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    Kämpfer Avatar von Yarik
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    Die Waldbruderschaft im Forenrollenspiel
    Yarik ist offline
    Johar kam mit leichten, verspielten Schritten näher. Er hatte es nicht eilig. Yarik und Sankar wichen zurück, aber wohin wollten sie schon laufen? Das Gebäude hatte nur einen Eingang, und um den zu erreichen, müssten sie erst einmal an ihm vorbeikommen – und dann, für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass sie das schafften, an seinen Männern. Seine Beute saß in der Falle.
    „Weißt du, Vögelchen, es ist nichts persönliches“, erklärte er an Yarik gewandt und zuckte entschuldigend mit den Schultern, „Es geht rein ums Geschäft. Wenn irgendwelche dahergelaufenen Möchtegern-Schmuggler anfangen, uns unsere Profite streitig zu machen, wo kommen wir denn da hin? Wir sind die Rote Hand! Wir haben einen Ruf zu verlieren, den wir uns hart erarbeitet haben! Wir müssen also eine klare Botschaft senden, und nun ja, es ist einfach dein Pech, dass du derjenige sein wirst, der diese Botschaft… ist. Du wirst also sicherlich einsehen, dass ich hier nur meine Arbeit erledige. Allerdings…“, er ließ den Dolch mit schnellen Bewegungen von einer Hand in die andere wechseln und verzog die Lippen zu einem bösartigen Grinsen, „…hat niemand gesagt, dass man bei der Arbeit keinen Spaß haben darf, nicht wahr?“
    Yariks Gedanken rasten. Johar mochte auf den ersten Blick äußerlich nicht viel hermachen, aber die ganze Art, wie er auftrat, wie er sich bewegte, wie er mit seiner Waffe hantierte machte klar, dass dieser Mann eine echte Bedrohung war. Jede seiner Bewegungen war genau geplant und kontrolliert, geschmeidig wie die einer Raubkatze. Seine Augen, obwohl sie auf seine Beute gerichtet waren, zuckten immer wieder zur Seite, um in Sekundenbruchteilen die Umgebung aufzunehmen, so dass er jedes Detail, jede Eventualität im Voraus durchgehen konnte. Egal was Yarik oder Sankar versuchten, Johar würde das Szenario bereits im Kopf durchgespielt haben. Sie würden ihn nicht überraschen können. Yarik hatte von den Assassinen gehört, den Wüstenkriegern, die vor der Eroberung Varants durch die Streitkräfte Myrtanas als Handlanger und Vollstrecker der Schwarzmagier gedient hatten – mehr Meuchelmörder als Soldaten, die Heimlichkeit und Grausamkeit zu ihren Mitteln erkoren: Angst war in ihren Augen eine schärfere Waffe als jedes Schwert. War dieser Johar einer von ihnen, der nach dem Fall seiner Meister eine neue Betätigung als Vollstrecker eines Verbrecherkartells gefunden hatte?
    Yarik biss die Zähne zusammen. Wer oder was dieser Mann war, der ihn gleich umbringen würde, spielte überhaupt keine Rolle. Wenn er doch nur diesen Auftrag nie angenommen hätte! Am Rande seines Gesichtsfeldes sah er flüchtig zwei Paar Augen im Schatten zwischen einigen Kisten und Fässern aufblitzen. Augen, in denen unübersehbar Tadel und Enttäuschung standen.
    „Harth… Erinc… Es tut mir leid“, flüsterte er an seine beiden toten Söhne gewandt und senkte schuldbewusst den Blick. Er hätte sich nie in diesen Krieg im Schatten verwickeln lassen dürfen! Hatte er wirklich erwartet, dass der Orden auch nur einen Scheiß darauf gab, ob er lebte oder starb? Für diese selbstgerechten Paladine war er doch nur Werkzeug, das sich jederzeit ersetzen ließ, während sie selbst ihre kostbaren Ärsche aus der Schusslinie hielten. Jetzt würde er genauso sinnlos sterben wie seine Zwillinge, sein Leben und damit die Chance auf Erlösung verspielt. Der Gedanke, seine verlorenen Lieben im Tode wiederzusehen, war einer, der für viele Menschen dem Tod zumindest ein wenig den Schrecken nehmen konnte. Yarik hingegen erfüllte er mit nackter, kalter Angst. Er hatte versagt, im Leben wie im Tod, und dafür würden sie ihn hassen. Bis in alle Ewigkeit würden sie ihn hassen…
    „Eine letzte Abbitte an die lieben Hinterbliebenen?“, spottete Johar, „Gut, dann ist das wohl auch erledigt. Was meinst du, bringen wir es hinter uns?“
    Er zwinkerte Yarik schelmenhaft zu und nahm eine geduckte Angriffshaltung ein, den Dolch stoßbereit auf Hüfthöhe haltend. Die Angriffshaltung eines Mörders, nicht eines Kriegers, bei der die Waffe halb verborgen hinter dem Körper lauerte, statt offen zum Stoß erhoben zu sein. Yarik stolperte unbeholfen einen weiteren Schritt nach hinten und suchte panisch nach einem Ausweg, aber es gab keinen. Er zog sein Messer, ein simples, schmiedeeisernes Werkzeug, dazu gedacht, Brot und Gemüse zu schneiden, aber das Einzige, was er bei sich hatte, das einer Waffe auch nur annähernd ähnlich kam. Es war eine hilflose Geste, mehr nicht. Johar grinste diabolisch.
    „Na, zumindest hast du wohl ein bisschen Mumm in den Knochen!“, feixte er, „Das ist gut. Das macht es interessanter…“

    Plötzlich ertönte vom Tor her ein kurzer Schrei, gefolgt von einem gurgelnden Geräusch. Johar fuhr herum. Einer seiner beiden Handlanger umklammerte mit beiden Händen den gefiederten Schaft eines Pfeils, der aus seinem Hals ragte. Einen Moment später surrte ein weiterer Pfeil irgendwo vom Dachgebälk her nach unten und traf den zweiten Mann, den Armbrustschützen, in die Schulter, bevor er sich hinter einigen Fässern in Sicherheit bringen konnte. Yarik folgte dem Weg des Pfeils und bemerkte einen weißen Haarschopf zwischen den Dachbalken. Nienor! Sie hatte ihn also doch nicht im Stich gelassen – es durchfuhr ihn wie ein Blitz: Vielleicht hatte er noch eine Chance!
    Er handelte, ohne nachzudenken. Dieser eine, winzige Augenblick, in dem Johar abgelenkt war, würde der einzige sein, den er bekommen würde, um dem sicheren Tod zu entgehen. Er riss Sankar die Laterne aus der Hand und schleuderte sie Johar vor die Füße. Das Glas zerbarst, Lampenöl spritzte in alle Richtungen und entzündete sich sofort. Johar sprang reflexartig nach hinten, aber ein paar Spritzer des brennenden Öls waren auf seiner Hose gelandet und er musste kostbare Sekunden aufwenden, um das Feuer an seiner Kleidung auszuklopfen. Inzwischen leckten die Flammen an einigen der Textilballen hoch, in denen das Sumpfkraut versteckt war. Die trockenen Lumpen brannten wie Zunder und es dauerte nicht lange, bis eine Wand aus Flammen und dichtem, öligen Rauch Yarik und Sankar von Johar und den anderen trennte. Yarik konnte noch erkennen, wie Nienor mit dem Schwert in der Hand von dem Dachbalken heruntersprang und auf einem Stapel Kisten landete, bevor der Qualm ihm jegliche Sicht auf das Geschehen im vorderen Teil des Lagerhauses nahm.
    Er packte Sankar, der wie betäubt neben ihm stand, am Arm und zog ihn hinter sich her, weg von den Flammen und weiter in den hinteren Bereich des Lagerhauses.
    „Komm schon“, rief Yarik, „Wir müssen einen Ausweg finden! Gibt es irgendeine Möglichkeit, hier herauszukommen?“
    Sankar wandte sich um und starrte kurz auf die Flammen, dann auf Yarik. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen und verzog das Gesicht zu einer Geste des Abscheus.
    „Eine vom Orden?“, knurrte er plötzlich, „Wer bei Beliar bist du? Geht diese ganze Scheiße auf dein Konto, steckst du mit dem Orden unter einer Decke?“
    „Jetzt ist nicht die Zeit, um–“, wollte Yarik erwidern, doch Sankar sah das offensichtlich anders. Unerwartet krachte seine Faust gegen Yariks Kiefer. Sankar mochte nicht mehr der Jüngste sein, aber er hatte jahrelang Dienst in der Armee des Königs getan, hatte manch eine Schlacht geschlagen und hatte sich auch nach seiner Erhebung zum Hafenmeister nie dem faulen Luxus hingegeben, so dass er sich einen guten Teil seiner Kraft bewahrt hatte. Schwarze Flecken explodierten vor Yariks Augen und er taumelte angeschlagen nach hinten, seine Beine wollten ihm nicht recht gehorchen.
    „Oh, es ist ein großartiger Zeitpunkt!“, fauchte Sankar. Er packte Yarik am Kragen und an den Haaren und schleuderte ihn in einen Stapel Kisten. Eine davon sprang auf und silbernes Tafelgeschirr ergoss sich über Yarik.
    „Brago ist TOT!“, brüllte Sankar. Sein Gesicht war zu einer Fratze der Wut und des Hasses verzerrt. „Zwanzig beschissene Jahre standen wir Seite an Seite, er und ich! Zwanzig Jahre! Wir haben gegen die Orks gekämpft, gegen die Dämonenbeschwörer, gegen diese Barbaren aus Setarrif…“ Für jeden Gegner, den er aufzählte, versetzte Sankar Yarik einen Tritt in die Rippen. Der Landstreicher krümmte sich auf dem Boden in dem Versuch, seinen Körper zu schützen. Nach ein paar weiteren Tritten ließ Sankar endlich von ihm ab und trat schnaufend ein paar Schritte zurück.
    „Brago ist tot…“, keuchte der Hafenmeister, „Weil du Ratte uns verraten hast! Er war der beste Mensch, den ich je kennen lernen durfte. Der Einzige, dem ich wirklich vertrauen konnte. Und jetzt…“
    Yarik holte tief Luft und versuchte, den kurzen Moment zu nutzen, um einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Die Flammen breiteten sich mit besorgniserregender Geschwindigkeit aus; sie mussten irgendeinen Weg finden, um aus dem Lagerhaus zu entkommen, sonst saßen sie hier fest und würden am Rauch ersticken oder von herabstürzenden brennenden Balken erschlagen werden! Aber dieser verfluchte Sankar schien all das gar nicht wahrzunehmen. Oder es war ihm egal…
    „Nein“, krächzte Yarik und versuchte, sich hochzustemmen, die Schmerzen in seinen Rippen ignorierend, „Du… du hast ihn umgebracht! In dem Augenblick, als du… mit diesen… mit der Roten Hand paktiert hast. Deine... eigene Gier hat ihn getötet!“
    „Meine Gier?“, rief Sankar, „Meine Gier? Weißt du, wie lächerlich gering der Sold für einen gewöhnlichen Milizionär ist? Für jemanden, der tagtäglich sein Leben riskiert für diesen König, der ihm kaum genug zugesteht, um am Tag eine warme Suppe zu kaufen? Brago konnte nicht viel, außer zu kämpfen, also was sollte er tun? Ihm blieb nichts anderes übrig. Aber er träumte von einem eigenen Hof, einer Wirtschaft… nur, von welchem Geld? Als ich dann den Posten des Hafenmeisters bekam, wusste ich, dass ich die Gelegenheit hatte, ihm all die vielen Male zu vergelten, die er mein verdammtes Leben gerettet hatte. Aber dafür brauchte ich mehr als das, was mein eigener Sold für diese Stelle einbrachte. Du hast Brago wahrscheinlich für einen grobschlächtigen Rohling gehalten, und vielleicht war er das auch, aber er hatte Träume…“
    Sankar lehnte sich kraftlos gegen ein Warenregal. Er sah verloren aus. Yarik hatte beinahe Mitleid mit ihm. Am Ende stellte sich heraus, dass er gierige, kriminelle Hafenmeister auch nur einfacher Mann war, der versucht hatte, im Spiel der Reichen und Mächtigen mitzuspielen – und verloren hatte. Alles.
    „Sankar…“, versuchte Yarik, der inzwischen wieder auf die Beine gekommen war, auch wenn er sich noch immer wackelig fühlte, es noch einmal, „Wir müssen irgendwie hier raus! Das Feuer bringt uns um!“
    Sankar hob den Kopf. Sein Gesicht war wie Stein.
    „Vielleicht. Aber bevor ich versuche, hier herauszukommen, werde ich dich töten“, grollte er. Er griff in das Regal hinter sich und zog ein Kantholz hervor, das dort zwischen anderen Baumaterialien aufgestapelt lag. „Johar wird sich um diese Ordensschlampe kümmern, und ich werde inzwischen dich Ratte erledigen. Dann lassen sich hinterher vielleicht wenigstens die Geschäfte wiederaufnehmen. Falls ich lebend hier herauskomme. Und falls nicht… dann kann ich wenigstens in der Gewissheit sterben, dass ich dich Ratte hab‘ verrecken sehen!“
    Yarik verzog schmerzhaft das Gesicht und hob beschwichtigend die Hände: „Sankar…“
    „Nein!“, unterbrach ihn der Hafenmeister, „Spar dir–“ Weiter kam er nicht. Yarik warf sich nach vorn und stürmte mit gesenkter Schulter auf ihn zu. Sankar, der nicht mit der Attacke gerechnet hatte, reagierte zu spät. Er schlug mit dem Kantholz zu, aber es traf Yarik nur harmlos am Rücken in dem Moment, als der Landstreicher sich mit seinem ganzen Gewicht gegen seinen Gegner warf. Er war vielleicht angeschlagen, aber er war noch immer größer und stärker als Sankar, der von den Füßen gerissen wurde und gegen das Regal hinter ihm prallte, was dem Hafenmeister die Luft aus den Lungen presste. Seine Beine gaben nach, aber er packte Yarik am Kragen seines Gewandes und riss ihn ebenfalls von den Füßen, als er zu Boden ging. Die Kontrahenten wälzten sich auf dem gestampften Lehmboden und wechselten wilde Schläge in dem Versuch, die Oberhand zu gewinnen, bis Sankar einen Glückstreffer landen konnte, der Yarik einen Augenblick benommen machte und zur Seite kippen ließ. Sankar nutzte die Gelegenheit, ihn am Boden festzuhalten und ihm die Hände um den Hals zu legen. Er drückte unerbittlich zu. Als erste Sternchen vor seinen Augen zu tanzen begannen, schlug Yarik panisch gegen die Unterarme seines Gegners und versuchte, seinen Griff zu lockern, doch ohne Erfolg. Sankars Hände, gekräftigt durch die vielen Jahre, in denen er ein Schwert im Kampf geführt hatte, waren wie Schraubstöcke. Yarik versuchte verzweifelt, Luft zu holen, aber nichts gelangte durch die zugedrückte Luftröhre in seine kreischenden Lungen. Seine Panik wuchs, sein rasender Geist suchte fieberhaft nach einem Ausweg…
    Und fand ihn. Statt zu probieren, sich aus Sankars Griff zu befreien, packte Yarik mit beiden Händen dem Kopf seines Gegners und drückte ihm mit aller Gewalt die Daumen in die Augen. Sankar brüllte auf vor Schmerz, ließ von Yarik ab und riss sich los. Der Hafenmeister kam taumelnd auf die Beine und stolperte nach hinten, wobei er fluchend die Hände vors Gesicht schlug. Yarik wusste allerdings, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Er hatte Sankar keineswegs geblendet, und der Hafenmeister würde bald wieder zum Angriff übergehen. Hinzu kamen das immer lauter werdende Prasseln des Feuers, das mittlerweile den Dachstuhl erreicht hatte, und die dicken Rauchschwaden, die erstaunlich stark aromatisch rochen und eine seltsam betäubende Wirkung zu haben schienen. Er musste den Kampf beenden, hier und jetzt, und endlich nach einem Weg suchen, dem Inferno zu entkommen…
    Die Schmerzen, die mittlerweile in seinem ganzen Körper tobten, verdrängend, rappelte sich Yarik auf die Füße. Sankar blinzelte ihn hasserfüllt an und sagte irgendetwas, das Yarik über den Lärm des Feuers und zusammenbrechender Regale hinweg jedoch nicht verstehen konnte. Es war ihm auch völlig egal. Sankar ballte die Fäuste. Yarik kam auf ihn zu geschlurft. Auf dem Boden lag das Kantholz, das Sankar hatte fallen lassen, als er von Yarik gerammt worden war. Der Landstreicher bückte sich, packte es mit beiden Händen und machte einen Ausfallschritt auf Sankar zu, während er zugleich das Holz in einem weiten Bogen in Richtung seiner Schläfe schwang. Sankar riss die Arme hoch und wehrte den Schlag mit den Unterarmen ab, aber er schrie auf vor Schmerz und duckte sich zur Seite. Yarik ließ ihm keine Zeit, sich zu sammeln. Er schlug erneut zu, und diesmal fand der Angriff sein Ziel. Das Holzbrett krachte gegen den Hinterkopf des Hafenmeisters. Sankar kippte vornüber wie ein Sack Weizen und blieb reglos liegen.

