Aus S-I-L-D-E-N!“ Das an den Wagen angespannte schwarze Ross schnaubte laut auf, wie um die Worte seines Lenkers zu bekräftigen.
    Rogas drehte sich zu Alina um. „Hoffentlich dauert das jetzt nicht ewig“, sagte er. Alina konnte sich nur zu einer hilflos-zustimmenden Geste durchringen. Sie überlegte, ob sie das auch in ihre Reportage aufnehmen sollte. Eigentlich hatte sie erst ab dem Pass damit beginnen wollen, aber …
    „Diese Wüstenheinis … sie versuchen’s halt immer wieder, was?“
    Alina schreckte auf. Die Stimme kam ihr entfernt bekannt vor. Der Fahrer des prächtigen Kutschwagens mit dem Doppelgespann vor ihnen hatte sich zu ihnen umgedreht. Die kleine Mütze auf seinem Haupt ließ nur wenig Kopfhaar erkennen, im dicken Mantel steckte ein bulliger Körper, das Gesicht war von einem dichten Vollbart umgeben. Der war neu, aber Alina erkannte den Mann trotzdem.
    „Das darf doch jetzt nicht wahr sein …“
    „Alina! Na das ist ja mal eine Überraschung!“
    „Ihr kennt euch?“, fragte Rogas dazwischen, und Alina war sich nicht sicher, ob sie da eine Spur Eifersucht heraushörte. Wenn, dann hätte es Alina ihm fast übel genommen. Mit Vincent van Fronio hätte sie sich nicht einmal abgegeben, wenn er der letzte Mann Myrtanas gewesen wäre.
    „Ich darf mich vorstellen: Vincent van Fronio. Für euch natürlich nur Vincent.“
    Der Vincent van Fronio?“, fragte Rogas verblüfft. „Vom Khoriner Tageblatt? Ich dachte, Ihr würdet ganz anders aussehen.“
    Vincent rückte seine Mütze zurecht. „Nun, ich bin recht wandelbar. Ist es okay, wenn wir beim vertraulichen ’Du’ bleiben? Ich bin übrigens ganz angetan, dass man hier auf dem Festland offenbar meine Artikel liest.“
    „Der liest sowieso alles“, schnitt Alina dazwischen. „Vincent, ich traue mich ja kaum zu fragen, aber was machst du hier? Korrespondenz für das Tageblatt?“
    Vincent grinste. „Könnte man denken, was? Nein, ich bin heute mal auf eigene Rechnung unterwegs. Hast du die Anzeige im Midländischen Kurier gesehen? Sie suchen einen neuen Redakteur, aber weil die natürlich nicht jeden nehmen, haben die einen Wettbewerb ausgeschrieben. Wer bis in zehn Tagen die beste Reisereportage abgeliefert hat, bekommt die Stelle.“
    „Daran nimmt Alina auch teil!“, sagte Rogas nicht ohne Stolz in der Stimme. Alina hätte ihn am liebsten vom Fahrersitz geschubst.
    „Ist das wahr?“, fragte Vincent. „Dann auch Nordmar, nehme ich mal an? Was für ein Zufall. Dann sind wir ja quasi Konkurrenten. Fast wie in alten Zeiten, was, Alina?“
    „Ja“, brachte Alina unter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wie in alten Zeiten.“
    „Na, dann hoffen wir mal, dass wir uns nicht so sehr in die Quere kommen, was?“, sagte Vincent, und rückte erneut seine schwarze Mütze zurecht. „Also, ich hoffe das mal ein bisschen für dich mit.“ Er lachte. Dann warf er einen Blick nach vorne, und bemerkte, dass ihn die beiden Zöllner bereits erwartungsvoll bis drängelnd ansahen. Der Händler aus Varant war schlussendlich doch eingelassen worden. Vincent wandte sich noch einmal kurz an Alina und Rogas. „Und schon bin ich dran! Wurde ja auch Zeit, dass der Sandmann mal zu Potte kommt, was? Frische Fische, dass ich nicht lache … naja, dann sehen wir uns ja vielleicht später noch, was? Viel Erfolg!“
    Vincent wartete nicht mehr auf eine Antwort, sondern ließ seine beiden Pferde ein Stück nach vorne laufen, um sich den Zollbeamten zu nähern.
    „Ich wusste ja gar nicht, dass du Vincent van Fronio kennst“, sagte Rogas erstaunt.
    „Wir haben damals zusammen unsere Ausbildung gemacht. Er und ich waren die besten im Kurs, wir haben beide mit 1,0 abgeschlossen.“
    „Das wundert mich bei Vincent van Fronio nicht … also, bei dir natürlich auch nicht, aber da weiß ich das ja eh. Aber Vincent schreibt schon ganz hervorragend!“
    Alina war nicht danach zumute, einen Streit vom Zaun zu brechen. „Dann hoffen wir mal, dass er wenigstens dieses eine Mal nicht so hervorragend schreibt“, sagte sie.
    Sie blickte nach vorne zum Tor, weil jemand gerufen hatte. Die Wachleute hatten Vincent längst durchgewunken.
    „Wollt ihr jetzt rein oder was? Fahrt einfach durch, wir haben jetzt eh Schichtwechsel.“

    Für Alina war es nicht das erste Mal, dass sie Faring besuchte. Sie war schon oft hier gewesen, meistens beruflich. Aber die in den Hang gebaute Bergstadt bot jedes Mal aufs Neue einen spektakulären Anblick. Sie bot allerdings auch jedes Mal aufs Neue eine große Herausforderung, wenn es darum ging, sie auf den steilen Wegen zu erklimmen. Das musste auch Rogas erkennen, der Faring zwar auch schon von vormaligen Besuchen kannte, nicht aber als Führer eines Pferdewagens. Das Manövrieren den Berg hinauf machte ihm sichtlich zu schaffen, und Alina begann sich zu fragen, wer hier eigentlich der Angestrengtere war: Rogas, oder Peter, ihr Gaul, der duldsam der Steigung trotzte. Noch dazu herrschte auf den engen Wegen ein enormer Verkehr – stehend und fließend. Nach einigen Beinahe-Unfällen und Fast-Kollisionen mit Marktständen, Lagerhäusern oder deren Erkern, Lagerarbeitern oder deren Waren, umherstreunenden Hühnern und fremden Fuhrwerken in gleicher oder Gegenrichtung, hatten sie es doch noch bis auf das Plateau direkt unter der Burg geschafft, auf dem die Mietställe standen. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Ausblick nicht nur auf die unter ihnen liegende Stadt und das darin stattfindende allgemeine Gewusel, dem sie gerade entronnen waren. Auch konnte man fast das gesamte Tal überblicken, bis nach Gotha, bei guter Wetterlage noch viel weiter. Im Frühling und im Sommer präsentierten Wiesen und Wälder ein Farbenmeer, hauptsächlich aus grün, gelb und blau. Jetzt war alles eher grau, aber trotzdem bot die Landschaft noch ein schönes Motiv. Wäre Alina im Auftrag der Goth’schen Zeitung unterwegs gewesen und hätte sie Graham als Zeichner dabeigehabt, sie hätte ihm erst einmal eine halbe Stunde Zeit gegeben. Auf dieser Reise aber war sie auf sich allein gestellt. Also, fast allein.
    „Siehst du, ich habe doch gesagt, dass ich das schon hinkriegen werde“, sagte Rogas und fischte sich beiläufig zwei Hühnerfedern aus den Haaren. „Ugo war ein hervorragender Fahrlehrer!“
    Alina sagte dazu nichts. Sie stieg vom Wagen ab und ging zur hinteren Klappe, um ihr Gepäck dort herauszuholen. Sie klemmte. Auch sanfte Gewalt vermochte die Luke nicht zu öffnen.
    „Lass mich das mal lieber machen“, sagte der herbeieilende Rogas. „Ich musste das ein bisschen quetschen. Ich krieg das schon wieder auf, geh du schonmal in den Stall und melde uns an, ich komme dann nach.“
    „Danke“, sagte Alina nur. Im Vorbeigehen warf sie noch einen verstohlenen Blick über die Schulter und sah, wie Rogas sich bereits in unmöglicher Pose mit dem Fuß gegen den Wagen stemmte, um die Gepäckklappe zu öffnen. Alina schmunzelte, musste sich ein Lachen verkneifen.
    Im Stall war nicht allzu viel los. Die Mietställe waren insbesondere für Reisende Richtung Nordmar geschaffen worden, deren Pferde üblicherweise nicht für die dortige Witterung geschaffen waren. Jetzt im beginnenden Winter trauten sich nur die allerwenigsten, eine solche Reise zu unternehmen. Alina hatte das aber nicht abgeschreckt. Sie hatte es ganz mit Rogas gehalten: In Nordmar war es eh immer kalt, was kümmerte da schon die Jahreszeit?
    Alina steuerte an den mal bewohnten, mal leerstehenden Pferdeboxen links und rechts von ihr vorbei und bewegte sich auf den korpulenten Mann zu, der hinter einem behelfsmäßigen Schreibtisch zwischen Heu und Dreck über dem Geschehen wachte. Es war Flint, der Besitzer der Mietställe. Alina konnte sich an ihn von ihrem letzten Besuch erinnern, Flint schien sie aber nicht wiederzuerkennen.
    „Ja bitte?“, fragte er, das Kinn auf seine gefalteten Hände gestützt. Er verzog ein wenig die Nase, was bei dem allgegenwärtigen Geruch von Pferden und deren Mist auch nicht weiter verwunderlich war. Offenbar gewöhnte man sich daran einfach nicht, selbst wenn man jeden Tag mehrere Stunden in dieser Duftwolke verbrachte.
    „Ich brauche einen Stall, also eine Box, für eine Woche.“ Alina nestelte an ihrem Gürtel herum, um den daran befestigten Goldbeutel loszubinden.
    Flint zog die Augenbrauen hoch. „Tut mir leid, die Boxen sind nur für Pferde vorgesehen.“
    Alina stutzte kurz und öffnete dann den Mund zu einer Erwiderung, aber Flint kam ihr mit einem Lachen zuvor. „War nur ein Witz“, sagte er dann. Er hatte nun den Kopf von den Händen genommen und wirkte nicht mehr ganz so gelangweilt. „Aber wo ist denn dein Pferd?“
    „Das kommt gleich“, sagte Alina, die den Witz nicht so richtig lustig fand, aber trotzdem wohlwollend grinste. „Mein Lebensgefährte ist noch damit beschäftigt, die … ach, da kommen sie auch schon!“
    Rogas kam durch das offene Stalltor hinein, er führte Peter an den Zügeln hinter sich her, und Peter zog den Wagen hinter sich her. Über den Schultern trug Rogas ihre beiden Gepäckbündel.
    „Die Klappe ist beim Aufmachen … kaputtgegangen“, sagte Rogas etwas atemlos. „Ich weiß auch nicht, es ist irgendwie passiert. Aber naja, man kriegt das sicher irgendwie geflickt.“
    „Solange mir das nicht angehängt wird“, meinte Flint. „Ich nehme dann mal an, eine Box für Pferd und Wagen? Eine Woche, habt ihr gesagt?“
    „Korrekt“, sagte Alina und reichte Flint den Goldbeutel. „Ist schon abgezählt.“
    Der Stallbesitzer wog den Beutel kurz in der Hand, schaute seltsam nach oben ins Leere, und nickte dann. Alina hielt es nicht für möglich, dass Flint die Anzahl der Münzen anhand ihres Gewichts so exakt abschätzen konnte. Vermutlich tat er einfach nur gerne so.
    „Irgendwelche Besonderheiten bei eurem Piotr? Irgendetwas, was er nicht verträgt, irgendwelche besonderen Bedürfnisse?“
    „Peter“, korrigierte Alina. „Er ist alt, sonst ist mit ihm nichts Besonderes. Er isst alles, was andere Pferde auch essen.“
    „Wenn mit Peter irgendwas ist, wenn wir wieder da sind, gibt’s Ärger“, fügte Rogas mit deutlichem Ernst in der Stimme hinzu. „Von mir und von meiner Tochter!“
    „Für Altersschwächen keine Haftung“, sagte Flint ungerührt und wies beiläufig auf eine große Pergamentrolle mit unzähligen Paragraphen, die an einen der hölzernen Stützpfeiler angenagelt war. Dann ging er an eine der Boxen, löste das Seil, welches das Gattertor zuhielt, und öffnete es.
    „Ihr bekommt Box Nummer 5. Dann führt euren Piotr mal rein.“

    „Ich hoffe mal, der Kerl kümmert sich vernünftig um Peter“, sagte Rogas schnaufend, während Alina mit ihm den verschlungenen Pfad hinauf zum Pass beging. Er trug schwer, denn er hatte darauf bestanden, nicht nur seines, sondern auch Alinas Gepäckbündel hinaufzutragen. „Fand ich auch ein bisschen unschön, das mit der Boxnummer. Irgendwie lieblos. Und Peters Namen konnte er sich auch einfach nicht merken.“
    Alina winkte ab. „Flint weiß schon, was er macht. Er genießt einen guten Ruf. Für Pferde hat er ein Händchen. Manche sagen, er denkt sogar selbst wie ein Pferd.“
    „Das habe ich auch gelesen“, meinte Rogas. „In der Nordkreiser Postille. Aber man darf ja auch nicht alles glauben, was stimmt.“ Er grinste. Alina grinste zurück.
    Sie mussten einige Wendungen und Windungen auf dem Gebirgspfad hinter sich bringen. Obwohl die Luft hier oben kühler wurde, wurde es Alina immer wärmer. Immer wieder warf sie einen Blick hinauf zur alten Burg der Paladine. Vincent van Fronio hatte mal eine kleine Reportage darüber geschrieben, wie er auf der Suche nach Geistern eine ganze Nacht in einer nicht mehr benutzten Kemenate verbracht hatte. Der Artikel war ziemlicher Schund gewesen, aber doch sehr unterhaltsam, wie Alina zugestehen musste. Vincent hatte einfach von Natur aus eine sehr launige Schreibe. Ein paar Witzchen allein würden die Redaktion des Midländischen Kuriers aber nicht beeindrucken.
    „Da vorne“, sagte Rogas, hörbar bemüht, sein Keuchen zu unterdrücken. Sie hatten gerade die Palisaden der alten, verlassenen Kontrollstelle durchquert. Kein Grenzer war da, der sie hätte anhalten können. Alina war sich deshalb nicht einmal mehr sicher, wo die Grenze genau verlief. Als es dann aber zu schneien anfing und der karge Boden von einer Meter für Meter dichter werdenden Schneedecke geziert wurde, war sie sich sicher, dass sie jetzt auf nordmarischem Gebiet wandelten. Die steilen Gebirgshänge und die mächtigen Tannen, die ihren Weg säumten, taten ihr Übriges.
    Alina zog ihren Mantel enger an sich heran und blickte in die Richtung, in die Rogas wies. Einige Meter in der Ferne zäunten hohe, vom Schnee weiß berieselte Holzlatten Goroks Schlittenverleih ein. Alina und Rogas folgten den Spuren, die bereits in den Schnee getreten waren, und betraten das Gelände. Mehrere Zelte bildeten fast ein kleines Dorf, in dessen Zentrum ein kleines Backsteinhäuschen stand. Alina und Rogas steuerten gerade darauf zu, als sie von rechts aus einem der großen Zelte eine Stimme hörten.
    „Dann besten Dank! Ich werde dich auf jeden Fall in meiner Reportage erwähnen, versprochen!“
    Ein schleifendes Geräusch ertönte, die Zeltplane wurde zur Seite geschoben, und angeführt von sechs weißen Orkhunden kam ein großzügig gestalteter Holzschlitten, lackiert in schwarz und weiß, zum Vorschein. Auf ihm drauf, das Geschirr fest in den behandschuhten Händen:
    „Vincent van Fronio“, murmelte Alina.
    Als hätte er es gehört, brachte Vincent die Hundeschar mit einem Lauten „Halt!“ zum Stehen.
    „Na, da seid ihr ja doch noch“, rief Vincent, die schneeweißen Zähne zu einem breiten Grinsen gebleckt. „Ich fürchte, ich habe euch gerade den letzten Schlitten vor der Nase weggeschnappt.“
    „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, sagte Alina. Sie wischte sich energisch eine Schneeflocke von der Nase. Ohne Schlitten würden sie wohl kaum innerhalb einer Woche bis zum Kloster und wieder zurück reisen können.
    Vincent zuckte mit den Schultern. „Es ist wie es ist“, sagte er. „Es ist ja nicht so, als hätte ich es mit Absicht gemacht. Normalerweise hat Gorok immer mindestens zehn Schlitten reisefertig und mit Hunden bestückt. Aber da muss wohl irgendeine Hochzeitsgesellschaft gewesen sein, die haben fast alle Schlitten genommen. Muss da wohl ganz schön etepetete zugehen, wer immer das auch war. Wenn das in deren Ehe dann auch so ist, dann will ich mit dem armen Kerl jedenfalls nicht tauschen, da kann seine Angetraute noch so ein hübsches Ding sein.“
    Vincent sah nach oben in den Himmel. „Der Schneefall scheint schon wieder nachzulassen. Das sollte man nutzen, findet ihr nicht auch? Nichts für ungut, Leute. Ihr beide zusammen, ihr findet doch einen Weg! Zur Not: Irgendwann muss ich den Schlitten ja wieder zurückbringen, sonst macht mir der Obermotz von Ork noch den Garaus! Also dann …“
    Vincent schien noch auf irgendeine Erwiderung zu warten, egal welcher Art, aber Alina tat ihm den Gefallen nicht. Auch Rogas blieb still. Deshalb rückte Vincent bloß mit einem breiten Grinsen seine Mütze zurecht, rief „Ho!“, und fuhr erst langsam, dann immer schneller mit dem Schlitten davon, die sechs ziehenden Orkhunde fügsam voraus. Binnen weniger Sekunden war er schließlich ganz davongebraust, gen Norden.
    Alina sah Rogas an. „Wie gehen jetzt erst einmal zu Gorok“, sagte sie.
    „Genau mein Gedanke“, antwortete Rogas, der in der Kälte schon ganz rote Bäckchen bekommen hatte, passend zu seinen Ohren. „Da muss doch irgendwas zu machen sein!“
    Die beiden steuerten auf das kleine Backsteinhäuschen zu, wurden aber an der Schwelle zurückgerufen.
    „Alle Schlitten sind draußen“, grollte Gorok, der sich gerade unter der großen Plane des Zeltes hervorschob, aus dem vorhin Vincent gekommen war. Er war selbst für orkische Verhältnisse groß und bullig, und trug eine auffällige Bemalung an seiner Stirn, die noch weißer zu sein schien als der Schnee, in den Gorok tiefe Spuren hineinstapfte.
    „Ihr müsst morgen wiederkommen“, riet er. „Dann habe ich vielleicht wieder einen zum Verleihen.“
    „Aber wir brauchen heute einen, jetzt sofort!“, meinte Rogas, der sich vor dem Ork aufbaute, als befänden sie beide sich inmitten einer Kampfarena. „Meine Frau und ich, wir müssen Nordmar bereisen, und wir haben dafür nicht ewig Zeit! Wir müssen bis zum Kloster!“
    „Mag sein.“ Der Ork ging einen Schritt auf Rogas zu. Er wirkte recht gelassen, auch die Kälte schien ihm wenig anzuhaben. „Aber ich habe doch gesagt, dass keine Schlitten mehr da sind. Und wenn keine Schlitten mehr da sind, kann ich auch keine mehr verleihen. Ich kann nicht mehr hergeben, als ich habe. Könnte ich das, dann wäre ich Schamane.“
    „Gibt es denn wirklich gar keine Möglichkeit?“, schaltete Alina sich ein. „Uns könnte alles helfen … vielleicht etwas anderes als ein Schlitten?“
    Gorok wies auf das große Schild am Backsteinhäuschen. „Könnt ihr lesen? Das hier ist ein Schlittenverleih. Hier gibt es nichts anderes als Schlitten. Und Hunde. Und mich. Soll ich euch bis zum Kloster tragen, oder was?“
    „Wie viel würde das denn kosten?“, fragte Rogas in halbernstem Ton, fing sich aber sogleich einen strengen Blick von Gorok ein.
    „Dann gibt es wohl wirklich nichts zu machen“, seufzte Alina. „Komm, Rogas. Es hat keinen Zweck. Wir gehen zu Fuß. Immerhin hat es jetzt aufgehört zu schneien.“
    „Zu Fuß?“, entfuhr es Rogas. „Alina, das ist doch viel zu … du könntest erfrieren! Oder was, wenn deine alte Fußverletzung wieder aufbricht? Ich habe erst vor einem halben Jahr eine Meldung in der Gothaer Umschau gelesen, wie ein namenloser Abenteurer beim Versuch, zu Fuß Nordmar zu durchqueren, irgendwann vor Erschöpfung ins Taumeln geraten und dann in eine Gletscherspalte gefallen ist. Der war wohl auf dem Weg zum alten Turm und …“
    „Wir sind ja keine namenlosen Abenteurer“, fiel Alina ihm ins Wort. „Und selbst wenn: Dann falle ich eben in eine Gletscherspalte, und dann gibt es den nächsten Artikel, diesmal dann in der Goth’schen Zeitung, dann wohl von dir. Mal ehrlich, ich gebe doch jetzt nicht schon auf. Wenn es keinen Schlitten gibt, dann gehe ich zu Fuß. Basta. Kommst du nun mit?“
    Alina wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern stapfte ziellos los. Nach einigen Schritten schon bekam sie neben Herzklopfen aber kalte Füße, eigentlich hatte sie gehofft, dass jeden Augenblick -
    „Halt! Ihr Morras seid doch wohl nicht ganz dicht! Ich lasse hier niemanden zu Fuß in sein Unglück schreiten. Es könnte jederzeit wieder Schneefall geben. Heftigen Schneefall. Da bist du ohne Hunde aufgeschmissen, Frau!“
    Alina grinste kurz, riss sich dann aber zusammen und wandte sich mit ernstem Gesicht um.
    „Du hast doch gesagt, dass du keinen Schlitten mehr für uns hast. Was bleibt mir also anderes übrig?“
    Gorok ging achtlos an Rogas vorbei ein paar Schritte auf Alina zu, blieb stehen und verschränkte die Arme. Er war nicht einmal in ein langärmliges Gewand gehüllt, fiel Alina auf.
    „Deine Entschlossenheit und dein Mut imponieren mir. Pass nur auf, dass sie nicht in Dummheit enden. Ich will meinen Teil tun. Lasst mich sehen, ob ich den Reserveschlitten noch einmal fit bekomme. Kommt schon einmal mit, ihr müsst die Hunde kennenlernen.“
    Gorok machte kehrt und schritt auf das große Zelt zu, aus dem er herausgekommen war. Alina zögerte nicht lange und folgte ihm. Irgendwann schloss sich auch Rogas an.

    „Ich finde das wirklich faszinierend, wie ihr Orks eure Hunde trainiert“, redete Rogas weiter auf Gorok ein, der sorgsam den Schlitten prüfte, vor den bereits vier Hunde gespannt waren, die ungeduldig mit den Füßen auf Heu scharrten. „Ich habe da mal einen Artikel im Gelderländer Volksfreund drüber gelesen. Ich fand das nur ein bisschen … naja, sagen wir mal, wenig freundlich, dass ihr die Welpen ganz jung ihrer Mutter wegnehmt und sie alleine im Schnee aussetzt, damit sie später abgehärtet sind.“
    Gorok hievte seinen massigen Körper aus der Beugehaltung hoch, in der er die Kufen des Schlittens ein letztes Mal kontrolliert hatte, und blickte Rogas mit versteinerter Miene an. „So etwas machen wir nicht.“
    Rogas sagte daraufhin nichts mehr. Gorok ging um den Schlitten herum, einmal, zweimal, dann nickte er. „Gut, so sollte es gehen. Ich hoffe, ihr habt verstanden, dass ihr mit diesem Schlitten besonders aufpassen müsst. Ich habe ihn wieder fit gemacht und er müsste sicher sein. Aber sobald auch nur irgendetwas Komisches mit ihm ist oder ihr gar einen Unfall habt, brecht ihr die Reise ab. Und gebt auf die Hunde acht! Sie sind alle Schlittenhunde, sollten aber eigentlich längst auf ihr Altenteil gehen. Und sie sind nicht aufeinander abgestimmt. Wenn sie Ärger machen, dann gibt es nur einen Weg, sie zu beruhigen: Happahappa. Wenn ihr ihnen etwas zu essen gebt, sollten sie schnell wieder ruhig sein. Aber teilt die Rationen gut ein! Lasst mich ja nicht erfahren, dass ihr die Hunde habt hungern lassen. Vermutlich müsst ihr unterwegs noch einmal Rationen nachkaufen. Die Morras in den Clans wissen Bescheid, was Orkhunde brauchen. Kommandos braucht ihr eigentlich nur zwei: „Ho!“ und „Halt!“, dann machen sie schon, was ihr wollt. Also, ich rede jetzt wieder über die Hunde, nicht über die Morras in den Clans. Das müsste alles sein. Habt ihr sonst noch Fragen?“
    „Das wäre wohl alles“, sagte Alina. „Ich danke dir, Gorok.“
    „Ich hätte noch eine Frage“, sagte Rogas. Goroks Mundwinkel zuckten. Alina hoffte, dass dem Ork das jetzt nicht im letzten Moment doch noch alles zu viel wurde.
    „Dann stell sie, Morra.“
    „Wenn du jetzt doch noch diesen Schlitten hattest, warum hast du die ganze Zeit so gezögert, ihn uns fertig zu machen? Ich meine, Reserve hin oder her, das habe ich ja verstanden, aber du hast ja selbst gesagt, dass auch die vier Hunde für uns zwei Menschen schon reichen werden, wenn wir es nicht übertreiben. Warum also?“
    Alina schluckte. Die Frage war so unverschämt, dass Alina sie nicht einmal von Berufs wegen gestellt hätte. Gorok verschränkte wieder die Arme und schwieg eine Weile.
    „Ich habe Zeit meines Lebens alle meine Verträge gehalten, solange die Gegenseite sie auch gehalten hat“, begann Gorok dann, in tiefem Bariton. „Deshalb kann ich auch meine Beweggründe nicht verraten.“ Er pausierte noch einmal, bevor er weitersprach, und wählte seine Worte dann hörbar sorgfältig. „Aber ich bin ein Ork von Ehre. Euch ziehen zu lassen hätte diese Ehre verletzt. Und Ehre geht immer über Verträge.“ Noch eine Pause und ein Schnaufen. „Mehr will ich dazu nicht sagen.“
    „Ich denke, das genügt auch“, knüpfte Alina schnell an die Worte Goroks an. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie einer der grauen Hunde – die zwei vordersten waren weiß, die zwei dahinter waren grau – seinen weißen Vordermann anknurrte. Hoffentlich ging das alles gut. Aber Rogas hatte recht, die orkische Kunst der Zucht und Dressur von Schlittenhunden war landesweit gerühmt. Sie würde sie jetzt doch bestimmt nicht im Stich lassen.
    „Gut, dann machen wir mal los“, sagte Alina dann seufzend und griff nach der Leine am Geschirr, in dem sich die Hunde befanden. „Damit sind wir zwar gegenüber Vincent im Nachteil, aber was hilft es?“
    Rogas, der sich von einem der weißen Hunde gerade die Hand lecken ließ, stand aus der Hocke auf und trat an Alina heran.
    „Keine Sorge, Alina“, sagte er mit entschlossener Miene. „Hier kommt es nicht darauf an, wer am schnellsten ist. Hier kommt es darauf an, wer am besten schreibt. Und das kannst du schaffen!“ Alina sah ihm in die Augen. Er lächelte, strahlte geradezu. Spätestens jetzt wusste sie, warum sie ihn mitgenommen hatte.
    „Ihr seid auch Journalisten, was?“, mischte sich Gorok ein letztes Mal ein. Alina und Rogas nickten. Der Ork nickte zurück. „Dann tut mir einen Gefallen, und nehmt eure Arbeit ernst. Dem anderen traue ich nämlich nicht. Ich traue keinem Morra mit zu viel Gold.“

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    Wenn man Faring verlässt, dann breitet sich schnell die weißblaue Tundra vor einem aus. Den Reisenden versetzt es in Erstaunen, wie schnell sich die klimatischen Bedingungen ändern können, und hat er nicht die richtige Kleidung dabei, wird die Kälte ihn bitter beißen. Ist man dagegen angemessen ausgestattet und muss nicht allzu sehr frieren, so hat man die Gelegenheit, sich voll und ganz der prächtigen Flora und Fauna in dieser ewigen Eislandschaft zu widmen. Wer glaubt, Nordmar sei nur kahl und karg, der kennt Nordmar nicht.
    Nicht nur, aber insbesondere im Süden, wenn man den Pass gerade überquert hat, wird der Reisende von vereinzelten, dafür aber umso höher aufgeschossenen Tannen, Fichten und zuweilen der Kälte beeindruckend duldsam trotzenden Laubbäumen empfangen. Auch unterhalb dieser stämmigen Hölzer bietet Nordmar Vegetation. Die krausen Büsche, die in unerwartet hoher Zahl viele kleine Gruppen bilden, mögen zwar im Vergleich zur reichhaltigen Flora der Mitte des myrtanischen Reichs nicht besonders schön aussehen. Sie entfalten aber eine ganz eigene Ästhetik, wie sie, den Steppenläufern ferner Wüsten gleich, in eigentlich unwirtlichem Gebiet die letzte Bastion der Wirtlichkeit bilden. Und der Pflanzen- und Kräuterkundler indes, der besitzt ohnehin den geschärften Blick, um den wahren Wert der in der Öffentlichkeit nur verschattet wahrgenommenen Pflanzenwelt Nordmars zu erkennen: Zwischen Sträuchern, Büschen und Hölzern lassen sich nämlich hier und da Feuernesseln ausmachen, große Exemplare von kräftigem Wuchs, ihrerseits nicht nur nett anzusehen, sondern wichtige Zutaten für Alchemisten und Apotheker. Aber nicht nur für die: Auch kann man dann und wann einen der vielen umherstreifenden Hirsche dabei beobachten, wie er eine dieser fest im harten Boden verwurzelten Feuernesseln herausrupft, um sie sich einzuverleiben. Vielleicht sind es gerade diese kraftvollen Kräuter, die der teils schon überbordenden Hirschpopulation so gut tun.
    Diese ganze Szenerie ist eingerahmt von hohen Bergen, die im teils dichten Nebel unzusammenhängend erscheinen können und so wie riesige, blauweiße und schneebedeckte Findlinge aussehen. Tatsächlich aber bilden sie Ketten und Linien, steigen in den zerklüfteten Ebenen Nordmars mal auf und mal ab und formen so diese einzigartige Landschaft. Und wenn der Reisende ganz viel Glück hat und Innos es gut mit ihm meint, dann schenkt der Gott ihm sein warmes Lächeln und taucht die Szenerie in gleißendes Licht. Das ist für den Ortsunkundigen wohl die größte Überraschung, aber es ist wahr: Auch in Nordmar scheint die Sonne.


    Alina setzte die Feder ab und sah gedankenverloren in die Ferne. Wie sie so auf dem Schlitten saß, unter der nunmehr am Himmel stehenden Sonne, wurde es ihr sogar ein bisschen warm. Das musste sie in ihrer Reportage vielleicht noch einmal an anderer Stelle ganz gesondert erwähnen, dass Nordmar selbst zu Beginn des Winters nicht immer unerbittlich kalt war. Also, kalt schon, aber jetzt gerade war es, dick eingepackt in Mantel, Schal und Mütze, doch recht angenehm. Lediglich die Hände waren Alina schon etwas steif geworden. In ihren dicken Lederhandschuhen konnte sie nicht schreiben, weshalb sie sie ausgezogen hatte. So etwas war sie aber schon gewohnt, und den Warnungen ihrer Mutter zum Trotz, sie würde deshalb irgendwann Gicht, Arthritis, Rheuma oder sonstwas an den Fingern bekommen, war es nun einmal eine typische Begleiterscheinung ihres Berufs, auch mal Notizen machen zu müssen, wenn es dazu viel zu kalt war.
    Die Spezialtinte hatte auch funktioniert wie versprochen, und so konnte Alina sich über ihre ersten Zeilen auf dieser Reise freuen. Bis jetzt lief es doch eigentlich ganz gut. Vielleicht würde sie auch versuchen, während der Fahrt ihre Notizen zu machen, damit sie die frischen Eindrücke direkt zu Papier bringen konnte. Rogas war ja immerhin ein ganz passabler Schlittenlenker, dafür, dass er das, wie er sagte, noch nie zuvor gemacht hatte. Vielleicht war das ja sogar sein großes Talent; darauf sollte er sich konzentrieren – und vielleicht nicht gerade auf das Lenken von Pferdewagen.
    Alina sah zu ihrem Gefährten herüber. Rogas kniete bei den Hunden und sah ihnen begeistert aus nächster Nähe beim Fressen zu. Sie schmunzelte darüber.
    Wenn die Reise lange genug dauern würde, würde sich Rogas wahrscheinlich irgendwann noch als Teil des Rudels fühlen.
    „Wenn die Hunde dann fertig sind, von mir aus können wir weiter“, rief sie herüber. „Laut Karte ist es auch nicht mehr weit bis zum Wolfsclan.“
    Alina hatte die Karte auf ihrem Schoß ausgebreitet. Sie wusste natürlich nicht genau, wo sie waren, aber da sie sich immer auf den Wegen gehalten hatten, mussten sie einfach weiter gen Norden fahren, die Sonne im Rücken, bis sich irgendwann gen Osten ein Pfad zum Wolfsclan auftun würde. Das würden sie schon hinbekommen. Und die Hunde halfen beim Navigieren ja auch irgendwie mit.
    „Haben alles aufgegessen“, meldete Rogas. In der Tat wirkten die Hunde jetzt viel ruhiger – und Rogas noch viel vergnügter als ohnehin schon.
    „Weißt du, wenn ich die vier da so sehe“, begann er, als er sich zurück auf den Schlitten schwang. „Eigentlich bräuchten wir für Zuhause auch so einen.“
    Alina lachte hell. „Ja, das war mir klar, dass du das noch sagen wirst.“
    „Ja, aber es ist doch so! Zu einem Heim mit Frau und Tochter, da gehört ein Familienhund doch einfach dazu!“
    „Na wenn du das sagst“, versuchte Alina abzuwiegeln. „Ich hätte jetzt ja eigentlich gedacht, mit der Motte hätten wir schon aufregende Familienmitglieder genug.“
    „Ach naja!“, raunte Rogas. „Nina hätte bestimmt auch gerne einen Hund! Die würden sich doch bestimmt richtig gut verstehen! Hat Gorok nicht gesagt, dass die vier Hunde hier eh aufs Altenteil müssten? Wir können ihm ja einen abnehmen!“
    „Nun spinn’ mal nicht rum“, meinte Alina, während sie ihre Schreibutensilien zurück in ihre Tasche am hinteren Ende des Schlittens verfrachtete. „Das sind Orkhunde. Schlittenhunde noch dazu. Ich glaube nicht, dass die sich bei uns unten in Montera so wohlfühlen würden. Und überhaupt …“
    „Ach, die sind doch ganz lieb, und außerdem hart im Nehmen!“, argumentierte Rogas weiter, aber Alina winkte ab.
    „Lass uns diese Diskussion nicht hier mitten auf dem Weg führen. Ich würde sagen, fahren wir erst einmal zum Wolfsclan, und dann …“
    „Und dann habe ich das trotzdem noch nicht vergessen“, mahnte Rogas neckisch. „Wir werden einen Hund im Hause haben, das ist hiermit beschlossen! Was meinst du, vielleicht der weiße links vorne? Der hat mich beim Essen schon die ganze Zeit so angelacht …“
    „ROGAS!“
    „Bitte was?“
    „Fahr einfach“, lachte Alina. „Fahr mit Innos, aber fahr!“

    Der Fahrtwind war schon nicht ohne, Sonne hin oder her. Alina hielt die behandschuhten Hände in den Taschen ihres Mantels. Rogas war das nicht vergönnt: Er hielt stramm die Zügel des Geschirrs in den Händen und ließ die Hunde vorwärts laufen. Wie viel der Fahrtwind wirklich ausmachte, merkte Alina, als sie langsamer werden mussten, weil es galt, eine Brücke zu überqueren. Sie war aus Holz, dunklem Holz, und zwischen zwei Steinklippen gespannt, zum Boden hin – es ging tief hinunter – aber natürlich mit Pfeilern abgesichert, die an den Enden der Brücke über ihr Geländer hinausragten und ein grobes, gleichwohl kunstvoll eingeritztes Runenmuster zeigten.
    „Langsam, langsam …“, wies Rogas die Hunde an. Sie wurden tatsächlich langsamer. Alina glaubte allerdings nicht, dass sie die Worte wirklich verstanden hatten. Sie hatten sicherlich aus eigenem Antrieb gehandelt, weil sie keine Lust hatten, bei voller Geschwindigkeit über die Brücke zu brettern.
    „Die Brücke muss von den Leuten vom Wolfsclan erbaut worden sein“, bemerkte Rogas das Offensichtliche. Alina nickte sich selbst zu. Rogas, den Blick nach vorne gerichtet, konnte sie ja die meiste Zeit nicht sehen. Er hatte jedenfalls recht, hier begann das Gebiet des Wolfsclans. Alina hatte sich auf der Karte nur noch sehr grob zurechtgefunden, der Maßstab taugte nicht für besonders engmaschiges Navigieren. Der Wolfsclan aber war ausgeschildert: Dann und wann säumten kleine Steinhaufen die Pfade, an denen wiederum ein hölzerner Pfahl mit einem Wegweiser angebracht war, der die Richtung zum Wolfsclan anzeigte. Auf manchen war sogar noch ein weiterer Pfahl, eher ein Stock, angebracht, auf dessen Spitze ein Schädel ruhte. Alina war sich noch nicht sicher, ob sie diesen morbiden Zeugnissen des zurückliegenden Kriegs gegen die Orks wirklich Platz in ihrer Reportage einräumen wollte. Ganz ausgeschlossen hatte sie es noch nicht.
    Wie sie mit dem Schlitten über die Brücke glitten, gab es ein angenehmes Geräusch von Holz auf Holz. Die Hunde hatten mit ihren krallenbewehrten Pfoten kein Problem, Alina konnte sich aber vorstellen, dass man als Mensch direkt auf der feinen, glitzernden Eisschicht ausgerutscht wäre.
    Nachdem sie die Brücke hinter sich gelassen hatten, kamen sie in ein Areal, in dem hoch aufragende Berge die tiefstehende Sonne verbargen, sodass es direkt merklich kälter wurde. Das hinderte Alina aber nicht daran, die Topographie zu bestaunen, mit ihren Zerklüftungen und Erhebungen, abgebrochenen Gletscherspitzen und natürlichen Felsbrücken, bei denen man gar nicht wusste, ob sie statt aus Stein nicht doch aus purem Eis waren.
    Die Hunde zogen den Schlitten von alleine um eine Kurve, sodass sie eine Senke links liegen ließen, die zwischen einzelnen Bäumen ein Holzfäller- oder vielleicht auch Jägerlager erahnen ließen, in dem sich aber offenbar gerade kein Mensch aufhielt. Ein interessanter Anblick war es dennoch, da es sich am Rand einer Klippe und unter einem natürlichen Steinbogen befand. Ein durchaus malenswertes Motiv – aber Alina hatte ja keinen Zeichner mitgenommen. Vermutlich hätten die Hunde, die beim Ziehen des Schlittens ihrem Gegrunze nach durchaus an ihre Grenzen zu gehen schienen, nicht einmal den dürren Graham noch zusätzlich schleppen können. So oder so würde Alina also versuchen müssen, diesen imposanten Anblick allein mittels ihrer geschriebenen Worte zu transportieren.
    „Schau, da oben!“, lenkte Rogas ihren Blick wieder in Fahrtrichtung. Und tatsächlich, dort fand sich direkt die nächste beeindruckende Szenerie. Steil bergauf, über eine weitere Holzbrücke und dann über dünne, schlängelnde Bergpfade, lag ein Hüttendorf, gesäumt von Wachplattformen, über ihnen der schwarze Rauch angeschürter Öfen und Kamine. Das war der Wolfsclan, keine Frage.
    „Schaffen die Hunde das denn noch?“, fragte Alina besorgt, denn die Steigung war wirklich herausfordernd.
    „Im Leben nicht!“, rief Rogas über das schleifende Geräusch des Schlittens und das Gehechel der Hunde hinweg. „Da vorne wird es auch irgendwann viel zu eng! Aber wir müssen da mit dem Schlitten eh nicht hoch, schau mal direkt rechts neben der Brücke!“
    Beim Bestaunen des auf der Gebirgskuppe liegenden Dorfes hatte Alina glatt den Zeltplatz direkt vor der großen Holzbrücke übersehen. Es waren kleine, schmale Zelte, umschlossen von einer Art Pferdekoppel, nur dass sich in ihr Hunde, aber offenbar auch mehr oder weniger gezähmte Wölfe tummelten. Vielleicht waren es auch wilde Hunde? Alina konnte es nicht sagen.
    Der Schlitten wurde langsamer, sie kamen zum Stehen. Auf dem Hang ging das gerade so, hätten die Hunde den Schlitten nicht weiterhin gehalten, er wäre den Hang wohl wieder heruntergerutscht.
    Ein großer, dunkelhaariger Mann mit dichten, ausdrucksstarken Augenbrauen kam aus einem der kleinen Zelte hervor und trat vom Zeltplatz aus an sie heran. Er trug die dicke Kleidung und die großen Pelzstiefel des typischen Nordmarers, an den Schultern außerdem Rüstungsplatten. Offenbar war die Kriegausrüstung der Nordmarer nicht nur funktional für den Krieg gedacht, sondern war einfach auch ein fester Bestandteil ihrer Kultur im Allgemeinen. Bestimmt gingen auch manche von ihnen in ihren Plattenpanzern schlafen – von einigen myrtanischen Paladinen würde Alina es auch nicht anders erwarten.
    „Seid gegrüßt“, sagte der Mann, als Alina und Rogas vom Schlitten abstiegen. „Einen schönen Schlitten habt ihr da. Aber eure Hunde brauchen eine Pause, das habe ich schon von drinnen im Zelt gehört.“
    „Wir haben es wohl mit einem Fachmann zu tun“, übernahm Alina die Gesprächsführung. „Ja, die Hunde sind ganz schön oppe. Ich nehme mal an, wir können unseren Schlitten hier abstellen?“
    „Das ist richtig“, bestätigte der Mann und streckte die Hand zum Gruße aus. „Corwyn, der Name.“
    Nacheinander ergriffen Alina und Rogas seine Hand und stellten sich vor. Der Händedruck Corwyns war wie sein restliches Auftreten äußerst verbindlich.
    „Ihr habt euch ganz gutes Wetter zum Reisen ausgesucht, aber gebt Acht, das kann sich auch schnell wieder ändern. Wie lange wollt ihr bleiben?“
    „Wir bleiben über Nacht“, entschied Alina. „Aber nur eine, nächsten Morgen müssten wir dann wieder los. Ich hoffe, ihr habt noch Platz für unseren Schlitten?“
    „Sollte machbar sein“, meinte Corwyn fröhlich. „Für euren Schlitten haben wir noch eine Plane übrig, die ihn vor der ärgsten Witterung schützt. Bei den Hunden sind wir schon ein wenig mehr ausgelastet, aber die vier machen da auch nichts mehr. Orkhunde, was? Nicht mehr die Jüngsten, das sehe ich. Das ist gut, dann sind sie verträglicher.“
    „Wirklich ein Fachmann“, merkte nun auch Rogas beeindruckt an.
    „Danke, kann ich wohl nicht verleugnen“, erwiderte Corwyn. „Früher habe ich ja noch ausschließlich in Holz gemacht, aber dann … naja, wie auch immer. Ihr könnt ruhig zum Dorf hochgehen, ich kümmere mich hier schon um alles.“
    Alina griff sich an den Goldbeutel und blickte Corwyn auffordernd an. Der verstand sofort, wehrte aber gestenreich ab.
    „Oh, nein, nein. Das gibt es bei uns umsonst. Kostenlos, meine ich.“
    „Nicht dein Ernst!“, rief Rogas aus.
    „Ihr wart noch nie in Nordmar, oder?“, fragte Corwyn grinsend. „Bei uns läuft das ein bisschen anders. Für Grundversorgung muss hier keiner zahlen, auch Reisende nicht. Gerade Reisende nicht, solange es nicht zu viele werden. Wurde zwar schon einmal diskutiert, dass Auswärtige zur Kasse gebeten werden, aber solange der alte Grim noch Chef ist, wird sich das ganz bestimmt nicht ändern. Mir soll es recht sein, ich kriege meinen Sold so oder so.“
    „Aber ein kleines Trinkgeld wirst du doch sicher nicht ablehnen“, sagte Alina, die bereits ein paar Münzen aus dem Beutel gefischt hatte.
    „Wohl nicht“, sagte Corwyn schmunzelnd, nahm die Münzen über den Zaun hinweg entgegen und ließ sie gekonnt in seine Rocktasche verschwinden. Das hatte er wohl schon öfter gemacht.
    „Alles klar“, sagte er dann. „Dann mal viel Spaß im Wolfsclan!“

    „Das sind ja vielleicht Frohnaturen“, meinte Rogas, als sie die Brücke hinter sich gelassen hatten und den schmalen Pfad zum Dorf hinaufstiegen. „Das hätte ich wirklich nicht gedacht. In der Sildener Rundschau stand immer -“
    „In der Sildener Rundschau steht doch nur Unsinn, und das weißt du auch“, fiel Alina ihm ins Wort. „Ich denke nicht, dass mit den Nordmarern irgendetwas falsch ist, das haben wir ja jetzt gesehen. Aber wer weiß, auf wen wir noch treffen. Es gibt überall solche und solche.“
    „Das ist wohl wahr“, bestätigte Rogas. „Aber das scheint ja alles sehr aufgeschlossen zu sein hier.“
    „Vor allem erschlossen“, meinte Alina. „Touristisch erschlossen. Seit dem Kriegsende setzen die voll da drauf, schließlich kann man mit Erzwaffen nicht mehr so viel Gold verdienen. Das hätte ich vorher aber auch nicht gedacht, dass sich so eine Gegend mal als Reiseziel verdingt. Aber es klappt ja, wir sind ja schließlich auch hier. Und wenn die Reportage genug Leute zu begeistern weiß …“
    „Hey, was meinst du, wenn die rauskriegen, dass du Journalistin bist!“, sagte Rogas aufgeregt. „Die müssten uns dann doch quasi alle aus der Hand fressen, oder?“
    „Vielleicht“, mutmaßte Alina nur.
    Sie kamen durch ein großes hölzernes Tor, das von Palisaden eingerahmt wurde, die ihrerseits mit zwei Wachtürmen versehen waren. Alina konnte sich in etwa vorstellen, welche Bedeutung diese Befestigungsanlagen gehabt haben mussten, als der Krieg noch getobt hatte. Sie hatte keinen Tick für Kriegsverklärung wie so viele andere Leute, auch aus ihrer Zunft, aber etwas Bewunderung für die Leute dieses Clans schwang dann doch mit. In dieser unwirtlichen Gegend die Stellung zu halten, im Angesicht von Orktruppen, jederzeit Gefahr laufend, dass einer ihrer Schamanen mit einem mächtigen Zauber alles in Brand setzt … Alina erschauderte, und das nicht wegen der Kälte. Zu Gelegenheiten wie dieser begriff sie immer wieder, was für ein Geschenk der Frieden war. Vielleicht würde sie das auch in ihrer Reportage ansprechen. Das war zwar ein sehr ernstes Thema für einen launigen Reisebericht, aber einen launigen Reisebericht wollte sie ja vielleicht auch gar nicht schreiben. Irgendwie musste sie sich ja auch von den anderen Einsendungen absetzen, da tat ein bisschen geschichtlicher Hintergrund vielleicht ganz gut. Die Leute vom Wolfsclan konnten sicherlich auch ihre persönlichen Geschichten dazu beisteuern – Alina würde schon wissen, wie sie bei den von Mund zu Mund weitererzählten Heldenepen die Fakten von den Mythen zu trennen hatte.
    In Nordmar war nicht alles, aber vieles groß. Die Hütten des Wolfsclans jedenfalls auch. Hätte Alina gedacht, dass es klüger gewesen wäre, kleine, leicht beheizbare Hütten zu bauen, setzte man hier im Dorf auf große, ausladende Holzhäuser, deren Türen zumeist auch noch offenstanden oder gleich ausgehängt waren. Alina interpretierte das als Zeichen der Gastfreundschaft.
    Ansonsten herrschte im Dorf ein ruhiges, aber ganz munteres Treiben. Die Männer und Frauen des Clans gingen ihrer Arbeit nach, hier ein Schmied, dort eine Frau, die Holz weiterverarbeitete, woanders wiederum ein Mann, der offenbar gerade ein Kleidungsstück häkelte. Alina hatte das Gefühl, dass hier im Prinzip jeder alles machen durfte und konnte, ohne dass jemand auf eine bestimmte Tätigkeit festgelegt oder darin hineingezwungen war.
    Sie und Rogas wurden, als sie so durch das am Hang gelegene Dorf spazierten, kaum behelligt. Sie wurden zwar auch nicht ignoriert, da ihr so mancher Bewohner ein Nicken oder wenigstens einen fragenden Blick zuwarf, aber abgesehen davon gab es keinen direkten Kontakt. Alina vermutete, dass die Clanangehörigen schlicht noch nicht an regelmäßigen Besuch von auswärts gewöhnt waren, diesen aber eben auch nicht verschrecken wollten.
    „Schau mal da vorne“, sagte Rogas plötzlich. Er wies zwischen zwei der Hütten vorbei und zog Alina in die richtige Position, damit sie auch sehen konnte, was er sah.
    „Das gibt’s doch einfach nicht“, zischte sie. „Springt der hier jetzt auch noch rum.“
    Vincent van Fronio stand auf einem Platz nicht weit von der Schmiede, offenbar im Gespräch vertieft mit einem der Mitglieder des Wolfsclans, Papier und Federkiel in der Hand. Alina konnte aus der Entfernung nicht hören, worüber genau sie sprachen.
    „Muss der denn immer und überall auch sein, wo wir gerade sind?“
    „Er hat da einfach ein Händchen für“, meinte Rogas.
    „Ein Händchen wofür?“
    „Mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Er hat da mal einen Gastbeitrag in der Myrtaner Presseschau geschrieben, über Befragungstechniken und so weiter. Da hat er geschrieben, dass man -“
    „Ich weiß, was er da geschrieben hat, ich hab’s doch auch gelesen“, fauchte Alina. „Und das interessiert mich auch gerade überhaupt nicht, ehrlich gesagt. Außerdem halte ich seine Methoden für fragwürdig.“
    „Naja, der Erfolg gibt ihm recht“, sagte Rogas mit durchaus anerkennendem Unterton. Auf den strengen Blick Alinas fügte er jedoch rasch hinzu: „Aber diesmal wird er damit keinen Erfolg haben, ist doch klar!“
    Alina gab sich damit zufrieden. Sie beobachtete, wie Vincents Gesprächspartner, ein Nordmann in breitem Pelzkragen, sich verabschiedete und seiner Wege zog. Vincent rollte seine Papierrolle ein und steckte sie an seinen Gürtel, seine Schreibfeder hatte er offenbar schon wieder eingepackt. Und dann fiel sein Blick auf Alina und Rogas, ganz zufällig. Alina konnte es von weitem nicht sehen, aber Vincents Grinsen konnte sie sich nur zu gut ausmalen. Kurzentschlossen stapfte er auf sie zu.
    „Na toll“, murmelte Alina.
    Schon als Vincent zwischen den beiden Häusern stand, die den Pfad zu Alina und Rogas markierten, rief er: „Wie war das? Man sieht sich immer dreimal im Leben? Man könnte meinen, ihr beschattet mich!“ Er ließ ein Lachen ertönen. Vier Schritte später war er bei ihnen angekommen.
    „Aber ich sag mal so“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, in der er sie ausgiebig gemustert hatte. „Bleibt immer dicht hinter mir, dann macht ihr ’nen sicheren Zweiten.“
    „Wir werden sehen“, sagte Alina kühl. Beim Sprechen zeichnete sich ihr Atem als Dunstwolke in der Luft ab.
    „Ich habe jedenfalls schon ein paar Gespräche geführt“, erzählte Vincent weiter. „Hätte ich gar nicht gedacht, dass die Nordmarer Männer und Frauen so redselig sind. Und dass man überhaupt etwas Vernünftiges aus ihnen herausbekommt.“ Er lachte noch einmal laut auf. Es klang blechern. „Nicht, dass ihr jetzt etwas Falsches denkt, ich bin selbst zu einem Achtel Nordmarer. Sieht man mir ja vielleicht an. Aber wenn ich das eine Achtel bin, das flüssig sprechen, schreiben und lesen kann, nunja.“ Erneut dieses Lachen. „Ich meine, ’Barbaren’ sagt man ja heute nicht mehr, aber … ihr seht es ja auch. Wenn man ehrlich ist, ne?“
    „Bist du dann fertig?“, fragte Alina, und diesmal hätte ihr Atem passenderweise direkt in der Luft gefrieren müssen.
    Vincent zog die Augenbrauen so hoch, dass sie unter dem Saum seiner Wollmütze verschwanden. „Schlecht gelaunt?“, fragte er. „Nerven schon verloren? Da gibt es doch keinen Grund für, Dabeisein ist alles! Wann kommt man denn mal nach Nordmar, so für eine ganze Woche? Gerade so als Frau … also andere Frauen machen stattdessen für ihren Mann brav das Heimchen am Herd. Da kannst du doch froh sein, dass dich dein Männe überhaupt lässt, oder?“ Er lachte und zwinkerte Rogas zu.
    Alina sagte nichts. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann gegenüber solchen Leuten ruhig Blut zu halten. Sie hätte ihm einiges zu sagen gehabt, aber sie wollte, dass er schlicht Ruhe gab und ging. Sie würde ja sicher noch eine bessere Gelegenheit bekommen, ihm die Meinung zu geigen.
    „Naja, wie auch immer“, sagte Vincent dann. „Die Zeit läuft und die Konkurrenz schläft nicht. Ich mach mich dann mal auf die Socken. Euch noch viel Glück! Bin jedenfalls sehr gespannt, deine Reportage zu lesen, Alina!“
    Vincent machte eine Geste ähnlich dem Salutieren eines Soldaten, und stapfte dann in Richtung Dorfausgang davon. Alina konnte nur mit dem Kopf schütteln.
    „Und weg isser wieder“, kommentierte Rogas hörbar ratlos. „Ist schon eine Type, dieser Vincent, was?“
    „Du hättest auch ruhig mal etwas sagen können“, erwiderte Alina. „So wie der sich aufgeführt hat.“
    „Ich?“ Rogas tippte sich entrüstet mit beiden Händen vor die Brust. „Was soll ich denn dazu noch sagen? Es ist eben sein Stil. Ist ja auch irgendwo anerkennenswert. Nicht umsonst ist er der bekannteste Reporter des Khoriner Tageblatts.“
    „Dann lauf ihm doch hinterher und hol dir ein Autogramm von ihm“, zischte Alina.
    „So war das jetzt auch nicht gemeint!“
    „Achso, so war es nicht gemeint. Na dann bin ich ja beruhigt. Wie war es denn dann gemeint?“
    Rogas schwieg eine Weile. Sichtlich verlegen sah er gen Himmel, die Sonne war bereits am Untergehen.
    „Wie auch immer“, sagte er dann. „Lass uns auch einen Gesprächspartner für deine Reportage suchen, ja?“
    Alina nickte zufrieden, wenn auch immer noch etwas pikiert. „Das ist doch mal ein vernünftiger Vorschlag von dir“, sagte sie dann.