    „Verfluchter Idiot…“
    Keuchend ließ Yarik das Kantholz fallen. Er stützte sich an einem Regal ab, während er sich eine kurze Verschnaufpause erlaubte – auch wenn die Luft inzwischen voller Staub und Ruß war, so dass von ‚durchatmen‘ kaum noch die Rede sein konnte – und fieberhaft überlegte, was er als nächstes tun sollte. Trotz des Tosens des Feuers konnte er inzwischen lautes Geschrei und Rufe von draußen vernehmen, unterlegt mit dem rhythmischen Läuten der Alarmglocken. Natürlich, so ein Feuer konnte nicht unbemerkt bleiben. Das bedeutete, dass draußen Hilfe wartete. Dennoch genügte ein einziger Blick auf das Flammenmeer, um zu wissen, dass das Lagerhaus selbst unrettbar verloren war. Die Leute konnten nur versuchen, zu verhindern, dass die Flammen auf andere Gebäude übergriffen. Wenn das passieren sollte…
    „Was habe ich nur getan?“, murmelte Yarik. Er schüttelte den Kopf. Darüber konnte er sich später Gedanken machen. Jetzt musste er erst einmal raus hier. Das bedeutete, erst möglichst weit weg vom Feuer, und dann versuchen, irgendwie einen Weg nach draußen zu schaffen. Er wickelte sich seinen Mantel provisorisch um Mund und Nase, in der Hoffnung, dadurch weniger Ruß einzuatmen, und packte den bewusstlosen Sankar unter den Armen. Egal was geschehen war, er würde nicht zulassen, dass der Hafenmeister in den Flammen ums Leben kam – jedenfalls nicht, wenn er es irgendwie verhindern konnte.
    Es war ein Kraftakt, Sankar in die hinterste Ecke des Lagerhauses zu schleifen, und Yariks Körper rebellierte. Die Schmerzen waren geradezu unerträglich und er bekam kaum Luft. Mehrmals musste er innehalten und keuchend neue Kraft sammeln, egal wie sehr die Zeit drängte. Schließlich aber hatte er es geschafft. Er ließ den Bewusstlosen zu Boden gleiten und tastete prüfend die Wand ab. Sie bestand Holz und Lehm, eine einfache Konstruktion, aber dennoch robust. Verzweiflung stieg in ihm auf. Wie sollte er es ohne Werkzeug jemals schaffen, sich dort hindurchzuarbeiten? Er sah sich um. Seine einzige Hoffnung bestand darin, in einem der Regale oder Kisten etwas zu finden, das er als Werkzeug verwenden konnte.
    Er riss den Deckel von der ersten Kiste, die ihm unter die Finger kam. Sie enthielt edle, samtene Hemden und Hosen. Yarik fluchte und suchte weiter. Geschirr. Schmuck. Bücher. Pökelfleisch. Ein in Holzwolle sicher eingepacktes Gemälde. Pergament. Schafswolle. Mehr Schmuck… Und die Flammen kamen immer näher! Der Rauch war inzwischen so dicht, dass ihm konstant die Augen tränten, die Hitze war kaum noch zu ertragen. Alle paar Minuten krachte es ohrenbetäubend, wenn wieder ein Stück des Dachstuhls einbrach.
    Frustriert warf Yarik einen Stapel unbearbeitetes Leder bei Seite, als er endlich etwas entdeckte, das er vielleicht gebrauchen konnte – Rohstahl, zu handlichen, etwa zwei Ellen langen Stangenbarren geschmiedet. Nicht direkt ein Werkzeug, aber schwer und stabil genug, dass sich damit vielleicht ein Loch in die Wand reißen ließ. Um noch weiter zu suchen, hatte er keine Zeit mehr.
    Er rannte zurück zu der Stelle, an der Sankar noch immer bewusstlos auf dem Boden lag, und fing an, wie ein Wahnsinniger auf den Lehm zwischen den massiven Holzpfosten einzudreschen. Er löste sich in Klumpen, aber langsam, so langsam… Der stumpfe Rohstahlbarren war nur mäßig gut geeignet, ein Loch in eine Wand zu hacken. Yariks Arme fühlten sich schwer an wie Blei, seine Lunge brannte und sein ganzer Körper protestierte. Der Rauch machte ihn schwindlig und irgendwo in seinem Hinterkopf meldete sich eine Stimme, die ihm sagte, er solle es doch einfach sein lassen, einfach loslassen, sich hinsetzen, einmal noch tief einatmen und es endlich hinter sich lassen – der Schmerz, die Trauer, die Verzweiflung, das alles könnte heute vorbei sein…
    Yarik brüllte auf und rammte den Rohstahl in einem Akt purer Verzweiflung mit aller Kraft noch einmal gegen die Wand. Fast hätte er ihn losgelassen, als der Widerstand, den er erwartet hatte, urplötzlich nachgab und der Barren zur Hälfte in dem Loch verschwand. Ein frischer, kühler Luftzug traf auf sein Gesicht. Er war durch! Der Triumph verlieh Yarik neue Kraft und er machte sich daran, das Loch zu vergrößern. Jetzt, wo die Wand erst durchstoßen war, ging es einfacher voran. Trotzdem lief ihm die Zeit davon. Der Dachstuhl über seinem Kopf brannte bereits lichterloh, und auch die Waren auf den obersten Regalreihen hinter ihm hatten Feuer gefangen. Eines der Regalbretter gab nach und eine Lawine aus Kisten, Fässern und losen Waren ging nur wenige Meter von Yarik und Sankar entfernt nieder…
    Yarik warf einen Blick auf den Durchbruch, den er geschaffen hatte, und beschloss, dass es reichen musste. Er würde sich hindurchzwängen müssen, aber um das Loch noch weiter zu vergrößern, fehlte ihm die Zeit. Jeden Augenblick könnte das ganze Gebäude über ihnen zusammenbrechen. Er schob sich zuerst mit der einen, dann der anderen Schulter hindurch und versuchte, sich möglichst dünn zu machen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, als er seine angeknacksten Rippen durch die schmale Öffnung quetschte, aber er biss die Zähne zusammen und ließ nicht locker. Nach einigen qualvollen Sekunden, die ihm vorkamen wie Stunden, war er endlich durch. Er hatte es geschafft!
    Nun… noch nicht ganz. Sankar. Das Arschloch lag noch immer im Inneren des Lagerhauses. Yarik hatte sich geschworen, den Hafenmeister nicht zurückzulassen, und diesen Schwur würde er einhalten. Er beugte sich wieder in das Loch hinein und packte den Bewusstlosen an den Handgelenken. Mit größter Mühe und indem er den Durchbruch noch mit ein paar gezielten Tritten gegen den bröckeligen Lehm erweiterte, gelang es ihm, Sankar aus dem brennenden Gebäude zu zerren. Er hatte ihn fast herausgezogen, als es über ihm ohrenbetäubend krachte. Yarik sah gerade noch, wie ein geschwärzter Balken auf ihn zustürzte, als die gesamte Hauswand nachgab und die beiden Männer unter sich begrub…

    ***
    „Lysbeth?“
    Seine eigene Stimme kam ihm vor, als käme sie aus unendlicher Ferne. Sie klang rau und heiser, ein kaum verständliches Krächzen. Die Welt vor seinen Augen war verschwommen und unscharf, aber da war ein Gesicht, ein Gesicht im Dunkel…
    Er wollte seine Hand danach ausstrecken, aber sie gehorchte ihm nicht. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Schulter, als er versuchte, den Arm zu bewegen. Er sog reflexartig die Luft ein, was weitere Schmerzen in seiner Brust nach sich zog. Etwas drückte ihm den Brustkorb zusammen, und auch die Beine konnte er nicht bewegen. Es roch nach Rauch und Feuer und Salz und vor ihm war ein Gesicht im Dunkel…
    „Lysbeth, bin ich tot?“, krächzte er. Das Gesicht neigte sich ein wenig zur Seite, als würde es ihn neugierig mustern. Yarik kniff einige Male fest die Augen zusammen. Die Tränen wuschen ein wenig den Film aus Staub und Asche fort, der seine Lider verklebte, und seine Sicht wurde ein wenig klarer.
    Es war nicht Lysbeth. Es war das Gesicht eines Mädchens, aber es war nicht seine Tochter. Während Lysbeth haselnussbraunes Haar gehabt hatte, war das des Mädchens pechschwarz und hing ihm in langen Strähnen ins Gesicht. Statt Lysbeths warmen, braunen Augen, waren die des Mädchens von wässrig-blauer Farbe… oder jedenfalls, das eine, das nicht von einem milchigen weißen Schleier überzogen war.
    „Bin ich tot?“, fragte er noch einmal. Das Mädchen schüttelte langsam den Kopf. Yarik versuchte, etwas mehr von seiner Umgebung zu erkennen, aber als er den Kopf drehen wollte, schossen ihm erneut rasende Schmerzen durch den Körper. Er stöhnte und sah wieder zu dem Mädchen, das vor ihm auf einem geborstenen Balken hockte. Es war blass und zierlich und trug ein schmutziges weißes Kleid, sein Haar war so lang, dass es bis zum Boden reichte. Es musterte ihn mit einer seltsamen Neugier, als wäre er ein interessanter Käfer am Wegesrand.
    „Was… willst du?“, stöhnte Yarik. Das Mädchen streckte zögerlich die Hand aus, als wollte es ihn berühren, zog sie dann aber wieder zurück.
    „Er… e-er sagt, du… du wirst uns den Weg zeigen“, sagte es kaum hörbar. Yarik starrte das Mädchen nur verständnislos an. Was?
    Plötzlich tauchte die Gestalt eines Mannes hinter ihr auf. Sein Gesicht und der bloße Oberkörper waren rußgeschwärzt und glänzten vor Schweiß. Wahrscheinlich einer der Leute, die versucht hatten, den Brand zu löschen.
    „He!“, rief er, „Was zur Hölle machst du hier? Verschwinde!“
    Das Mädchen drehte sich erschrocken um und der Mann versetzte ihm unsanft einen Hieb gegen den Hinterkopf.
    „T-t-tut mir leid!“, stammelte das Mädchen und lief mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf davon. Der Mann beachtete es nicht weiter, sondern winkte mit hoch erhobenen Armen und deutete auf Yarik.
    „Hey, hier her!“, rief er, „Hier liegt einer, ich glaube, er lebt noch!“
    Wenig später kamen einige weitere Männer zu Hilfe und gemeinsam räumten sie den Schutt bei Seite, unter dem Yarik begraben lag. Das Letzte, was er mitbekam, bevor ihn zum wiederholten Male an diesem Tag, der schlecht begonnen hatte und noch viel schlimmer endete, die Bewusstlosigkeit umfing, war, wie ihn kräftige Arme unter den Achseln packten und ihn unter dem Balken hervorzogen, der ihn eingeklemmt hatte.
    Geändert von Yarik (27.05.2023 um 22:44 Uhr)