    „’Halt die Schnauze du kleines Stück Orkhundscheiße!’, habe ich ihm dann gesagt, und … naja … Ruhe war’s dann … zumindest erst. Erstmal. Also dann war erstmal Ruhe. Also mit ihm, weil wir mussten dann ja auf die Barrier … Ark … Barrikaden und da HAT ES DANN ABER EINEN REGEN AUS PFEILEN GEGEBEN. Naja und der Rest … man sagt es so, und so sagt man, der Rest ist inner Geschichte drinne, Geschichte.“
    Alina hatte Feder und Papier bereits wieder sinken lassen, sie wusste gar nicht, ob sie sich dazu überhaupt eine Notiz machen sollte. Viel hatte sie bisher auch noch nicht aufgeschrieben, aber das war immer noch besser als gar nichts, denn dass es bei gar nichts bliebe, das war die erste Zeit wirklich zu befürchten gewesen. Denn es hatte lange danach ausgesehen, dass Alina gar keinen Gesprächspartner mehr finden würde. Sie hatten sich zwar alle freundlich bei ihr vorgestellt, Garik der Torwächter, Larson der Schmied, Ronar der Jäger und wie sie alle hießen, aber sobald Alina sie gefragt hatte, ob sie denn bereit wären, ihr für ihre Reportage ein paar Fragen zu beantworten, war das Gespräch sofort beendet worden. Erst der Proviantmeister des Dorfes, ein untersetzter Kerl namens Rune, hatte Alina dann beiseite genommen und ihr erklärt, dass der Anführer des Clans, Grim, die Weisung herausgegeben hatte, nicht mehr mit Journalisten zu sprechen, oder jedenfalls nicht mehr als nötig. Der eine habe schon gereicht, und bevor wieder überall die Kunde verbreitet würde, was die Nordmarer doch für unzivilisierte Barbaren seien, dürfe eben niemand mehr mit Journalisten sprechen. Wer der eine war, das hatte Alina natürlich sofort gewusst, was ihren Ärger auf Vincent nur noch vergrößert hatte. Als sie dann Grim aufgesucht hatte, einen Anführer wie er im Buche stand, stattlich, vor der riesigen und prächtig ausgestatteten Versammlungshalle des Clans, hatte sie ihn nicht mit dem Argument umstimmen können, dass sie doch ganz bestimmt nichts Abfälliges über den Wolfsclan schreiben, sondern ganz im Gegenteil ihre positiven Erfahrungen im Reisebericht unterbringen würde. Grim hatte diese Erklärung durchaus respektiert, aber auch betont, die Anweisung an die Clanmitglieder trotzdem aufrecht erhalten zu wollen, und er selbst hatte sich natürlich auch nicht zu einem Gespräch bereiterklärt. Wenn Alina nun trotzdem jemanden finden sollte, der mit ihr sprach, dann könne er nichts dagegen tun, aber sie sollte sich da mal nicht so viele Hoffnungen machen. Natürlich aber würde sie ansonsten wie jeder andere Gast behandelt, solange sie nicht, wie dieser andere Kerl, anfangen sollte, die Leute zu manipulieren. Letzten Endes hatte Alina Grims Haltung akzeptieren müssen, denn diese Haltung war so unnachgiebig wie der Berg, auf dem das Dorf gebaut war, wie Grim selbst betont hatte.
    Und dann hatte sie eben doch noch einen gefunden, der freimütig mit ihr sprach, aber was für einen. Sein Name war Hogar, und er hatte sich ihr mit schwerer Zunge als ehemaliger Krieger und Schürfer vorgestellt. Alina hatte sich zunächst weiter nichts dabei gedacht und sein Bekunden, sehr gerne mal die ganze Wahrheit über die Geschichte Nordmars und des Wolfsclans erzählen zu wollen, mit Interesse aufgenommen. Und dann hatte Hogar losgelegt – und bis zum jetzigen Zeitpunkt noch immer nicht aufgehört.
    „ … aber so muss mans diesen Drecksorks halt geben, das sind doch nichts als Affen, faseln den ganzen Tag von Ehre aber fallen dir bei der nächsten Gegebenheit … Gelegenheit innen Rücken, aber volle Lotte … naja aber über meine Lotte habe ich ja schon gesprachen, hehe … also Lotte, nicht Latte, aber manchmal auch die Latte in die Lotte … aber … das … einen anderen Tag. Jedenfalls kapier ich nicht, warum wir mit diesen Bestien Frieden schließen mussten, wir hätten die platt gemacht, ich hätte die platt gemacht, aber der König ist halt ein Wichsei … Weichei. Als ob der Nordmarblut hätte der Schlappschwanz … seine Mutter hat vielleicht ’nen Storch gefickt der mal über Nordmar hergeflogen ist, aber das ist auch schon alles. Dem haben wir es jetzt jedenfalls zu verdreckt … verdrackt … verdanken, dass die Orks immer noch rumspringen. Und man darf jetzt nicht einmal was gegen die sagen! Die lachen dich hinterrücks aus! Und wir lassen die in unsere Dörfer! Das ist der Feind in den eigenen Reihen! DER FEIND!“
    Hogar fuhr sich über den schmalen und mittlerweile schweißnassen Haarstreifen auf seinem Kopf und geriet ein wenig ins Taumeln, sodass er mit dem Rücken gegen die Holzpalisade donnerte, die sein Gewicht aber glücklicherweise aushielt. Alina hatte nun mehr als arge Zweifel daran, ob sie das Gespräch überhaupt noch fortführen sollte, zumal sicher auch bald andere Clanbewohner darauf aufmerksam wurden, aber sie versuchte es trotzdem noch einmal mit etwas anderem.
    „Vielleicht schließen wir das mit der Vergangenheit des Wolfsclans ein bisschen ab und gehen wieder in die Gegenwart“, sagte Alina und zückte wieder Schreibfeder und Papierrolle.
    „Wo gehen wir hin?“
    Alina seufzte. „Was machen Sie denn jetzt so den Tag über? Mit der … veränderten Situation haben sich doch auch sicher Ihre Aufgaben verändert, oder?“
    „Es hat sich alles verrädert … verändert, aber eigentlich auch nichts“, sagte Hogar. „Aber die meiste Zeit … naja, geschürft wird nicht mehr so viel. Es war auch eigentlich eine grooooße, also eine sehr groooooße Anstrengung, da unten … aber naja des Schürfers Schorf ist des Schlürfers schaleh… schlechz. Schatt. Weißt, was ich meine. Ja? Von daher ist mein Tag meistens nur Nebelgeist und Grollenstollen … äh Stollengrollen. Geht beides, ha!“
    Alina kritzelte eine kleine Notiz aufs Papier. „Stollengrollen? Was ist das?“
    „Was das ist?“, bellte Hogar. „Stollengrollen! Happ und zack und weg! Was da reinkommt, weiß niemand, aber Hauptsache es grollt in deinem Stollen, ha!“
    „Es ist also ein alkoholisches Getränk“, schloss Alina.
    „Ja was glaubst denn du! Alkoholisches Getränk, einen wunderbaren Witz hast du da! Wir haben hier auch heißes Feuer und kaltes Eis, du verstehst! Oder auch: Dumme Fr -“
    „Ich denke, ich habe verstanden“, unterbrach Alina schnell. Sie fügte ihrem Papier eine weitere Notiz zu. So wirkte das alles wenigstens ein bisschen professionell. Sie konnte sich selbst freilich nicht darüber täuschen, dass ihr das Gespräch längst vollends entglitten war.
    „Und diesen Stollengrollen … würdest du den Reisenden empfehlen? Ist das etwas, was Touristen unbedingt mal probiert haben müssen? Was so richtig zu Nordmar dazugehört?“
    „Touristen! Bwhaha!“ Hogar klatschte sich im Stehen auf die Schenkel, abwechselnd mit beiden Händen. „Den will ich sehen, der da auch nur einen … ach was plapper ich in der Weltgeschichte herum … einen, ha, auch nur einen halben verträgt! Die kippen doch aus den Latschen, allesamt! Sowas verträgt nur ein echter Nordmann! Sieh mich an! Bin ich ein echter Nordmann? Und ob ich ein echter Nordmann bin! Ich vertrag das, aber Touristen … ha! Im Leben nicht! Ein halber und die sind weg!“
    Alina nickte. „Danke für die Information“, sagte sie etwas unbeholfen. „Dann hätten wir das ja auch geklärt -“
    „Jo!“
    „ - … und können vielleicht noch über etwas anderes sprechen? Womit beschäftigt man sich als Mitglied des Wolfsclans denn sonst noch, wenn man nicht gerade arbeitet und Stollengrollen, ähm … verköstigt?“
    „Ach Stollengrollen geht immer!“, raunte Hogar. „Ansonsten … Orks! Ich sag’s dir, man muss da drauf vorbereitet sein! Ich mache manchmal noch Rundgang … der alten Zeiten willen! Ein Nordmann ist nur dann ein Nordmann, wenner die Traditionen von alt hergebracht eingeng … eingedenk seiner Ahnen … ja … hält. Wenn diese verfluchten Bestien wieder angreifen sollten, sehe ich es als erstes. Ich kann dir sagen, mit diesen Orks, das ist doch kein Frieden! Für sie ist es nur ein Waffenstillstand, sie kenne nur den Krieg! Kriegen nur Krieg, pah! Stein auf Bein und sie kommen angerannt, wenn Attacke ist … sag ich mal. Da kannst du dir nie sicher sein! Und jetzt pass mal auf, ich erzähl dir noch was über die: Wusstest du, dass die in der Schlacht um Faring ihre eigenen Kinder …“

    Die Gemeinschaft des Wolfsclans ist eine arbeitsteilige Gemeinschaft, aber anders, als der Reisende aus Myrtana dies gewohnt sein wird. Hier gibt es weder Tagelohn noch Arbeitszwang, zumindest nicht in der Form, dass jedem Einzelnen eine spezifische Tätigkeit zugeordnet wäre. Frauen wie Männer gehen handwerklichen Tätigkeiten nach, sie schmieden, stricken, verarbeiten Holz und Stein zu ihren so charmant in den Berg gesetzten Häusern, und wer sich im Dorf genau umschaut, der findet an allen Ecken und Enden kleine Zeugnisse der Lied- und Dichtkunst Nordmars.
    Die Umstellung von einer eingeschworenen Kriegsgesellschaft zu einer weltoffenen Urlaubsstätte erfolgt langsam, aber doch stetig. Wer als Reisender die Eigenheiten des Wolfsclans zu respektieren weiß und ihre Geschichte würdigt, dem werden sich die Herzen der Dorfbewohner rasch öffnen. Bei einer Schüssel gesüßtem Eisenhalmkompott wird ihnen ihr Gesprächspartner aus dem Wolfsclan so manche interessante Geschichte erzählen können, wie überhaupt das gesellige Zusammenleben der Nordmarer im besten Sinne einnehmend ist, wenn man sich nur darauf einlässt.
    Beinahe unverzichtbar ist dabei, sich neben Speisen auch der reichhaltigen Getränkekultur Nordmars im Allgemeinen und des Wolfsclans im Speziellen zu widmen. Ob kühles Kristallwasser aus den Bergen, wohlig wärmender Feuernesseltee, süßlich-schwerer Eiswein oder auch mal ein kleines Fläschchen Nebelgeist: Der geneigte und maßvolle Trinker wird hier ganz bestimmt auf seine kulinarischen Kosten kommen. Seien Sie nur gewarnt, wenn Ihnen ein Wolfsclansmann – meistens in nur guter Absicht – den berüchtigten Stollengrollen anbietet! Die Zutaten sind streng geheim, das Ergebnis aber in ganz Nordmar bekannt, denn dieses Gesöff trägt seinen Namen nicht zufällig und kann schon in kleinen Mengen für einiges Gegrummel im unbedarften Magen sorgen – bestenfalls. Schlimmstenfalls – und davon sollten Sie hier ausgehen – haut Sie dieses Getränk schlichtweg um. Lassen Sie also lieber die Finger davon, wenn Ihnen Ihre Reise lieb ist!
    Abgesehen davon aber brauchen Sie im Wolfsclan keine übermäßige Vorsicht walten lassen. Nach dem Ende des Krieges besteht kaum noch Gefahr. Die Wege rund um das Dorf herum sind von gefährlichem Getier größtenteils befreit, und auch wenn die Wolfsclaner selber teils noch ein martialisches Auftreten pflegen, so wird Ihnen niemand etwas zuleide tun, sofern Sie sich anständig benehmen.
    A propos Ende des Krieges: Der Wolfsclan, von allen Ortschaften Nordmars am dichtesten an der Grenze zu Myrtana gelegen, ist wohl wie kaum ein anderes Dorf vom Krieg und dem Wandel nach dem Frieden geprägt. Schon im Krieg galt der Wolfsclan als nur wenig konfliktscheu, und diese Bereitschaft zum Streiten haben sich die Männer und Frauen auch in Friedenszeiten beibehalten. Wer auf den Krieg zu sprechen kommt, wird von harmlosen über blutrünstige Anekdoten bis zuweilen überraschend tiefschürfende Analysen so einiges zu hören bekommen. Sie sollten also viel Zeit mitbringen, wenn Ihnen der Sinn danach steht, über Krieg und Frieden zu diskutieren. Haben Sie diese, so können Sie sich aber sicher sein, dass die Wolfsclaner auch über ihre ehemaligen Feinde, die Orks, sehr differenziert denken und


    Alina ließ die Feder sinken und fuhr sich durch die von der trockenen Luft ganz spröde gewordenen Haare. Konnte sie das wirklich so schreiben? Waren das wirklich ihre eigenen Eindrücke, oder nur das, was sie gerne erlebt hätte? Sie konnte nicht gerade sagen, dass sie hinter dem stand, was sie geschrieben hatte. Sicher, sie war überzeugt davon, dass die Wolfsclaner im Grunde ihres Herzens eine liebenswürdige Gemeinschaft waren, und gerade als Frau hatte Alina sich wohl noch nirgendwo anders so höflich behandelt gefühlt. Wenn sie das alles aber doch wenigstens durch persönliche Gesprächseindrücke hätte untermauern können … stattdessen lagen dort auf dem kleinen Beistelltischchen nur die Notizen vom Gespräch mit Hogar, und dieses Gespräch war wirklich der Albtraum in Worten gewesen. Zügellose Saufgeschichten und endlose Ressentiments gegen die Orks wollte Alina jedenfalls nicht in ihrem Bericht unterbringen. Aber was sollte sie tun, wenn die vernünftigen Leute alle nicht mit ihr reden sollten und sie lediglich den einen geschichtsvergessenen Trunkenbold des Dorfes gesprochen hatte? Das konnte doch auch nicht im Sinne des Wolfsclans sein. Vielleicht würde Alina noch einmal mit Grim sprechen müssen. Wenn sie ihm vielleicht zeigte, was sie schon geschrieben hatte, dann -
    Ein Poltern ließ Alina auffahren. Es waren schwere Stiefel auf nassem Holz. Es waren einige Schritte, und als Alina im Kopf überschlug, wie viele Stufen die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer hatte, wurde ihr klar, dass nicht jeder der Schritte ein Schritt vorwärts sein konnte. Alina stand auf und rückte den kleinen Holzhocker aus dem Weg, wartete dann aber geduldig ab. Es verging sicher noch eine knappe Minute, da kam er zur Zimmertür herein.
    „Guud Neuischgeidn!“, sagte Rogas und wankte hinein. Die Tür knallte er achtlos hinter sich zu. Alina war froh, dass ihr Zimmer das einzige im Obergeschoss war. Es war schon spät, die Inhaberin der Pension hatte er sicher auch aufgeschreckt.
    „Habinna Tavernää nbar ktroffen die sich mit mir unthlaten haben“, fuhr Rogas fort. Er stand breitbeinig im Raum und schwankte, und er schien sich unsicher zu sein, ob er sich aufs Bett legen sollte oder nicht.
    „Ja, die Unterhaltung kann ich mir vorstellen … oder auch nicht“, sprach Alina mehr zu sich selbst. Auch sie war sich unsicher, wo Rogas gerade am besten aufgehoben war.
    „Pfundskäähärle sin das!“
    „Mit Sicherheit“, erwiderte Alina. „Rogas, du hast getrunken. Um das mal ganz neutral zu formulieren.“
    „Nasichahabbichdas!“, bellte Rogas unkontrolliert. „Eine Mann MUSS drink … trinken! Und ich bin ein echter. Mann. Nordmann auch! Wusstestewonnich, dass mein Name im Ur … ks … sprung aus Nommar kommt, hehe!“
    „Könntest du etwas leiser sein?“
    „Ja aber hallo, shhhhhhh! Ganz leise leise leise … wie die Sternlein am Hi … hihihihi. Hab innna Tavn … itv …“
    „Bitte was?“
    „Taverne!“, rief Rogas. „Da war ein geschmeiiiiiiiiiiiidig … geschmaddiger Herr bei … der konnt … der konnte und der kannte die Sterne. Das wär doch mal ein Thema … tik … für deine Reportertasche. Ach, was … Reportasche! Report …“
    „Wie viel hast du getrunken?“, fragte Alina streng.
    Rogas riss mit einem Mal erschrocken die Augen auf, entspannte seine Mimik aber kurz darauf wieder zu einem Lächeln. „Keeeeine Sorge …“, lallte er. „Die sind aber mal sowas von anner SPIIITZE … mit Gastfronnschaff … mussde nix zahln, weil ich hatte versprocken … versprochen dass ich mit trinke … den stoggel … den stroggegrog … den grolle …“
    „Stollengrollen?!“ Alina packte Rogas hastig an der Schulter, auch weil er drohte, zur Seite wegzukippen.
    „Ja!“, rief er, unfähig, sich aus Alinas Griff herauszuwinden. „Genau der … woher kennsenduden?“
    „Wie viel?“, fragte Alina nun noch eine Spur strenger als zuvor.
    „Weisichnich“, murmelte Rogas. „Hab bei fünnef aufgehört zu zähln …“
    Alina packte Rogas kurzentschlossen im Nacken und manövrierte ihn aus dem Zimmer heraus und die Treppe herunter. Er reagierte darauf zunächst mit unartikuliertem Protest, der aber nach und nach abebbte. Als sie unten an der Rezeption vorbeikamen, schaute die selig strickende Inhaberin des Hotels, eine ältere Frau mit zum Dutt gebundenen grauen Haaren, kurz auf. Im Lichtschein der kleinen Öllampe auf dem Tresen konnte Alina ihren Gesichtsausdruck nur erahnen. Möglicherweise lächelte sie, möglicherweise schaute sie aber auch besorgt.
    „Brauchst du Hilfe?“, fragte sie.
    „Nicht nötig“, antwortete Alina. „Alles unter Kontrolle.“
    Sie trat mit Rogas im Arm zur Tür heraus ins Dunkle. Sie fand sich nun auf der kleinen Veranda wieder, die in dieser klaren Nacht einen wunderbaren Ausblick auf den Sternenhimmel bot. Aber dafür war Alina jetzt nicht hier. Sie schloss sorgfältig die Eingangstür – ein Zugeständnis an frierende Gäste von auswärts – und ging dann mit Rogas die Stufen herunter.
    „Schöne Schderne …“, murmelte er.
    Und dann beugte Alina sich herunter, füllte ihre Hände mit Schnee und schleuderte die kalte weiße Masse in Rogas’ Gesicht. Mehr noch, sie verrieb den Schnee auf seiner Haut, nahm Rogas dann in den Schwitzkasten und warf ihn auf die weiße, glitzernde Decke am Boden. Rogas prustete, er hustete, und war dann wieder relativ schnell auf den Beinen, jedenfalls auf Knien.
    „Bist du denn … was sollte das denn? Also so geht’s ja nicht!“
    „Doch, nur so ging’s“, sagte Alina mit spöttischem Lächeln. „Du kannst ja sogar wieder reden.“
    Rogas zog sich an ihr hoch, bis er wieder vollständig stand.
    „Scheint … so“, sagte er. „Aber dicke bin ich tortz … tortzdem noch.“
    „Das sollst du wohl auch sein. Komm, wir gehen wieder nach oben. Sieh zu, dass du morgen wieder halbwegs fit bist, wir fahren dann weiter zum Hammerclan.“
    „Solange ich da nicht auch noch saufen muss …“, ächzte Rogas, als sie die Veranda hochstiegen und wieder ins Foyer der Pension zurückkehrten.
    „Es hat dich ja keiner dazu gezwungen“, merkte Alina noch an, als sie die Tür von innen zuzog.
    „Alle Achtung“, raunte es vom Tresen her. „Du hast deinen Mann ja im Griff. Wie lange seid ihr schon verheiratet?“
    Die Inhaberin der Pension hatte ihr Strickzeug kurz niedergelegt und lächelte Alina zu. Alina lächelte zurück.
    „Verheiratet sind wir nicht, aber wir sind schon lange genug zusammen, dass ich weiß, was er in solchen Augenblicken braucht.“
    Die Dame nickte wissend. „Stollengrollen, nehme ich an?“
    „Ich hab bei fünf aufgehört … aufgehört … zu zählen“, meldete sich Rogas noch ein letztes Mal zu Wort, verstummte dann aber. Alina zuckte gegenüber der Frau hinter dem Tresen die Schultern.
    „Kann man nichts machen“, sagte diese. „Dann mal gute Nacht.“
    „Gute Nacht“, gab Alina freundlich zurück, und dachte: Hoffen wir’s.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Hat man den Wolfsclan hinter sich gelassen, taucht man erst so richtig in Nordmar ein. Gewaltige Gletscher und Schneemassen säumen den Weg, der als solcher im Schnee kaum erkennbar ist. Riesige Eiszapfen hängen von Felsbögen herab, die den Eindruck frostiger, aber auch fragiler Orgelpfeifen vermitteln. Die Vegetation nimmt im bergigen Hochland etwas ab, aber sie verändert sich auch: „Morgentau“ ist nicht nur der Begriff für ein Myrtanern wohlbekanntes Wetterphänomen, sondern auch der Name einer Pilzart, die hier in Nordmar besonders gut gedeiht. Ihre violetten Hüte sind, wenn auch in der Regel durch weiße Flocken beschneit, häufig schon von Weitem zu erkennen und geben der sonst so mächtig bläulich-weißen Eislandschaft wunderbare Farbtupfer. Sie ähneln in ihrem Aufbau übrigens dem „Krötenwurz“, der auch in den Breiten von Myrtana geläufig ist und sich vom Morgentau durch seine scheckige, grün-gelbe Farbe und seine raue Oberfläche unterscheidet. Auch den Krötenwurz findet man in Nordmar, meist in der Nähe der Dörfer, manchmal aber auch in der Wildnis, dann häufig in erstaunlich großen Kolonien im Windschatten größerer Felsen.
    Die dritthäufigste Pilzart in Nordmar, die von den Pflanzenkundlern Myrtanas noch nicht endgültig klassifiziert wurde und von den Einheimischen in Nordmar mal eher bieder „Turmpilz“, mal recht neckisch „Nordzipfelchen“ genannt wird, besticht eher durch seine auffällige Form denn durch seine blasse Farbe: Das teils überirdisch gelegene Pilzgeflecht verbindet sich mit einem breiten Halm, der wiederum in einen sehr sonderbar anmutenden Hut übergeht, der sich geschwungen wie ein kleiner Magierturm gen Himmel zirkelt. Ein wirklich faszinierender Anblick, der aber stets aus der gebührenden Entfernung genossen werden sollte, damit Sie sich nicht selbst in Versuchung bringen, vom Pilz zu kosten. Es ist kein Speisepilz, und schon der Verzehr kleinster Mengen kann schwere toxische Wirkungen entfalten, die sich im Anfangsstadium meist in irreversiblen Hautveränderungen äußern. Halten Sie sich also selbst und insbesondere auch Ihre Kinder, sollten sie denn mitreisen, von diesen Pilzen fern!
    Auch lieber aus der Ferne genießen sollten Sie die insbesondere im Hochland reichhaltig vorhandene Fauna. Bedenken Sie stets: Das nordmarer Hochland ist kein Streichelzoo! Zwar ist den sogenannten „Trollschluchten“ nur noch ihr Name geblieben, und auch die umherstreifenden Eiswölfe sind entweder sehr scheu oder längst domestiziert. Säbelzahntiger dagegen treiben sich noch immer im nordmarer Hochland herum, wenn auch eher abseits der Wege – Sie werden vermutlich keinem begegnen, und selbst wenn Sie das tun, wird der Säbelzahn sein Heil in der Flucht suchen. Eine gewisse Grundvorsicht ist aber natürlich dennoch geboten, wie bei allem, was der Reisende in der Wildnis von Nordmar unternimmt.

    Durchaus nicht weniger wehrhaft als die Säbelzahntiger, aber gleichwohl ungefährlicher und harmloser und ein wahrhaft erhebender Anblick sind dagegen die Wollbisons, deren Bestand von Orks und Menschen gleichermaßen gesichert wurde, weshalb die gehörnten Vierbeiner noch heute in kleinen bis mittelgroßen Herden umherstreifen. Die Chancen stehen gut, dass Si~~~~~


    „Ach Mist, wieder abgerutscht!“
    Alina knüllte das gerade neu angefangene Blatt Papier wütend zusammen und schmiss es zu den anderen zerknitterten Papierkugeln im Hinterraum des Schlittens.
    „Ich glaube, das mit dem Schreiben unterwegs, das wird auf Dauer nichts.“
    „Nicht meine Schuld!“, rief Rogas vergnügt zu ihr nach hinten. „Aber wir fahren auch nicht mehr lange, ich kann den Hammerclan schon sehen!“
    Tatsächlich war in der Ferne, auf einer hohen, nebelverhangenen Bergkuppe, ein Dorf aufgetaucht, welches nur der Hammerclan sein konnte. Sie fuhren allerdings nicht in direkter Richtung darauf zu, sondern umkreisten den Berg, um so nach und nach an Höhe zu gewinnen. Ulla, die Pensionsinhaberin, hatte ihnen bei einer kräftigen Schüssel Fischsuppe für jeden – gut gegen Kater, wie sie versprochen und gehalten hatte – den richtigen Weg erklärt. Wären sie allein nach Karte gefahren, wären sie wohl früher oder später in eine der Gletscherspalten gestürzt. Rogas tat sein Bestes, um wirklich nur auf befestigten und offensichtlich sicheren Strecken zu fahren, auch wenn er dafür ein ums andere Mal hektisch manövrieren musste, was die Orkhunde vor dem Schlitten aber zumeist artig mit sich machen ließen. Sie hatten vor der Tour schließlich auch noch etwas Extrafutter bekommen, Corwyn sei Dank.
    „Ich glaube das immer noch nicht, wie fit du schon wieder bist“, sagte Alina, nachdem sie ihr Schreibzeug wieder weggepackt hatte. „Aber warte nur ab, der dicke Hammer kommt sicher noch, so ab Nachmittag.“
    „Würde ja zum Hammerclan passen, was?“, sagte Rogas, ab jetzt den Blick wieder stur und konzentriert nach vorne gerichtet. „Aber mir geht es wirklich blendend. Naja, der Schädel brummt schon noch ein bisschen, aber so mit der frischen Luft geht das schon.“
    „Schön für dich“, bekannte Alina. „Aber ab jetzt gilt für dich auf dieser Reise ein absolutes Alkoholverbot, dass wir uns richtig verstehen.“
    Jetzt schaute Rogas doch wieder über die Schulter. „Was? Warum denn? So ein Bierchen am Abend ist doch trotzdem noch -“
    „Alkoholverbot“, wiederholte Alina. „Ohne Ausnahme.“
    „Finde ich sehr unschön“, kommentierte Rogas pikiert. „Immerhin bin ich doch erst dadurch mit den Leuten in der Taverne ins Gespräch gekommen. Was die mir alles erzählt haben …“
    „Allen möglichen Unsinn, wahrscheinlich“, fuhr Alina dazwischen. „Ich habe mich doch selber mit dem einen Trunkenbold unterhalten, das war alles für die Katz. Und was die dir in der Taverne da für Geschichten erzählt haben, das will ich lieber gar nicht wissen. Vermutlich ist das dann dieses Zeug, was man später in der Sildener Rundschau liest.“
    „Die haben da übrigens eine eigene Zeitung, den Nordmarer Clanboten. Aber der kommt nur alle halbe Jahr mal raus, weil seit dem Frieden einfach nicht mehr genug passiert. Ach übrigens, wusstest du, dass die Orks in der Schlacht um Faring angeblich ihre eigenen Kinder -“
    „Obacht! Eiliger Journalist auf der Überholspur!“
    Nun warf auch Alina einen Blick nach hinten und sah dort einen mit sechs Hunden bespannten Schlitten heranrauschen, mit einem ihr leider nur zu bekannten Schlittenführer auf dem Fahrersitz.
    „Sag mir bitte, dass ich noch träume“, murmelte Alina nur zu sich selbst, denn die Schneegeräusche der beiden Schlitten und auch das Gejapse der nun insgesamt zehn Orkhunde übertönte ihre Worte.
    Vincent zog mit seinem Schlitten gleich und fuhr nun parallel zu ihnen. Er trug heute einen leicht anderen Mantel als bei der vorherigen Begegnung, mehr wie ein Art dickerer Anzug mit Knöpfen in zwei Reihen. Zudem hatte er seine schwarze Mütze gegen ein rotes Exemplar mit Bommel eingetauscht.
    „Auch schon genug vom Wolfsclan, was?“, rief Vincent zu ihnen herüber. Gekonnt präsentierte er sein weißes Grinsen. Alina war froh, dass das Wetter wieder trüber geworden und der Himmel wolkenverhangen war. In der prallen Sonne hätte sie sich jetzt vermutlich schlimm geblendet gefühlt.
    „Was bei Beliar hast du mit den Leuten eigentlich besprochen, dass ihr Anführer ein Redeverbot erteilen musste?“, rief Alina zurück.
    „Ich? Gar nichts! Die können das da oben halt nicht ab, wenn man ihnen mal ein bisschen auf den Zahn fühlt, das ist alles! Abgesehen davon: Ich hab schon von denen bekommen, was ich hören wollte. Dieser Grim oder Grom oder wie der hieß kam für mich schon viel zu spät. Da hätte er schon schneller schalten müssen!“
    Alina ballte die behandschuhten Fäuste. „Das ist doch … !“
    „Leben und Leiden eines Journalisten“, rief Vincent etwas zusammenhangslos. „Aber wem erzähl ich das?“
    Er zuckte ratlos mit den Schultern. Alina war nicht entgangen, dass Vincent schon eine ganze Zeit nicht mehr nach vorne gesehen hatte, im Gegensatz zu Rogas auf ihrem Schlitten, der pflichtbewusst die Strecke im Blick hielt. Hoffentlich gibt es keinen Unfall, dachte Alina. Aber ein bisschen hoffte sie vielleicht auch auf etwas anderes, nur ein ganz kleines bisschen und rein hypothetisch.
    „Naja, wie auch immer“, rief Vincent dann noch einmal. „Ich setz’ mich dann mal von euch ab. Plaudert sich hier eh schlecht, findet ihr nicht? Bis dann! HO!“
    Die sechs Orkhunde vor seinem Schlitten wurden auf Kommando schneller und zogen das Gefährt an Alina und Rogas vorbei. Als Vincent sie überholt hatte, winkte er noch einmal, ohne nach hinten zu schauen, mit der rechten Hand, und war einige Augenblicke später im Eisnebel verschwunden.
    „Der ist bestimmt noch später aufgestanden als wir“, wandte Alina sich an Rogas. „Mit seinen sechs Hunden und dem Schlitten holt der das ja locker auf.“
    „Gewusst wie“, kommentierte Rogas nur. „Es ist, wie es die Leute immer sagen: Geld regiert die Welt. Ich frage mich nur, wo der die ganze Pinke eigentlich her hat. Muss ja ganz schön gut verdienen beim Khoriner Tageblatt.“
    „Bekommen“, merkte Alina scharf an. „Allerhöchstens bekommen.“ Und dabei beließ sie es dann auch. Was kümmerte sie Vincent. Solange er nicht auf der gleichen Tour zum Dämonenturm unterwegs war.
    Alina schluckte, als sie an die alte Paladinburg in Faring zurückdachte. Spuk und Dämonen, das war eigentlich immer Vincents Ding gewesen.