  2. Beiträge anzeigen #362
    Schwertmeister Avatar von Nienor
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    Die Gilde Innos' im Forenrollenspiel
    Nienor ist offline
    Der Kampf gegen den letzten der drei Handlanger, die von sich behauoteten, von der Roten Hand zu kommen, hatte sich schwierig gestaltet. Natürlich war er gut in dem, was er tat. Sponst wäre er keiner der Ausputzer dieser Bande geworden. Oder zumindest nicht lange geblieben. Nienors Taktik, ihn zu ermüden, indem sie seinen direkten Angriffen ein uns andere Mal auswich, ihn weiter beobachtete und darauf hoffte, eine Schwäche zu erkennen, war vor allem deshalb nicht von Erfolg gekrönt, weil das Lagerhaus lichterlih brannte und sich das Feuer schnell durch die verschiedenen Waren fraß, die zum großen Teil aus leicht brennbaren Magterialei nbestanden. Von den ganzen Holzkisten und dem Gebäude selbst ganz zu schweigen. Das entschiedende Element ihrer Taktik war also nicht verfügbar: Zeit.
    Nach etwas Herumgeplänkel, die dieser Johar wohl eher als Aufwärmübung ansah, entschloss er sich angesichts der um sich greifenden Feuers und des immer dichter werdenden Rauchs, plötzlich das Weite zu suchen, eine Finte - ein Schrittwechsel, als ob ein Angriff bevorstand - und dann ... stattdessen polterten einige Kisten von einem neben den beiden stehenden Stapel, und er war verschwunden, rettete seine Haut und versperrte gleichzeitig seinen Fluchtweg. Nienor wusste nicht, ob es das Beste war, was ihr in dieser Situation passierte, aber vermutlich war jetzt nicht die Zeit für einen langwierigen Kampf. Es hieß auch für sie, sich aus dem Lagerhaus zu retten, ehe es zu einem Flammeninferno wurde. Vermutlich dauerte das sowieso nur noch wenige Augenblicke. Das Feuer fand immer weitere Nahrung und breitete sich gierig aus. Es prasselte und irgendwo knallte etwas, vermutlich Krüge mit verkochender Flüssigkeit. Zum Glück erreichten sie die umherfliegenden Scherben nicht. Das Feuer leckte an einer tragenden Säule des Lagerhauses empor und schraubte sich auch in die obere Etage, wo es noch mehr leckeres Holz gab. Direkt neben ihr war ein Stapel Irgendwas zusammengesackt. Eine Plane, die wohl Abdeckung gewesen war, ging in Flammen auf, verglühte fast sofort und die glühenden Reste wurden als Funkenteppich von der heißen Luft nach oben weggerissen. Dahinter ein großformatiges Ölgemälde. Irgendeine Seeschlacht. Das Öl lief schon, von der Hitze flüssig geworden, nach unten und die Arbeit des unbekannten Meisters würde wohl nie wieder irgendein herrschaftliches Palais zieren.
    Nienor versuchte, auf dem gleichen Wege wie sie gekommen war, zu entfliehen. Aber ein Blick nach oben zeigte ihr, dass das keine gute Idee war. Der Rauch hatte sich unter dem Dach gesammelt und es machte keinen Sinn, dort hinein zu klettern. All dies war in wenigen Augenblicken passiert. Sie versuchte stattdessen, die Tür zu erreichen und den Weg, den Johar genutzt hatte, zu folgen. Sie kletterte über die umgeworfenen Kisten, um zum Eingangsbereich des Lagerhauses zu gelangen. Mittlerweile musste sie gebückt gehen, da sich der Rauch immer weiter nach unten ausbreitete.
    Da, die Tür!
    »Na endlich!«
    Ein ohrenbetäubender Lärm erhob sich, ein Donnern, so als ob eine Lawine im Gebirge abging. Das Lagerhaus hatte begonnen, in sich zusammenzusacken, nachdem einige tragende Balken soweit verbrannt waren, dass sie die ihnen zugedachte Last nicht mehr hielten.
    Mit einem Sprung warf sich Nienor gegen die Tür, die auf sprang, und lief nach draußen, Rüstung und alles andere völlig verrußt, nur die hellen Augen wie zwei Lichtpunkte zeigten, wo sich ihr Gesicht befand.
    Überall standen Leute, erste Eimerketten wurden gebildet. Aber es ging nur darum, zu verhindern, dass der Brand auf andere Gebäude über sprang. Nienor lief wieder zu dem Zaun, um erneut in den Hof neben dem Gebäude zu gelangen. Irgendwo musste Yarik sein ...
    Und Sankar.
    Die Sache war gründlich schief gegangen. Es war doch nur eine ganz einfache Observation, von der niemand weiter Notiz nehmen brauchte. Und nun brannte ein Lagerhaus und darin lagen ein paar Tote und das ganze viertel und womöglich die halbe Stadt war auf den Beinen, um einen Großbrand zu verhindern, der alles in Thorniara in Schutt und Asche legte ... Nienor seufzte. Konnte nicht jemals irgendetwas einfach sein?

    Aber wenigstens Adanos schien ein Einsehen zu haben. Die Wolken, die sich schon vor einigen Stunden hin und wieder vor den Mond geschoben hatten, waren während der letzten Ereignisse immer dichter geworden. Und nun begann es, unvermittelt zu regnen. Kein Nieseln, keiner dieser berühmten Landregen, die ewig dauerten, nein, große, schwere Tropfen, dicht an dicht pladderten in den Staub, so als ob jemand irgendwo weit oben einen großen Zuber ausgeschüttet hatte. Ein Schwall an Wasser ergoss sich über Thorniara, so dass bald Rinnsale auf den Straßen entstanden, die zu richtigen Bäche wurden. Und was viel wichtiger war: Die Flammen breiteten sich nicht weiter aus, alle umliegenden Dächer waren klitschnass und es kam immer noch mehr. Nienor sah kaum noch etwas, der Regen löschte das Licht und war undurchdringlich. Und die Flammen des Lagerhauses halfen auch nicht, zu sehr umwirbelte dichter Raum das brennende Gebäude.
    Plötzlich torkelte ihr jemand entgegen. Nein, kein Torkeln. Jemand stützte einen anderen und kam mit schweren Schritten in ihre Richtung. Schnell griff sie auf der anderen Seite unter.
    »Yarik?«, erkannte sie den Mann.
    »Du lebst! Zum Glück.«
    Sie dirigierte den anderen mit ihrer gemeinsamen Last in Richtung des Hafenbeckens. Dort war mehr Luft und sie waren etwas entfernt von dem Lagerhaus.
    »Keine Laternen mehr für dich!«, schalt sie ihn, war jedoch vor allem froh, den so leichtsinnig von ihr Angeheuerten lebend und soweit sie beurteilen konnte, noch vollständig vorhandenen, wiedergefunden zu haben.
    »Was mit Sankar ist, klären wir später.«
    Sie hoffte, dass das Flammeninferno überlebt hatte. Alles andere wäre ein Misserfolg ihrer Mission. Zumal für diesen Preis.
    Erst dann merkte sie, dass sie selbst sehr mitgenommen war und ließ sich neben Yarik unter dem Dach eines Verschlages an der Kaimauer auf einer Kiste nieder. Ein übles Stechen in ihrer Lunge sagte ihr, dass die Sache mit dem ganzen Rauch wohl nicht so glimpflich abgegangen war, wie sie erst dachte.
    Über ihr prasselte der Regen unbeeindruckt weiterhin auf das Dach und neben ihr ins Wasser des Hafens. Das Rauschen übertönte hier das Geräusch des brennenden Lagerhauses weiter entfernt.
    »Sobald wir können, gehen wir zur Kommandantur der Miliz. Ich denke, die Feuermagier werden sich um uns kümmern«, schlug sie vor. Es war einfach das Vernünftigste, sich um schnelle Heilung zu bemühen.

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    Kämpfer Avatar von Yarik
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    Die Waldbruderschaft im Forenrollenspiel
    Yarik ist offline
    Yarik öffnete mühsam die Augen und blinzelte ins Sonnenlicht, das ihm durch ein hohes Spitzbogenfenster aufs Gesicht fiel. Normalerweise hätte er die Wärme der Sonnenstrahlen wohl als angenehm empfunden, heute aber brannten sie auf seiner Haut, sie sich anfühlte, als wäre sie so straff über seinen Schädel gespannt, dass sie jederzeit einfach reißen könnte. Er versuchte, eine Hand zu heben, aber ein stechender Schmerz fuhr ihm durch die Schulter und er sog scharf die Luft ein. Das war wohl noch keine gute Idee…
    Vorsichtig drehte er den Kopf zur Seite und sah sich um. Er konnte sich bruchstückhaft daran erinnern, dass Nienor und ein paar andere ihn zu einem Tempel gebracht hatten, wo die Ordenskriegerin dafür gesorgt hatte, dass er behandelt wurde – ein Privileg, das er sich sonst niemals hätte leisten können. Jetzt lag er auf einer einfachen, aber nicht unbequemen Pritsche im Hospital. Links und rechts neben sich konnte er weitere Betten erkennen, die meisten davon leer. Auf der Pritsche direkt rechts von ihm allerdings lag ebenfalls jemand. Er trug Verbände um Kopf und Brust, vor allem aber waren seine Hände und Füße mit schweren Ketten gefesselt. Sankar…
    Der Hafenmeister war wach und sah Yarik an. Ihre Blicke trafen sich, aber Yarik wusste nicht recht, was er aus dem steinernen Gesichtsausdruck des Anderen herauslesen sollte.
    „Du“, murmelte Sankar schließlich, „Du hast mich gerettet.“
    Yarik nickte langsam: „Ich schätze wir–“, ein Hustenanfall unterbrach ihn, sein Hals fühlte sich an wie ein Reibeisen. Er brauchte ein wenig, bevor er den Satz beenden konnte: „Ich schätze, wir hatten nochmal Glück.“
    Sankar verzog die Lippen zu einem dünnen, traurigen Lächeln.
    „Glück?“ Der Hafenmeister seufzte. „Warum hast du Arschloch mich nicht einfach sterben lassen?“
    Yarik starrte Sankar stumm an.
    Er wusste keine Antwort.

    Etwas später kam ein Pfleger in der Robe eines Novizen der Feuermagier herein und erkundigte sich nach Yariks befinden. Er erklärte Yarik, dass beim Einsturz des brennenden Lagerhauses ein schwerer Stützbalken sich so verkeilt hatte, dass er sich wie ein schützendes Dach über die beiden Männer gelegt hatte. Er hatte sie eingeklemmt, aber nicht zerquetscht, und so waren sie mit Schürfwunden, Prellungen, ein paar Verbrennungen, viel Rauch in der Lunge und einer ganzen Reihe anderer unangenehmer, aber nicht lebensbedrohlicher Verletzungen davongekommen. Die Ordenskriegerin, die ihn hergebracht hatte, hatte dafür gesorgt, dass sich sogar Magier um ihn kümmerten; in ein paar Stunden, wenn die Magie ihre Wirkung getan hatte, dürfte er schon wieder in der Lage sein, aufzustehen.
    „Es glaube, es war ein Wunder!“, erklärte der junge Novize schließlich und strahlte dabei übers ganze Gesicht. Er berührte kurz das Amulett, das auf Yariks nackter Brust lag. Es war ein einfaches, schmuckloses Amulett. Grob geschnitzt aus Bein zeigte es zwei sich nach oben öffnende Hände mit einer Flamme dazwischen; ein geläufiges Symbol für den Gott des Lichts: „Innos hat dich beschützt. Dein Vertrauen in ihn war nicht fehlgeleitet!“
    Yarik sagte nichts. Er legte die Hand auf das Amulett, fühlte die Unebenheiten, die kleinen Ecken und Kanten.
    Warum hast du mich beschützt?, dachte er bitter, Warum mich? Warum nicht die, die dieses Amulett angefertigt hat, dir zu Ehren? Warum… – er musste direkt ein wenig lachen, als er den Gedanken zu Ende formulierte – warum hast du Arschloch mich nicht einfach sterben lassen?
    Der Novize, der Yariks kurzes Lachen völlig falsch interpretierte, nickte gravitätisch.
    „Ja, der Herr des Lichts kümmert sich um seine Schäflein, wahrlich! Ruh dich nun noch ein wenig aus. Sobald du dich dazu in der Lage fühlst, hat die ehrenwerte Lady Nienor einige Fragen an dich.“

    Sie saßen an einer langen Bank im Speisesaal des Hospitals, waren aber fast die einzigen Anwesenden. Es war Nachmittag, zu spät für das Mittagessen, zu früh fürs Abendessen. Lediglich ein dünner Bursche fegte mit einem Reisigbesen den Staub aus den Ecken und pfiff dabei einen bekannten Schwank vor sich hin, ohne einen einzigen Ton zu treffen.
    Als Yarik zu ihr gehumpelt war, hatte sich Nienor ernsthaft besorgt nach seinem Befinden erkundigt. Aber tatsächlich ging es ihm bereits wieder vergleichsweise gut. Er hatte zwar noch Schmerzen bei so ziemlich jeder Bewegung und musste sich beim Gehen auf einen Stock stützen, aber die Heilung schritt schnell voran dank der Magie, die ihm die Innospriester auf Insistieren der Ordenskriegerin hatten angedeihen lassen. Wahrscheinlich würden schon morgen früh kaum noch mehr als ein paar hartnäckige blaue Flecken an die ganze Episode erinnern. Er musste sich eingestehen, dass er sich in Nienor anfangs wohl getäuscht hatte. Sie war keine von denen, die ihre Mitgliedschaft im Orden der Streiter Innos‘ nur ausnutzten, um sich auf die Faule Haut zu legen und mit großspurigen Reden über Pflicht und Treue die kleinen Bauern und Handwerker um ihr hart erarbeitetes Brot erleichterten. Nein. Sie war eine, der das Schicksal der Menschen wirklich naheging.
    Yarik erzählte ihr alles, was er erfahren hatte, und was geschehen war. Dass Sankars Geschäfte mit der Roten Hand wohl schon eine ganze Weile liefen und die Nebelkrähen im Vergleich dazu wahrscheinlich nur kleine Fische waren. Wie Johar und seine Handlanger aufgetaucht waren und Brago mit einem vergifteten Bolzen getötet hatten. Wie er sich nicht anders zu helfen gewusst hatte, als das Feuer zu legen, damit Johar ihn nicht aufschlitzte wie einen Fisch (Yarik im Gegenzug war froh, zu hören, dass das Feuer nicht auf weitere Teile der Stadt übergegriffen hatte). Wie Sankar durchgedreht war und ihm die Schuld an Bragos Tod gegeben hatte und wie sie es mit letzter Not geschafft hatten, dem Inferno zu entkommen.
    „Tja, ich fürchte, ihr habt hier wohl ein größeres Problem“, schloss Yarik mit einem Schulterzucken, „Diese Typen von der Roten Hand wirkten auf mich nicht gerade wie welche, die die Angelegenheit einfach so auf sich beruhen lassen werden. Und wenn dieser Johar noch auf freiem Fuß ist…“ Er sah Nienor ernst an und seufzte schwer: „Passt auf Euch auf. Ihr seid ein guter Mensch. Es gibt heutzutage viel zu wenige, über die sich das noch sagen lässt.“
    Geändert von Yarik (31.05.2023 um 18:32 Uhr)

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    Schwertmeister Avatar von Nienor
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    Nienor hatte sich alles angehört, was ihr Yarik zu berichten hatte.
    »Ja, die Nebelkrähen sind kein großes Problem. Dass er«, sie deutete auf den in der Nähe liegenden Sankar, »auch mit anderen Banden gemeinsame Sache machte, war naheliegend. Gut, dass wir diese Beweise nun haben. Ich habe Johar zur Fahndung ausschreiben lassen.«
    Dann winkte sie zwei Träger heran.
    »Bringt Sankar samt seinem Bett in den gesichterten Raum dort hinten. Und überprüft genau, ob die Tür richtig abgeschlossen ist, wenn ihr ihn dort abgeliefert habt.«
    Die beiden taten, wie ihnen gehißen worden war. Nienor wandte sich wieder YXarik zu, nachdem sie alleine waren. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Johar er wird längst woanders untergetaucht sein. Vielleicht in Sendar, vielleicht in Gorthar. Wenn er ganz verwegen ist, irgendwo auf dem Festland. Die rote Hand hat in vielen Städten Kontakte oder eigene Gruppen. Teilweise unter anderem Namen. Es ist eine Pest, die sich nie ganz ausrotten lassen wird. Und es gibt noch mehr dieser Banden. Die meisten haben ihr eigenes Geschäftsfeld.«
    Nienor gab sich keiner Illusion hin.
    »Aber wir müssen zumindest versuchen, etwas dagegen zu unternehmen, so dass sie sich nicht ganz so sicher fühlen. Ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel.«
    Sie sah Yarik an.
    »Ich bin froh, dass dir nicht mehr passiert ist, ich war nicht davon ausgegangen, dass die Sache so gefährlich wird, aber offenbar hatte die Rote Hand eine gewisse Nervosität befallen. Es scheint fast, als wäre ihr das bisschen, was die Nebelkrähen ihnen hätten wegnehmen können, besonders wichtig gewesen. Vielleicht ein Machtkampf in der Unterwelt Thorniaras? Ich könnte ein paar Spitzel gebrauchen.«
    Sie hob abwehrend die Hände.
    »Nein, nein. Dich meine ich damit nicht, du hast genug getan und fast mit deinem Leben bezahlt. Vermutlich hast du nun auch anderes zu tun, als für die Miliz in Thorniara zu arbeiten.«
    Sie nestelte an ihrem Gürtel und löste ein Geldsäckchen.
    »Immerhin hast du dir die Belohnung für Hinweise auf Korruption im Hafen verdient, die offiziell ausgeschrieben war.«
    Sie legte das Säckchen in Yariks Hände.
    »Nimm es. Es bedarf keiner großen Weisheit, zu wissen, dass jeder ein wenig Geld gebrauchen kann.«
    Yarik sah sie fragend an.
    »Was mit Sankar passieren wird?«, fragte sie, ohne ihn überhaupt zu Wort kommen zu lassen.
    »Er wird angeklagt, dank der Beweise mit Sicherheit verurteilt werden und in irgendeiner Mine in Myrtana die nächsten Jahre verbringen. Fragt sich nur, ob es eine Erzmine bei Montera sein wird oder eine Schwefelmine in Geldern. Und wie lange der nächste Hafenmeister durch hält, ehe er der Verlockung erliegt, etwas nebenbei verdienen zu wollen. Aber das ist nicht dein Belang. Ich hoffe, du findest das, was du suchst. Auch wenn das auf Argaan vielleicht nicht so einfach ist, so versehrt vom Krieg, wie die Insel ist ...«
    Die Kriegerin schaute umher. Am anderen Ende des Saales lief ein Novize entlang, aber er verließ den Raum bald durch eine der Öffnungen im Bogengang.
    »Du kannst hier noch ruhen, solange du magst, Yarik. Ich danke dir für deinen Einsatz, du hast mich nicht enttäuscht.«
    Und damit verabschiedete sie sich von ihrem Helfer und verließ das Quartier der Heiler.

    Als sie ging, musste sie unweigerlich über etwas nachgrübeln, dass sie lieber für sich behielt. Sie hätte diesem Johar sicher entgegentreten können, er war zwar schnell und kräftig, aber kein Gegner, der so viel Respekt einflößte, dass sie ihn lediglich umkreiste. Und doch hatte sie gezögert. So als ob sie etwas zurückgehalten hatte. Er musste es gespürt haben, denn schließlich war er entflohen, hatte den Kampf verweigert. Gab es einen Zusammenhang mit dem, was Esteban ihr bei ihrer unverhofften Begegnung gesagt hatte? Hatte Varomar etwas damit zu tun? War er etwa in die Machenschaften der Roten Hand verwickelt? Die wildesten Spekulationen schossen ihr durch den Kopf. Aber sie würde sie nicht durch Grübeln entwirren, sondern sich ihre Antworten woanders suchen müssen.
    Yarik hingegen ... hatte seine eigenen Dämonen, das fühlte sie instinktiv. Er musste seinen Weg selbst finden. Nienor jedenfalls war fest entschlossen, in Zukunft keine Unbeteiligten an ihren Aufgaben zu beteiligen, sie musste ihre Kämpfe selbst ausfechten.
    Sie schlug den Weg zum Milizquartier ein, um dort ihren Bericht zu schreiben und abzugeben. Zumindest diese eine Aufgabe im Hafen war erledigt. Doch es warteten noch jede Menge andere.

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    Kämpfer Avatar von Yarik
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    Yarik schlenderte ohne Eile über den Marktplatz und genoss dabei die warmen Sonnenstrahlen im Gesicht und das geschäftige Treiben um ihn herum. Er hatte noch eine Nacht im Hospital des Ordens verbracht, damit die Heilmagie der Innospriester ihre Wirkung tun konnte. Es war erstaunlich. Hatte er noch vor zwei Tagen kaum einen Finger ohne Schmerzen bewegen können, war alles, was ihn jetzt noch an seinen ‚Unfall‘ mit dem Lagerhaus erinnerte, ein leichtes Ziehen in der Schulter. Und auch das, so schätzte er, würde schon bald gänzlich verschwunden sein.
    Er fühlte sich gut. Tatsächlich fühlte er sich sogar besser als seit langem. Er hatte tief und traumlos geschlafen, etwas, das ihm viel zu selten vergönnt war, er hatte erstmals seit Jahren wieder frische, saubere Kleidung am Leib, er hatte sich ausgiebig waschen können und in der Geldbörse an seinem Gürtel klimperten genug Münzen, dass er sich für die nächsten Tage keine Gedanken machen musste, wie er etwas zu Beißen auftreiben sollte. Yarik schüttelte lächelnd den Kopf angesichts dieser Ironie. Da musste er erst beinahe abgestochen und unter einem zusammenstürzenden Haus begraben werden, damit er mal einen guten Tag hatte.
    Aber, bei Innos, einen guten Tag hatte er sich verdammt nochmal verdient!
    Die Frage war nur, was tat er als nächstes? Yarik beschloss, die Marktschenke anzusteuern und sich das Thema bei einem kühlen Bier durch den Kopf gehen zu lassen. Der Gedanke an Johar beunruhigte ihn. Nienor hatte zwar gemutmaßt, dass der sadistische Meuchelmörder das Weite gesucht haben dürfte, aber was, wenn nicht? Wenn er noch in der Stadt war? Yarik wollte lieber nicht ausprobieren, was passieren würde, falls er ihm zufällig über den Weg lief. Es war wohl an der Zeit, die Stadt zu verlassen. Zumal er sich erinnerte, irgendwo während seiner durchzechten Nächte in der Hafenspelunke etwas von einem Tempelbau oder so in einer Stadt namens Stewark aufgeschnappt zu haben. Eine Großbaustelle bot mit ein wenig Glück die Gelegenheit, für eine ganze Weile Arbeit zu finden – ehrliche, handwerkliche Arbeit ohne die Gefahr, aufgeschlitzt, erwürgt oder verbrannt zu werden…
    Ja, das war ein Plan. Er ließ sich vom Wirt den Weg nach Stewark erklären, trank sein Bier aus und trat wieder ins Freie. Er würde noch ein wenig über den Markt schlendern, sich Proviant für die Reise kaufen und dann weiterziehen.
    Jetzt, wo er den Beschluss gefasst hatte, freute er sich auf die Wanderung. Städte waren einfach nicht seine Welt. Im Herzen war er Bauer und würde es immer bleiben. Er liebte das Land und die Natur, die Felder und Wälder, mit all ihrer Schönheit und gelegentlichen Gefahr. Sogar die Gefahr. Ein Schattenläufer konnte einen unvorsichtigen Möchtegern-Höhlenforscher zwar mit einem einzigen Prankenhieb in Stücke reißen, aber er würde ihm nie feige einen Dolch in den Rücken stechen oder ihm Gliedmaßen abschneiden, nur um ihn schreien zu hören. Da war keine Bosheit in dem, was so ein Biest tat, keine Lust am Leid.
    In der Natur war selbst der Tod ehrlich.

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    Waldläufer Avatar von Thara
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    Klatsch.
    Die Eingeweide landeten mit einem nassen Geräusch im Eimer und Thara legte den ausgenommenen Hering zu den anderen in die flache Holzkiste, die selbst ohne die nicht ganz fangfrischen Fische schon so übel stank, als wäre irgendetwas vor Tagen darin verendet und hätte sich dann in der Sonne zersetzt. Thara nahm den Geruch inzwischen kaum noch wahr. Er gehörte einfach zu ihrem Alltag. Ebenso wie die Handgriffe, die sie wie mechanisch ausführte: Das Filetiermesser bauchseitig am Schwanzende des Fisches ansetzen, ein schneller Schnitt bis hoch zu den Kiemen, die Eingeweide ein Stück weit herausziehen und mit dem Messer aus der Bauchhöhle lösen. Dabei aufpassen, dass die Gallenblase unbeschädigt blieb.
    Klatsch.
    Nächster Fisch.
    „Hey! Mädchen!“, rief Orin ungehalten und zog den fleckigen Vorhang bei Seite, der den hinteren Teil des Marktstandes, in dem Thara die Fische vorbereitete, vom Verkaufstresen trennte, „Schläfst du da hinten, oder was ist los? Wo bleiben die scheiß Heringe? Es ist bald Mittag, die Kundschaft wartet!“
    Thara zog reflexartig den Kopf zwischen die Schultern, ohne sich umzudrehen oder in ihrer Arbeit innezuhalten.
    „E-e-entschuldige“, stotterte sie, „Ich… i-ich bringe sie gleich!“
    Klatsch.
    Orin grunzte: „Das will ich auch hoffen!“
    Thara wartete noch einen Augenblick mit eingezogenem Kopf, ob etwa ein Schlag folgen würde, aber Orin hatte sich wieder nach vorn verzogen. Sie legte das Messer bei Seite und wuchtete die Kiste mit den bereits ausgenommenen Heringen hoch. Es kostete sie all ihre Kraft. Orin, ein großer, beleibter Mann mit Handgelenken, die dicker waren als ihre Oberarme, hätte wahrscheinlich problemlos zwei oder drei davon auf einmal tragen können, aber er sah keinen Grund, sich die Mühe zu machen, solange er diese Arbeit auch seiner Ziehtochter überlassen konnte.
    Es war jetzt etwa anderthalb Jahre her, seit sie vom Waisenhaus in seine Obhut übergeben worden war. Die ‚Spende‘, die er im Gegenzug dem Waisenhaus vermacht hatte, war nicht hoch gewesen. Eher eine Formalität. Die Ammen waren einfach froh gewesen, das schwierige Mädchen los zu sein. Und Orin hatte die billigste Arbeitskraft, die er sich nur wünschen konnte. Ein Geschäft zu beiderseitigem Vorteil. Was die Ware davon hielt, interessierte niemanden.
    Mühevoll kämpfte sich Thara mit der schweren Kiste durch den Vorhang und stellte sie hinter dem Tresen ab. Aus dem Nichts schnellte Orins Faust vor und er verpasste ihr eine schmerzhafte Kopfnuss. Thara duckte sich und stammelte eine Entschuldigung.
    „Dein ‚tut mir leid‘ kannst du dir da hinstecken, wo die Sonne nicht scheint, Göre!“, knurrte Orin und fing an, den Fisch in die Auslage zu sortieren, „Wenn du das nächste Mal da hinten nur träumst, statt zu arbeiten, setzt es was! Glaubst wohl, ich füttere dich einfach so für nichts durch, oder was? Los jetzt, die Heringe springen nicht von allein in die Auslage!“
    Zufrieden, seine Arbeit getan zu haben, nachdem er drei Heringe in der Auslage platziert hatte, wischte Orin sich die dicken Finger an seiner Schürze ab und begann, in üblich großspuriger Manier seinen „frischen“ Fisch anzupreisen. Er warf dabei immer wieder einen herausfordernden Blick zu dem Stand des Schmieds, der es immer mal wieder wagte, die Frische von Orins Ware anzuzweifeln; die beiden hatten darüber schon mehrfach die Fäuste fliegen lassen.
    Thara legte indessen schweigend die restlichen Heringe für den Verkauf aus. Sie arbeitete, so schnell sie konnte – nicht wegen Orin, der würde sie ohnehin verprügeln, wann auch immer es ihn gerade in den Fingern juckte –, sondern wegen der anderen Menschen. Sie hasste es, ihren Blicken ausgesetzt zu sein. Sie konnte fast körperlich spüren, wie man sie anstarrte. ‚Fischauge‘, so riefen sie die jugendlichen Nichtsnutze, die sich ihre Zeit auf dem Marktplatz vertrieben, wegen ihres blinden Auges. Manchmal, wenn Orin gerade nicht hinsah, flog auch ein Stein. Sie bevorzugte es daher, hinten zu bleiben, hinter dem Vorhang. Unsichtbar.
    Gerade hatte sie den letzten Hering in die Auslage gelegt, als jemand an den Stand herantrat und sie ansprach: „Du! Du warst bei dem Lagerhaus…“
    Erschrocken hob sie den Kopf und sah den Mann an. Sie kannte ihn nicht – und erkannte ihn doch auf der Stelle.
    „Yarik?“, stieß sie überrascht aus und schlug sich sofort die Hand vor den Mund.
    Der Mann bekam große Augen: „Woher kennst du meinen Namen?“

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    Kämpfer Avatar von Yarik
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    Die Waldbruderschaft im Forenrollenspiel
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    „Gute Wahl“, sagte der Schmied und überreichte Yarik das Jagdmesser. Yarik prüfte fachmännisch die Balance und die Schärfe der Klinge. Es war solide Arbeit. Das Gewicht des breiten, dolchlangen Messers in der Hand zu halten, hatte etwas beruhigendes. Yarik erinnerte sich, wie er mit seinem kleinen Alltagsmesser versucht hatte, diesem wahnsinnigen Mörder Johar Paroli zu bieten. Es war pathetisch gewesen. Das hier hingegen… Ihm war zwar klar, dass es ihn genauso wenig vor Johar hätte retten können, aber es fühlte sich zumindest besser an. Es gab ein wenig mehr Sicherheit. Und außerdem, so ein anständiges Messer konnte man für vielerlei Dinge verwenden – solange man es nicht wieder betrunken beim Würfelspiel versetzte…
    „Ich nehme es“, nickte Yarik und zählte dem zufriedenen Schmied die Münzen auf die Hand.