    Bisher hatte Alina die Kälte noch ohne Probleme ausgehalten. Nun aber, wo sie schon seit einiger Zeit vor dem Eingang zur alten Mine standen und warteten, kroch der Frost ihr unaufhaltsam unter die Kleider. Es waren nicht die niedrigen Temperaturen allein, die Nordmar so schrecklich kalt machten – es war vor allem die Dauerhaftigkeit dieser Kälte, die einen, von den raren Sonnenstunden mal abgesehen, unaufhörlich einhüllte. In Myrtana war der Winter immer irgendwann vorbei, in Nordmar währte er ewig.
    Die Ankunft im Hammerclan war relativ reibungslos verlaufen. Auch hier gab es, wie schon im Wolfsclan, eine Art Koppel für Schlittenhunde und die zugehörigen Schlitten, und auch hier war Alina schnell klar geworden, dass die Nordmarer wussten, wie man mit Orkhunden fachgerecht umzugehen hatte. Und tatsächlich, so hatten es ihnen die Nordfrauen nicht ohne Stolz erklärt, tatsächlich musste auch hier niemand für die Unterbringung seines Schlittens und die Pflege seiner Hunde bezahlen.
    Das Dorf des Hammerclans war deutlich größer als das des Wolfsclans. Zudem war es hier viel gebirgiger, der Hang, auf dem es errichtet war, war teils kaum erklimmbar. Genauer gesagt lag das Kerndorf selbst aber nicht an diesem Hang, sondern oben auf der Kuppe des Bergs; nur dort hatten die hoch aufgeschossenen Holzhäuser genügend Halt. Aber auch der Weg zum Dorf war bereits befestigtes Clangebiet, das von kleineren Palisadenabschnitten und Wachtürmen geprägt war und in dem sich Jägerinnen und Jäger, Kämpferinnen und Kämpfer geschäftig umhertrieben – wobei letztere eher ruhig bei der Sache waren, denn in Friedenszeiten hatten sie naturgemäß wenig zu tun.
    Ganz oben im Kerndorf gab es eine Pension, und auch hier hatten Alina und Rogas schnell ein Zimmer bekommen. Dabei war Alina die ganze Zeit in Habachtstellung gewesen, ob sie direkt wieder Vincent begegnen würden, aber weder vorher bei den Schlitten, noch später in der Pension hatte er sich blicken lassen. Deshalb hatten Alina und Rogas ein Schwätzchen mit dem Besitzer der Pension, einem ehemaligen Krieger namens Ugolf, halten können. Er hatte bestätigt, was Alina in ihrer Recherche vor Beginn der Reise herausgefunden hatte: Nachdem man im Hammerclan jahrelang nicht einmal gewusst hatte, wer Xardas, der legendäre Dämonenbeschwörer, überhaupt war, bot man heutzutage geführte Touren zu seinem ehemaligen Turm an. Tatsächlich hatte Ugolf versprochen, ihnen eine solche Tour noch für den heutigen Tag zu vermitteln, und hatte ihnen zur Wahl gestellt, ob sie in der Pension warten oder direkt zum Treffpunkt am Mineneingang gehen wollten. Für Rogas war ziemlich klar gewesen, dass sie in der halbwegs warmen Pension bleiben sollten, Alina dagegen hatte vorgeschlagen, sich doch noch ein bisschen im Dorf umzuschauen, damit sie mehr Material für ihre Reportage hatte. Und nachdem Ugolf im Gespräch immer seltsamer geworden war, wie er erklärt hatte, die Pension nur zu betreiben, weil er nicht gerne allein in einem Haus schlief, und wie er dann auch noch Rogas zu einer Runde Stollengrollen herausgefordert hatte, hatte sich Alina freundlich aber bestimmt verabschiedet und Rogas mit nach draußen genommen. Nach einem kurzen Rundgang – das kleine Hügelgrab am Hang, dessen Hinkelsteine an den Rändern mit wunderbaren Eiszapfen verziert waren, hatte sich Alina als Sehenswürdigkeit genau eingeprägt – hatten sie Stellung vor dem Eingang zur alten Mine bezogen. In ihr wurde seit dem Ende des Krieges nur noch wenig gearbeitet, und man hatte es sich sogar geleistet, die große Erzader an der Außenseite des Berges unberührt zu lassen, teils aus Symbolik, teils um Reisenden von auswärts etwas Sehenswertes zu bieten.
    „Hey, ich glaube, der da vorne, der ist es!“
    Rogas hatte Alina sanft in die Seite gestoßen und wies den steilen Berghang hinauf. Dort kam gerade in zielstrebigen Schritten ein durchaus üppig gerüsteter, aber in seiner Gestalt recht schlanker Nordmann herunter, und er schien direkt auf sie zu zu marschieren. Mit seinen hellbraunen bis rötlichen, nach hinten gekämmten Haaren, dem fein konturierten Bärtchen an der Unterlippe und den stechenden Augen machte er einen eher strengen Eindruck.
    „Entschuldigung, bist du Hauke?“, fragte Alina ihn, als er nah genug an ihnen dran war.
    Der Mann stutzte kurz, lächelte ein wenig, und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ganz sicher nicht, und da bin ich auch ganz froh drüber“, sagte er.
    „Also bist du nicht derjenige, der die geführte Tour zum Turm macht?“, hakte Rogas nach.
    „Das habe ich nicht gesagt. Aber ich bin mit nur einer Person verabredet. Sein Name ist -“
    „Vincent van Fronio, pünktlich zur Stelle!“
    Alina und Rogas drehten sich beide ruckartig um und sahen mit an, wie Vincent van Fronio aus dem Stolleneingang heraus kam, eingekleidet in einen hellen Mantel und einen Hut mit breiter Krempe.
    „Ich war nur mal eben unten in der Mine. Ich habe mich doch nicht verspätet?“
    „Touristen haben in der Mine nichts zu suchen“, bemerkte der Nordmann kühl.
    „Sag mir mal was, was ich noch nicht weiß“, meinte Vincent nur. „Das haben die mir da unten nämlich auch erklärt und mich direkt wieder rausgejagt. Aber da war eh nichts los.“
    Sein Blick fiel auf Alina und Rogas. Er lächelte.
    „Ach, ihr beiden schon wieder. Wenn ihr zum Plauschen aufgelegt seid, muss ich euch aber enttäuschen. Ich muss jetzt nämlich mit meinem Turmführer los. Also, unter der Voraussetzung, dass Ihr Mort seid, werter Herr.“
    Er wandte sich wieder dem Nordmann zu. Dieser nickte und sagte: „Lass uns doch beim ’Du’ bleiben.“
    „Na aber sicher doch“, sagte Vincent und ergriff die Hand des Nordmanns, noch bevor dieser sie überhaupt ausgestreckt hatte. „So halte ich es doch auch immer gern! Vincent, mein Name, wie gesagt!“
    „Gut, wenn wir das dann geklärt haben …“
    „Und was ist mit uns?“, fiel Rogas in die Unterhaltung ein. „Kommt denn unser Führer jetzt gar nicht mehr?“
    „Das kann ich dir nicht sagen“, antwortete Mort. „Mit Hauke ist das so eine Sache. Aber das geht mich nichts an.“ Er wandte sich an Vincent. „Wenn du dann so weit bist …“
    „Na aber hallo, sogar noch viel weiter!“, bekundete Vincent. „Dann mal los!“
    Und dann stapften beide ohne ein weiteres Wort davon und ließen Alina und Rogas am Eingang zur Mine zurück.
    „Meinst du, das gibt noch was?“, sagte Rogas dann nach einer Weile. „Der hat ja gerade so eine Andeutung gemacht, bezüglich Hauke …“
    „Ich weiß es nicht“, seufzte Alina. Ihr war nun noch ein wenig kälter geworden. „Aber was weiß man auf dieser Reise schon.“
    Sie warteten noch ein wenig weiter. Nach ein paar Minuten sahen sie, wie ein für nordmarer Verhältnisse eher schmächtiger Mann die Anhöhe zu ihnen hinauf lief. Alina und Rogas nickten sich gegenseitig zu, das musste er jetzt aber wirklich sein.
    „Hallo“, sagte der Mann ein wenig atemlos, als er bei ihnen angekommen war. „Hauke, mein Name. Ehemaliger Schürfer und jetzt Führer für geführte Führungen zum alten Turm! Seid ihr …?“
    „Sind wir“, sagte Alina. „Ich bin Alina, das hier ist Rogas. Wir hatten die Tour gebucht.“
    „Sehr schön, sehr schön“, sagte Hauke noch immer etwas hektisch. Er trug sehr helles, blondes Haar auf dem Kopf, ähnlich wie Mort nach hinten gekämmt, aber an den Seiten komplett abrasiert.
    „Sollen wir dann direkt los, oder willst du noch einmal kurz durchschnaufen?“, fragte Alina, die fast schon ein wenig Mitleid mit dem jungen Mann bekam, der ein sichtlich schlechtes Gewissen wegen seiner Verspätung hatte.
    „Ach, kein Ding“, meinte er. „Ich bin das gewohnt, zu Terminen zu rennen, die ich sonst verpassen würde.“ Er lachte. „Ist vielleicht als Turmführer nicht ganz so praktisch, aber als Schürfer eben noch weniger, wenn dir der Vorarbeiter im Nacken sitzt. Von daher.“
    Er trat ein wenig unruhig von einem Bein aufs andere.
    „Ich weiß gar nicht, ob ihr das schon wisst, es werden noch zwei weitere Leute mit auf der Tour sein. Sie sind … etwas älter und hatten schon angekündigt, es ein bisschen langsamer angehen lassen zu wollen. Ich hoffe, das ist kein Problem. Wir sammeln sie dann unten an der Brücke ein, ihnen war das zu anstrengend, bis hier hoch zu kommen.“
    Alina stutzte kurz und sah Rogas an. Der wiederum zuckte nur mit den Schultern.
    „Nein, ist es nicht“, bekundete Alina aufrichtig. „Warum auch? Wenn wir langsamer gehen, dann haben wir ja auch mehr von der Strecke, so gesehen. Das sollte also kein Problem sein.“

    „ … und nun war ja aber auch niemand anderes zu Hause, ich war ja mit dem Damenclub zur Apfelernte in Ardea, und unser Sohn, ach, der ist ja schon so lange von zu Hause ausgezogen.
    Jedenfalls war sonst niemand zu Hause, und dann ist auch noch mein Mann gefallen.“
    „Aber ich bin einfach wieder aufgestanden!“
    Der ältere Herr namens Bram stieß ein raues Lachen aus, und Trine, seine Ehefrau, stimmte glockenhell mit ein. Ein bisschen klang sie dabei wie eines der Hühner, die im Dorf des Hammerclans umhergelaufen waren.
    Alina hatte Mühe, sich ein Lächeln abzuringen bei dieser Anekdote. Es war jetzt ungefähr die elfte. Sie hatten das alte Ehepaar kaum am Fuße des Hammerclans aufgesammelt und die Reise begonnen, da hatten Bram und Trine sie abwechselnd und ungefragt mit einem langweiligen und zuweilen an Komik grenzenden, aber leider nur grenzenden, inhaltsleeren Schwank nach dem anderen überzogen. Ihr Fundus schien unerschöpflich zu sein, aber das war auch nicht schwierig, denn im Grunde waren die Geschichten eh alle gleich, nur Namen und Orte änderten sich, aber immer fiel jemand, stürzte jemand, verpasste seine Kutsche oder ging von Arzt zu Arzt. Bram – ehemaliger Jäger, wie er nicht müde wurde, zu betonen – hatte anfangs außerdem noch ein paar Sauf- und Kneipengeschichten beigesteuert, die Rogas zu allem Unglück interessiert aufgenommen hatte, aber wenigstens in dieser Sache hatten Alina und Trine eine stille Übereinkunft gefasst, solche Anekdoten zu missbilligen. Das schien dann aber auch ihre einzige Gemeinsamkeit zu sein. Alina hatte nichts gegen alte Leute. Wirklich nicht. Aber …
    „Hachja, so ist das Sildener Dorfleben eben manchmal“, fasste Trine nun schon zum vierten Mal zusammen. „Jeden Tag was Neues!“
    „Ja, hätte ich ja gar nicht gedacht, dass in Silden so viel los ist“, meinte Rogas. „So Geschichten hat deine Mutter aber nicht auf Lager, Alina! Oder sie hält damit ziemlich geschickt hinterm Berg.“
    „Ach … Ihre Mutter kommt auch aus Silden, Fräulein Alina?“
    Alina schaute Rogas an. Sie hätte ihn am liebsten die Klippe heruntergeschmissen, an der sie gerade vorbeistapften.
    „Ähm, ja“, antwortete sie wahrheitsgemäß auf die Frage der alten Frau. „Sie passt aber momentan zu Hause in Montera auf unsere Tochter auf.“
    „Na dann sind Sie ja quasi auch echte Sildenerin“, sagte Bram etwas atemlos. Für einen ehemaligen Jäger war er nicht wirklich gut zu Fuß. „Dann sind Sie auch in der alten Mühle getauft worden, nehme ich an?“
    Alina schluckte. Das war eine der Kindheitserinnerungen, die sie gerne für immer verbannt hätte. In Silden war es Brauch, die Kinder im Alter von etwa fünf Jahren in die Mühle zu setzen und über ihnen das Korn zu mahlen, bis sie nur noch mit dem Halse herausschauten. Dann waren sie „getauft“. Weil die Kinder das typischerweise nicht einfach so mit sich machen ließen, wurden sie von ihren Familienmitgliedern dabei festgehalten, bestenfalls unter jeder Menge Gequengel und Geschrei, meistens aber unter nicht unerheblicher Gewalt. Das war einer der Gründe für Alina gewesen, aus Silden wegzuziehen. So etwas wollte sie ihrer Tochter nicht zumuten.
    „Ja, ich hatte auch meine Mühlentaufe“, sagte Alina. „Aber ich finde -“
    „Wenn ich kurz unterbrechen dürfte“, ging Hauke dazwischen, der die ganze Zeit über recht schweigsam gewesen war, aber beständig den Eindruck gemacht hatte, etwas sagen zu wollen. Vermutlich war er zu höflich oder zu schüchtern gewesen, Bram und Trine zu unterbrechen. Warum er nun ausgerechnet Alina unterbrach, das konnte sie aber nicht wirklich verstehen.
    „Ich will euch schließlich nicht die Besonderheiten dieses Pfades vorenthalten. Das hier wäre nämlich insbesondere etwas für den ehemaligen Jäger unter uns!“
    Hauke, der in seiner für die Verhältnisse der nordmarer Mode sehr pazifistisch anmutenden Stoffkleidung selber aussah wie ein Jäger, war an einer Stelle im Schnee stehengeblieben, die mehrere dunkle Flecken aufwies. Bei näherem Hinsehen entpuppten sich die Flecken als Spuren im Schnee, Spuren eines Tieres mit vier Zehen oder Krallen.
    „Jetzt habe ich natürlich gerade meine Augengläser nicht dabei“, murmelte Bram, nachdem er die Spuren eine Zeitlang begutachtet hatte. „Sind das Trollfüße?“
    „Weit gefehlt“, sprang Hauke schnell ein. „Es sind die Tatzenspuren eines Säbelzahns! Wir haben Glück, dass es in der Zwischenzeit nicht geschneit hat. Üblicherweise sind die Spuren schnell wieder verwischt.“
    „Säbelzahntiger?“, rief Trine aus. „Bei Innos! Sind die nicht gefährlich?“
    „Keine Sorge“, beruhigte Hauke, dem das kleine Spielchen sichtlich Spaß machte. „Die Spuren zeigen von uns weg, hier hinein in die Botanik abseits des Pfades. Um diese Zeit betreten die Säbelzähne nicht die Wege, sondern halten Schlaf in ihren Verstecken. Nicht, dass sie sich tatsächlich vor irgendwem verstecken müssten. Sie wollen bloß einfach ihre Ruhe. Wir sind also alle in Sicherheit.“
    „Na da bin ich aber beruhigt“, sagte Trine hörbar erleichtert. Der Tross setzte seinen Spaziergang fort.
    Sie waren nun wirklich schon eine ganze Weile unterwegs. Und auch wenn Alina das tatsächlich Gelegenheit gegeben hatte, sich die Umgebung zu begucken mit ihren steilen Hängen, den riesig gewachsenen Gletschern, markant geformten Klippen, ausladenden Gebirgsketten, mit gelb leuchtenden Bergkristallen gespickten Felsen und der ein oder anderen Ansammlung an bunten Ogerblättern – sie hatte sich mittlerweile satt gesehen, und das alles war nichts, was ihre Reportage wirklich weiterbringen würde.
    „Mein Mann und ich, wir haben uns ja extra für ein Gebiet entschieden, das nicht so gefährlich ist“, führte Trine weiter aus. „Wir wollten ja ursprünglich nach Varant, wo es schön warm ist. Aber nachdem wir in der Zeitung gelesen haben, was da so los ist … da kann man als Frau doch gar nicht mehr hingehen, habe ich mir direkt gedacht, die nehmen mich doch direkt zur Sklavin, und was die sonst nicht alles mit einem machen! Stand alles in der Sildener Rundschau, haarklein!“
    „Und ich wollte schon immer einmal was länger in Nordmar Urlaub machen, und dann haben wir das kurzfristig entschieden“, vollendete Bram. „Wir sind recht spontan, wissen Sie.“
    Danach war erst einmal Ruhe. Alina genoss es, einfach nur dem Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln lauschen zu können. Bram und Trine kramten in ihren Täschchen herum. Vermutlich sollte es die nächste Riege Schnapsbeerenkuchen geben, dessen erste Runde Alina – auch mit Blick auf Rogas – vehement abgelehnt hatte.
    „So, so langsam kommen wir ins interessante Gebiet“, sagte Hauke dann irgendwann in einem ganz verschwörerischen Tonfall. Tatsächlich waren die Ränder des Gebirgspfades, jedenfalls zur Klippenseite hin, mit kleinen, jedoch äußerst lückenhaften Holzzäunen versehen. Es dauerte noch eine kleine Weile, aber schließlich mündete der ansonsten nur aus Schnee und vereistem Fels bestehende Pfad in einem mit Natursteinen gepflasterten Weg, der an den Seiten von zwei mehr als mannshohen, steinernen Fackeln flankiert wurde, deren Feuerschalen von lodernden, aber offenbar kalten Flammen erfüllt waren. Das allein war schon beeindruckend genug, aber dieses magische Phänomen verblasste angesichts der Tatsache, dass nun vor ihnen aus nächster Nähe das Ziel ihrer Reise stand: Xardas’ Turm, der ehemalige Rückzugsort des legendären Dämonenbeschwörers.
    „Tja … da ist er“, sagte Hauke, durchaus mit Ehrfurcht in der Stimme. „Der Turm des Dämonenbeschwörers.“
    Alina teilte den ehrfürchtigen Eindruck Haukes. Der Turm war in der Tat imposant. Er beeindruckte zunächst durch seine schiere Größe, er ragte hoch hinauf in den Himmel und stach durch den bläulichen Eisnebel, der das Gebiet umhüllte, bis fast zu den Wolken – oder vielleicht auch nicht, aber das machte nicht wirklich einen spürbaren Unterschied. Alina konnte ihren Kopf kaum weit genug in den Nacken legen, um die Spitze des Turms zu sehen. Massive, dunkle Steine bildeten den Korpus des Turms, der in regelmäßigen Abständen steinerne Ringe umgelegt hatte, von deren Enden weitere Steine in Stachelform abstanden. Ja, das war wahrlich kein Elfenbeinturm, sondern ganz eindeutig der Turm eines Dämonenbeschwörers. Für diejenigen, die trotzdem noch nicht verstanden hatten, dass mit dem – ehemaligen – Bewohner dieses Turms nicht gut Kirschen essen war, war direkt über dem Eingang noch ein riesiger knöcherner Schädel samt Gerippe angebracht, welches in stilisierte Knochenflügel überging, die an den Steinen des Turms anlagen. Es war der Schädel eines Tieres oder etwas Vergleichbarem, jedenfalls nicht der eines Menschen. Das Wesen war zu Lebzeiten ganz sicher nicht ungefährlich gewesen, und wie Teile seiner Überreste nun die Front des Turms zückten, war dies wohl einfach eine weitere Machtdemonstration seines ehemaligen Inhabers – oder schlicht Ausdruck seiner seltsamen ästhetischen Vorlieben.
    „Also sowas habe ich ja nun auch noch nicht gesehen“, hauchte Trine, nachdem sie ihr letztes Stück Schnapsbeerenkuchen heruntergeschluckt hatte. „Und das haben Menschen gebaut?“
    Hauke räusperte sich. „Naja, das kann man nicht mehr so genau sagen! Zwar wäre man mit viel Aufwand wohl in der Lage, so einen Turm auch in dieser eisigen Gegend hier aufzubauen. Aber nicht an einem einzigen Tag. Genau an einem einzigen Tag soll dieser Turm nämlich entstanden sein. Und das kann nur ein Dämonenbeschwörer gemacht haben. Oder besser gesagt: Die von ihm beschworenen Diener.“
    Eine scharfe Windböe zog um den Turm herum, wie, um die Worte Haukes zu bekräftigen. Alina zog ihren Mantel enger um sich.
    „Was waren denn das für Diener?“, fragte Rogas interessiert. „Dann tatsächlich auch Dämonen?“
    „Das weiß man natürlich nicht genau, es war ja keiner von uns dabei“, meinte Hauke. „Aber es werden wohl schon irgendwelche Dämonen gewesen sein. Und Golems.“
    „Also nichts, was ich jagen würde“, sagte Bram lachend, während er sich mithilfe eines weißen Taschentuchs die krümeligen Reste seines Stücks Schnapsbeerenkuchen von den Mundwinkeln rieb.
    „Können wir auch in den Turm reingehen?“, nahm Rogas Alina die Worte aus dem Mund.
    Hauke nickte. „Im Prinzip schon, wenn auch nicht weit. Die meisten Räume sind aus Sicherheitsgründen versiegelt worden, manche andere wurden von uns gar nicht erst betreten. Man weiß in diesem Turm eben nicht, ob da noch was lauert! Die Umstände von Xardas’ Verschwinden sind ja schließlich ungeklärt.“ Mit Blick auf die nervös dreinblickende Trine fügte Hauke hinzu: „Aber solange wir nur in den Eingangsraum gehen, wird uns nichts passieren. Ich würde allerdings vorschlagen, dass wir noch ein wenig hier draußen warten. Mort müsste mit dem anderen Besucher noch im Turm sein, ansonsten wären sie uns irgendwo auf dem Pfad nach hier oben entgegengekommen. Wir lassen ihnen mal noch ein wenig Zeit, dafür sind wir dann gleich ganz für uns, sage ich mal.“
    „Guter Gedanke“, kommentierte Alina rasch, bevor Hauke es sich noch einmal anders überlegte.
    Eine weitere Windböe zog an ihnen vorbei, diesmal so stark, dass dem verdutzt dreinblickenden Bram sein Taschentuch aus der Hand flog und hinter dem Gebüsch zu ihrer rechten irgendwo in den Schnee fiel.
    „Moment, das hole ich eben zurück“, raunte er. „Nicht ohne mich in den Turm gehen!“
    Er stapfte los und bemühte sich, einen Weg über die immergrünen Dornenbüsche zu finden.
    „Bram! Du kannst doch nicht einfach …“, rief Trine empört, und auch Hauke stimmte mit ein.
    „Entschuldigung, aber das geht nicht! Das ist gefährlich, wir sind hier doch ganz nah an einer Klippe!“
    „Ach was“, rief Bram, der die erste Linie der Büsche bereits überwunden hatte. „Ich bin Jäger, ich weiß schon, wo ich meinen Fuß hinsetzen muss und wo nicht.“
    „Bram, du kannst doch wirklich nicht …“, begann Trine wieder und kletterte ihrem Mann hinterher. Sie hatte etwas größere Schwierigkeiten, die Büsche zu überwinden, schaffte es dann aber doch irgendwie.
    „Moment, Moment“, rief Hauke nun äußerst nervös. „Das geht wirklich nicht! Wir haben Anweisung, mit den Besuchern die Wege nicht zu verlassen! Ich würde das nicht einmal alleine tun! Dort vorne ist doch schon der Gletscher! Nun warten Sie doch! Ich …“
    Er wandte sich hektisch an Rogas und Alina. „Hierbleiben, bitte! Ich gehe den beiden eben nach. Bleibt einfach an Ort und Stelle, ja?“Er hastete auch über die Büsche. Nach ein paar Schritten waren er, Bram und Trine schon außer Sichtweite, da das Buschwerk erstens dichter wurde und die drei zweitens um eine Schneewehe geschlichen waren.
    Rogas konnte nur hilflos grinsend mit den Schultern zucken, Alina schüttelte bloß den Kopf. Immerhin waren sie jetzt mal kurz für sich alleine.
    Ein lautes Grollen und Poltern schreckte Alina allerdings sofort wieder auf. War das der Gletscher, war den anderen etwas passiert?
    Das Poltern intensivierte sich noch, außerdem waren aus dem Turm harte und schnelle Schritte zu hören. Wenig später liefen von innen zwei Gestalten dem Ausgang entgegen. Alina brauchte in der Hektik einen Moment, um Vincent und Mort, den anderen Turmführer, zu erkennen.
    „Golem kommt, Golem kommt! Weg hier!“, rief Vincent, der bei der Flucht die Führung übernommen hatte. Alina hatte nicht einmal Zeit, erstaunt zu sein, wie schnell Vincent rennen konnte, da waren er und Mort auch schon an ihnen vorbeigelaufen.
    Dann schien die Erde zu beben, und Alina sah, was Vincent angekündigt hatte. Aus dem Inneren des Turms bahnte sich ein bulliges Monstrum seinen Weg. Alina hatte bereits Zeichnungen von Golems, diesen nahezu unzerstörbaren magischen Steinwesen, gesehen, aber dieser hier war anders. Statt aus Felsen war er aus Eisklötzen zusammengebaut, die ihm einen annähernd humanoiden, muskulös erscheinenden Körper gaben, dessen Haupt eine grob ins Eis gehauene Fratze zierte, wenn man denn hier von Zierde sprechen wollte.
    „Wir müssen weg!“, brüllte Rogas, der Alina aus ihrer Starre riss. Sie rannte los, überlegte noch, ob sie irgendwie die anderen warnen konnte, aber es hatte keinen Zweck. Sie mussten längst gehört haben, was los war, und so oder so waren sie hinter der Schneewehe wohl am sichersten.
    Die kalte Winterluft peitschte Alina ins Gesicht, während sie rechts von ihr die Bergwand, links von ihr die Klippen vorbeirauschen sah. Vor und hinter ihr wirbelten sie und Rogas Schnee auf. Für die dichte Schneedecke war Alina nun fast dankbar: Auf einer glatten Eisschicht wären sie längst gestürzt, der Schnee gab ihnen stattdessen Haftung, mochte er sie auch ein wenig verlangsamen.
    Der Eisgolem, wie Alina bei einem waghalsigen Schulterblick feststellte, rannte tatsächlich direkt hinter ihr und Rogas her und machte auch keine Anstalten, von ihnen abzulassen. Zudem war er schnell; schnell und offenbar unermüdlich. Kunststück: Er hatte ja vermutlich keine Lunge, die japsend mit der eiskalten Luft fertig werden musste, wie es bei Alina und Rogas der Fall war. Außerdem war da noch Alinas alte Fußverletzung, die ihr jederzeit einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Wenn sie gerade jetzt wieder aufbrechen sollte … nein, sie wollte darüber nicht nachdenken. Rogas warf nun ebenfalls einen sorgenvollen Blick nach hinten. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände, der Golem war noch immer an ihnen dran – was auch durch die regelmäßigen Erschütterungen und den allgemeinen Lärm, den er beim Bewegen seiner eisigen Glieder verursachte, bestätigt wurde.
    „Rogas, pass auf!“
    Alinas Ruf kam zu spät, Rogas stolperte in vollem Lauf über eine Gruppe kleiner Findlinge, die mitten auf dem Weg lagen. Er hob ab und schlug einen Meter weiter wieder auf den schneebedeckten Boden auf, blieb dann aber nicht liegen, sondern fing auf dem steilen Hang an zu rollen, begleitet von erschrockenem Gebrülle und Gekeuche. Es hätte sogar lustig ausgesehen, wäre die Situation nicht so ernst gewesen. Alina spürte ihr Herz klopfen. Solange Rogas noch so schnell weiter rollte, holte der Golem sie nicht ein, aber wenn er zum Erliegen kommen sollte, dann …
    Alina erhöhte ihr Tempo, auch wenn ihr bereits Hals und Lunge brannten – auch ihre Zähne und ihr Zahnfleisch, schon immer etwas kälteempfindlich gewesen, hatten beim hektischen Atmen durch den Mund zu schmerzen begonnen.
    „Steh auf, steh auf!“, rief sie dem nun nicht mehr rollenden, sondern schlitternden Rogas zu, der allmählich langsamer wurde und sich mit zappelnden Händen und Füßen im Schnee festhalten wollte. Alina rannte weiterhin neben ihm her, der Pfad führte sie in eine kleine Senke, in der eine Gruppe Hirsche friedlich graste. Sie hoben beinahe zeitgleich ihre Köpfe und stieben auseinander, als sie Alina und Rogas erblickten.
    Rogas war nun endgültig zum Erliegen gekommen, mit dem Rücken auf dem Boden, und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Kreuz. Alina zerrte an ihm herum. „Steh auf, steh auf, wir müssen weiter!“, rief sie drängend, aber Rogas schüttelte nur den Kopf.
    „Er … kehrt um.“
    Rogas saß in Blickrichtung zum Bergpfad, von dem sie gekommen waren. Als Alina sich umdrehte, sah sie es auch: Der Eisgolem hatte kehrt gemacht und marschierte mit großen Stampfern und noch größerer Ruhe wieder den Berg hinauf.
    „Innos sei Dank“, sagte Alina nur keuchend und stützte ihren Oberkörper mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. „Das hätte auch ins Auge gehen können.“
    Rogas spuckte eine Mischung aus Eis, Schnee und Speichel aus. „Du hast gut reden. Mir ist einiges ins Auge gegangen. Verfluchter Schnee!“
    Alina schmunzelte. Das konnte sie, jetzt, wo alles nochmal gut gegangen war.
    „Bist du verletzt?“, fragte sie zur Sicherheit.
    „Nur in meiner Ehre“, meinte Rogas lakonisch. „Glaube ich. Hier und da ein bisschen was abgeschürft und der Rücken tut mir weh, aber sonst ist alles noch dran und nichts gebrochen.“ Zum Beweis stand er auf und schüttelte sich ein wenig aus. „Na dann – wollen wir wieder rauf?“
    Alina lachte verzweifelt. „Du spinnst wohl. Wenn da der Golem sein Unwesen treibt … ich hoffe nur, die anderen sind jetzt nicht in Gefahr.“
    Rogas legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ich denke, sie werden schon mitbekommen haben, was los ist. Und Hauke kennt sich ja aus. Da wird schon nichts passieren. Und wahrscheinlich zieht sich der Golem wieder in den Turm zurück. Er scheint ja eine Art Wächter zu sein, oder?“
    „Das kann gut sein. Wobei ich mich frage, was Vincent da drinnen gemacht hat, dass er den Wächter aufgescheucht hat. Laut Hauke hätten wir doch ganz normal in den Turm gehen können, ohne dass uns so ein Golem angreift.“
    „Naja, du weißt ja gar nicht, ob Vincent irgendwas gemacht hat. Da würde ich ihn nicht vorverurteilen.“
    „Und ich würde ihn an deiner Stelle lieber nicht in Schutz nehmen“, knurrte Alina.
    Rogas zuckte nur mit den Schultern, das Gespräch verebbte. Alina wurde es nun wieder sehr kalt, jetzt wo die Hitze der Flucht abgeklungen war. In der Senke, in der sie sich befanden, war es äußerst nebelig. Die Feuernesseln, an denen die Hirsche vormals noch gekaut hatten, waren verlassen. Die Wipfel der paar Bäume, die vereinzelt herumstanden, waren teils schneebedeckt, teils wohl von den Hirschen freigeschüttelt worden. Es war beinahe idyllisch.
    „Ich hab’ die Schnauze voll, wir gehen am besten zurück ins Dorf“, äußerte Alina ihre Pläne.
    „Wie du meinst“, sagte Rogas. „Du bist der Chef! Geht es deinem Fuß denn gut?“
    Alina lächelte. „Danke, dass du fragst. Ich denke, es geht schon.“
    „Gut. Zur Not trage ich dich.“
    „Ach du, mein Held.“

    „Da vorne ist die Brücke. Innos sei Dank.“
    „Na also“, sagte Rogas schnaufend, „geht doch!“
    Alina blieb stehen und stemmte ihre Arme in die Hüfte. „Was soll das denn jetzt heißen, ’geht doch’? Ich habe ja von Anfang an gesagt, wir müssen am Fuß des Bergpfads erstmal weiter geradeaus. Du wolltest nach rechts gehen!“
    Auch Rogas blieb nun stehen. „Wir sind ja letzten Endes auch nach rechts gegangen“, sagte er in unbeteiligtem Tonfall. „Wir hätten das eben nur konsequent durchhalten müssen. Stattdessen wolltest du ja zwischendrin die Richtung wechseln. Wenn wir natürlich eine Karte dabei gehabt hätten …“
    „Ach, jetzt lass doch endlich diesen Mist mit der Karte!“, schimpfte Alina und setzte sich wieder in Bewegung. „Ich konnte ja schlecht vorhersehen, dass wir unseren Führer bei einer Flucht vor einem Eisgolem verlieren werden und dann alleine nach Hause gehen müssen. Zumal wir auch durchaus hätten warten können, bis Hauke mit den beiden zurückkommt. Die machen sich ja jetzt bestimmt auch ganz unnötig Sorgen um uns.“
    „Aber du wolltest dann doch zurück ins Dorf!“, sagte Rogas. Sie waren soeben in selbiges Dorf zurückgekehrt und kämpften sich den Pfad zurück zu ihrer Pension hinauf. „Außerdem ist es doch schon stockdunkel. Worauf hätten wir noch warten sollen?“
    Alina seufzte. „Ja, in der Hinsicht hast du wohl recht. Wenn der Mond nicht so scheinen würde und der Schnee das Licht nicht so reflektieren würde, wir hätten den Weg wohl gar nicht mehr gefunden. Ach, was soll’s. Seien wir einfach froh, dass wir wieder zurück sind.“
    „Das ist doch mal ein Wort“, sagte Rogas, und dann waren sie auch schon an ihrer Pension angekommen und freuten sich auf den warmen Ofen in ihrem Zimmer.