    Als er sich vom Stand des Schmieds abwandte, fiel ihm an einem der gegenüberliegenden Stände plötzlich ein Mädchen ins Auge, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Er zögerte einen Moment, aber dann war er sich sicher – die langen, pechschwarzen Haare, die ihr strähnig ins Gesicht hingen, die zierliche Figur… das Mädchen, das da hastig die Auslage eines Fischstandes mit Heringen bestückte, war dasselbe, das ihn so seltsam angesprochen hatte, während er eingeklemmt unter der eingestürzten Wand des Lagerhauses gelegen hatte. Was hatte sie gleich nochmal gesagt? ‚Du wirst uns den Weg zeigen‘, das waren ihre Worte gewesen. Welcher Weg?
    Unschlüssig fuhr sich Yarik mit der Hand durch die Haare. Wahrscheinlich war es völliger Unsinn und sie hatte einfach nur einen Sprung in der Schüssel. Aber er hatte irgendetwas gespürt, was er sich nicht recht erklären konnte… Jedenfalls bildete er sich das jetzt ein. Möglicherweise war auch das Unsinn. Aber wenn nicht?
    Wenn… es eine Art Zeichen war? Er sah sich verstohlen um. Plötzlich spürte er ihre Blicke. Die Toten waren nicht fern. Er konnte sie zwar nicht entdecken, aber er wusste, dass sie da waren. Sie beobachteten ihn. Was würde er tun?
    Kurzentschlossen schritt Yarik zu dem Fischstand. Das Mädchen hatte gerade den letzten Hering die Auslage gepackt. Die Fische rochen strenger, als es der Gesundheit vermutlich zuträglich wäre, aber Yarik war ohnehin nicht wegen der Ware da.
    „Du!“, sprach er sie an, „Du warst beim Lagerhaus…“
    Das Mädchen zuckte zusammen und hob erschrocken den Kopf. Sein linkes Auge war blind und von einem weißen Schleier überzogen, das andere von wässrig-blauer Farbe. Kein Zweifel, es war dasselbe Mädchen.
    „Yarik?“, stieß es erschrocken aus und schlug sich sogleich die Hand vor den Mund, als hätte es etwas Falsches gesagt. Yarik starrte es völlig perplex an.
    „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte er dümmlich.
    Das Mädchen senkte den Kopf und heftete den Blick auf den Boden, als hätte es etwas Unverzeihliches getan, wobei es leise und unverständlich vor sich hinmurmelte.
    „Hey, was ist los?“, mischte sich der massige Fischhändler ein, dem der Stand wohl gehörte. Das Mädchen drehte sich um und wollte hinter einem Vorhang verschwinden, aber der Händler packte es unsanft am Arm und zog es zurück. „Hat sie schon wieder Mist gebaut?“
    „Nein! Nein…“, versicherte Yarik, „Ich wollte sie nur etwas fragen. Ich glaube, ich bin ihr vor ein paar Tagen begegnet. Das Lagerhaus… Sie hat etwas gesagt das… Ich weiß auch nicht.“
    Der Händler warf dem Mädchen, das er immer noch festhielt, einen misstrauischen Blick zu, und wandte sich dann wieder an Yarik.
    „Was auch immer sie dir gesagt hat, Kumpel“, meinte er gönnerhaft, „Ignorier es einfach. Sie ist… du weißt schon.“ Er zog eine dümmliche Grimasse und vollführte mit seinem wurstigen Zeigefinger kreisende Bewegungen über seiner Schläfe. „Wenn ich es nicht auf mich nehmen würde, mich um sie zu kümmern, wäre sie verloren! Es ist wirklich nicht einfach, aber ich tue mein Bestes.“
    „Ja, sicher…“, murmelte Yarik abwesend. Er hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Seine Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das mit gesenktem, zwischen die Schultern gezogenem Kopf dastand, sich so klein wie möglich machte und angefangen hatte, nervös auf einem seiner Fingernägel herumzukauen.
    „Wie heißt du?“, fragte er schließlich. Das Mädchen gab erst keine Antwort, bis der Fischhändler ihm einen leichten Hieb auf den Hinterkopf verpasste: „He! Du wurdest etwas gefragt!“
    „Thara“, antwortete es kaum hörbar, „Es… e-es t-t-tut mir Leid, i-i-ich weiß nicht, wieso… woher… ich…“, stammelte es und hob kurz den Kopf. Es sah Yarik mit einem flehenden Blick an. Er seufzte.
    „Also gut… Thara.“
    „Willst du jetzt einen verdammten Fisch kaufen“, mischte sich der Händler wieder ein, der wohl langsam genug hatte von der seltsamen Unterhaltung, „oder willst du nur das Gör… meine Tochter vom Arbeiten abhalten? Wir stehen hier nicht zum Spaß rum und andere Kundschaft wartet, also entweder kaufst du jetzt was, oder du siehst zu dass du verdammt nochmal Land gewinnst!“
    „Schon gut! Gib mir einen Hering“, verlangte Yarik, „Und zwar einen von denen, die nicht ganz so streng riechen!“
    Der Verkäufer schnaubte verächtlich und wickelte einen der Fische in einen alten Lumpen ein. Yarik zahlte den völlig überzogenen Preis, den der Händler verlangte, ließ sich den Fisch geben und wandte sich zum Gehen, wobei er dem Mädchen, das nach wie vor verschüchtert an seinem Platz stand, kurz zunickte.

    Yarik hatte nur wenige Schritte zurückgelegt, als ihm plötzlich kalt wurde. Nicht physisch kalt, sondern… Es war, als hätte sich mit einem Mal etwas um seine Seele gelegt. Etwas, das in ihn hineinblickte, die finstersten Winkel seiner Erinnerungen erforschte und Dinge zum Vorschein brachte, die mit gutem Grund so tief wie möglich begraben lagen. Schmerz, Verzweiflung, Tauer, Panik – Emotionen wallten hoch und drohten ihn zu ertränken, als würde er in einem Morast absoluter Hoffnungslosigkeit versinken. Er taumelte, als sein Gesichtsfeld sich verengte und er begann, Dinge zu sehen, alte Dinge, so uralt und fremd und grauenhaft, unaussprechlich, unendlich… Dinge, die ihn riefen mit einer Macht, der er kaum widerstehen konnte…
    Yarik ging keuchend in die Knie und presste die Hände an die Schläfen, als es zu ihm sprach. Eine Stimme weich wie Samt und kalt wie der Tod.
    Der Weg… du wirst uns den Weg zeigen!
    Dann war es verschwunden.

    Benommen rappelte Yarik sich wieder auf. Einige Leute beobachteten ihn misstrauisch, andere taten so, als würden sie ihn gar nicht wahrnehmen, aber alle machten einen großen Bogen um ihn. Er drehte sich um und schaute noch einmal zu dem Fischstand, aber das Mädchen war inzwischen wieder hinter dem Vorhang verschwunden.
    „Thara…“, murmelte er und schüttelte ungläubig den Kopf, als könnte er mit dieser simplen Geste das gerade Geschehene ungeschehen machen. Aber es wusste, es war passiert.
    Yarik machte auf dem Absatz kehrt. Als er die Stadt verließ, rannte er beinahe.
    Geändert von Yarik (05.06.2023 um 14:14 Uhr)

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    Waldläufer Avatar von Thara
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    Thara schleppte den Eimer mit den Fischeingeweiden hinter den Marktständen entlang, um ihn irgendwo an der Mauer auszukippen. Sie hatte dabei allerdings Mühe, sich überhaupt darauf zu konzentrieren, wo sie sich befand, weil ihre Gedanken ständig um die Begegnung mit diesem Yarik kreisten. Sie wusste, woher sie seinen Namen kannte, aber das hätte sie ihm unmöglich erzählen können. Oder irgendwem sonst. Orin würde glatt auf die Idee kommen, eine Hexenverbrennung zu veranstalten, mit ihr als Hauptattraktion, wenn er damit nur Profit herausschlagen konnte. Es hatte ihn ihr verraten, ihr… Begleiter. Es hatte sie gefunden während ihrer dunkelsten Stunden und ihr beigestanden, hatte sie schließlich befreit von ihrem schlimmsten Peiniger, ihrem leiblichen Vater. Thara hatte zwar das Messer geführt, aber es hatte ihre Bewegungen geleitet. Und seither war es bei ihr geblieben. In der Nacht, als das Lagerhaus gebrannt hatte, hatte es sie zu Yarik geführt. Hatte ihn überprüft. Getestet… Aber warum?
    „Welchen Weg?“, murmelte sie. Sie wusste, sie musste nicht sprechen, damit es sie verstand, aber es fühlte sich irgendwie natürlicher an. Selbst nach all den Jahren noch.
    Es antwortete nicht sofort, aber Thara wusste, dass es da war. Sie konnte seine Anwesenheit spüren, irgendwo tief hinten in ihrem Geist. Es hatte es sich dort bequem gemacht, wo es am dunkelsten war. Seine Präsenz hatte stets zugleich etwas Beruhigendes und zutiefst Verstörendes an sich. Immer, wenn es sich zurückzog, hatte Thara das Gefühl, sich plötzlich an irgendein Detail zu erinnern, das zuvor tief in ihrem Unterbewusstsein vergraben gewesen war… und es war niemals eine schöne Erinnerung. Andererseits, von denen hatte sie ohnehin nicht viele.
    Vertraust du mir?, fragte es anstatt einer Antwort.
    „Ich…“, fing sie an und stockte, „I-ich… denke…“
    Habe ich dir nicht geholfen, als du Hilfe am dringendsten brauchtest? War ich nicht bei dir, als niemand sonst bei dir war? Wen, außer mir, hast du?
    „Niemanden“, hauchte Thara niedergeschlagen, „Ich weiß.“
    Dann stelle mich nicht in Frage. Ich habe dir geholfen, ich werde dir auch weiterhin helfen. Ich bin für dich da, Thara, ich, und niemand sonst. Vergiss das niemals! Vergisst du es, bist du verloren. Diese Welt, Thara, sie wird dich verschlingen. Ohne mich wird sie dich verschlingen.
    Thara seufzte. Sie leerte den Eimer auf einen Haufen Schlachtabfälle aus, den der Metzger vom Stand am Ende der Straße bereits zwischen ein paar Büschen entsorgt hatte, und machte sich auf den Rückweg.
    Wir müssen bald aufbrechen. Es ist so weit. Unsere Reise beginnt, Thara. Heute Nacht.

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    Waldläufer Avatar von Thara
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    Thara hockte mit angezogenen Knien auf ihrem dürftigen Lager aus Stroh und nagte an ihrem Daumennagel. So saß sie schon seit Stunden. Es war sicherlich bereits weit nach Mitternacht. Das fahle Licht des Vollmonds, das durch das einzige Fenster in die Hütte fiel, tauchte den Raum in einen blassen, gespenstischen Schimmer. Es war vollkommen still, abgesehen von Orins Schnarchen und hin und wieder dem traurigen Ruf eines Käuzchens. Normalerweise hätte Thara längst geschlafen, oder es zumindest versucht, so gut ihre Albträume es ihr eben gestatteten. Aber nicht heute. Heute, wusste sie, würde es keinen Schlaf geben.
    Ihr war schon lange klar gewesen, dass diese Nacht kommen würde. Kurz befühlte sie die Schwellung unter ihrem rechten Auge, Ergebnis der jüngsten Prügel, die Orin ihr vor wenigen Stunden erst verpasst hatte. Sie konnte sich an den Anlass gar nicht mehr erinnern. Hatte es überhaupt einen gegeben, oder hatte er sie nur aus einer seiner Launen heraus geschlagen? Sie wusste es nicht mehr, und es spielte eigentlich auch keine Rolle. Es waren bei weitem nicht die schlimmsten Schläge gewesen, die er ihr verabreicht hatte im Laufe der fast anderthalb Jahre, die sie sich nun in seiner ‚Obhut‘ befand. Aber auch das spielte keine Rolle.
    Dass diese Nacht kommen würde, hatte bereits vom ersten Tag an unverrückbar festgestanden. Fraglich war allein der Zeitpunkt gewesen. Heute… heute war es so weit.
    Du bist bereit, wisperte ihr Begleiter, Alles ist bereit.
    Thara betrachtete ihre Hände. Stellte sich vor, sie wären in Blut getränkt. Sie lächelte bei der Vorstellung.
    Alles ist bereit. Worauf wartest du noch?, drängte ihr Begleiter, Du hast es schon einmal getan, und du kannst es wieder tun, auch ohne meine Anleitung. Du weißt es. Du willst es…
    Ja, sie wollte es. Lautlos erhob sie sich und ging langsam hinüber zu Orins Bett. Die Vorsicht, mit der sie behutsam einen Fuß von den anderen setzte, wäre nicht nötig gewesen; wie fast jeden Tag hatte Orin vor dem zu Bett gehen fast zwei Flaschen Wein und noch einige Gläser Hochprozentiges in sich hinein gekippt und schlief wie ein Stein. Aber Thara hatte es Gefühl, es würde diesen Moment entweihen, wenn sie nicht vorsichtig und bedacht vorging. Es war ein besonderer Augenblick. Einer, der eine gewisse Würde erforderte.
    Sie blickte auf Orin herab. Er hatte die Hände auf dem sich nach oben wölbenden Wanst gefaltet, als würde er beten. Sein Mund stand halb offen, ein dünner Speichelfaden lief ihm aus dem Mundwinkel und sein Doppelkinn wackelte mit jedem seiner schnarchenden Atemzüge.
    Langsam zog Thara das Messer hervor. Dasselbe, mit dem sie die Fische verarbeitete. Die lange, schmale Klinge glänzte im Mondlicht. Thara konnte nicht umhin, sie einige Male hin und her zu drehen und das Spiel der Reflektionen auf dem glänzenden Stahl zu bewundern. Das Messer war scharf. Dafür hatte sie gesorgt, sie hatte es am Abend noch mit dem Schleifstein bearbeitet. Gründlicher als sonst. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, warum Orin sie geschlagen hatte: Das Geräusch war ihm auf die Nerven gegangen.
    Sie lächelte.
    Wie passend…
    Thara hob das Messer an Orins Hals und zielte mit der Spitze genau auf den Punkt, den sie treffen musste. Sie wusste nichts von der Halsschlagader, von der Anatomie eines Menschen, ihr war vielmehr so, als würde sie es sehen, diesen Punkt, an dem sein Leben floss. Rot und pulsierend. Wie ein Instinkt, der ihr genau sagte, wo sie zustechen musste. Es gab keinen Zweifel.
    Es ist Zeit, flüsterte ihr Begleiter.
    „Es ist Zeit“, murmelte Thara und versenkte das Messer mit einem einzigen, gezielten Stoß im weichen Fleisch von Orins Hals. Ihr Adoptivvater riss voller Entsetzen die Augen auf, als eine wahre Blutfontaine aus seiner zerfetzten Schlagader spritzte. Das heiße Blut besudelte Thara von oben bis unten, sie spürte seine Wärme auf ihrem Kleid und schmeckte es auf ihren Lippen. Sie lächelte.
    „Du…“, gurgelte Orin und starrte sie mit geweiteten Augen an, „Du verdammte…“
    Er packte ihre Hand, mit der sie das Messer hielt, und zog die Klinge aus der Wunde, was dazu führte, dass nur noch mehr Blut herausströmte. Orin war bereits tot. Er wusste es nur noch nicht und besaß noch genug Kraft, Thara mit einer einzigen Bewegung quer durch den ganzen Raum zu schleudern. Das Mädchen prallte unsanft gegen den Holzstapel neben dem Kamin, das Filetiermesser landete irgendwo außerhalb seiner Reichweite auf dem Boden.
    Thara spürte den Aufprall kaum. Der Schmerz war ein unwichtiges Detail irgendwo am äußersten Rand ihrer Wahrnehmung. Sie lächelte immer noch. Orin stemmte sich hoch, wobei er eine Hand auf die Wunde presste, was natürlich nichts half. Das Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch und tränkte bereits die gesamte Schulter und Vorderseite seines Hemdes. Dennoch machte er ein, zwei unsichere Schritte auf Thara zu und streckte die andere Hand nach ihr aus. Sein Blick war hasserfüllt, sein Gesicht zu einer zähnefletschenden Grimasse verzogen: „Ich… bring‘ dich um! Du… besch… issene… kleine… !“
    Beim dritten Schritt allerdings wollten seine Beine bereits nicht mehr gehorchen, er taumelte kurz zur Seite und brach in die Knie. Röchelnd stützte er sich mit der Hand auf dem Boden ab und versuchte, weiter zu kriechen. Er ließ Thara nicht aus den Augen.
    Das Mädchen rappelte sich auf. Es war ruhig. Alles schien so klar. So einfach. Wie vorherbestimmt… Neben dem Brennholzstapel lag die Axt. Thara nahm das schwere Werkzeug zur Hand und ging zu Orin. Er packte ihr Fußgelenk mit seinen vom Blut glitschigen Fingern und sah zu ihr hoch.
    Der erste Hieb spaltete seinen Schädel.
    Thara neigte den Kopf ein wenig zur Seite und betrachtete die Leiche ihres Adoptivvaters ein paar Sekunden lang. Dann hob sie die Axt und erneut und schlug noch einmal zu. Sie vollführte die Bewegung ohne Hast, mechanisch, wie in Trance. Zog die Axt wieder aus dem Körper und schlug noch einmal zu.
    Und noch einmal.
    Und noch einmal.
    Und noch einmal…