    Der Pfad zum alten Turm des Dämonenbeschwörers ist versteckt, und man muss ihn erst unter all den anderen Wegen und Gebirgswindungen entdecken. Hat man ihn dann gefunden, beginnt ein steiler Aufstieg, der dem Ortsunkundigen wie ein Gang ins Ungewisse vorkommt. A propos Ortsunkundige: Auf eigene Faust sollte man diesen Ausflug lieber nicht unternehmen. Denn auf dem Pfad zum Turm nimmt die Vegetation stetig ab, selten entdeckt man Spuren von wildlebenden Tieren oder gar die Tiere selbst, und mit jedem weiteren Höhenmeter scheint der Wind etwas eisiger zu werden. Verläuft man sich hier, so kann dies böse enden. Nicht nur zum Erhalt der eigenen Gesundheit ist es daher empfehlenswert, einen Einheimischem beim Gang zum Turm dabei zu haben. Im Hammerclan werden geführte Touren angeboten, bei denen erfahrene Nordmarer den Reisenden zur Seite stehen und auch die eine oder andere Information über den Turm und seine Umgebung verraten können, an die man sonst nicht gelangt wäre. Auch dies ist ein großes Zugeständnis an die neue Rolle der nordmarer Clans, die statt auf Kriegskunst nunmehr auf Touristik setzen: Hat man dort vor Jahren nicht einmal gewusst, wer Xardas der Dämonenbeschwörer war, so kann man heutzutage als Reisender ein Komplettpaket an historischen Fakten über Xardas und seinen Turm, gepaart mit mythischer Folklore bekommen.
    Baut sich der Turm am Ende des Weges dann vor einem auf, ist Erstaunen angesagt. Nicht nur wegen seiner schieren Größe und der Gestalt, sondern gerade auch, weil man ihn trotz dieser immensen Größe nicht vom Fuß des Berges aus zu sehen vermochte. Tatsächlich ist der Turm recht geschickt in die verschlungene Gebirgskette hineingebaut, sodass er von neugierigen Blicken von außerhalb abgeschirmt ist.
    Sieht man den Turm des Mannes, der Xardas genannt wurde, dann jedoch vor sich, so könnte der Kontrast des dunklen Steins zur schneeweißen Umgebung kaum größer sein. Wie ein finsteres Fanal scheint er in den Bergfels gerammt zu sein, um von dort aus mahnend in die Höhe zu zeigen; der kunstvolle, runde Bau auf der Hälfte mit einer Art steinernen Dornenkrone verziert, der Eingang mit einer abschreckenden Knochenfigur ausgestaltet.
    Wenn Sie den Turm zusammen mit einem Führer vom Hammerclan besuchen, so werden Sie das Heim des Dämonenbeschwörers nicht nur von außen bestaunen. Auch ein Besuch ins Innere der Räumlichkeiten ist bei so einer Tour fest eingeplant. Sie sollten sich allerdings gut überlegen, ob Sie den Turm zusammen mit mitreisenden Kindern besuchen, denn selbst wenn Sie nicht alle Zimmer des Turms betreten können, so reicht vermutlich bereits ein Blick in die Eingangshalle, um ungefestigte Zeitgenossen zu verschrecken. An allen Ecken und Enden wird offenbar, dass hier nur und einzig ein Dämonenbeschwörer gehaust haben kann. Besonders zeigt sich das am


    „Nein. Das ist doch alles …“
    Alina saß nun schon eine ganze Weile am Tisch in ihrem doch sehr geräumigen Pensionszimmer, das sogar mit zwei getrennten Betten ausgestattet war – die sie allerdings zusammengeschoben hatten – und kam einfach nicht weiter. Auf einem der Betten lag Rogas, der die Wärme im beheizten Zimmer sichtlich genoss und erfolglos aber hartnäckig die Landkarte studierte, um herauszufinden, welche Irrwege sie bei ihrer Rückkehr eigentlich genommen hatten. Auf Alinas Worte hin ließ er die Karte sinken und sah zu ihr herüber.
    „Schreibblockade?“
    „So ähnlich. Ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll, wenn wir doch gar nicht im Turm drin waren.“
    Du wolltest …“, begann Rogas sich zu verteidigen, aber Alina winkte ab.
    „Ich weiß, ich weiß“, sagte sie. „Und das war auch richtig so. Aber nun stehe ich ganz ohne Eindrücke von innerhalb des Turms da. Und überhaupt … wenn ich mir das alles so durchlese, was ich hier bisher geschrieben habe, klingt diese Tour richtig toll, aber das war sie doch gar nicht. Das kann ich den Leuten doch nicht verkaufen, sowas!“
    „Naja“, sagte Rogas und setzte sich schwerfällig auf. „Wird auch nicht jeder einen Jäger im Ruhestand und seine Ehefrau aus Silden mit dabei haben, oder?“
    Alina ließ ein schnaubendes Lachen ertönen. „Schon klar. Aber es wird auch nicht jeder von einem wütenden Golem den Gebirgspfad heruntergejagt werden. Da bin ich ja auch am Überlegen, ob ich das überhaupt so schreiben soll. Nicht nur, dass es nicht zu dem passt, was ich eigentlich vermitteln will. Es klingt auch einfach so unglaubwürdig.“
    „Es ist eben unglaublich, aber wahr“, folgerte Rogas und setzte sich auf, um noch einen Schluck aus seiner Tasse mit Feuernesseltee zu nehmen sowie einen vom kleinen Abendmahl übrig gebliebenen Streifen Pökelfleisch zu stibitzen. Auch Alina nahm noch einen Schluck von ihrem Tee und legte dann die Finger um die dampfende Tasse. Ihre Hände waren kalt, das wurden sie immer, wenn sie länger schrieb, egal, wie warm es um sie herum war. Und der Ofen im Zimmer schürte wirklich ordentlich.
    „Aber das mit dem Golem ist das kleinere Problem, wie gesagt, ich mühe mich vor allem damit ab, irgendetwas Sinnvolles über den Turm zu schreiben.“
    Rogas kaute und überlegte. Als er runtergeschluckt hatte, sagte er: „Denk dir doch einfach aus, wie es im Turm ausgesehen hat, das fällt doch keinem auf, dass du da gar nicht drin warst.“
    Alina verschränkte empört die Arme. „Doch, das fällt auf, mindestens Vincent wird es wissen. Und außerdem widerspricht das meinem Berufsethos. Machst du das bei deinen Artikeln für die Goth’sche Zeitung etwa auch so?“
    „Naja, äh, also, jedenfalls nicht direkt, ich -“
    „Du tust was?!“
    Es klopfte an der Tür. Alina und Rogas sahen sich kurz an.
    „Herein“, rief Alina dann.
    Die schwere Holztür schwang auf, im Türrahmen kam ein junger Kerl zum Vorschein. Es war Hauke.
    „Innos sei Dank, ihr seid wirklich hier“, sagte er. „Ugolf hatte es mir schon berichtet, dass ihr wieder hier seid. Ihr wart auf einmal weg und ich dachte schon …“
    „Wir sind vor dem Golem geflohen“, gab Alina Auskunft. Vorsichtshalber hielt sie den Arm auf ihren Notizen, sie wollte nicht, dass Hauke oder nur irgendwer anderes Fremdes ihr Manuskript las.
    „Ja, das haben wir noch mitbekommen“, sagte Hauke. „Ich weiß nicht, was Mort da in dem Turm veranstaltet hat, dass der Wächter zum Leben erwacht ist. Zum Glück ist niemandem was passiert. Der Golem ist schlussendlich einfach wieder in den Turm zurückgekehrt, und wir konnten den Heimweg antreten. Das Ehepaar, das mit uns da war, hat nicht einmal alles so richtig mitbekommen. Zum Glück hat der Alte sein Taschentuch sonstwo verloren, sonst hätten sie und ich mitten im Weg gestanden, als der Golem los war.“
    „Es ist ja zum Glück nichts passiert“, sagte Alina. „Danke, dass du hergekommen bist, um nach uns zu sehen.“
    Hauke druckste ein wenig herum, trat von einem Bein aufs andere. „Naja“, begann er zögerlich. „Mir ging es jetzt vor … ähm, auch darum … ihr hattet mich noch nicht bezahlt …“
    Alina hätte sich beinahe am Tee verschluckt. In ihr keimte der Impuls, eine Handvoll Gold aus ihrem Beutel zu nehmen und sie Hauke direkt ins Gesicht zu schmeißen, aber sie rang diesen Impuls rasch nieder. Da gab es diesen einen Spruch, den sie in ihrer Ausbildung mehrfach gehört hatte und den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte. Vincent hatte den öfter gesagt. Außer Spesen nichts gewesen.
    Alina hatte schnell die verabredete Menge an Gold zusammengezählt und schüttete sie Hauke in die Hand. „Da!“, sagte sie dazu nur. Hauke füllte die Münzen in seinen eigenen Goldbeutel, woraufhin sich gespanntes Schweigen anschloss. Alina konnte solche Momente gut aushalten, der Nordmann dagegen ganz offensichtlich nicht. Sie sah keine Veranlassung, die Situation von sich aus aufzulösen.
    „Dann … gehe ich wohl mal wieder.“
    „Jo“, sagte Alina. „Tschüss!“
    Mit einer Mischung aus Nicken und angedeuteter Verbeugung verabschiedete Hauke sich, verließ das Zimmer und zog die Tür behutsam von außen zu.
    Alina schüttelte den Kopf, auch über sich selbst. Hauke konnte natürlich nicht viel für diese katastrophale Tour, aber irgendwer musste es ja abbekommen.
    Sie schaute zu Rogas, der die ganze Zeit unbeteiligt im Raum gestanden hatte. Ihr Blick musste wohl Bände sprechen, denn er kam zu ihr herüber und legte den Arm um sie.
    „Na komm“, sagte er. „Morgen wird es besser. Neuer Tag, neues Glück.“
    Alina rang sich ein Lächeln ab. „Na wenn du das sagst.“

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Wer vom Hammerclan aus den langen Weg zum Kloster antreten will, der muss zunächst die Anhöhe des Bergdorfs verlassen und in die nordmarer Talsenken hinabsteigen. Sie sind Kessel voller Schnee, aber zuweilen auch kleine winterliche Gärten, die, je näher man sich gen Norden und Westen bewegt, mehr und mehr gar nicht mal so kleine Bäume beheimaten, die sich von ihren Artgenossen in den höchsten Regionen der Eislandschaft unterscheiden. Es sind mehr Laub- denn Nadelbäume, aber die gefrorenen Eiskristalle auf ihren Astgabeln, welche sie dann und wann daniederwerfen, lassen sie gleichwohl stachelig aussehen. Diese Bäume sind es, aus deren Holz die Nordmarer ihre barkenartigen Häuser zimmern, und das liegt auch nur nahe, haben die Bäume doch teils schon jahrzehntelang ihre Widerstandsfähigkeit gegen die ewige Kälte des hohen Nordens bewiesen.
    Der Reisende muss sich allerdings darauf einstellen, dass es auch bei einer – wie generell zu empfehlenden – Schlittenfahrt hinab ins Tal nicht in einem Rutsch nach unten geht, sondern dass es zwischendrin mal auf, mal ab und dann wieder auf geht. Stellen Sie also sicher, dass Ihre Schlittenhunde gut ausgeruht sind, und achten Sie aufmerksam auf Ihren Kurs, denn auch der Weg nach unten ist mit zahlreichen Klippen gepflastert!


    Alina setzte die Feder kurz ab und schaute in die Ferne – was auf ihrem Weg gleichbedeutend war mit dem Schauen zur nächsten Bergwand. Die Sonne war am heutigen Tage wieder voll durchgekommen und stand hoch am Himmel, ihr Licht erfüllte die ganze Senke und reflektierte kraftvoll vom glühend weißen Schnee. Es war wirklich ein schöner Anblick, und Alina war dann doch froh, dass sie nicht früher losgefahren waren, denn dann hätten sie den Sonnenstand in diesen Ebenen nicht so ausnutzen können.
    Nach der gestrigen Flucht vor dem Golem und ihrem langen Nachhauseweg auf zahlreichen Irrwegen hatten sie sich ein paar Stunden mehr Schlaf gegönnt. Das hatte gut getan, dafür hieß es jetzt aber, dass sie sich keine Trödelei mehr erlauben durften. Denn wenn es dunkel war, so hatte Alina bereits vor ihrer Reise recherchiert, dann schloss das Innoskloster seine Pforten und ließ niemanden mehr hinein. Kamen sie zu spät, mussten sie also bis zum nächsten Morgen warten, wenn Innos wieder die ersten Strahlen des Tages auf die Erde schickte. Alina überlegte kurz. Ja, so oder so ähnlich würde sie das auch in die Reportage schreiben, das klang gut.
    „Ich höre gar keine Beschwerden mehr“, rief Rogas über die Schulter. Er hatte es sich auch an diesem Tag nicht nehmen lassen, den Fahrer zu machen, aber Alina war das nur recht so.
    „Auf dieser Strecke hier schreibt es sich auch besser“, gab Alina zurück. „Ist weniger hügelig!“
    „Oder ich fahre einfach schon viel besser“, lachte Rogas. Alina lachte mit, sie war sich ziemlich sicher, dass das keinen Einfluss auf die momentan recht ruhige Fahrspur hatte.
    Sie steuerten gerade eine weitere Abfahrt nach unten an, während sie am Rande einer Klippe – natürlich mit gebührendem Abstand – durch den Schnee brausten. Die Sonne musste hier häufig so kraftvoll wie heute scheinen, denn es gediehen Feuernesseln und Morgentau, dazu noch ganz andere Pilzsorten, blau schimmernde Hüte an langen, gebogenen Stielen, die sich in einer Art und Weise dem Licht entgegenstreckten, wie es für Pilze sonst gar nicht so üblich war. Auch einzelne kleine Vögel ließen sich hier nieder und bevölkerten die mal dornigen, mal kahlen, mal immergrünen Büsche ringsum. Gerade war wieder ein kleiner Schwarm lärmend davongeflogen – offenbar war das Federvieh regelmäßigen Schlittenverkehr nicht gewohnt.
    Plötzlich verdunkelte sich die Sonne für einen Augenblick, aber Alina begriff rasch, dass sich nicht die Sonne verändert hatte, sondern ihr Blickfeld, denn ein großes Etwas war aus dem Gebüsch am Wegesrand gesprungen, direkt vor ihrem Schlitten her. Die Hunde bremsten so heftig ab, dass es Alina fast vom Schlitten schleuderte. Ihr Gepäck schlug ihr gegen den Rücken, vorne brüllte Rogas und machte einen Abflug zur Seite.
    Dann ertönte ein Fauchen, und das Etwas, das aus den Büschen gesprungen war, entpuppte sich als weißpfötig und hellbraun mit schwarzen Streifen, mit scharfem Blick und einem unverkennbaren Gebiss. Sie waren tatsächlich doch noch auf einen Säbelzahntiger gestoßen, und von der vielbeschworenen Scheu der Einzeltiere war nichts zu sehen. Der Säbelzahn fauchte und knurrte, als er mit gespreizten Beinen und in Sprungstellung vor dem Schlitten lauerte und den noch immer am Boden liegenden Rogas anvisierte. Offenbar hatte der plötzliche Sturz Rogas mehr mitgenommen, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.
    Alina spürte das Blut in ihren Adern rauschen und ihr Gesicht glühen. Ohne Rücksicht auf Verluste preschte sie aus dem Schlitten, hin zu den knurrenden und scharrenden Orkhunden. Sie musste sie aus dem Geschirr befreien, dann würden sie vielleicht angreifen. Es war ihre einzige Chance.
    Sie kam allerdings nicht weit, denn kaum war sie nach vorne gelaufen, spürte sie einen unglaublichen Hieb von der Seite. Ein heißer, übelriechender Atem machte ihr klar, was passiert war, und als sie ihren Blick wieder fokussieren konnte, sah und spürte sie den Tiger über ihr. Er hatte seine Krallen ausgefahren und griff damit in ihre Schultern, wie festgenagelt lag sie hinterrücks im Schnee. Sie konnte es nicht sehen, glaubte aber, nahe an der Klippe zu liegen. Der schwere Leib des Tigers auf ihr schmerzte, aber sie war sich sicher, dass das nichts dagegen war, was passieren würde, wenn ihr dieses Biest erst einmal die Fänge in den Körper hieb, womöglich noch in ihren Hals, der doch einzig und allein mit einem grauen Wollschal bedeckt war, der ein Raubtier garantiert nicht vom Töten abhalten würde.
    Alina wollte schreien, zappeln oder sonst irgendetwas tun, aber je mehr der Säbelzahntiger sein Gewicht auf ihren Brustkorb verlagerte, desto schwerer fiel ihr das Atmen. Er reckte nun den Hals, um zum Biss auszuholen. Alina hörte die Orkhunde bellen, und es klang schon ganz fern, als kämen sie aus einer ganz anderen Welt.
    Und dann gab es ein hohes Sirren und ein seltsam dumpfes Geräusch, wie wenn ein Kieselstein in den Schnee fiel – dann ein ohrenbetäubendes Fauchen des Tigers, das Alina wie die Eingangsmelodie zur Hölle vorkam.
    Der Druck auf ihrem Brustkorb ließ nach, der Säbelzahntiger sprang, noch immer fauchend, auf. Er machte eine rasche Kehrtwende, sodass Alina die weiße Spitze seines Schwanzes noch ins Gesicht bekam, und dann rannte er auch schon davon, auf die andere Seite des Talkessels, zunächst in eine Gruppe Büsche, dann eine flach anlaufende Bergwand hinauf, bis er hinter der Bergkuppe verschwunden war.
    Alina atmete ein paar Male tief durch, zumindest versuchte sie das. Sie zitterte am ganzen Leib und glühte so sehr, dass sie glaubte, den ganzen Schnee um sie herum allein durch ihre Anwesenheit schmelzen zu können. Als sie sich dann langsam aufsetzte, war Rogas schon bei dir.
    „Alina! Geht es dir gut?“ Seine Augen waren schreckgeweitet, sein Mantelkragen voller Schnee.
    Alina versuchte zu lächeln. „Nicht so wirklich, aber sonst fehlt mir nichts“, sagte sie. Sie ließ sich von Rogas aufhelfen und klopfte sich den Schnee von der Kleidung. Ihre Knie wackelten dabei noch ein wenig, aber das gab sich schon nach einigen Augenblicken wieder.
    „Dann bin ich ja froh“, hauchte Rogas, der sich zur Bekräftigung mit seiner freien Hand durchs Gesicht fuhr. „Mich hat es kurzzeitig fast ausgeknockt, als der Schlitten zum Stehen kam, das ging alles so schnell. Und dann hatte dich der Tiger auch schon …“
    „Den du offenbar vertrieben hast“, bemerkte Alina und wies auf Rogas’ noch behandschuhte Hand. In ihr befanden sich zwei kleine Wurfpfeile. „Du hast deine Pfeile mitgenommen?“
    Rogas blickte auf seine Hand, als hätte er die Wurfpfeile darin schon wieder vergessen. „Achso, äh, ja!“, sagte er. „Das war nur … also ich dachte, vielleicht wird in Nordmar auch gespielt. Dann hätte ich nämlich gerne mal gesehen, was die so drauf haben. Dafür, um wilde Säbelzahntiger zu verjagen, war das eigentlich nicht gedacht. Aber es hat ja geklappt. Schade nur, dass ich jetzt einen weniger habe.“
    „Mit nur einem einzigen Schuss“, murmelte Alina.
    „Wie meinen?“
    „Mit nur einem einzigen Schuss“, wiederholte sie lauter. „Jetzt ist der Lord doch noch gekommen, und hat das Ungeheuer mit nur einem einzigen Schuss vertrieben. Er hat zwar keinen Troll getötet, aber das war mindestens ebenso gut.“ Sie ging auf Rogas zu und drückte ihn einmal zärtlich. „Das war großartig.“
    „Achso, das meinst du!“, rief Rogas, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. „Naja … ja, scheint so! Du warst aber auch großartig! Ich dachte ja erst, du würdest den Tiger hinter dich die Klippe runterschmeißen oder so!“
    Alina schüttelte lachend den Kopf. „Ich glaube, davon war ich ziemlich weit entfernt.“ Sie blickte zum Schlitten herüber. Die Orkhunde waren unruhig und sichtlich gereizt, aber sie hatten sich nicht großartig wegbewegt.
    „Ich bin ja froh, dass die Hunde nicht weggerannt sind“, meinte Rogas, der Alinas Blick gefolgt war.
    „Ich auch, aber eigentlich wollte ich sie sogar aus dem Geschirr befreien. Sie hätten sich dem Tiger sicherlich entgegengestellt. Sind ja immerhin Orkhunde.“
    „Kann gut sein“, meinte Rogas und ging zum Vierergespann herüber. Er streckte seine Hand aus, welche die vorderen beiden Hunde bereitwillig ableckten.
    „Ich glaube aber, es wird noch einige Zeit dauern, bis sie sich wieder beruhigt haben. Die Jungs brauchen jetzt erst einmal was zu essen, wir haben ja zum Glück noch eine dicke Ration dabei. Und wenn sie dann wieder fahrtüchtig sind, machen wir uns auf den Heimweg.“
    Alina atmete stoßhaft aus. „Auf den Heimweg?“, fragte sie laut. „Du meinst wohl eher auf den Weg zum Kloster!“
    „Bitte was?“, rief Rogas entsetzt. „Du wirst beinahe von einem Säbelzahntiger totgebissen und willst dann einfach weiterfahren?“
    „Ja sicher, na eben!“, bestätigte Alina. Sie hatte die Hände nun energisch in die Hüfte gestemmt, wie sie es gerne mal tat, wenn sie Rogas darüber aufklären musste, dass nicht sie, sondern er es war, der sich im Irrtum befand. „Ich bringe mich doch nicht in so eine Gefahr, nur um auf halber Strecke dann wieder umzukehren. Dann war das ja alles umsonst! Und außerdem hast du ja deine Pfeile dabei. Übrigens kann uns auf dem Rückweg ja genau so viel passieren wie auf der Weiterfahrt, nach der Logik müssten wir für immer hier stehen bleiben. Und es ist meine Reise, und da bestimme ich, wie es weitergeht, und hiermit beschließe ich, dass wir so bald wie möglich unsere Fahrt zum Kloster fortsetzen!“
    Rogas sagte erst einmal nichts, sah zu Boden, sah auf die Hunde, sah gen Himmel und sah dann wieder Alina in die Augen. „Gut“, sagte er. „Dann machen wir das so. Aber an unsere Tochter denkst du auch, oder?“
    Jetzt war es an Alina, einen Moment lang zu schweigen. Die Gedanken hatte sie sich natürlich die ganze Zeit schon gemacht. Vor der Fahrt, während der Fahrt – und auch nach der Fahrt würde es wohl nie aufhören. Wenn ihnen etwas passieren würde …
    „Ja, natürlich denke ich an Nina“, sagte Alina leise und ging einen Schritt auf Rogas zu. „Aber …“ Sie rang nach Worten. „Man muss ja nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen, oder? Ich meine … wir haben ja jetzt schon einiges hinter uns, und wir haben es auch überstanden. Und jetzt sind wir umso vorsichtiger! Uns passiert schon nichts, keinem von uns beiden.“
    Rogas nickte. „Das sehe ich auch so. Ich wollte nur wissen, ob du genauso denkst wie ich.“