    Thara wusste nicht, wie oft sie auf den längst toten Körper eingehackt hatte, als sie das Werkzeug endlich fallen ließ. Sie atmete schwer und ihre Arme zitterten vor Anstrengung. Von Orin war kaum noch mehr übrig als eine unförmige Masse an zerfetztem Fleisch und Knochensplittern in der Mitte einer riesigen Blutlache, die nur langsam in dem gestampften Lehmboden der Hütte versickerte. Thara wischte sich den Schweiß von der Stirn, nicht merkend, dass sie dabei Blut über ihr ganzes Gesicht schmierte.
    Jetzt erst schwand ihr Lächeln langsam von ihren Lippen. Die Welt, die sie während der Tat wie durch einen dämpfenden Schleier wahrgenommen hatte, kehrte wieder zurück. Ihre Sinne kehrten wieder zurück. Sie spürte die Kühle der Nacht auf ihrer schweißnassen Haut. Sie hörte die nun fast vollkommene Stille, die nur gelegentlich durch den Ruf des Käuzchens durchbrochen wurde. Sie roch das Blut und die Eingeweide, schwer und feucht und metallisch...
    Es ist vollbracht, wisperte ihr Begleiter, Du bist frei.
    „Es ist vollbracht“, flüsterte Thara, mit einem gewissen Erstaunen in der Stimme, „Ich bin frei.“
    Dann: „Was nun?“

    Sie hob den Kopf und es kam ihr vor, als würde sie jetzt erst wirklich aus einem Dämmerzustand erwachen. Diese eine Frage hatte sie sich bisher nie gestellt. Was nun?
    Orin war tot, er konnte ihr nicht mehr wehtun, aber was nun? Sie sah sich hilfesuchend um. Als ob es irgendjemanden in diesem engen, ärmlichen Raum gäbe, der ihr sagen konnte, was sie tun sollte.
    „Was nun?“, fragte sie den leeren Raum und lauschte. Lauschte in sich hinein. Ihr Begleiter… vielleicht wusste er Rat? Sie wartete, wiederholte die Frage, wartete, lauschte. Umsonst. Es kam keine Antwort.
    Sie spürte, wie langsam Panik in ihr aufstieg und sich die Angst wie kalte Klauen um ihren Brustkorb legte. Was nun? Was sollte sie tun? Was konnte sie tun, was musste sie tun? Ihre Gedanken waren so unaufhörlich um den Moment gekreist, da sie Orin das Leben nehmen würde, dass sie nie auch nur eine Minute weiter gedacht hatte. Und jetzt gab es niemanden, der sie anleitete… Niemanden, der ihr sagte, was sie tun sollte… Sie war frei – und sie war allein.
    Was nun?
    Was nun Was nun was nunwasnunwasnunwasnun?
    Ihre Kehle schnürte sich zu und sie begann zu zittern. Das Zimmer schien plötzlich so eng zu sein, so eng, so erstickend eng, erstickend…
    Thara biss sich hart auf den Zeigefinger der rechten Hand. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, brachte sie aber wieder ein Stück weit zurück in die Gegenwart. Sie durfte nicht die Kontrolle verlieren – nicht jetzt! Langsam zählte sie bis zehn und atmete mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Es gelang ihr, die aufkeimende Panik zu unterdrücken, gerade genug, dass sie einen klaren Kopf behielt.
    Als sie die Augen wieder öffnete, starrte sie auf die zerstückelte Leiche zu ihren Füßen und realisierte scheinbar zum ersten Mal, was sie getan hatte. Nicht, dass sie es bereute – ganz und gar nicht. Er hatte es verdient. Er hatte alles verdient! Eigentlich war er noch viel zu gut weggekommen, genau wie ihr echter Vater. Das Problem war vielmehr – wenn sie irgendwer hier fand, würde man sie hängen. Diesmal würde es kein Leugnen der Tat geben. So, wie sie Orin zugerichtet hatte, und sie selbst über und über mit seinem Blut besudelt…
    Sie hatte nur eine Option: Sie musste weg. Weit weg. Auf jeden Fall aus der Stadt verschwinden, und zwar am besten noch heute Nacht – jetzt! Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinsollte und was sie dann tun würde, aber diese eine Tatsache stand fest.
    Ohne noch weitere Zeit zu verschwenden, schnappte sie sich Orins ledernen Beutel und füllte ihn kurzerhand mit allem, was ihr irgendwie sinnvoll vorkam. Viel war es ohnehin nicht, was der ärmliche Haushalt hergab – der halbe Brotlaib von vor drei Tagen, auch wenn er bereits steinhart war und wahrscheinlich ohnehin zur Hälfte aus Sägemehl bestand. Der Hartkäse, von dem eigentlich nur noch die Rinde übrig war. Der rissige alte Wasserschlauch. Zwei Kerzen, der Feuerstahl und die kleine Dose mit Zunder. Ihr Knochenkamm, dem schon die Hälfte der Zinken fehlten. Eine noch zu einem Viertel volle Flasche Weinbrand, übler Fusel. Orins Geldbörse, in der noch ein Handvoll Kupfermünzen traurig klimperte. Und schließlich ihr Filetiermesser. Sie fand es neben der Truhe liegend, in der Orin seine Kleidung aufbewahrte. Die Klinge war rot von seinem Blut. Sie wischte sie kurzerhand an einem von Orins Hemden ab und befestigte die Tülle außen an ihrem Beutel, so dass sie das Messer möglichst schnell ziehen konnte, wenn die Situation es erfordern sollte. Thara hatte keine Ahnung, was sie dort draußen erwartete, aber sie rechnete keine Sekunde damit, dass die Welt ihr freundlich gesonnen sein würde.
    Sie lauschte kurz an der Tür, ob sich draußen etwas rührte, bevor sie sie nur so weit öffnete, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Die Straße lag still und verlassen im Licht des Vollmonds vor ihr. Sie fragte sich eine Sekunde lang, ob das Mondlicht einen rötlichen Schimmer angenommen hatte nach ihrer Tat, aber das war ein törichter Gedanke. Als ob der Mond sich um eine wie sie scheren würde. Oder um Orin. Sie waren nichts, und das Mondlicht war so rein und weiß und kalt wie eh und je.
    Thara trat ins Freie und schloss die Tür der Hütte vorsichtig hinter sich. Vom Meer her wehte eine frische Brise, die den leichten Duft des Salzwassers mit sich brachte. Eine Wohltat nach dem Gestank von Orins Eingeweiden, der in der Hütte schwer in der Luft gehangen hatte. Thara strich sich die Haare hinters Ohr und lief los.
    Sie war frei!

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    Waldläufer Avatar von Thara
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    Der Zirkel um Xardas im Forenrollenspiel
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    Obwohl es dunkel und die Straßen verlassen waren, versuchte Thara, sich soweit es ging in den Schatten zu bewegen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Wenn sie irgendwer entdecken sollte, dann hatte sie ein Problem. Ihr Kleid, ihre Hände, ihr Gesicht waren voller Blut. Zu viel, viel zu viel, als dass man keine Fragen stellen würde – selbst im Armenviertel…
    Zum Glück war um diese Zeit außer ihr wohl wirklich niemand mehr auf den Beinen, und so gelangte sie ungehindert bis in Sichtweite des Westtores. Und hier war es, wo die Erkenntnis sie traf wie ein Donnerschlag: Das Tor war verschlossen!
    Selbst aus der Ferne konnte sie sehen, dass das schwere, stählerne Fallgitter heruntergelassen und die äußeren Torflügel verschlossen waren. Natürlich! Wie hatte sie nur so dumm sein können? Nachts waren die Tore doch immer verschlossen und wurden erst mit dem Morgengrauen wieder geöffnet. Das hatte für sie nur noch nie irgendeine Rolle gespielt, weil sie noch niemals die Stadt verlassen hatte. Aber jetzt… Jetzt saß sie in der Falle!
    Thara fühlte sich plötzlich ganz leicht und ihre Beine wollten ihr nicht mehr recht gehorchen. Sie stützte sich an der nächsten Hauswand ab, ihr Blick auf das Tor geheftet. Sie konnte niemanden sehen, nicht einmal eine Wache, aber was half ihr das? Der Weg war versperrt!
    „Verdammt“, fluchte sie, „Verdammt, verdammt…“

    Fieberhaft überlegte sie, was sie sonst für Optionen hätte. Sich verstecken und warten, bis die Tore geöffnet wurden? Nein, dann würden dort wieder Wachposten stehen. Versuchen, über die Mauer zu klettern? Nein, keine Chance – der Wall war zu hoch. Selbst wenn sie über einen der Türme auf den Wehrgang gelangte, würde sie sich bei dem Versuch, auf der anderen Seite herunterzuklettern, unweigerlich das Genick brechen. Durchs Meer schwimmen, an der Stadtmauer vorbei? Das wäre eine Möglichkeit – für jemanden, der schwimmen konnte…
    Das ist sie also, die Freiheit?, dachte sie verbittert, Nur ein etwas größeres Gefängnis?
    Das Einzige, was ihr noch einfiel, war, dass sie sich irgendwo säuberte, nicht völlig blutdurchtränkte Kleidung auftrieb und dann am Tage versuchte, die Stadt zu verlassen. Es würde allerdings kein geringes Risiko bergen. Einerseits wusste sie nicht, wo sie etwas passendes zum Anziehen herbekommen konnte, und zum anderen – es würde sicherlich nicht lange dauern, bis jemand Orins Leichnam entdeckte. Die Fischer, die ihm ihren morgendlichen Fang zum Verkauf brachten, waren stets früh dran. Und dann würde der Verdacht mit Sicherheit sofort auf sie fallen. Es gab es genug Leute in der Stadt, die sie kannten: Tagein, tagaus hatte sie die vergangenen anderthalb Jahre auf dem Markt gestanden. Man wusste, dass sie zu Orin gehörte. Da er nun tot war, und sie verschwunden, lag die Schlussfolgerung auf der Hand…
    Kraftlos ließ sich Thara an der Wand herunterrutschen, gegen die sie sich gelehnt hatte, und vergrub verzweifelt das Gesicht in den Händen. Sollte es das wirklich gewesen sein? Ihr bisschen Freiheit?
    Einmal zum Westtor und zurück…?
    Plötzlich hob sie fast ruckartig den Kopf. Natürlich – es gab noch eine Möglichkeit! Wenn sie nicht durch das Tor gehen konnte, und auch nicht über die Mauer oder an ihr vorbei… vielleicht konnte sie unter der Mauer hindurch! Die alte Kanalisation! In der Nähe der Marktschenke gab es einen überwucherten Zugang, in den der Wirt gerne seinen Unrat entsorgte. Sie hatte gehört, dass man über diesen Zugang in ein Tunnelsystem unterhalb der Zitadelle gelangen konnte, durch das der Schmutz aus dem Herrschaftssitz nach draußen gespült wurde – in den Burggraben, um dort im Erdboden zu versickern oder ins Meer abzufließen. Angeblich nutzten Schmuggler diesen Weg auch, um verbotene Waren in die Stadt oder aus ihr heraus zu schaffen…

    Mit neuer Hoffnung erfüllt, lief Thara in Richtung der Schenke. Es hieß vorsichtig sein, denn wenn es einen Ort gab, an dem selbst zu so später Stunde noch Menschen unterwegs waren, dann war es die Kneipe. Sie hatte jedoch weiterhin Glück – als sie sie erreichte, lag die Marktschenke bereits dunkel und still da, die letzten Gäste waren nach Hause getorkelt oder schliefen ihren Rausch auf den Tischen und Bänken im Schankraum aus, bis der Wirt sie am nächsten Morgen in die Gosse beförderte.
    Neben der Schenke fand sie rasch, was sie gesucht hatte – eine kreisrunde Öffnung, hinter der ein gemauerter Schacht schräg nach unten führte. Die Öffnung war allerdings mit einem schweren Eisengitter verschlossen. Einen Moment lang wollte wieder die Verzweiflung sie überkommen, aber das Gitter war sehr weitmaschig. Ein erwachsener Mann würde zwar sicherlich nicht hindurchpassen, sie hingegen…
    Sie versuchte es. Was blieb ihr auch anderes übrig? Vorsichtig streckte Thara erst die Beine durch das Gitter und schob sich dann Stück für Stück hindurch. Es war eng, und als sie versuchte, ihre Schultern hindurchzuzwängen, hatte sie kurz das Gefühl, doch stecken zu bleiben, aber indem sie sich ein wenig hin und her wand, schaffte sie es schließlich.
    Auf der anderen Seite war der Boden unter ihren nackten Füßen schleimig und glitschig von Algen und anderen Dingen, von denen sie nicht wirklich wissen wollte, worum es sich handelte. Der Gestank nach Exkrementen und Abfällen war selbst jetzt schon so intensiv, dass sie kurz würgen musste. Sobald sie ihren Magen wieder unter Kontrolle gebracht hatte, zog sie aus ihrer Tasche eine der beiden Kerzen hervor und entzündete sie mit Hilfe des Feuerstahls – gut, dass sie sie mitgenommen hatte! In dem Tunnel war es schon nach kaum einem Meter stockfinster.
    Im schwachen, flackernden Licht der Kerze machte sie vorsichtig einen Schritt nach vorn. Der Tunnel führte steil nach unten und es war schwierig, auf dem schmierigen Untergrund guten Halt zu finden. Langsam tastete sich Thara vorwärts… bis ein Brett, von dem sie geglaubt hatte, es wäre fest verkeilt und würde sicheren Tritt bieten, plötzlich nachgab. Sie stieß einen kurzen, erschrockenen Schrei aus, als sie das Gleichgewicht verlor, auf dem Rücken landete und nach unten rutschte. Die Kerze fiel ihr aus der Hand und verlosch, so dass sie in völliger Finsternis einem unbekannten Ziel entgegen schlitterte. Ihre Versuche, sich irgendwo festzukrallen, waren hoffnungslos. Sie bekam nur Algen, Moos und weichen Matsch zu fassen.
    Nach einer Rutschpartie, die sich für Thara wie grauenvolle Stunden anfühlte, landete sie schließlich in einem Pfuhl aus stinkendem, kaltem Schlamm. Die schweren Ausdünstungen, die ihr in die Nase stiegen, raubten ihr beinahe die Sinne, obwohl üble Gerüche für sie wahrlich nichts Neues waren.
    Sie rappelte sich hastig auf und drehte sich im Kreis, als sie meinte im Augenwinkel irgendetwas zu sehen, aber da war nichts… Es dauerte einen Moment, bis Thara realisierte, dass es die vollkommene Dunkelheit war, die ihr einen Streich spielte. Da sie nichts sehen konnte, erfand ihr Geist einfach etwas. Trotz dieser Erkenntnis spürte sie, wie Panik in ihr aufkeimte. Sie versuchte, sich einzureden, dass da bestimmt nichts war, aber ihr überreiztes Gehirn hörte nicht im Entferntesten darauf. Mit jeder Sekunde malte es sich mehr und mehr gestaltlose Dinge aus, die dort aus der Finsternis auf sie zukrochen…
    Licht! Sie brauchte Licht! Mit zitternden Händen wühlte sie in ihrem Beutel herum, bis sie die zweite (und letzte) Kerze sowie den Feuerstahl und das Zunderdöschen gefunden hatte. Sie tastete vorsichtig ihre Umgebung ab, bis sie einen Stein ertastete, der aus dem widerlichen Schlamm aufragte, so dass sie ihn als Unterlage verwenden konnte, legte etwas Zunder darauf und fing an, Funken zu schlagen. Die ersten Versuche wollten nicht so recht gelingen, die Funken, wenn sie denn überhaupt welche zu Stande brachte, flogen sonst wo hin, so sehr, wie ihre Hände zitterten, und mit jedem misslungenen Versuch wuchs ihre Panik weiter an. Das Gefühl, dass es ihr den Brustkorb zusammenquetschte und sie kaum noch Luft bekam, wurde stärker und sie begann unkontrolliert zu schluchzen, als die Ahnung, dass sie hier unten würde sterben müssen, mehr und mehr zur festen Gewissheit wurde…
    Dann, endlich, landete ein Funken auf der trockenen Holzwolle und eine kleine Flamme züngelte auf. Thara stieß einen kurzen Schrei aus vor Erleichterung.

    Die Erleichterung dauerte jedoch nur kurz. Als sie die Kerze entzündet hatte und sich in ihrem spärlichen Licht umsah, merkte Thara erst, wie eng es hier unten war. Der Pfuhl, in dem sie gelandet war, stellte eine Kreuzung dar und war damit ein wenig geräumiger, aber die Gänge, die von ihm wegführten, waren kaum einen halben Schritt breit und so niedrig, dass selbst sie sich würde bücken müssen. Allein bei der Vorstellung, sich in einen dieser Kriechgänge zu zwängen, wurde ihr schlecht…
    Wie versteinert stand Thara da und wusste nicht weiter. Ihr war klar, dass sie keine Wahl hatte – sie konnte nicht einmal mehr zurück: Der Schacht, den sie heruntergerutscht war, war viel zu steil und glitschig, um ihn wieder heraufzuklettern. Es gab nur den Weg nach vorn. Und doch schaffte sie es nicht, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie stand nur da, starrte in die Finsternis des Tunnels und schluchzte erstickt. Wie? Wie sollte sie das schaffen?
    Etwas legte sich auf ihren Geist.
    Thara… Unsere Reise hat doch gerade erst begonnen, wisperte es in ihrem Kopf. Eine Stimme weich wie Samt und kalt wie ein Grab. Ihr Begleiter war wieder da. Sie fühlte seine Anwesenheit, die sie zugleich beruhigte und abstieß, ihr wohlige Wärme spendete und ihre tiefsten Ängste zu schüren schien.
    Wir müssen weitergehen!, insistierte der Begleiter, Weitergehen… gehen…
    Thara machte zögernd einen Schritt nach vorn. Oder besser, sie beobachtete sich selbst dabei, wie sie einen Schritt machte. Und einen zweiten. War es ihr eigener Wille, der sie antrieb, oder der ihres Begleiters? Sie hätte es nicht sagen können. Aber es war auch einerlei.
    Mit der Hand schützte sie die kleine Kerzenflamme vor dem Luftzug, der ihr aus dem Tunnel entgegenschlug, und machte sich auf den Weg. Als sie den Kriechgang erst betreten hatte, wurde es besser – in gewisser Weise: Statt wie gelähmt zu sein, bewegte sie sich jetzt so schnell vorwärts, wie es die Umstände irgend erlaubten. Sie wäre gerannt, wenn es möglich gewesen wäre. Es war gab nur noch einen Gedanken, der sie beherrschte, der sie antrieb – raus hier! Und der Weg nach draußen führte nur in eine Richtung.
    Thara achtete kaum auf ihre Umgebung. Sie bemerkte weder die Ratten, die vor dem Kerzenschein die Flucht ergriffen und in dunklen Spalten zwischen den Steinen verschwanden, noch interessierte es sie, wo sie eigentlich hineintrat, während sie sich durch den schleimigen Kriechgang zwängte. Sie hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, einen Tunnelblick, der stur geradeaus gerichtet blieb. Sie achtete nicht auf die Zeit, die verging, nur auf den mechanischen Ablauf ihrer Bewegungen und ihre hastigen Atemzüge. Sie ignorierte das Seitenstechen, das bald einsetzte, ebenso wie den Schmerz in der Fußsohle, als sie auf irgendetwas Spitzes trat, das sich durch die Hornhaut bohrte.
    Der Tunnel machte zwei scharfe Biegungen, und plötzlich sah sie vor sich den Mond in seiner ganzen Pracht. Thara hielt einen Augenblick perplex inne. Als ihr Gehirn endlich verarbeitet hatte, was das bedeutete, wollte sie weinen vor Erleichterung. Sie hatte es geschafft! Sie hatte den Ausgang gefunden!
    Hastig legte sie die letzten Schritte zurück. Der Ausgang war ebenfalls mit einem Gitter gesichert, aber jemand hatte einige der Streben weggefeilt und so einen bequemen Durchgang geschaffen. Und dahinter… Der Stadtgraben. Die Welt. Die Freiheit!

    Thara taumelte ins brackige Wasser des Grabens. Sie sank fast knietief im Schlamm ein, aber es störte sie nicht. Tränen des Glücks traten ihr in die Augen und sie kämpfte sich blindlings einfach einen Schritt nach dem anderen vorwärts, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte und die Böschung auf der anderen Seite hinaufklettern konnte.
    Oben angekommen, drehte sie sich noch einmal um. Thorniara, die Stadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, lag ruhig und friedlich da. Im silbernen Mondlicht wirkte sie fast erhaben, mit den Türmen der Zitadelle und der Kuppel des großen Tempels, die sich über ein Meer schindelgedeckter Dächer erhoben wie steinerne Wächter, die über die Träume der Bewohner wachten.
    Das Juwel Argaans, wie man sagte.
    Tharas Hölle.

    Ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen, lief Thara los. Vor ihr lag der Wald. Was auch immer sie dort erwartete, es konnte nicht schlimmer sein als das, was sie hinter sich ließ.
    Geändert von Thara (04.06.2023 um 13:48 Uhr)

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    Hexenmeister Avatar von Trilo
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    Trilo ist offline

    Nähe Hafen von Thorniara

    "Halt einfach zwischen die beiden Türme. Das schaffst du, oder?"
    "Ich denke schon."
    "Wunderbar. Gut. Da ich davon keinen Plan habe, wie bremst ihr eigentlich das Schiff ab im Hafen?"
    "Wie meinst du das?"
    "Naja. Wir sind jetzt nicht mörderisch schnell, aber gegen die Kaimauer knallen muss jetzt auch nicht sein."
    "Oh. Davon hat Nickel uns nichts gesagt."
    "Bei allen nutzlosen Göttern, WAS? Scheiße..."


    Kurz darauf flog eine Machete hinter Trilo entlang in Richtung Segel und verfehlte selbiges. Danach ein weiterer Versuch mit einer Axt. Dann ein Hammer, eine Sichel, zwei Messer.
    "Val! Lass den Mist!"
    "Du willst Fahrt verlieren. Wir haben Fahrt durch das Segel. Kein Segel, keine Fahrt."
    "Scheiß Pragmatikerin..."
    "Das Wort, dass du suchst, heißt Danke."


    Das Schlimmste ist, dass sie auch noch Recht hat. Naja, ein Segel wird schon nicht so teuer sein. Die Frage ob jemand wusste wie man die Segel rafft, wurde schließlich auch verneint. Offenbar hatte Nickel seinen Nachfolgern nur das Steuern erklärt, sonst nichts. Noch bevor er sich eventuelle Alternativen überlegen konnte flog schon wieder die Machete über seinen Kopf hinweg, traf diesmal jedoch. Es war ein seltsames Gefühl zu sehen wie ein kleiner Schnitt immer weiter einriss und das Segel in kürzester Zeit in zwei im Wind flatternden Riesenlumpen an den Masten hing. Hoffentlich reicht der Schwung bis zum Schluss. Ich wette hier kann nicht jeder schwimmen.

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    Waldläufer Avatar von Jacques Percheval
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    Jacques Percheval ist offline
    Die Stadt!
    Jacques atmete tief ein. Der Duft des Abenteuers!
    Okay, er musste zugeben, das Abenteuer roch gerade ziemlich streng nach Scheiße und nicht mehr wirklich frischem Fisch, aber das konnte ihn nicht abschrecken. Abenteuer fand man schließlich nicht dort, wo alles blitzeblank, sauber und behütet war. Da musste man schon tiefer graben. Und er hatte keine Angst davor, sich die Hände schmutzig zu machen, oh nein! Auf einem Bauernhof mussten die Schweineställe schließlich auch mal ausgemistet werden. Manchmal musste man eben tun, was getan werden musste, auch wenn es nicht angenehm war. Jacques war niemand, der sich drückte.

    Der junge Mann schlenderte gemütlich durchs Hafenviertel. Gestern erst hatte er Thorniara erreicht; die Überfahrt von Gorthar in einer kleinen Schaluppe war schon für sich genommen ein Abenteuer gewesen, zumindest für seinen Magen. Er war heilfroh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Seemann – nein, das war definitv kein Beruf für ihn, das wusste er jetzt mit Sicherheit. Aber er hatte ohnehin nie Seemann werden wollen. Sein Sinn strebte nach höherem. So hoch wie der Turm der Zitadelle, die sich über die Stadt erhob – Ritter! Er würde Ritter werden!

    Noch hatte er zwar keinen der Paladine entdeckt, die in der Stadt residieren sollten, aber er war ja auch gerade erst angekommen und hatte sich bis jetzt nur im Hafenviertel umgesehen. Er hatte es nicht zu eilig. Eine Stadt wie Thorniara war bereits eine neue Erfahrung für ihn, und er wollte nichts überstürzen. Erst einmal mit der neuen Umgebung vertraut werden, dann konnte man weitersehen.

    Müßig beobachtete er die großen, weißen Vögel, die hier am Meer überall herumflogen und sich lautstark um Fischreste stritten, als sein Blick auf das Schiff fiel, das vor einer Weile am Horizont aufgetaucht war und sich jetzt schnell dem Pier näherte. Er kniff verwundert die Augen zusammen. Nicht, dass er groß Ahnung von Schiffen hätte – aber war der Kahn nicht irgendwie ein bisschen sehr schnell? Und das Segel sah auch sonderbar aus… Vielleicht war es ja ein Spezialsegel oder so etwas, aber Jacques bezweifelte, dass es sonderlich sinnvoll wäre, mit einem Segel herumzufahren, das in zwei Hälften am Mast flatterte.
    Er stemmte kopfschüttelnd die Arme in die Hüften und sah zu, wie das Schiff ungebremst auf das Pier zuhielt. Er war sogar als Nicht-Seemann wirklich gespannt, wie so ein Angelemanöver aussehen würde. Aus nahezu voller Fahrt abzubremsen… da gehörte bestimmt einiges an Können dazu!

  13. Beiträge anzeigen #373
    Lehrling Avatar von Val
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    Die Gilde Innos' im Forenrollenspiel
    Val ist offline
    Ich hasse Schiffe...
    Zugegeben, das Segel komplett zu zerstören mag etwas voreilig gewesen sein, aber wenn die Herren Möchtegern-Seefahrer zu inkompetent waren, musste eben eine Frau die Lösung in die Hand nehmen. Lieber eine schlechte Lösung als gar keine. Zwar wurde das Schiff nicht mehr schneller, aber merklich langsamer auch nicht. Dafür kam der Hafen erstaunlich schnell näher.

    "Ruben. Clara. Henk. Dolf. Ihr Vier bekommt einen Spezialauftrag."
    Begierig eilten die vier Kinder im Alter von irgendetwas zwischen 8 und 10 auf Sie zu und lauschten den nun kommenden Worten.
    "Wenn man ein Schiff in einen Hafen bringt, kann es manchmal ganz schön wackeln. ich möchte das ihr Vier alle zusammentrommelt und Ihnen sagt, dass sie mit euch zusammen unter Deck sollen. Nicht ganz nach unten, nur direkt die Treppe runter. Die Kleinsten sollen in die Hängematten, dann schaukeln sie einfach das ganze Geruckel weg. Achja, und wenn einer nicht will, sagt demjenigen, dass ich euch schicke und er das gern zur Not mit mir persönlich ausdiskutieren kann. Obwohl, da hab ich keine Lust drauf. Hier hat jeder ein Messer. Wer nicht mitkommt, den dürft ihr anpieksen., Aber nur kurz und nicht tief!"

    Glückselig nahmen sie die stumpfen, abgerundeten Messer entgegen. Jemanden damit zu verletzen war schwierig. Erst recht in Kinderhänden und wenn man mit dem Runden Ende jemanden stach. Aber sie fühlten sich nun mächtig. Eine wichtige Lektion, die man nicht früh genug lernen kann. Setz dich durch, zur Not mit Werkzeugen und Waffen.
    Val selbst machte sich auf den Aufprall gefasst. Sie schlang sich eines der dünneren Seile, welches immer noch die Dicke Ihres Handgelenks besaß, und wickelte es sich um Ihren rechten Fuß. Auf keinen Fall wollte Sie von Bord fliegen, wenn die Brigg gegen die Kaimauer schlug. Letztere würde davon vermutlich unbeeindruckt bleiben, aber der Ruck, der dann durch das Schiff ging, würde vermutlich jeden einzelnen der nichtsnutzigen Herrschaften über das Oberdeck segeln lassen. Als Sie sich fertig befestigt hatte, schaute Sie sich um. Sie wollte einen festen Punkt zum Fixieren haben. Einfach um nicht mit unerwarteten Gefühlen den Einschlag begaffen zu wollen. Unerwartet war jedoch das recht dümmliche Gesicht eines Blondschopfs direkt vor Ihnen.