    „Es wird schon dunkel“, sagte Alina, als sie sich ihre Mütze zurechtrückte und den obersten Knopf ihres Mantels schloss.
    „Hast du was gesagt?“, rief Rogas durch den Wind zu ihr zurück. Den Blick hielt er, wie so oft, starr nach vorne gerichtet. Alina konnte an seiner Körperhaltung erkennen, wie konzentriert, aber auch angespannt er war. Möglicherweise waren die Hunde nach dem Zwischenfall mit dem Säbelzahn ein bisschen schwieriger zu lenken. Möglicherweise hatte Rogas aber auch nur genau verstanden, was Alina gesagt hatte, und dachte ähnlich: Sie hatten zu viel Zeit verloren.
    „Es wird schon dunkel!“, wiederholte Alina noch einmal lauter. „Wie lange, glaubst du, ist es noch?“
    Rogas schwieg auf diese Frage eine Weile. Alina war sich aber sicher, dass er sie spätestens jetzt verstanden haben musste.
    „Ist schon noch ein Stück“, rief Rogas über das Zischen des Schlittens und das Hecheln der Hunde hinweg. „Aber wir kriegen das schon hin! Noch ist es ja nicht ganz dunkel, die Dämmerung zieht sich hier ja immer ein bisschen.“
    Alina war klar, dass Rogas das vor allem der Beruhigung wegen erzählte. Ganz Unrecht hatte er allerdings nicht. Tatsächlich hatte es jetzt erst einmal begonnen zu dämmern, von einem wirklichen Einbruch der Dunkelheit war noch keine Spur. Indes war das nordmarer Kloster mehr noch als andere Abteien für seine festen und minutiös eingehaltenen Abläufe bekannt. Nur eine Sekunde zu spät, und sie standen vor verschlossenen Toren.
    Sie waren nun schon einige Meter in ein Tal gefahren, von hier aus schien es nicht mehr tiefer zu gehen. Die Streckenführung war durch die felsenen Bollwerke der Berge links und rechts verengt, hoch über ihnen hingen lange, spitze Eiszapfen bedrohlich herab. Die Sonne stand so tief, dass sie das Tal nur noch über Reflexionen in Schnee und Eis erreichte.
    Alina seufzte in sich hinein. War es doch ein Fehler gewesen, die paar Stunden später loszufahren? Hatten sie überhaupt eine Wahl gehabt, hätte es überhaupt einen Unterschied gemacht? Genau würde sie es erst wissen, wenn sie am Kloster ankamen. Aber sie hatte dieses Gefühl im Bauch, dass alles schrecklich schief gehen könnte. Das Kloster war die letzte Etappe, es sollte das Filetstück ihrer Reportage werden. Mit bloßen Außenansichten dieses in den Berg gehauenen Gemäuers konnte und wollte sie sich nicht zufriedengeben. Nur was, wenn sie musste?
    Sie ließen einen offenbar verlassenen Minenstollen zu ihrer rechten liegen, zu ihrer linken passierten sie ein verlassenes Zeltlager. Kurze Zeit später begann die bis dahin flache Talebene wieder anzusteigen. Die Hunde kämpften, es zog und zog sich.
    Klar, dachte Alina, das Kloster lag hoch in den Bergen, also mussten sie mindestens das an Höhe wieder aufsteigen, was sie abgestiegen waren.
    Dann begann es aus heiterem Himmel zu schneien. Natürlich war der Himmel nun eigentlich gar nicht mehr heiter, sondern von grauen Wolken verhangen, welche die Sonne, die Alina und Rogas mit dem Aufstieg zur anderen Bergseite eigentlich wieder hätten sehen können, hinter sich versteckten.
    „Echtes Nordmar-Wetter!“, rief Rogas, der sich die für seinen Kopf etwas zu kleine Mütze weiter über die Ohren zog. „Aber das gefällt den Hunden bestimmt! Ho!“
    In Wahrheit machten die Orkhunde nicht gerade den Eindruck, mit ihrer aktuellen Situation zufrieden zu sein, aber immerhin gaben sie ihr Bestes, den Bergpfad zu erklimmen.
    Alina kramte die Landkarte hervor. Bevor der Schnee zu stark und die Sicht zu schlecht wurde, wollte sie sich noch einmal vergewissern, dass sie noch auf dem richtigen Weg waren.
    „Wir müssen uns, wenn wir oben angekommen sind, links halten!“, rief Alina nach kurzem Kartenstudium zu Rogas rüber. Der bestätigte die Nachricht, indem er seine linke Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger in die Höhe reckte. Alina faltete die Karte schnell wieder zusammen und schob sie zurück in ihre Tasche. Zu viele Schneeflocken sollte der Stoff besser nicht abbekommen.
    Als die Steigung nach einer Weile nachließ, konnte man dasselbe vom Schneefall nicht behaupten. Er war immer stärker geworden, die einzelnen Flocken gefühlt immer dicker, und hinzu hatte sich ein grauer Nebel gesellt, der wahrscheinlich längst das gesamte Tal unten ausfüllte. Sie konnten von Glück sagen, dass sie von dort bereits weg waren, ansonsten hätten sie wohl gar nichts mehr gesehen. Aber auch so fiel es Rogas und auch den Orkhunden erkennbar schwer, noch richtig zu navigieren. Im Wolfsclan und im Hammerclan hatten die Bewohner häufig von den plötzlichen Wetterumschwüngen geredet, aber da Alina und Rogas bisher vom guten Wetter profitiert hatten, waren sie einfach davon ausgegangen, dass das schon so weitergehen würde. Den Gegenbeweis bekamen sie jetzt geliefert: Es war das reinste Mistwetter, und ungefährlich war es auch nicht.
    Die Kufen begannen zu kratzen, die Hunde ächzten und wurden langsamer. „Halt!“, rief Rogas, der offenbar schon vorher dazu beigetragen hatte, dass die Tiere bremsten. Kurze Zeit später standen sie. Rogas drehte sich zu Alina um.
    „Ab hier ist mit dem Schlitten nichts mehr zu machen“, erklärte er. „Das ist hier ein gepflasterter Weg. Und man sieht kaum noch die Hand vor Augen!“
    „Gut, alles klar!“, sagte Alina mit einem Mal hektisch und hüpfte vom Schlitten. „Wir müssten bald da sein, nur noch diesen Weg hoch, dann sind wir am Kloster! Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät …“
    „Ja, lass uns hoch!“, bestätigte Rogas, der sich vom Fahrerbock des Schlittens schwang. „Halt! Halt! Bleibt schön hier stehen, halt!“ Die Hunde nahmen die Befehle ungerührt entgegen und taten, wie geheißen. Sie würden schon hier bleiben. Wer nicht einmal vor einem außer Rand und Band geratenen Säbelzahntiger Reißaus nahm, der nahm auch keinen Schneefall als Anlass zur Flucht – zumal als Orkhund.
    Alina und Rogas begannen, Seite an Seite den Pfad zu erklimmen.
    „Man sieht wirklich kaum noch einen Meter weit“, sagte Rogas. „Und ich kann nicht einmal sagen, wie spät es ist.“
    „Hoffentlich können es die Klosterbewohner auch nicht so genau und halten die Pforte deshalb noch offen“, beschwor Alina ihr Glück. „Ich hoffe es so sehr … sollen wir rennen?“
    „Wegen mir“, meinte Rogas. „Aber Vorsicht! Der Weg macht da vorne schon eine Biegung, und wer weiß, wie viele noch! Wenn wir den Berg herunterschlittern, dann …“
    Sie erhöhten ihr Tempo, bemerkten aber schnell, dass sie ihre Energie mehr in den Berg hineintraten, als dass sie wirklich Höhenmeter gutmachten. Tatsächlich nahm der gepflasterte Pfad noch einige Windungen, bis er in einer weiteren der typisch nordmarischen Holzbrücken mündete, die sich dann aber eher als Treppe entpuppte, die sie wiederum auf ein hölzernes Plateau führte, das mit alten Kisten und ausgedienten Fässern zugestellt war. Die Klosterpforte konnte nicht mehr weit sein. Alina sah gen Himmel und glaubte zwischen dem weiß-grauen Gestöber einen mächtigen Eckturm zu erkennen. Sie war so konzentriert darauf, dass sie kaum die nächsten Treppenstufen kommen sah und daher stolperte. Rogas fing sie rechtzeitig auf, schnell setzten sie ihren Weg fort. Sie erklommen die letzte Stufe und – kamen vor einem riesigen Eisengitter zum Stehen. Dahinter lag eine mächtige Holzpforte. Geschlossen. Natürlich geschlossen.
    „Das darf doch nicht wahr sein“, hauchte Alina erschöpft, wobei der körperliche Aspekt dieser Erschöpfung sehr schnell in den Hintergrund trat. Am liebsten hätte sie sich direkt auf dem Treppenabsatz in den Schnee gesetzt und gar nichts mehr gemacht. Das war doch alles einfach nicht fair.
    Rogas klopfte durch die Gitterstäbe hindurch gegen die Pforte, aber ihr war nicht einmal ein Geräusch von Bedeutung zu entlocken. Er ging ein paar Schritte zurück, bis er wieder neben Alina stand, und sah hinauf, dort wo hinter dem diesigen Gemisch aus Schneefall und Nebel der Eckturm zu erkennen war.
    „So lasset uns ein! Wir sind aus Montera gekommen um das Kloster zu sehen! So öffnet die Pforte!“
    Rogas hatte beim Rufen die behandschuhte Faust gen Himmel gehoben, aber Alina packte ihn nun am Arm und drückte sie herunter.
    „Du kannst rufen, so viel du willst. Sie werden nicht aufmachen.“
    „Aber warum denn nicht?“, fragte Rogas empört. „Sie können Reisenden doch nicht einfach den Einlass verwehren! Und das auch noch bei diesem Wetter! Wir könnten … wir könnten in Not sein! Bei Innos, vielleicht sind wir das ja sogar wirklich! HILFE, WIR SIND IN -“
    „Shh!“, unterbrach Alina ihn angesäuert. „Damit machst du dich nur lächerlich. Es könnte sonstwas sein, nach Einbruch der Dunkelheit ist die Pforte geschlossen. Egal, was passiert. Das ist die Tradition des Klosters.“
    „Unbarmherzig ist das, nichts weiter“, knurrte Rogas halblaut.
    „Habe ich nie bestritten“, sagte Alina. „Ich fürchte, wir müssen akzeptieren, dass das heute nichts wird.“
    „Und jetzt? Willst du es morgen noch einmal versuchen? Da müssen wir doch eigentlich schon längst auf der Heimreise sein!“
    Alina sah in den Himmel, in die Ferne. Alles war grau. Die Welt schien im dunklen Schneetreiben all ihre Farbe und Kontur verloren zu haben.
    „Ich möchte …“, begann Alina. „Ich möchte, dass wir das trotzdem versuchen. Wir stehen morgen früh auf und fahren wieder hier hin. Ganz früh. Ich muss das Kloster von innen sehen und die Eindrücke aufnehmen, sonst bleibt die Reportage doch unvollständig! Und vielleicht nach einer Stunde hier im Kloster fahren wir direkt zurück nach Hause. Bis jetzt sind wir bei den Etappen doch auch ganz gut durchgekommen. Und selbst wenn es ein Tag später wird, meine Mutter ist ja noch im Haus. Ich habe dann vielleicht einen Tag weniger, um die Reportage zu redigieren … aber dafür kann ich ja unterwegs auch noch ein bisschen was machen. Das ging ja auch immer besser. Auch wenn wir uns auf der Rückfahrt natürlich abwechseln werden beim Fahren, das ist ja klar.“
    Rogas hatte sich das alles aufmerksam angehört und nickte. „Aber denk dran, wenn das Wetter so schlecht bleibt oder noch schlechter wird … es ist schon fraglich, ob wir es überhaupt zurück zum Hammerclan schaffen …“
    „Wir müssen ja nicht zum Hammerclan zurück“, erklärte Alina. „Hier ganz in der Nähe müsste der Feuerclan sein. Dort kommen wir bis morgen vielleicht unter. Und dann wird das Wetter auch schon wieder besser sein.“
    Rogas atmete einmal tief durch. „Und wenn nicht? Denk dran, bei so einem Wetter kann man eigentlich nicht fahren. Und wenn es dunkel wird, auch nicht. Die Zeit wird dann schon knapp. Und wenn wir noch ein paar mehr Tage warten müssen …“
    „Wenn, wenn, wenn“, murrte Alina. „Das kann man doch alles überlegen, wenn es so weit ist! Es ist schon erstaunlich, wie du die Sachen noch negativer reden willst, als sie jetzt schon sind.“
    „Will ich doch gar nicht!“, rief Rogas etwas lauter. „Es ist nur … ich will doch nur, dass du Erfolg hast! Und dass uns nichts passiert. Wir hatten darüber gesprochen.“
    Alina wusste darauf nichts zu sagen, deshalb schwieg sie erst einmal eine Weile. Irgendwie fühlte sie sich, als stünde sie vor einem Nichts und gleichzeitig in einem Nichts. Der Tag heute war ein Rückschlag, ein Niederschlag vielleicht sogar, das musste sie einsehen. Aber sie würden das schon alles hinbekommen, da war sie sich sicher. Aufgeben kam nicht in Frage.
    „Gehen wir dann wieder?“, fragte Alina nach einer Weile. „Du siehst es ja, hier macht uns keiner mehr auf.“
    Sie stiegen die Treppen wieder hinab, diesmal mehr als beim hektischen Aufstieg darauf bedacht, auf dem teilweise vereisten und nassen Holz nicht auszurutschen. Für Alina war jeder Schritt zurück eine kleine Niederlage, aber sie versuchte diese Gedanken zu verdrängen und konzentrierte sich darauf, dass sie ja morgen noch eine Chance haben würden, das Kloster zu besichtigen. Eine Übernachtung im Kloster selbst wäre zwar am besten gewesen, nicht nur für die Reportage, sondern auch um ihre persönliche Neugier zu befriedigen. Aber das würde nun einmal nicht mehr hinhauen, und dann war es wohl am besten, dem nicht mehr allzu sehr nachzutrauern.
    Sie verließen die Holzplattform und traten den Rückweg auf dem gepflasterten Steinweg an. Das Schneetreiben war nun noch dichter geworden, Alina sah kaum noch, wo sie hintrat. Auch Rogas wurde langsamer und schien den Weg ebenso wie sie mehr mit den Füßen zu erfühlen als mit den Augen zu sehen. Dass es bergab ging, streckenweise sehr steil, machte das Ganze noch unangenehmer. Und leider war es auch sehr sinnbildlich für ihre gesamte Reise.
    Alina war froh, dass sie die Biegung im Weg nach unten rechtzeitig erahnten und ihre Schritte entsprechend lenkten. Mittlerweile mussten sie sich schon die Hände vors Gesicht halten, damit ihnen die dicken Schneeflocken nicht in die Augen geweht wurden. Alina glaubte kurzzeitig sogar, Donnergrollen in der Ferne zu hören, aber sie hoffte darauf, dass das kein Gewitter war, sondern eines dieser Geräusche, die Berglandschaften eben schon einmal absonderten. Solange das Grollen von keiner Lawine stammte, war alles in Ordnung.
    Als sie dann aber am Fuße des Weges angekommen waren, traf Alina vollends der Schlag. Dort, wo sie ihren Schlitten abgestellt hatten, wo er eigentlich hätte stehen müssen, ja, dort stand er nicht mehr.
    „Der Schlitten!“, bemerkte nun auch Rogas.
    „Sind wir denn hier richtig?“, fragte Alina panisch. „War es vielleicht doch woanders? Wir könnten …“
    Rogas hatte sich heruntergebeugt. „Hier sind noch Spuren! Sie verwehen schnell, aber das sind eindeutig Abdrücke von den Kufen. Hier war das, wo wir ihn abgestellt haben, ganz eindeutig!“
    „Sind die Hunde etwa mit ihm abgehauen?“
    „Sieht nicht danach aus“, sagte Rogas und präsentierte ein Stück Leine vom Geschirr, in dem die Orkhunde gesteckt hatten. Es hatte einsam im Schnee herumgelegen.
    „Durchgebissen?“, fragte Alina, als sie das Stück Leine von Rogas in die Hand nahm.
    „Sieht eher aus wie gerissen oder geschnitten“, kommentierte er. Er blickte sich um, ging dann herüber zu einem großen Felsen, der am Rande der Klippe, in deren Nähe sie den Schlitten abgestellt hatte, stand. Alina kam hinterher, fuhr mit ihren behandschuhten und trotzdem mittlerweile steifgefrorenen Fingern über den Felsen und seine Spitze. Die Oberfläche war schon ziemlich scharfkantig.
    „Lagen die Leinen oder die Zügel oder was auch immer denn auf dem Stein auf?“
    „Ich weiß es nicht“, sagte Rogas. „Ich kann es auch nur vermuten. Aber ich denke gerade das Gleiche wie du.“
    Sie gingen vorsichtig ein wenig näher an die Klippe heran, aber konnten kaum einen Meter weit hinunter schauen. Es war, als sähen sie in ein Meer aus angegrauter Schlagsahne.
    „Wenn die Leine an der Stelle gerissen ist“, überlegte Alina, „dann müssten die Hunde es geschafft haben, aber der Schlitten … bei Innos, das darf doch alles nicht wahr sein.“
    Rogas beugte sich noch einmal in den Schnee herunter, sehr vorsichtig, um jetzt am Rande der Klippe nicht den Abflug zu machen.
    „So platt wie der Schnee hier ist“, raunte er, während er den Boden befühlte. „Es ist nicht auszuschließen, dass der Schlitten hier heruntergerutscht ist. Vielleicht ist er ins Rutschen gekommen, hat gezogen, und die Hunde sind panisch geworden. Dann haben sie dagegengehalten und gezerrt, und dabei ist das Geschirr über diesen Felsen geschleift worden.“
    „Wenn so ein ganzer Schlitten daran zerrt, steht ja auch alles unter Spannung“, ergänzte Alina. „Aber wenn das stimmt … dann ist der Schlitten … unser Gepäck. Meine … meine Aufzeichnungen …“
    Alina vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie spürte, wie Rogas näher kam, sie an sich zog und den Arm um sie legte, aber das tröstete sie gerade nicht. Das alles war die absolute Katastrophe. Es war alles verloren. Wirklich alles.
    Sie standen noch eine ganze Weile so an der Klippe, während der Schnee um sie herumrauschte. Alina wünschte sich ganz fest an einen anderen Ort, oder wenigstens, dass sie aus diesem Albtraum aufwachen würde, aber nichts dergleichen geschah. Es war ihr unter anderem auch deshalb zu anstrengend, weiter tatenlos herumzustehen und sich mit dem Verlust ihres – genauer gesagt Goroks – Schlitten und der Hunde konfrontiert zu sehen.
    „Komm“, sagte sie zu Rogas und blickte ihn an. Sie bemerkte, dass sie einen Schleier vor den Augen hatte. Nach ein paar Mal Blinzeln waren die Tränen weg. „Wir haben keine Ration, nichts mehr zu trinken, keine Decken und überhaupt nichts, was uns hier aufwärmen oder Schutz bieten könnte, und trotzdem stehen wir hier irgendwo im Nirgendwo am Rande einer Klippe. Wir sollten zusehen, dass wir irgendwo unterkommen.“
    „Im Kloster machen sie uns nicht auf“, erinnerte Rogas sich. „Was dann … zum Feuerclan?“
    „Hmhm. Die Karte ist jetzt natürlich leider auch weg. Aber ich weiß noch, dass er irgendwo östlich von hier liegt.“
    „Irgendwo östlich ist gut“, meinte Rogas. „Ich kann mich nicht einmal nach Himmelsrichtungen orientieren. Hier ist alles grau und alles gleich. Verfluchtes Nordmar-Wetter.“
    „In der Wüste von Varant wäre es uns auch nicht anders gegangen“, versuchte Alina zu witzeln, erschrak dabei aber fast selber über ihren bitteren Tonfall. „Am besten, wir tasten uns einfach in eine Richtung vor. Ich habe zumindest in etwa ein Gefühl, wo wir hinmüssen.“
    Alina setzte sich in Bewegung, Schritt für Schritt. Rogas folgte ihr, schien aber noch immer nicht ganz überzeugt. Alina konnte es ihm nicht verdenken.
    „Meinst du denn, dieses Gefühl reicht aus, um den Weg zu finden?“
    „Das wissen wir, wenn wir angekommen sind. Mehr als mein Gefühl habe ich gerade nicht anzubieten. Falls dir aber etwas anderes einfallen sollte, nur zu.“
    „Zu wünschen wäre es … lass uns dann aber bitte vorsichtig sein, ja?“
    „Okay, ich hatte mich zwar darauf eingestellt, besonders unvorsichtig zu sein, einfach, weil es so viel Spaß macht, aber wenn du willst …“
    „Hey!“
    „Na komm, was erwartest du denn? Ich bin gerade genauso durch wie du. Und du hast ja recht. Wir sollten möglichst kleine Schritte machen. Und versuchen, in möglichst gerader Linie zu gehen. Mein Plan ist, dass wir dann auf eine Felswand treffen, und an dieser Wand entlang dann bergabwärts gehen. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, müsste dann irgendwie zur linken ein Pfad hinaufgehen. Irgendwo da müsste der Feuerclan dann sein … vielleicht.“
    „Klingt ganz vernünftig“, meinte Rogas nur. Alina hörte auch durch das beständige Rauschen des Windes hindurch, dass er noch immer an der Sache zweifelte.
    Nach einigen Trippelschritten – vielleicht sechzig, vielleicht siebzig – kamen sie tatsächlich an eine Felswand, und in der Tat konnten sie von dort aus den Berg hinab gehen. Alina und Rogas hielten sich eng an die Wand gepresst und streckten stets eine Hand zur Führung aus, während sie mit ihren Füßen eher rutschten denn wirklich auftraten. Ein bisschen frischer Pulverschnee gelangte dabei in Alinas Stiefel und ließ sie erschaudern. Er war allerdings schnell geschmolzen. Das war gut, das hieß, dass ihre Füße noch warm waren. Fühlen konnte sie es ja nicht.
    Alina wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihr nächster Schritt plötzlich ins Leere ging. Sie schrie kurz auf, Rogas tat es ihr gleich, und fasste sie am Arm. Sie hatte sich allerdings schon selbst wieder gefangen. Sie traute sich nicht, in die Hocke zu gehen, konnte durch das Schneegestöber hindurch aber gut genug sehen, dass sie gerade vor einem Abhang standen.
    „Das war knapp“, sagten Alina und Rogas unisono, was Alina mit einem kurzen Auflachen quittierte.
    „Und jetzt?“, fragte Rogas. „Wieder umkehren?“
    „Würde ich erst einmal nicht“, sagte Alina, während sie vorsichtig mit ihrem Fuß den Rand der Klippe abtastete. „Von hier aus vielleicht ein Stück nach rechts … wenn wir ganz vorsichtig diese Klippe entlang gehen, kommen wir vielleicht weiter. Verdammt, wenn es nur nicht schon so dunkel wäre …“
    „Sei bloß vorsichtig!“, mahnte Rogas und ergriff Alinas Hand, tat dies aber anscheinend vor allem deshalb, weil er wollte, dass sie seine Schritte ein wenig lenkte. Diesmal war Alina noch vorsichtiger, und als sie wieder einen Abgrund vor sich hatte, erkannte sie es früh genug. Zwei Richtungen waren nun von einer Klippe blockiert.
    „Nochmal rechts abbiegen“, wies Alina Rogas an.
    „Gehen wir dann nicht tendenziell wieder den Berg hinauf?“
    „Kann schon sein“, meinte Alina. „Etwas Besseres fällt mir gerade aber auch nicht eiiiii … verdammt!“
    „Vorsicht! Was ist los?“
    „Hier geht es auch nicht weiter.“
    „Ja wie?“
    „Es geht hier nicht weiter!“, rief Alina viel lauter, als sie geplant hatte. Frustriert hockte sie sich in den Schnee. Sie konnte kaum noch was sehen, spürte dafür aber zwei heiße kleine Tränen aus ihren Augen kriechen.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte Rogas, der sich nun ebenso hingehockt hatte.
    „Nein, natürlich ist gar nichts in Ordnung!“, rief Alina. „Das war alles ein großer Reinfall. Von Beginn an. Diese ganze verfluchte Reportage! Ich wünschte, ich hätte den Mist nie angefangen. Ich wünschte, ich hätte diese verfluchte Anzeige niemals gesehen …“
    „Sag das doch nicht so!“, sagte Rogas, der Alina näher an sich heranzog. „Es ist doch noch gar nichts passiert! Du hast doch gesagt …“
    „Wir sitzen hier mitten in der Einöde und wissen nicht, wo wir hin sollen, und ich bin daran schuld!“, zischte Alina über den Wind hinweg. Sie rieb sich eine Schneeflocke aus den Haaren. „Wir stehen hier im wahrsten Sinne des Wortes am Abgrund!“
    Rogas sagte darauf nichts. Alina wertete das als Eingeständnis, dass sie recht hatte.
    „Das war’s mit dieser Reportage. Wenn wir hier irgendwie wieder wegkommen sollten, schreibe ich keine einzige Zeile mehr dafür. Es hatte vielleicht schon sein Gutes, dass meine Notizen mit dem Schlitten verlorengegangen sind. Das war ein Zeichen, ganz bestimmt. Ich sollte es wohl einfach lassen.“
    „Aber Alina!“ Rogas ließ sie wieder los und stand auf. „Das ist … das ist doch Moleratscheiße, mal ganz im Ernst! Du kannst doch jetzt nicht aufgeben! Du kannst doch so gut schreiben, und du wolltest doch diese Stelle beim Midländischen Kurier so gerne haben! Da kannst du doch jetzt nicht aufgeben! Vor allem nicht, wenn … ja, wenn …“
    Alina merkte auf. „Wenn was?“
    Rogas atmete einmal tief durch, das hörte Alina sogar durch die Wettergeräusche hindurch. Der Sturm schien im Übrigen sogar noch ein bisschen stärker geworden zu sein.
    „Na vor allem nicht, wenn dann dieser aufgeblasene Vincent van Fronio gewinnt und statt dir die Stelle bekommt!“
    Alina zu Rogas hinauf, konnte sein Gesicht im Schneetreiben aber allenfalls noch erahnen. „Das sind ja auf einmal ganz neue Töne. Ich dachte, du fändest Vincent so toll.“
    Rogas stampfte auf. „Er schreibt ja auch toll.“ Kurze Pause. „Vielleicht. Aber das war es dann doch auch schon! Wie der sich aufgeführt hat, jedes verdammte Mal, als wir ihm begegnet sind! Großspurig, großkotzig, gönnerhaft … ach, was erzähle ich dir das alles, du hast es ja auch mitbekommen! Der Kerl ist ein Psychopath, nichts weiter! Ein Manipulateur! Saboteur! Wenn ich es nicht besser wüsste, ich würde vermuten, dass er aus dem Nichts gekommen und unseren Schlitten über die Klippe gestoßen hat! Beziehungsweise, ich weiß es ja nicht einmal wirklich besser!“
    „Steile These“, raunte Alina anerkennend.
    „Kann schon sein!“, fuhr Rogas fort. „Jetzt mal ganz ehrlich: Klar habe ich Vincent irgendwie bewundert! Aber mir ist auf dieser Reise klar geworden: Seine ach so tolle Schreibe ist doch nichts wert, wenn er so ein … so ein …“
    „Rogas!“ Alina war aufgeschreckt. „Da kommt jemand!“
    Hinter Rogas war, wie aus dem Nichts, eine schwarze Silhouette erschienen, die sich mehr und mehr aus dem dunklen Grau-Weiß von Schnee und Eis herausschälte. Wenige Augenblicke später stand ein großer, unter seiner kleinen Mütze möglicherweise kahlköpfiger Mann vor ihnen, dick vermummt in Kleidung aus mehreren übereinandergenähten Tierfellen, in der Hand einen langen Stabspeer.
    „Wer da?“, fragte Rogas. Er stellte sich schützend vor Alina, aber sie stand auf und stellte sich neben ihn.
    „Mein Name ist Sivert“, stellte sich der Nordmann vor. „Was bei Innos macht ihr hier bei diesem Wetter an den Klippen? Ihr könnt von Glück sagen, dass ihr nicht in den Abgrund gestürzt seid.“
    Rogas räusperte sich, aber Alina kam ihm zuvor. „Ich bin Alina, und das ist Rogas, mein … Gefährte. Wir wollten zum Kloster, aber sie hatten die Pforte bereits geschlossen. Wir wollten dann so schnell wie möglich eine Unterkunft suchen, aber unser Schlitten … er muss eine der Klippen heruntergestürzt sein, direkt am Fuße des Pfades zum Kloster hinauf. Wir hatten ihn nur kurz dort abgestellt …“
    „Dann hatte ich also doch recht“, schloss Sivert mit sonorer Stimme. „Aber auch Unrecht. Für mich ist es ein Glücksfall. Den Schlitten habe ich krachen gehört. Ich hatte befürchtet, es sei noch jemand dort drin gesessen. Ich bin froh, euch unversehrt zu sehen.“
    „Du hast das … gehört?“, fragte Rogas ungläubig. „Bei diesem Lärm hier?“
    Sivert nickte. „Wenn man wie ich sein Leben lang in dieser Gegend verbracht hat, dann weiß man, wie man durch den Wind lauschen muss.“ Er machte eine Pause, sprach dann weiter. „Aber abgesehen davon sind mir vier Orkhunde über den Weg gelaufen, noch eingezurrt in ein Fahrgeschirr. Da musste ich nur eins und eins zusammenzählen.“
    „Die Hunde!“, rief Alina. „Sind sie …?“
    Sivert nickte abermals. „Sie sind am Leben, einer hat eine Fußverletzung und sie alle sind ziemlich aufgewühlt. Aber sie haben Glück gehabt. Schlaue Tiere. Da kann ganz Nordmar reden wie es will, die Orks wissen, wie sie ihre Hunde abzurichten haben. Wir haben die vier bei uns aufgenommen. Und, bei allem Respekt, das würde ich euch auch empfehlen.“
    „Du bist also gekommen, um uns zu retten“, sprach Alina es aus.
    „Jedenfalls, um euch zu unterstützen“, sagte Sivert ruhig. „Wenn ihr wollt, dann führe ich euch zu uns. Ihr könnt bei uns Unterkunft nehmen, bis sich dieser Sturm wieder beruhigt hat.“
    „Und wo ist dieses bei uns?“, fragte Rogas.
    Sivert, der auch vorher schon kerzengerade gestanden hatte, nahm mit einem Mal noch mehr Haltung an. Den Stabspeer stieß er geräuschvoll mit dem stumpfen Ende in den Schnee, sein Brustkorb hob sich, den Kopf legte er leicht in den Nacken.
    „Na bei uns, dem Feuerclan natürlich!“

    „So, dann habt ihr schon einmal eure Gläser, der Wein wird euch gleich bei der nächsten Runde ausgeschenkt, ja?“
    „Und das ist wirklich in Ordnung, wenn wir hier mit dabei sind?“, fragte Alina noch einmal. „Wir haben doch nicht einmal ein Geschenk für das Brautpaar!“
    „Ach was“, lachte Gitte. „Die bekommen doch eh schon mehr, als sie verdienen, da sind sich hier alle einig! Wirklich, es ist vollkommen in Ordnung. Unverhoffte Gäste aus den Tiefen Myrtanas, das ist doch auch schon ein Geschenk an sich! Ingrid wollte ja sogar mal nach Myrtana auswandern, aber dann hat sie die Liebe doch hierbehalten. Und heute Abend sieht man ja, wo das hingeführt hat.“ Sie lachte noch einmal. „Nein nein, meine Schwester und ihr … ja, mein Schwager, wie ich jetzt ja sagen kann, die finden das sicher ganz toll. Ich hole sie nachher noch zu euch an den Tisch, sie wollen euch ja sicher noch ausgiebig kennenlernen!“
    Gitte nickte ihnen noch einmal freundlich zu und verschwand zunächst einmal wieder. Die Nordfrau mit ihren dicken geflochtenen Zöpfen war wirklich eine sehr herzliche Person, wie überhaupt alle Leute hier sehr herzlich zu sein schienen, wenn man sie erst einmal etwas näher kennengelernt hatte – oder sich einfach nur länger im selben Raum mit ihnen aufhielt. Als Sivert sie – nach einigem erfolglosen Protest Alinas, insbesondere als die Worte ’reichlich Alkohol’ gefallen waren – in die Festhalle des Feuerclans hineingeführt hatte, wo die Hochzeitsgesellschaft feierte, hatte es zunächst einen Moment der Anspannung gegeben. Die Gespräche hatten innegehalten, die Blicke waren zu ihnen geschwenkt, den Fremden, die hier keiner kannte. Nach kurzer Einführung Siverts hatte es dann aber ein großes Hallo gegeben, und nachdem sich Gitte, die Schwester der Braut, sofort um sie gekümmert und ihnen noch zwei Plätze inmitten der Gesellschaft freigemacht hatte, waren Alina und Rogas auch schon vollends angekommen. Nun saßen sie zwischen den lachenden und bechernden Nordmännern und Nordfrauen und nahmen wie selbstverständlich an den Feierlichkeiten teil. Ihnen war zwar zunächst ein wenig unbehaglich gewesen, als zwei der Männer aus dem Clan – Frithjof und Kerth, letzterer wohl der Clanchef – gemeinsam einen Wechselreim über Nordmar, Innos und die Liebe vorgetragen hatten, bei dem an gewissen Stellen die Zuhörerschaft dazu aufgefordert war, im Chor gewisse Worte zu erwidern. Aber nachdem keiner ernsthaft erwartet hatte, dass Alina und Rogas, die beiden Fremden, das direkt mitmachen konnten oder auf Anhieb wussten, wann man aufzustehen und sich wieder hinzusetzen hatte, war es eigentlich eine ziemlich amüsante Vorstellung gewesen.
    Nun gab es eine kurze Pause im Programm, die Alina nutzte, um sich die festlich geschmückte Halle des Feuerclans ausgiebig zu begucken. Das Gebäude war im Grunde ein sehr großes, langes Haus, dem man durch geschicktes Verhängen der Ecken – Bunte Tücher, dichte Felle und ausladende Teppiche wechselten sich munter ab – eine annähernd runde Form verliehen hatte. Auch in der Dachtakelage hatte man Tücher aufgehangen, viel rot, aber auch ein wenig gelb und blau, und nur ein ganz kleiner Bereich war nach oben in den nordmarer Abendhimmel offengeblieben. Dorthin zog auch der Rauch ab, der von den Feuerschalen produziert wurde, die in der Halle verteilt waren, und die einen recht angenehmen Geruch und vor allem Wärme verbreiteten. Es machte die Kälte Nordmars glatt vergessen.
    Auf der hinteren Seite der Halle, für Alina und Rogas gegenüber, waren zwei Thronsessel aufgestellt, die in ihrer hölzernen Bauart aus Stein und Holz, ausgestattet mit Kissen und Decken, wenig prunkvoll, aber eben doch beeindruckend anmuteten. Auf ihnen saß das Brautpaar, Leif und Ingrid, zumindest, wenn sie nicht gerade durch die Sitzreihen gingen, die sich von den Thronsesseln aus bogenförmig ausbreiteten und somit eine Art Kreis bildeten, der das Zentrum der Halle einschloss und damit eine Fläche für Tanz und Gesang bildete. Dort hatte sich tatsächlich eine Harfenspielerin niedergelassen, die jetzt gerade ein paar seichte Melodien klimperte, die etwaige Lücken in den vielen Gesprächen in der Halle füllten. Bereitgestellt waren auch Trommeln, lautenartige Saiteninstrumente in verschiedensten Größen und sogar Jagdhörner, die sicherlich einiges an Lärm verursachen konnten, wenn man sie nur kräftig blies.
    Ganz in der Nähe war ein großer Schwenkgrill aufgebaut worden, auf dem wahrlich alles gegrillt wurde, was man nur irgendwie grillen konnte – sogar diverse marinierte Pilze lagen bereit, von denen sich Alina ein paar hatte bringen lassen. Sie hatte die Entscheidung nicht bereut: Die Pilze waren köstlich, die Marinade ebenso. Rogas dagegen hatte sich vor allem alles bringen lassen, was die Tierwelt Nordmars so hergab: Steaks vom Säbelzahntiger, marinierte Schenkel der Schneewachteln oder auch mal eine heiße Bisonschwanzsuppe – die allerdings nur dem Namen nach etwas mit Bisons zu tun hatte und keine Bestandteile der hier sehr verehrten Wollbisons beinhaltete. Rogas jedenfalls schien das Mahl nicht minder zu genießen als die vielen anderen Nordmänner und Nordfrauen, die ebenso so deftig speisten.
    Da Rogas noch einige Zeit mit dem Essen beschäftigt sein würde, schaute Alina sich weiter in Ruhe um. Mit jedem Blick durch die Halle entdeckte sie etwas Neues. So zum Beispiel, wie in unregelmäßigen Abständen kleine Öllämpchen an goldenen Ketten von der Dachtakelage herabhingen und Licht spendeten. Überhaupt war an den Pfosten, Pfeilern und Streben kaum ein Fleck frei gelassen worden. Eher liebliche dekorative Elemente wie Decken, kleine Bilder, verzierte Teller und ausgediente Wagenräder wechselten sich ab mit martialischen Machtdemonstrationen, die im mildesten Fall aus Schilden und Äxten, im härteren Fall aus präparierten Tierschädeln, teils auch bloßen Skelettteilen bestanden. Aber auch an religiöser Symbolik mangelte es nicht: Das Symbol Innos’, die zwei stilisierten Hände, die zu einer Flamme beteten, fand sich auf einigen der Tücher und Decken wieder, und im hinteren Teil der Halle war ein dem Lichtgott gewidmeter Schrein aufgestellt worden. Es war wirklich ein ganzes Füllhorn an nordmarer Kultur, das ihnen geboten wurde, und der Feuerclan, dessen Dorf im Vergleich zu den anderen Clans im Nordmar eher klein wirkte, schien wirklich großen Stolz in sich zu tragen. Jedenfalls präsentierte er sich durchaus identitätsbewusst und eingeschworen. Umso erstaunter, aber auch glücklicher war Alina darüber, dass er sich ganz offenbar nicht abschottete. So gastfreundlich, wie man ihnen die Hände hier gereicht hatte, wäre man mit ihnen als Fremden innerhalb Myrtanas – beispielsweise in Silden – niemals umgegangen. Auch Siverts Lob an die orkische Kunst der Hundezucht klang noch in Alinas Ohren nach, was ihr die begründete Hoffnung verlieh, sich hier nicht erzählen lassen zu müssen, wie die Orks in der Schlacht um Faring angeblich ihre eigenen Kinder -
    „So, jetzt gibt es auch für euch etwas Richtiges zu trinken!“
    Eine Frau war mit einer großen Karaffe aus Ton gekommen. Sie war etwas älter als Alina und in ein elegantes braunes Gewand mit Fellkragen gekleidet.
    „Das ist guter nordmarer Eiswein“, kommentierte sie, während sie zuerst Alina, dann Rogas ihre Gläser – echte Gläser! – vollschenkte. „Etwas ganz Besonderes. Nicht dieser laue Honigwein, den sie euch in den anderen Clans ausschenken. Die Beeren, aus denen der Eiswein gemacht wird, gedeihen tatsächlich nur im Norden unseres Landes, und geerntet werden sie nur zu einer ganz bestimmten Zeit im Jahr. Wenn sie reif sind, brauchen sie noch eine Woche Schnee, dann erst werden sie gepresst. Aber ich will euch nicht mit Einzelheiten darüber langweilen, wie unser Wein gekeltert wird. Lasst ihn euch einfach schmecken!“
    „Danke“, konnten Alina und Rogas nur sagen, da war die Frau auch schon weitergegangen, um den restlichen Leuten der Gesellschaft auszuschenken. Sie hatte dabei gut zu tun; Alina hatte zwar nicht genau gezählt, aber es mussten so um die fünfundzwanzig Personen sein, die sich hier zusammengefunden hatten, vielleicht sogar dreißig.
    Alina bedachte den zögernden Rogas mit einem amüsierten Blick.
    „Trink ruhig, du machst hier alles auf deine eigene Verantwortung“, sagte sie lachend. „Versprich mir bitte nur: Wenn dir jemand Stollengrollen anbieten sollte …“
    „Nie wieder!“, sagte Rogas mit aufgerissenen Augen. Dann lachte er auch und erhob sein Glas, Alina stieß mit ihm an. Sie ließ es mit dem ersten Schluck ruhig angehen, aber sie merkte schnell, dass ihr der Wein mundete. Es war wirklich kein Honigwein, eher sehr fruchtig, und vor allem gar nicht eisig, sondern angenehm warm.
    Was Alina auch ohne den Wein spürte: Sie fühlte sich hier wohl. Ihre Reise, der Schneesturm, ihr verlustig gegangener Schlitten, ihre verlorenen Notizen für die Reportage … all das spielte gerade keine Rolle, von allem war sie hier in dieser Festhalle abgeschirmt.
    „Ihr kommt wirklich zur richtigen Jahreszeit“, raunte der Mann, der am Tisch neben ihr saß, zu ihr herüber, als sie das Glas wieder abgesetzt hatte. „Der Wein ist ganz frisch gemacht, und er ist wie jedes Jahr köstlich.“
    „Das stimmt“, bekundete Alina. „Aber er würde ja sicher auch noch schmecken, wenn er nicht frisch wäre.“
    „Das kann schon sein“, sagte der dicke Mann mit Glatze – die gängigste Frisur für Männer des Feuerclans. „Ich kann es dir aber nicht mit Sicherheit sagen, denn die Weinvorräte werden hier üblicherweise nicht alt.“ Er lachte rau und hob erneut sein Glas. „Ich bin Kalan, übrigens.“
    „Alina“, sagte Alina und prostete ihm zu. Sie nahm auch noch einen Schluck vom Wein und spürte die wohlige Wärme in ihrem Bauch. Rogas zu ihrer rechten ging es offensichtlich nicht anders, zwischen einzelnen Bissen und Schlücke unterhielt er sich angeregt mit einem älteren Mann mit Halbglatze. Das Gespräch schien sich um Schweine zu drehen, also tatsächlich um die Tiere, dabei hatte Alina hier gar keine gesehen. Aber die waren bei dem Wetter wohl nicht draußen – vermutlich waren sie in einem der Ställe untergebracht, die Sivert ihnen bei ihrer Ankunft gezeigt hatte und in denen auch die vier Orkhunde Platz gefunden hatten.
    „So, liebe Freunde!“
    Der etwas schmalere, gleichwohl ebenso glatzköpfige Mann namens Frithjof, hatte die Mitte der Halle betreten, das Brautpaar war auf die Thronsessel zurückgekehrt, die Harfenspielerin räumte den Platz.
    „Keine Angst, ich fange jetzt nicht noch einmal an zu reimen.“ Er erntete kurzes Gelächter. „Aber dafür macht es jemand anderes! Ich darf Thorald nach vorne bitten!“
    Applaus und Gemurmel mischten sich, Alina und Rogas klatschten artig mit. Ein beleibter Mann mit kurz geschorenen roten Haaren, gekleidet in eine braune Schürze, stand von einem der Sitze auf und brauchte einige Zeit, bis er sich nach vorne durchgezwängt hatte.
    „Ich dachte schon, du kommst nie an!“, kommentierte Frithjof diesen mühsamen Weg. Wieder gab es Gelächter, aber keines das von Hohn oder Spott erfüllt war. Es war freundliches Gelächter, und auch Thorald grinste.
    „Die Letzten werden die Ersten sein, oder irgendwie so“, sagte er.
    Frithjof nickte. „Ich habe gehört, du dichtest jetzt auch, Thorald?“
    „Tja, könnte man so sagen. Ich wollte es ja niemandem verraten, aber meine Frau hat gesagt, ich hätte mich im Schlaf verplappert, und schon machte es die Runde …“
    Frithjof wandte sich zu einer Frau ein paar Sitze weiter schräg links von Alina.
    „Ist das wahr, Margret?“
    Sie lachte. „Ist wohl so, ja. Ich habe ihm aber nicht gesagt, dass ich es gut finde, also ist das alles jetzt nicht meine Schuld. Nur, dass ihr Bescheid wisst!“
    „Na dann bin ich ja mal gespannt“, sagte Frithjof. „Ich überlasse das Feld dann mal ganz dir, Thorald!“
    Erneuter Applaus ertönte, als Thorald sich kurz verbeugte und Frithjof Gelegenheit gab, die Mitte zu verlassen und sich neben dem Thron des Bräutigams hinzuhocken. Die beiden Männer wechselten kurz ein paar Worte, die wohl niemand sonst verstehen konnte, und lachten. Dann war Thorald an der Reihe. Er räusperte sich kurz, bevor er begann.
    „Ja, vielen Dank. Also, mir ist dieses kleine Gedicht beim Schmieden eingefallen, als ich immer und immer wieder auf den Amboss gehauen habe.“ Er pausierte kurz. „Ich mache das sehr oft, wisst ihr ja.“ Kurzes Gelächter. „Das müsst ihr euch dann beim Gedicht vielleicht vorstellen, diesen Rhythmus. Deshalb habe ich auch meine Klamotten angelassen, wisst ihr!“
    „Und ich dachte, du hättest einfach keine anderen!“, schallte es irgendwo aus den Reihen. Wieder Gelächter.
    „Das stimmt ja auch!“, sagte Thorald trocken und grinste. „Also, ich fange dann mal an!“
    Der Schmied zog seine Hose etwas hoch und rückte sich die Schürze zurecht, und begann dann, in einem einfachen, monotonen Rhythmus zu reimen:

    „Der Feuerclan, der Feuerclan
    Der gebar so manchen Mann
    Gebar ihn stolz aus Eis und Schnee
    Taufte ihn im Bergensee.“


    Thorald hielt kurz inne. „Den wir zwar nicht haben“, kommentierte er, „aber irgendwie musste es sich ja reimen.“ Leises Lachen aus den Sitzreihen, Thorald grinste und machte weiter:

    „Einer davon, der heißt Leif
    Der ist heute endlich reif
    Geht ein mit Ingrid diese Ehe
    Sorgt für sie in Wohl und Wehe.“


    Thorald pausierte wieder. „Oder vielleicht sorgt sie auch für ihn, aber was macht das schon. Nächste Strophe:“

    „Drum wünsche ich ihm alles Gute
    Sanfte Hand und starke Rute -“


    Thorald wurde von Gelächter unterbrochen. Er stemmte die Hände in die Hüfte und machte einen gespielt empörten Eindruck.
    „Warum lachen denn jetzt alle?“
    Als Reaktion wurde das Lachen noch lauter, auch Alina und Rogas hatten längst eingestimmt. Es war furchtbar albern, aber eben auch urkomisch.
    „Ich mach’ dann einfach mal weiter:“

    „Wünsche ihm auch bald ’nen Sohn
    Denn eine Tochter gibt’s ja schon.“


    Alina lächelte, das musste das kleine Kind sein, was sie kurz um den Thron ihrer Mutter herumlaufen hatte sehen. Vermutlich war es dem kleinen Mädchen, das vielleicht zwei Jahre alt sein mochte, zu viel Trubel, sodass es sich lieber dahinter versteckte.

    „Leifs Glieder mögen niemals rosten -“

    Schon wieder Gelächter allenthalben. „Glieder!“, rief Thorald. „Ich habe Glieder gesagt! Ihr seid mir ja welche! Also:“

    „Leifs Glieder mögen niemals rosten
    Wie seine Bande in den Osten
    Und Ingrids Haare mögen wallen
    Niemals ihr vom Kopfe fallen.“


    Alinas Blick ging zu Ingrid. Die Braut fand das ganz offenbar recht witzig, denn sie spielte nun betont mit ihren langen, blonden Haaren herum und lächelte dabei.

    „Drum lasst uns auf die beiden trinken
    Bis in Wonne wir versinken
    Noch ist nicht alles ausgetrunken
    Prost, ihr Halunken!“


    „Prost!“, erschallte es aus mehreren Kehlen im Raum, Gläser, Krüge und Becher stießen aneinander und wurden anschließend geleert. Alina und Rogas waren voll dabei, Rogas noch viel voller, wie Alina aus dem Augenwinkel beobachtete. Er hatte sicher mindestens genau so viel Spaß wie sie, und das war auch genau richtig so.
    „Danke“, sagte Thorald dann nach kurzer Pause. „Das war das schlechteste Gedicht aller Zeiten. Respekt, dass ihr bis zum Ende durchgehalten habt!“
    Gelächter, Applaus und tosendes Geboller von stampfenden Stiefeln auf dem Boden der Halle begleiteten Thoralds Abgang. Die Menge war begeistert, die Sympathien voll und ganz auf der Seite des Schmieds. Alina machte mit und konnte einen weiteren großen Unterschied zu myrtanischen Hochzeiten ausmachen: Dort wäre Thoralds Gedicht wohl das beste von allen gewesen und auch allen Ernstes so angekündigt worden. Sie musste kurz an das alte Ehepaar zurückdenken, mit dem sie zum Turm des Dämonenbeschwörers gewandert waren. Bei denen war das sicher so gewesen.
    „Vielen Dank, Thorald!“, rief Frithjof, der wieder die Mitte betreten hatte. „Ich denke, darauf brauchen wir erstmal wieder einen Schluck Wein … oder auch zwei oder drei! Wer noch etwas zu essen haben will: Der Grill ist gut gefüllt, greift ruhig zu! Bevor es im Programm weitergeht, vielleicht noch etwas Musik gefällig? Ja, ihr könnt ruhig nein sagen, aber Erik wird sich jetzt trotzdem an die Laute setzen!“
    Frithjof und ein paar andere lachten, und ein rothaariger, schlanker Kerl betrat den Mittelkreis. Er nahm eine der bereitgestellten Lauten in die Hand, setzte sich auf einen Hocker und begann zu klimpern. Eine Weile lang hörten die Leute still zu, dann füllte sich die Halle nach und nach wieder mit zahlreichen Gesprächen.
    Alina spürte, wie Rogas sie am Ärmel zupfte.
    „Hast du eigentlich schon die Leute hier auf der rechten Seite gesehen?“, fragte er. „Diese Gesichtszüge … die kommen nicht von hier, oder?“
    Alina nickte. Sie schaute noch einmal zum Grüppchen hin, die Männer und Frauen in den schwarz-weißen, exotisch geschnittenen Gewändern und den kunstvoll geflochtenen Frisuren waren ihr auch aufgefallen.
    „Die kommen wahrscheinlich vom Östlichen Archipel“, mutmaßte Alina.
    „Habe ich mir auch schon gedacht … aber die sprechen dort doch eine ganz andere Sprache, oder? Können die dann überhaupt verstehen, was hier so vor sich geht?“
    „Weißt du“, meinte Alina lächelnd und legte Rogas eine Hand auf die Schulter. „Wie hier gefeiert und gelacht wird … dazu braucht es das vielleicht gar nicht.“
    Rogas lächelte auch. „Ich glaube, du hast recht. Die wirkten jedenfalls sehr angetan vom Gedicht. Ich frage mich nur, wie die in den hohen Norden geraten sind.“
    „Das kann ich euch sagen“, mischte sich der Mann neben Rogas ein, der mit der Halbglatze. Er beugte sich zu ihnen rüber. „Kaelin, mein Name“, schickte er noch vorweg, bevor er fortfuhr. „Man sieht es ihm nicht an, aber die Vorfahren von unserem guten Leif kommen vom Östlichen Archipel. Sein Urgroßvater … oder war es sein Ururgroßvater? Ich krieg’s nicht mehr zusammen, jedenfalls war einer seiner Vorfahren väterlicherseits ein großer Entdecker und ist tatsächlich zum Östlichen Archipel aufgebrochen. Da kannten die anderen Clans dieses Gebiet noch gar nicht, vom Rest der Leute auf dem Festland mal ganz zu schweigen. Und als er zurückkam, hatte er eine Frau mitgebracht. Aber nicht entführt, falls ihr das denkt! Wenn man Leif sowas sagt, dann wird er ganz ärgerlich! Jedenfalls kommt daher diese Verbindung, Leif und seine Familie haben den Kontakt zum Östlichen Archipel immer aufrecht erhalten, auch wenn das über die Distanz schwierig ist. Die, die jetzt da sind, das sind also alles seine Verwandten und deren Anhang. Stark, was? So eine lange Reise … Leif hat sich riesig gefreut, dass sie kommen konnten, und wir waren auch ganz gespannt. Das sind nette Leute, keine Frage. Die Verständigung ist natürlich ein bisschen kompliziert, aber ein bisschen was kann Leif übersetzen, und ansonsten geht’s mit Händen und Füßen. Ach, wenn man von ihm spricht, da kommt er ja …“
    Leif grinste, als er zu ihrem Tisch kam. Mit seiner schlanken, gleichwohl kräftigen Statur und den kurzen braunen Haaren unterschied er sich ein wenig von den anderen Männern des Clans. Alina fand ihn hübsch, und das passte: Ein hübscher Mann zu einer hübschen Frau, wie Ingrid es war, die sich gerade am Thron um ihre Tochter kümmerte.
    „Jetzt will ich aber auch mal zu meinen Ehrengästen kommen“, sagte Leif, der mangels Sitzgelegenheit in die Hocke ging und sich mit den Armen auf dem Tisch abstützte. Rogas räumte seinen Teller, den er gerade endgültig leer gegessen hatte, dafür ein wenig zur Seite. Sie hatten Rogas pappensatt bekommen. Das schaffte nicht jeder.
    „Ehrengäste ist gut“, sagte Alina. „Vielen Dank, dass wir überhaupt hier sein dürfen!“
    „Nein nein, vielen Dank, dass ihr da seid“, meinte Leif sichtlich erfreut. „Das ist doch eine ganz wunderbare Hochzeit, mit Leuten aus so vielen Gegenden. Ich hoffe, euch gefällt es?“
    „Es ist wirklich wunderbar“, sagte Alina, und Rogas nickte bekräftigend. „Solche Hochzeiten gibt es bei uns in Myrtana nicht.“
    Leif lachte laut auf. „So ein Kompliment hört man gerne! Aber war eure Hochzeit denn so langweilig?“
    „Wir sind gar nicht verheiratet“, erklärte Alina. „Aber ich kann natürlich nicht ausschließen, dass das noch passiert, jede Frau begeht schließlich mal eine große Dummheit in ihrem Leben.“ Sie grinste zu Rogas. „Aber ich war schon auf anderen Hochzeiten, und naja … es ist wirklich kein Vergleich. Und Fremde würde man dort schon gar nicht einladen, so viel ist sicher.“
    Leif hörte sich das alles interessiert an. Er dachte kurz über die Worte nach und lächelte dann.
    „Dann könnt ihr eure Hochzeit ja besser machen, nichts hindert euch daran“, sagte er. „Also, vorausgesetzt, ihr wollt nicht gleich hier an Ort und Stelle … Doppelhochzeiten sind in Nordmar keine Seltenheit, wisst ihr?“
    Alina und Rogas lachten., „Ich glaube“, sagte Alina, „ganz so sehr überstürzen wollen wir es dann doch nicht. Wir sind hier nun wirklich nicht zum Heiraten gekommen, aber danke für das Angebot.“
    „Dabei seht ihr schon ein wenig aus wie ein Pärchen in den Flitterwochen, muss man schon sagen“, meinte Leif. „Es ist also ein normaler Urlaub, oder …?“
    „Wir sind Journalisten“, ergriff Rogas das Wort. „Also vor allem Alina ist es, ich mache das nur so nebenbei. Momentan noch für die Goth’sche Zeitung.“
    „Nie gehört, muss ich zugeben“, sagte Leif. „Aber woher auch, hier oben kommt ja quasi nichts von außerhalb an. Journalisten also … na da würdet ihr euch sicher mit meinem Großcousin dort drüben verstehen. Der arbeitet auch nebenbei für eine Zeitung in seiner Heimat. In unserer Sprache würde man den Namen des Blättchens wohl mit … ja … Der Archipelblick übersetzen. Ja, so ungefähr. Er schreibt da aber vor allem kleine Gedichte und so weiter. Er wird gleich auch eines vortragen, das hat er extra für die Hochzeitsfeier geschrieben. Ich bin da schon gespannt! Gibt es sowas in der Goth’schen Zeitung auch?“
    Alina und Rogas überlegten kurz. „Eher selten“, sagte Rogas dann. „Wir beide sind jedenfalls keine Dichter.“
    „Aber ihr seid schon als Journalisten hier, das habe ich richtig verstanden?“
    „Ja, Alina arbeitet an einer Reportage über unsere Nordmarreise, nur deshalb haben wir den Trip überhaupt unternommen“, erklärte Rogas. „Aber … es ist dann doch einiges schief gegangen. Zuletzt wollten wir zum Kloster.“
    „Ach herrje.“ Ernsthaftes Bedauern zeichnete sich in Leifs Gesicht ab. „Und dann standet ihr vor verschlossener Pforte, was?“
    „Ja“, antwortete Rogas. „Wir kamen einfach zu spät, da hatten sie schon zu. Und dann standen wir auch schon im Sturm, und dann haben wir auch noch unseren Schlitten verloren …“
    „Ja, das wurde mir schon erzählt“, verriet Leif. „Ein Jammer. Aber gut, dass euch wenigstens nichts Schlimmeres passiert ist. Ein Schlitten lässt sich ersetzen, aber Menschen …“
    „Ja, wohl wahr“, meinte Rogas. „Von hier kommt man aber doch auch gut zu Fuß zum Kloster? Morgen ist ja auch noch ein Tag, wenn sich das Wetter dann gelegt hat, können wir es ja noch einmal versuchen.“
    Leif sagte daraufhin erst einmal gar nichts, das Bedauern grub sich noch tiefer in sein Gesicht. Er schüttelte sachte seinen Kopf.
    „Das … das könnt ihr natürlich gerne tun. Aber … ihr wisst es wohl nicht. Das Kloster wird seine Pforte jetzt erst einmal nicht mehr öffnen. Für mindestens eine Woche nicht.“
    „Was?“, platzte es aus Rogas heraus. „Wieso das denn nicht? Ich dachte, das Kloster schließt einfach nur jeden Abend bei Dunkelheit seine Pforte, und am nächsten Tag mit dem ersten Sonnenstrahl macht es wieder auf!“
    „Das ist normalerweise auch so. Aber gerade jetzt gehen die Novizen und Magier des Klosters in Klausur. Das geht jedes Jahr zwischen sieben und zehn Tagen. In diesem Zeitraum lassen sie niemanden rein und niemanden raus. Es tut mir leid, aber wenn ihr nicht eine Woche warten wollt – wozu ihr natürlich herzlich eingeladen wäret – werdet ihr das Kloster nicht besichtigen können.“
    „Das ist doch … Alina, was machen wir denn jetzt?“
    Alina machte zunächst einmal nichts und sagte auch nichts. Sie hatte sich das Gespräch ganz ruhig angehört und blieb auch jetzt noch ganz ruhig. Die Erkenntnis, dass sie auf dieser Reise definitiv nicht mehr ins Kloster konnten, schmeckte nicht so bitter, wie sie es eigentlich hätte tun sollen. Dadurch belastet fühlte sich Alina jedenfalls nicht. Eher befreit.
    „Ach Rogas, weißt du …“, begann sie langsam. „Das mit dieser Reportage …“
    „Du willst doch jetzt nicht doch noch aufgeben!“
    Sie schüttelte den Kopf. „Ja und nein. Aber bisher war die Reportage doch … irgendwie war es nicht das Richtige. Es waren einfach allgemeine Reisebeschreibungen, wie aus einem Reiseführer. Ausführungen, wie sie von jedem hätten kommen können, der Nordmar besucht hat. Und dazu gehört auch das Kloster. Bei Vincent wird man das auch alles lesen können. Aber das ist doch gar nichts … nichts Persönliches, nichts Individuelles. Das war deshalb eh alles nichts. Wer weiß, wie oft Reisende schon vom Kloster berichtet haben oder es noch tun werden? Ich hätte von Anfang an einfach meine Reise, unsere Reise beschreiben sollen. Und das kann ich jetzt immer noch machen, auch ohne meine Notizen. Das, was wir erlebt haben, waren doch nicht Berge, Eis, Schnee, Pilze, Türme, Tiger und was weiß ich nicht alles. Das waren ganz andere Dinge, auch das hier jetzt. Ich habe mittlerweile eine ganz andere Idee für eine Reportage, und das werde ich auch so durchziehen. Ob das dann auch gut ankommt, ist mir eigentlich egal. Hauptsache, ich kann dahinterstehen. Und ich denke, das werde ich diesmal können. Ich habe ja noch die ganze Rückfahrt, um mir neue, bessere, persönlichere Notizen zu machen. Für eine Reportage über eine Reise, die man nur erlebt, wenn man sie zusammen mit seinem Liebsten unternimmt.“
    Als Alina geendet hatte, sagte Rogas zunächst nichts. Er schien noch zu überlegen, was er davon halten und darauf sagen sollte. Nach einer Weile ergriff Leif wieder das Wort.
    „Na, das war ja vielleicht mal eine kleine Rede! Pass nur auf, sonst bitte ich dich gleich noch für einen kleinen Vortrag nach vorne! Ich habe jetzt natürlich nicht alles kapiert, aber du klangst sehr überzeugt, und was immer du auch schreibst: Überzeugung wird eine gute Grundlage dafür sein. Übrigens: Für eure Rückfahrt können wir euch sehr gerne einen Schlitten stellen, wo euer alter ja nun in irgendeinem Gletscher stecken wird. Und Sivert kümmert sich ja gerade um eure Hunde, wenn alles gutgeht, dann sollten sie euch schon morgen wieder ziehen können.“
    „Einen Schlitten stellen? Das … das können wir doch kaum annehmen!“ Alina pochte das Herz. Sie waren hier vollkommen fremd, und da bot man ihnen an, einfach einen Schlitten mitzunehmen?
    „Doch doch, das könnt ihr“, erwiderte Leif grinsend. „Keine Widerworte! Ich wünsche mir das so, und diesen Wunsch werdet ihr mir ja wohl kaum abschlagen! Ist immerhin meine Feier hier.“
    „Tja … da ist was dran“, murmelte Rogas.
    „Na also“, sagte Leif zufrieden. Er drehte sich kurz um und dann wieder zurück. „Wenn ihr entschuldigt … ich glaube, es geht gleich im Programm weiter. Da sollte ich dann wohl wieder vorne sitzen. Wir sprechen später nochmal, ja?“
    Er nickte ihnen freundlich zu und wandte sich dann wieder ab, um zu seinem Thron zurückzukehren. Alina schaute Rogas an, er schaute zurück. Dann zuckte er mit den Schultern. Alina mochte diese Geste in solchen Momenten.
    Sie brauchte eine Weile, um sich wieder auf das Geschehen vor ihnen zu konzentrieren. Sie bekam gerade noch mit, wie Frithjof den nächsten Programmpunkt ansagte, und tatsächlich war es, wie schon von Leif angekündigt, einer der Männer vom Östlichen Archipel, der nun unter lautem Applaus – Alina und Rogas klatschten mit – die Mitte der Halle betrat. Das musste Leifs Großcousin sein, der nun ein Gedicht aufsagte. Nach einem kurzen „Guten Abend“ wechselte er in seine Muttersprache, und ab da war Alina darauf angewiesen, nicht auf einzelne Worte, sondern auf den Klang, die Melodie in der Sprache zu hören. Tatsächlich konnte sie über den genauen Inhalt nur mutmaßen, als der Mann in seinem schwarz-weißen Gewand sein Werk aus dem Gedächtnis rezitierte, und ein Seitenblick verriet ihr, dass es Rogas – wie wohl auch den meisten der anderen gebannt zuhörenden Gäste der Gesellschaft – ebenso ging. Gleichwohl, das Zuhören war Alina eine Freude, sie hörte Reime und Melodien, wunderschöne, fremde Worte, von denen sie kein einziges kannte, die sie aber alle schön fand. Sie rückte beim Zuhören etwas näher an Rogas heran, er nahm sie daraufhin in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Gemeinsam lauschten sie diesem wunderbaren Gedicht. Und obwohl sie nichts verstanden, verstanden sie doch so viel.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    John Irenicus ist offline
    Lieber Leif, liebe Ingrid!

    Ich komme erst jetzt dazu, Euch zu schreiben, denn ich habe fast die ganzen vergangenen Tage dafür gebraucht, meine Reportage abgabefertig zu machen. Sie ist jetzt wirklich deutlich länger geworden, als gedacht. Ich habe es wirklich gerade so geschafft und bin jetzt glücklich, egal, wie das ausgeht. Beeinflussen kann ich es ja eh nicht mehr, jetzt liegt alles in der Hand der Redaktion des Midländischen Kuriers. Und deshalb habe ich jetzt endlich Zeit, Euch diesen Brief zu schreiben.

    Ich will mich noch einmal bedanken für diesen wunderschönen Abend, den wir auf Eurer Hochzeit hatten. So etwas haben wir beide, Rogas und ich, noch nicht erlebt. All die netten Leute, all die Speisen und Getränke, all die Musik, all der Tanz … sogar Rogas hat ja am Ende getanzt (und er war ja nicht einmal besonders betrunken), da gehört schon einiges zu, ihn so weit zu bringen! Es war wirklich ein rauschendes Fest, und wir sind glücklich darüber, dass wir diesem einmaligen Ereignis beiwohnen durften. Wir wünschen Euch natürlich nochmals alles Gute für eure Ehe, aber so glücklich, wie Ihr und überhaupt alle an dem Abend wirkten, habe ich da auch gar keine Bedenken, dass Ihr in (hoffentlich vielen) guten wie in (hoffentlich so gut wie keinen) schlechten Zeiten zusammenhalten werdet.

    Danke auch noch einmal Euch und allen anderen im Feuerclan, dass Ihr uns so herzlich aufgenommen und uns Unterkunft gewährt habt. Bei Euch im Dorf ließ sich der Sturm gut aushalten, zum Glück hat er sich dann ja schnell wieder gelegt. In Sachen Gastfreundschaft habt Ihr dem Kloster jedenfalls einiges voraus. Großen Dank auch noch einmal an Sivert für das Bereitstellen des Schlittens und die Pflege der Hunde. Er hat wirklich tolle Arbeit geleistet. Auch Gorok, der Ork, dem die Tiere gehören, war damit sehr zufrieden und voller Anerkennung. Er war außerdem sehr froh, dass wir es heil zurück nach Faring geschafft haben, die Auswirkungen des Schneesturms waren sogar weit im Süden zu spüren. Gorok lässt seinen Dank an Euch ausrichten, dass Ihr uns den Schlitten gegeben habt. Er wollte ihn aber nicht als Ersatz einbehalten, sondern will ihn Euch bei der nächsten Gelegenheit vorbeischicken.

    Rogas und ich hatten zu Eurer Hochzeitsfeier ja leider kein Geschenk für Euch dabei. Weil Ihr so nett zu uns wart und alles so wunderbar war, wollen wir das jetzt aber nachholen, und schicken Euch zusammen mit diesem Schreiben einen Präsentkorb (bitte überprüft genau, ob der Kurier auch alles abgeliefert hat). Wein gibt es in unseren Breiten zwar auch, aber da der mit Eurem Wein wohl eher weniger mithalten kann, und unser Bier mit Eurem wohl auch nicht, haben wir uns für zwei Flaschen Monteraner Kräutergeist entschieden. Das ist ein Getränk irgendwo zwischen Likör und Schnaps, der aus den hier heimischen Kräutern hergestellt wird (Herrscherkraut, Sonnenkraut, Snapperkraut und noch so einige andere Pflanzen, die ich nicht beim Namen kenne). Er wird bei uns vor allem zur Weihnachtszeit getrunken, und da es bis dahin ja nun wirklich nicht mehr lange hin ist (wer weiß, wann unsere Sendung bei Euch ankommt), fanden wir das ganz angebracht. Passend dazu haben wir noch ein großes Paket Flammenbeerenstollen beigelegt. Der erfreut sich bei uns zur Weihnachtszeit auch sehr großer Beliebtheit, kommt aber ursprünglich aus Silden. Meine Mutter hat ihn nach altem Familienrezept gebacken. Ich hoffe, er schmeckt Euch!


    „Heute ist der Tag der Preisverleihung.“
    Alina schaute auf und blickte Rogas ins Gesicht. Es war ganz blank, wie das Papier für den Brief, bevor sie angefangen hatte, zu schreiben. Sie legte die Schreibfeder zurück ins Tintenfass. Sie hatte sich während der letzten Zeilen ohnehin nicht mehr so richtig konzentrieren können.
    „Hatte ich fast schon vergessen“, murmelte sie und rieb sich durchs Gesicht. Rogas verstand den kleinen Witz, er setzte sich auf den Schreibtisch und ließ die Beine baumeln.
    „Habe ich heute wohl schon einmal gesagt, was? Ich meine ja nur. Ist auch nicht mehr lang, dann müssen wir los.“
    „Ja, wir sollten nicht zu spät kommen“, sagte Alina und stand von ihrem Stuhl auf. „Peter kann ja manchmal auch ein wenig unberechenbar sein, da will ich es nicht riskieren, dass wir wegen seiner Macken zu spät kommen.“
    „Ja gut, da sehe ich aber weniger das Problem. Von hier nach Faring und zurück hat es ja auch geklappt, und ich muss sagen, die knappe Woche bei diesem Flint hat ihm ja auch nicht schlecht getan! Das wird also schon. Und mit mir als Fahrer, was kann da schon schiefgehen?“
    „Es könnte zum Beispiel anfangen zu schneien“, sagte Alina. Dann lachten beide. Alina sah beiläufig aus dem Fenster zum nahegelegenen Froschteich. Er war nicht einmal zugefroren, so milde waren die Temperaturen hier geblieben. Das, was man hier rund um Montera manchmal schon als „Wintereinbruch“ bezeichnete, war wirklich ein Witz, wenn man das Wetter in Nordmar erlebt hatte. Tatsächlich hatte es hier auch geschneit, während sie weg waren, das hatte Hilde ihnen erzählt, aber kein bisschen Schnee war liegengeblieben. Eine weiße Weihnacht würde es, wie die meisten Jahre, rund um Montera wohl nicht geben. Und rund um Vengard, dem Sitz des Midländischen Kuriers, war Schnee auch eher eine Seltenheit.
    „Ich hoffe nur, das geht heute Abend nicht so lange, auf eine Rückreise mitten in der Nacht habe ich eher weniger Lust“, meinte Alina, die schon zum Kleiderständer ging und ihre Reiseklamotten heraussuchte. Sie hatte die ganze Zeit schon auf heißen Kohlen gesessen, da konnten sie sich auch jetzt schon so langsam los, statt zuhause herumzutrödeln. Den Brief an Leif und Ingrid konnte sie auch morgen noch zu Ende schreiben, auf den einen Tag kam es nicht an.
    „Ich habe die Laterne schon fertig gemacht, im Dunkeln werden wir ja so oder so fahren müssen“, informierte Rogas sie. „Aber keine Sorge, das habe ich mit Ugo auch geübt, ich bin ein richtig kompletter Fahrer!“
    Alina lachte. „Schade nur, dass wir nicht mit dem Schlitten nach Vengard fahren, was?“
    „Irgendwie schon, ja“, sagte Rogas. „Aber weißt du was, irgendwann, vielleicht nach Weihnachten rum, da fahren wir nochmal nach Faring, nehmen Nina mit und fahren mit ihr ein wenig Schlitten. Also, nur so an der Grenze längs. Das wird ihr doch sicherlich gefallen! Wer weiß, vielleicht hat Gorok dann auch noch unsere alten Hunde! Und wenn er sie dann wirklich nicht mehr braucht, dann können wir ja einen …“
    Alina griff sich Rogas’ Mütze vom Kleiderständer und warf sie ihrem Besitzer vor die Brust. „Jetzt fang nicht schon wieder damit an, nicht heute, nicht jetzt“, lachte sie. Rogas wollte noch etwas sagen, gab sich dann aber geschlagen.
    „Wir sollten noch daran denken, Ford und Mathilde etwas aus Vengard mitzubringen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, dass sie auf Nina aufpassen und dass sie bei ihnen übernachten darf.“
    „Das stimmt“, meinte Rogas. „Alleine ist sie ja lieb, aber zusammen mit Fiona … sie sind beide im gleichen Alter, da verstärkt sich das nur, wenn eine von ihnen ihre dollen fünf Minuten hat. Aber ich glaube, Fiona ist da wesentlich schlimmer, von daher sind die beiden ja eh einiges gewohnt.“
    „Ja, aber eine kleine Aufmerksamkeit schadet trotzdem nicht“, sagte Alina, während sie sich den Mantel zuknöpfte. Rogas hatte sich nun auch eine Überbekleidung gegriffen und sie angezogen, die Mütze trug er mittlerweile auch schon auf dem Kopf. Als sie beide fertig waren, stellte sich Alina direkt vor Rogas auf und sah ihm tief in die Augen.
    „Danke übrigens, dass du mich begleitest.“
    „Ich habe es dir ja gesagt, ich bin dabei, von Anfang bis Ende.“
    Alina lächelte. Bei manchen Leuten hätte so ein Satz sicher wie eine Drohung geklungen. Aus Rogas’ Munde hingegen war es ein wunderbares Versprechen.

    „So, und nach diesen kurzen einleitenden Worten würde ich dann die drei Autoren nach vorne bitten, die diesen Wettbewerb mit ihren Einsendungen überhaupt erst möglich gemacht haben. Ich freue mich, hier auf der Bühne begrüßen zu dürfen: Hamid Al-Farraq Al-Mahdi aus Mora Sul, Alina Jule-Klapp aus Montera und Vincent van Fronio aus Khorinis!“
    Applaus ertönte, endlich war es so weit. Die „kurzen einleitenden Worte“ von Chefredakteurin und Chefin vom Dienst Hannah Medina Franckenberg waren entgegen ihrer Bezeichnung so lang und ausschweifend gewesen – die Geschichte des Midländischen Kuriers und des dazugehörigen Verlagshauses mit all seinen Irrungen und Wirrungen und bedeutenden Beiträgen zum Zeitungswesen in allen drei Reichen war wohl noch nie so gründlich dargelegt worden wie heute – dass Alina wohl eingenickt wäre, wäre sie nicht so nervös gewesen. Rogas, der links neben ihr saß, drückte ihr noch kurz die Hand, um ihr Mut zu machen, dann stand sie auf und bahnte sich ihren Weg aus der Sitzreihe, um nach vorne auf die Bühne zu treten. Ein in Tüchern gekleideter Südländer und ein bulliger Mann mit frisch geschorener Glatze aus der ersten Reihe – Vincent van Fronio – taten es ihr gleich. Die Bühne betraten sie über ein kleines Treppchen. Hamid Al-Farraq Al-Mahdi war zuerst oben, Vincent überließ dann Alina mit einem breiten Grinsen den Vortritt. Sie hatte ihn vor Beginn der Veranstaltung nur ganz kurz gesehen und jeglichen Gesprächsversuch von ihm abgeblockt. Sie brauchte diesen Kerl ohnehin nicht, aber wenn sie so nervös war, wie an diesem Abend, dann nur umso weniger.
    Sie alle gaben Hannah Medina Franckenberg, die zu diesem Anlass eine modenschauverdächtige Hochsteckfrisur auftrug sowie in einem Pulli mit ausladendem Ausschnitt steckte, zur Begrüßung die Hand und reihten sich dann neben ihr auf. Die Bühne war nur leicht erhöht, dennoch hatte man von hier oben einen ganz guten Überblick über das Publikum. Es waren durchaus einige Leute gekommen: Journalisten und deren Anhang, von denen Alina manche ganz gut, manche weniger gut kannte, wichtige Persönlichkeiten aus Vengard und den umliegenden Städten, aber auch sonstige kulturbeflissene Leute hatten sich hier eingefunden. Es mochten sicher an die fünfzig Leute sein, die hier im Veranstaltungssaal des Midländischen Kuriers ihren Platz fanden. Große Kronleuchter schienen auf sie herab, kleine Gestecke aus Tannenzweigen an den roten Vorhängen zur Fensterfront auf der rechten Seite des Raumes von der Bühne aus gesehen verliehen dem Saal eine vorweihnachtliche Atmosphäre. Alina wurde klar: Hier beim Midländischen Kurier wurde geklotzt und nicht gekleckert. Das machte sie nur noch nervöser.
    „Bei drei so fabelhaften Einsendungen fiel uns die Wahl natürlich nicht leicht“, sprach Hannah Medina Franckenberg weiter, gestützt auf ein kleines Rednerpult, auf dem ein ganzer Stapel an Redemanuskript lag. Das konnte noch ein langer Abend werden.
    „Herr Hamid Al-Farraq Al-Mahdi lieferte uns mit Leben eines Handlungsreisenden eine gesellschaftskritische Reportage über das Alltagsgeschäft eines reisenden Händlers aus Varant, mit besonderem Augenmerk auf die noch immer fortbestehenden Barrieren in den Köpfen der Menschen in einem eigentlich doch grenzenlosen Kontinent.“
    Der Varantiner deutete eine leichte Verbeugung an, das Publikum spendierte höflichen Applaus.
    „Frau Alina Jule-Klapp hat mit Eine Woche Schnee. Notizen einer Nordmarreisenden eine sehr persönliche Reisereportage vorgelegt, die ihren Weg durch die eisigen Landschaften Nordmars und die warmherzigen Clans beschreibt, den sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten unternommen hat, und dabei teils intime Einblicke in das Seelenleben einer Reisenden mit einer fundierten Milieustudie des nordmarer Volks verbindet.“
    Frau Franckenberg lächelte Alina aufmunternd zu, woraufhin Alina sich auch zu einer kleinen Verbeugung genötigt sah, die ebenso wie schon beim varantiner Händler von Applaus eingerahmt wurde.
    „Bleibt noch Herr Vincent van Fronio, der uns mit Ein Mann gegen das Eis – Nordmar sehen und erleben eine groß angelegte und spannende Reportage über Land und Leute Nordmars kredenzt, die von überblicksartigen Beschreibungen des gesamten Reiches bis detailgetreuen Berichten über die entlegensten Winkel der kalten Lande reicht und dabei schier keine Frage mehr offen zu lassen scheint.“
    Vincent van Fronio ließ es sich nicht nehmen, sich tief zu verbeugen und damit Applaus in erhöhter Lautstärke zu provozieren. Alina ging davon aus, dass viele aus dem Publikum ihn kannten.
    Hannah Medina Franckenberg wartete, bis der Applaus abgeebbt war, und sprach dann weiter.
    „Wir haben uns die Wahl, wie gesagt, nicht leicht gemacht, und ich denke, nachdem Sie nun allein schon die vielversprechenden und anregenden Titel dieser drei Reportagen gehört haben, können Sie die Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung gut nachvollziehen. Lassen Sie sich gesagt sein: Das Lesen der dazugehörigen Texte hat uns die Entscheidung auch nicht einfacher gemacht! Wir haben wirklich drei Reportagen von herausragender Qualität zu lesen bekommen, jede für sich mit ihren Besonderheiten. Letzten Endes war es aber Zielvorgabe, nur eine der Reportagen als die beste auszuwählen, denn schließlich haben wir beim Midländischen Kurier auch nur eine Stelle zu vergeben. Es ist ein Jammer, denn wir hätten gerne alle drei eingestellt, so viel kann ich sagen!“
    Frau Franckenberg unterbrach ihre Rede kurz, um Alina und den anderen abermals freundlich und gewinnbringend zuzulächeln. Alinas Nervosität steigerte sich so langsam ins Unermessliche, sie spürte, wie ihre Hände schon ganz feucht wurden.
    „Wir haben in der gesamten Redaktion also intensiv diskutiert, bis wir uns sicher waren, welche der drei Einsendungen denn nun der beste Beitrag ist. Schließlich sind wir auch zu einem Ergebnis gekommen, das die Redaktion in all ihrer Breite guten Gewissens mittragen konnte.“
    Sie machte noch einmal eine Pause. Die Spannung im gesamten Saale war nun förmlich greifbar.
    „Unsere Wahl ist schlussendlich gefallen auf: Eine Woche Schnee. Notizen einer Nordmarreisenden von Frau Alina Jule-Klapp!“
    Applaus brandete auf, teils auch Jubel. Rogas war der erste, der von seinem Sitz aufsprang und stehend applaudierte, bis er das Klatschen sein ließ und stattdessen die Faust jubelnd über seinem Kopf kreisen ließ, wie er es sonst nur tat, wenn er oder jemand den er sehr mochte bei einem Wurfpfeil-Turnier gewonnen hatte. Einige der feineren Damen und Herren auf den Sitzen neben ihm bedachten dieses Gebaren mit irritierten Blicken, Alina hingegen fand es einfach nur super und grinste ihm zu. Schließlich ließen sich auch noch andere Zuschauer zu stehenden Ovationen hinreißen, und es dauerte eine ganze Weile, bis sich das Publikum wieder beruhigt hatte und alle zurück auf ihren Sitzen waren. Hamid Al-Farraq Al-Mahdi bot Alina von rechts die Hand zum Glückwunsch an und raunte ihr rasch ein paar anerkennende Worte zu. Er wirkte naturgemäß ein wenig zerknirscht, rang sich aber ein Lächeln ab und konnte sich offenbar trotz allem aufrichtig für Alina freuen. Vincent van Fronio zu ihrer linken hingegen würdigte Alina keines Blickes, er bewegte sich kein bisschen und starrte mit ausdrucksloser Miene nach vorne ins Leere.
    „Überzeugt davon, dass Alina Jule-Klapp die beste Reportage abgeliefert hat und daher auch am besten zu unserem Redaktionsteam beim Midländischen Kurier passt, waren wir letztendlich aus folgenden Gründen: Eine Woche Schnee ist eine Reisereportage, die sich angenehm von herkömmlichen Reisereportagen unterscheidet, vor allem, weil sie mehr ist als die bloße Beschreibung einer Reise. Jemanden losschicken, um die Landschaft Nordmars zu beschreiben, das können wir jederzeit, doch die individuelle Note, die Alina Jule-Klapp in ihre Schilderungen eingebracht hat, ist nicht so leicht reproduzierbar, sondern eng und untrennbar mit der Autorin verbunden. So staunt der Leser nicht nur über die hervorragend in sprachliche Bilder gegossenen Berg- und Eispanoramen Nordmars, sondern auch über die persönlichen Widrigkeiten, Probleme und die kleinen Dramen, die auf … so einer Reise …“
    Frau Franckenberg unterbrach sich selbst, auch Alina hatte irgendetwas auf der Bühne gespürt. Als sie sich umwandte, sah sie, wie ein etwas gehetzt aussehender junger Mann mit lichtem Haar die Bühne betreten hatte und auf Hannah Medina Franckenberg zusteuerte. Als er sie erreicht hatte, flüsterte er ihr ein paar Sätze ins Ohr, die Alina nicht verstehen konnte, und übergab ihr einen zweifach gefalteten Zettel. Dann verschwand der Mann auch schon wieder von der Bühne, blieb aber noch im Saal an der Tür stehen. Er musste wohl ein Angestellter des Verlagshauses sein.
    Frau Franckenberg hatte schon vor dem Öffnen des Zettels erstaunt geschaut. Jetzt, wo sie den auseinandergefalteten Zettel eine gewisse Zeit begutachtete, schienen ihr die vorher so kontrolliert erscheinenden Gesichtszüge vollkommen zu entgleiten. Im Saal war es nun ganz still, vereinzelt konnte man die Leute unruhig auf den Sitzpolstern herumrutschen oder husten hören. Die Stimmung war gespannt. Alinas Nervosität, die eigentlich schon wieder am Abklingen gewesen war, bahnte sich erneut und diesmal umso heftiger den Weg zurück in ihre Brust.
    Als Hannah Medina Franckenberg den Zettel auf ihrem Pult ablegte, schaute sie noch einmal fragend, mit hochgezogenen Augenbrauen, zum Mann am Ausgang des Saales herüber. Er nickte nur bestätigend. Aus dem Augenwinkel fing Alina dabei den Gesichtsausdruck Vincents ein. Deutete sich um seine Mundpartie etwa ein Lächeln an?
    „Meine Damen und Herren“, begann Frau Franckenberg nun wieder zu sprechen, und ihre Stimme war so gefasst, wie es nun auch wieder ihr Mienenspiel war. „Ich muss meine Laudatio unterbrechen, denn mich hat soeben eine Information erreicht, die die Sachlage ganz erheblich verändert.“
    Ein Raunen ging durchs Publikum. Alina biss sich auf die Lippe und schaute zu Rogas. Er sah so ratlos aus, wie Alina sich gerade fühlte.
    „Zunächst einmal die Korrektur: Alina Jule-Klapp ist nachträglich disqualifiziert. Sie hat sich zum Wettbewerb mit einer Pseudo-Postadresse angemeldet. Also kann sie den Wettbewerb nicht gewinnen und auch nicht Redakteurin bei uns werden.“
    Das Raunen im Publikum wiederholte sich noch einmal lauter, manche sogen hörbar scharf Luft ein. Rogas war von seinem Sitz aufgesprungen. „Bitte was?“, entfuhr es ihm.
    „Das kommt jetzt natürlich sehr überraschend und ist durchaus bitter“, fuhr Frau Franckenberg ungerührt fort. „Aber so sind die Regularien. Genau genommen hat sich Frau Jule-Klapp nie gültig zum Wettbewerb angemeldet. Mit so einer Pseudo-Adresse geht das schlicht nicht.“
    „Aber wieso denn Pseudo-Adresse, was ist an der denn falsch?“, stammelte Alina. „Das ist doch … wir wohnen nunmal Am ollen Laichtümpel 3a, was ist denn daran so -“
    Aus dem Publikum brandete Gelächter auf, das erst wieder verstummte, als Rogas die vereinzelten Urheber mit bösen Blicke bedachte.
    „Frau Jule-Klapp, Sie müssen das akzeptieren“, sagte Hannah Medina Franckenberg mit ungerührter Miene. „Sie können froh sein, dass wir Sie für diesen Scherz nicht noch rechtlich belangen. Es steht hiermit fest: Sie sind nicht Siegerin des Wettbewerbs. Es tut mir leid. Sie können dieser Veranstaltung hier aber selbstverständlich gerne weiter beiwohnen.“
    „Das werde ich selbstverständlich nicht tun!“, knurrte Alina mit geballten Fäusten. „Man hat mir zwar in der Ausbildung schon gesagt, dass man als Journalistin vom Lande einen gewissen Standortnachteil hat. Aber an sowas habe ich dabei ganz sicher nicht gedacht.“ Sie blickte zu Rogas herüber und schwenkte ihren Kopf in Richtung Ausgang. Er verstand und zwängte sich aus der Sitzreihe heraus, unter den Augen von Frau Franckenberg und den Blicken der stummen Zuschauer. Man hätte in dieser eisigen Atmosphäre eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.
    Alina verließ die Bühne; als sie an Vincent van Fronio vorbeimarschierte, bedachte sie ihn keines Blickes. Sein breites Grinsen konnte sie sich auch so gut vorstellen, sie spürte es sogar beinahe in ihrem Nacken. Am Ausgang trafen Alina und Rogas sich. Sie sprachen kein Wort, als sie aus dem Saal herausschritten. Die Tür blieb hinter ihnen offen, sodass sie die folgenden Worte von Frau Franckenberg noch weit in den Flur hinein hören konnten.
    „Meine sehr verehrten Damen und Herren, glücklicherweise hat die Gesamtredaktion des Midländischen Kuriers soeben in einer Eilsitzung den Ersatz-, oder besser gesagt den eigentlichen Gewinner bestimmt. Ich kann Ihnen versichern, die beiden verblieben Optionen wurden sorgfältig, ja umso gründlicher gegeneinander abgewogen. Letzten Endes ist die Redaktion auch hier zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt. Sieger des Wettbewerbs ist nunmehr: Vincent van Fronio, mit seiner Reportage Ein Mann gegen das Eis – Nordmar sehen und erleben! Herzlichen Glückwunsch!“
    Applaus brandete auf.

    Alina hörte, wie Rogas in die Wohnstube kam. Er war kurz mit der Laterne draußen gewesen und hatte nach Peter gesehen. In der Zeit war Alina fast endgültig eingenickt, aber sie hatte sich doch noch einmal gefangen. Die Anstrengung des heutigen Tages, aber auch der letzten Wochen machte sich nun wirklich bemerkbar. Aber immerhin war sie jetzt zu Hause, wo es warm war, in ihrem Lieblingssessel, und hatte ihre Ruhe.
    Alina hörte ein charakteristisches Klirren und öffnete die Augen. Rogas hielt zwei Flaschen in den Händen und reichte eine davon herüber.
    „Ich hatte gedacht, du willst vielleicht auch eins?“
    Sie hatten die gesamte Fahrt über von Vengard zurück kein einziges Wort gesprochen. Rogas hatte sich dabei sichtlich unwohl und unbeholfen gefühlt, was Alina nicht entgangen war und ihr auch leid getan hatte. Aber sie hatte selber nicht gewusst, was sie sagen sollte, und sie hatte zudem Zeit gebraucht, um über all das Geschehene nachzudenken. Diese Zeit hatte sie nun zur Genüge gehabt.
    „Ja, gib her. Und bring dich selbst gleich mit.“
    Alina hievte sich ein wenig im Sessel empor und rutschte zur Seite, damit Rogas neben ihr auf der Lehne Platz nehmen konnte. Er leistete der Anweisung Folge und lächelte. Sie stießen mit den Flaschen an, sie waren kellerkalt, genau, wie die beiden es mochten. Eine ganze Weile lang saßen sie so, aneinandergelehnt, und tranken. Alina genoss den Augenblick, und Rogas schien es ähnlich zu gehen. Irgendwann sagte er aber doch etwas.
    „Alina … ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, aber mir tut das einfach sehr leid für dich, wie das alles gelaufen ist. Das ist alles nicht fair. Du wolltest die Stelle beim Midländischen Kurier doch so gerne haben, und eigentlich hättest du sie dir auch verdient gehabt. Und jetzt hat stattdessen dieser blöde Vincent -“
    Rogas brach ab, als Alina ihm sanft einen Finger auf den Mund legte. Er blickte sie fragend an.
    „Du bist der beste und treueste Lebensgefährte, den man sich nur wünschen kann.“ Rogas’ Blick wurde immer fragender. „Ich glaube, du musst gar nicht mehr sagen. Ich habe schon verstanden. Aber ich habe auch noch etwas ganz anderes verstanden.“ Sie legte den Arm um Rogas. „Ob ich nun den Wettbewerb gewonnen habe oder nicht, unsere gemeinsamen Erlebnisse, die kann mir, die kann uns doch keiner mehr nehmen. Ich bin gar nicht so sehr enttäuscht, denn wir haben doch dieses tolle Abenteuer zusammen erlebt. Das ist mir schon bei der Rückreise aus Nordmar klar geworden, und jetzt nach dem heutigen Abend in Vengard ist es noch viel klarer. Es ist zwar ganz schön viel schief gelaufen, aber wir haben immer zusammengehalten. Das ist das eigentlich Wichtige an dieser Reise gewesen. Und nicht, wie erfolgreich wir waren oder wie andere darüber denken. Es ist nur wichtig, wie wir beide darüber denken.“
    „Das finde ich schön, dass du so denkst.“
    Rogas legte nun auch seinen Arm um Alina, und so verweilten sie eine ganze Zeitlang. Das Feuer im Kamin knisterte, die Kerzen in der Stube verbreiteten ein angenehm warmes, dämmeriges Licht.
    „Und außerdem“, begann Alina dann nach einer Zeit wieder, „ist mir noch etwas ganz anderes klar geworden.“
    „Was denn?“
    „Dass ich unter einer Chefin wie dieser Hannah Medina Franckenberg nie, nie, niemals glücklich geworden wäre. Das muss doch furchtbar dort sein, mit solchen Snobs. Hast du ihren Mitarbeiter gesehen, der ihr den Zettel auf die Bühne gebracht hat? Der war doch vielleicht knapp über dreißig und hatte schon kaum noch Haare auf dem Kopf. Und wie der geschwitzt hat! Die leben wahrscheinlich in ständiger Angst vor dieser Frau. Also nee, da kann mir der Midländische Kurier nun wirklich gestohlen bleiben. Ich bleibe weiter bei der Goth’schen Zeitung, zumindest bis auf Weiteres. Da weiß ich wenigstens, was ich habe.“
    „Dein Wort in Innos’ Ohr“, raunte Rogas. „Dein Wort in Innos’ Ohr.“
    Sie schwiegen wieder eine ganze Weile und schmiegten sich aneinander, bis Rogas doch noch einmal das Wort ergriff.
    „Wir haben ja jetzt Zeit, was ich dich jetzt also noch einmal fragen wollte …“
    „Du wirst doch nicht schon wieder …“
    „Wenn man sich das so genau besieht, in Peters Stall wäre sicherlich noch Platz für eine Hundehütte …“
    „Das gibt’s doch einfach nicht!“, lachte Alina.
    „Naja, aber wieso denn nicht? So ein Orkhund, das ist doch was Feines! Du bist doch auch so tierlieb! Und wenn ich daran denke, wie Nina mit ihm draußen spielen kann, dann -“
    „Okay, okay, okay, das reicht jetzt!“, unterbrach Alina ihn weiterhin lachend. „Pass auf, ich sag dir was: Du bekommst deinen Hund.“
    Rogas riss die Augen auf. „Echt?“
    „Echt“, bestätigte Alina. „Aber nur, wenn ich mir auch was wünschen darf.“
    „Natürlich!“, sagte Rogas. „Schieß los!“
    Alina schmunzelte. „Weißt du … so eine Hochzeit wie von Leif und Ingrid beim Feuerclan … sowas bräuchten wir doch eigentlich auch.“
    Den Blick, mit dem Rogas sie daraufhin bedachte, den würde Alina wohl nie wieder vergessen. Sie war sich sicher, dass nicht einmal die größten Reichtümer dieser Welt ihren Rogas auch nur ansatzweise aufwiegen konnten. Aber der Blick, dieser unbeschreibliche Blick in diesem Moment … der war einfach Gold wert.

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