    Wenn der Idiot da nicht weg geht, ist er der erste der Schiffsstücke abbekommt. Wie hohl kann man eigentlich sein? Jedes mindere Tier würde merken, dass das Schiff gleich ungebremst aufschlug. Will er das Schiff fangen oder was? Was stimmt eigentlich mit Männern nicht. Ich winke ihm mal freundlich zu, dass er dort weg soll..

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    Waldläufer Avatar von Jacques Percheval
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    Die Gilde Innos' im Forenrollenspiel
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    Sie winkte ihm zu!
    Augenblicklich vergaß Jacques alles um ihn herum. Das Geschrei der Leute hinter ihm, die irgendwie nicht so recht davon überzeugt waren, dass das Schiff noch ein erstaunliches Anlegemanöver hinlegen würde. Das Schiff selbst, das noch immer mit nahezu voller Fahrt auf die Kaimauer zuhielt. Die Möven, die sich ungeachtet dessen weiter um die Reste des Morgenfangs stritten. Einfach alles.

    Sie war so wunderschön… Ein Engel? Ihr kastanienbraunes, glänzendes Haar wehte im Wind und umspielte die feinen Züge ihres Gesichts im Gegenlicht wie ein flammender Heiligenschein. Ihre großen Augen strahlten von einem inneren Feuer, einer Entschlossenheit und einer Lebendigkeit, die ihr zartes Äußeres Lügen straften. Die Finger ihrer Hand, mit der sie Jacques zuwinkte, waren schmal, feingliedrig, delikat. Und ihr Lächeln! Oh, ihr Lächeln…
    Jacques lächelte zurück, was ihn nicht unbedingt klüger aussehen ließ, und hob ebenfalls die Hand zu Gruß, gerade als das Schiff mit ohrenbetäubendem Krachen die Kaimauer rammte. Er registrierte es nur am Rande, seine ganze Aufmerksamkeit war von der engelsgleichen Gestalt am Bug in Anspruch genommen, die jetzt ihre Arme ausbreitete und mit einer ganz und gar anderweltlichen Eleganz über die Reling segelte. Genau auf ihn zu! Ohne nachzudenken, machte Jacques einen Schritt nach vorn – die Machete, die gerade einen Fingerbreit neben seinem Hals vorbeiflog, ignorierte er genauso wie den Hauptmast, der durch die Wucht des Aufpralls brach und auf den Pier zu stürzen drohte – und breitete die Arme aus. Er hatte keine Mühe, sie aufzufangen. Es war, als verliefe die Zeit langsamer, er nahm alles so klar und so unmittelbar wahr, dass er genau ihre Flugbahn abschätzen, sich auf den Aufprall vorbereiten und sie sicher festhalten konnte, als sie mit einem leisen „Uff!“ gegen seine breite Brust prallte im selben Moment, als neben ihnen krachend der Mastbaum auf dem Pflaster des Kais hinschlug. Das halbierte Hauptsegel kam links und rechts von ihnen zum Liegen.
    Sie sah ihn einen Moment lang an, in ihrem Blick schienen sich ungläubige Verwunderung, Belustigung und Genervtheit im Sekundentakt die Klinke in die Hand zu geben.
    „Nicht nötig“, sagte sie und deutete auf ein Seil, das um ihr Fußgelenk geschlungen war, und sie auch ohne Jacques‘ Hilfe daran gehindert hätte, aufs Pflaster zu stürzen, „Aber danke.“
    „Natürlich…“, brabbelte Jacques, noch immer dümmlich lächelnd, und löste mechanisch das Seil, ohne sie herunterzulassen. So wenig, wie sie wog, konnte der kräftige Bauernbursche sie ohne weiteres auch in einem Arm halten. Bis…

    „Oh nein!“, stieß er aus und ließ das Mädchen auf seinem Arm einfach fallen. Es landete unsanft auf seinem Hintern, aber Jacques beachtete es nicht weiter. Er sprang einfach mit einem Satz über es hinweg, sprintete zur Kaimauer und nutzte einen der Poller, um sich abzustoßen, als er mit einem eleganten Hechtsprung ins Hafenbecken segelte. Der Schwung trug ihn mehrere Meter weit, bevor er Kopf voran in das brackige Salzwasser tauchte und mit kräftigen Zügen zu schwimmen begann.
    Jacques war schon immer ein guter Schwimmer gewesen. In den heißen Sommermonaten hatte er ganze Tage mit seinen Brüdern und den anderen Kindern des Dorfes an dem großen Bergsee bei der alten Mühle verbracht (oft sehr zum Unmut des noch älteren Müllers, der ständig – und natürlich erfolglos – versucht hatte, die lärmende Bande von ‚seinem Rasen‘ zu verscheuchen, obwohl jeder wusste, dass die Wiese dem Blöden Jorge gehörte, der seine Schafe darauf weidete). Bei fünf Brüdern blieben allerlei Wettkämpfe nicht aus – wer ist der schnellste Schwimmer, wer kann am längsten tauchen, wer kriegt den größten Platscher bei einer Arschbombe von der großen Trauerweide hin? Und Jacques war zwar der Jüngste, aber er war niemand, der so schnell aufgab, und zuletzt gab es niemanden mehr, der schneller schwimmen und länger tauchen konnte als er!
    Das kam ihm jetzt zugute. Mit ausholenden Kraulbewegungen pflügte er durch das Wasser. Das Salz brannte in seinen Augen, aber er ignorierte es.
    Da war ein Kind – und es ertrank!

    Jacques hatte nicht gesehen, wie es über Bord gegangen war, aber es musste sich am Heck des Schiffes aufgehalten haben, als der Aufprall passiert war. Jetzt ruderte es hilflos und panisch mit den kleinen Ärmchen im Wasser, ohne sich an der Oberfläche halten zu können. In einem Moment konnte Jacques noch den blonden Haarschopf über den Wellen sehen.
    Im nächsten war es verschwunden.
    Jacques holte tief Luft und tauchte. Das Wasser war trübe und aufgewühlt, er konnte kaum etwas erkennen. Aber er wusste noch, wo das Kind zuletzt gewesen war, und hielt weiter in die Richtung… Da! Zwischen einem Fass, das langsam zum Boden des Hafenbeckens sank, und einer Kiste, die in den Wellen dümpelte, erkannte er den kleinen Körper. Ob er sich noch aus eigener Kraft bewegte, oder nur noch von den Strömungen hin- und hergeworfen wurde, konnte er nicht sagen. Mit zwei Zügen war Jacques bei ihm und stieß wieder an Oberfläche.
    Es war ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Und es regte sich nicht mehr! Jacques presste es dicht an seine Brust und schwamm in Rückenlage so schnell zurück zum Pier, wie er konnte. Dort angekommen, reichten bereits einige hilfreiche Hände nach unten und zogen das Kind ans Trockene; Jacques selbst beförderte sich mit einem Klimmzug wieder an Land.
    Das kleine Mädchen lag reglos auf dem Boden, der Mann, der es hochgezogen hatte, stand ratlos daneben. Jacques kniete neben ihr nieder und hielt ihr seine Hand vor die Nase, aber er spürte keinen Atem.
    „Hilfe!“, rief er und sah sich um, „Jemand muss diesem Kind helfen! Sie hat Wasser eingeatmet… Weiß denn irgendwer, wie man ihr helfen kann? Irgendwer? Ihr seid doch Seeleute, bei Innos, tut doch etwas!
    Geändert von Jacques Percheval (17.06.2023 um 12:17 Uhr)

  15. Beiträge anzeigen #375
    Provinzheld Avatar von Sunder
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    Sunder saß wie gewohnt im Klabautermann, nicht unbedingt die beste Adresse in der Stadt, für den Seebären aber genau der richtige Platz. Die Hafenkneipe war zwar etwas heruntergekommene, aber das machte dem alten Seefahrer nichts aus, da hatte er wahrlich schon schlimmeres gesehen. Hier bekam Sunder alles was er brauchte um seine bescheidenen Bedürfnisse zu befriedigen. Kühles Bier, warme Mahlzeiten ohne Kakerlaken und ein Bett zum schlafen, mehr brauchte er eigentlich nicht.

    An diesem Tag hatte Sunder sich in der hintersten Ecke der Kneipe niedergelassen, er wollte seine Ruhe haben und bei einem Krug Bier, ein wenig in Erinnerungen schwelgen. Lässig zurück gelehnt, die Augen geschlossen, dachte der Seefahren an Zeiten, in denen er als Kapitän furchtlos die Meere bereiste. Das lag alles schon solange zurück und doch kam es ihm manchmal so vor, als sei er gestern noch auf hoher See gewesen.

    Ein dumpfes Grollen und das Geräusch von berstendem Holz riss Sunder aus seinen Gedanken, der alte Seebär ahnte gleich, das irgendetwas mit einem Schiff passiert sein musste. Er sprang auf und eilte hinaus, vor der Kneipe sah Sunder einige Leute die Richtung Hafenkai rannten, er folgte der Meute. Der Seebär traute seinen Augen nicht als er dort ankam, „dat jibbet doch nit“ stammelte er, während er langsam einen Überblick von dem Ausmaß des Schiffsunglücks bekam.

    Ein stark beschädigtes Schiff, dem Untergang geweiht, umher schwimmende Wrackteilen, dazwischen Menschen, die verzweifelt versuchten sich an Land zu retten. Leute die kopflos umher rannten und diejenigen behinderten, die versuchten die Schiffbrüchigen an Land zu ziehen. „Jot nä“ brummte Sunder, auch Schaulustige hatten sich schon zahlreich eingefunden, die den Rettern nur im Wege standen.

    Ein Mann schrie um Hilfe, der Seebär konnte nicht genau ausmachen woher die Rufe kamen, „macht Platz Leute“ knurrte Sunder die Meute der Schaulustigen an. Die ließen sich davon aber nicht beeindrucken, „isch hab jesacht Platz machen“ wurde er nun lauter und schubste 2 Männer unsanft zu Seite. „Du hast uns gar nichts zu sagen“ maulte einer der Burschen, „wat?“ fauchte Sunder und zog seinen Knüppel hervor. „Wenn du disch nit sofort vom Acker machst, dann hau dir dat weiche Hirn raus“, Sunder stieß dem Burschen den Knüppel in den Magen, „haste mich verstanden?“, der Bursche gab klein bei und trollte sich. „Und ihr löst euch auch in Luft auf, sonst werd ich unjemütlich“ blaffte Sunder die anderen gaffenden Idioten an.

  16. Beiträge anzeigen #376
    Hexenmeister Avatar von Trilo
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    Trilo ist offline
    Bei allen Göttern! Das ist dann jetzt doch heftiger als erwartet! Fühl ich mich ja direkt an die Arena in Bakaresh erinnert!

    Obwohl er den Aufprall kommen sah und sich so fest wie nur irgend möglich an seine Umgebung klammerte, so floh er dennoch im hohen Bogen über das Schiffsdeck. und darüber hinaus. Mist... Zu seinem Glück flog er direkt auf einen dort in Schockstarre stehenden Angler zu, welcher seinen Aufprall auf dem harten, harten Boden Thorniaras, und der Realität, abfederte. Dachte er zumindest. Doch fiel der Kerl allen Ernstes in Ohnmacht und sackte kurz von dem Einschlag Trilos in sich zusammen. Und tauchte wie in einem Fiebertraum auf schlechtem Sumpfkraut unter ihm ab, sodass der Blondschopf doch noch über ihn weg segelte und mit spektakulären Purzelbäumen in Thorniara landete. Erst jetzt konnte sich Trilo mit seiner Umgebung beschäftigen und das Ausmaß des Schiffsunglücks erfassen. Hmm. Das lief doch glimpflicher als erwartet. Stadt ist noch recht heil, keiner wurde von Trümmern direkt getötet wie es scheint. Gut, das Schiff hat es hinter sich, aber das war eh klar. Gut, wo fang ich an? Och nö...

    Zwar war für einen kurzen Moment die Idee de Altruismus in ihm aufgekeimt, sodass er sich um das Retten der Leute kümmern wollte, jedoch war die heran nahende Miliz generell kein gutes Zeichen für einen Mann, der wegen diverser Verbrechen gesucht wird. Vor allem nicht, wenn er schonmal hier verhaftet, angeklagt, verurteilt und geflohen war. Immerhin kannte er schonmal den Weg zu den Stallungen vom letzten Mal.

    „Hey, ihr da! Seid ihr auch vom Schiff gekommen?“
    „Ähm ja. Kann ich euch helfen?“
    „Ja, indem Sie den anderen helfen. Oder sind Sie verletzt?“
    „Ach, ähm, nein. Ich glaube nicht.“


    Sofort zogen die drei Milizionäre weiter. Einer von Ihnen sprang sogar beinahe direkt ins Wasser um die Kinder aus dem sinkenden Schiff zu holen. Aber Miliz war eigentlich eine gute Idee in der jetzigen Situation. Es musste doch irgendjemanden geben, dem er das Tagebuch des Sklavenfängerboss und die Liste der auf dem Boot befindlichen Sklaven geben konnte. Aber nein, überall nur Handlanger. Aber ja, er sollte vielleicht auch den Kleinen helfen. oder zumindest auf Andere so wirken. Schnellstmöglich rannte Trilo also wieder zurück zum Pier und sprang voller Elan ins Wasser.
    Geändert von Trilo (23.06.2023 um 13:22 Uhr)

  17. Beiträge anzeigen #377
    Schwertmeister Avatar von Nienor
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    Die Aufräumarbeiten am abgebrannten Lagerhaus gingen wider Erwarten gut voran. Der Schutthügel war schon weit abgetragen und es kamen hier und da noch einige Kisten zum Vorschein, die nur zum Teil verbrannt waren oder auch nur äußerlich verrußt. Alles, was auf dem Gelände des früheren Warenlagers war, war im Namen des Königs beschlagnahmt worden. Sicherung von Beweismitteln. Es hatte sich offensichtlich um das Hehlerlager des abgesetzten Hafenmeisters gehandelt. Der Orden würde alle Waren meistbietend versteigern und die Summe für den Wiederaufbau des zerstörten Gebäudes verwenden. Vielleicht kam genug Geld zusammen, um es dieses Mal aus Stein zu errichten und das Dach mit gebrannten Ziegeln anstatt mit Holzschindeln zu decken. Nienor würde sich für diese Maßnahme im Sinne des Brandschutzes einsetzen, wenn es soweit war.

    Gerade wollte sie sich wieder zum Gehen wenden, als ein lauter Krach von weiter unten, aus Richtung des Hafenbeckens ertönte. Nach wenigen Schritten sah sie das Malheur. Ein Schiff schien explodiert zu sein und hatte seine Trümmer überall verteilt. War es mit alchemistischen Waren beladen gewesen, die, unsachgemäß verstaut, ineinander geraten und eine Explosion ausgelöst hatten? Oder hatten sich Spruchrollen der Feuermagier, die vielleicht an Bord gewesen waren, von selbst aktiviert und das Schiff in Stücke gerissen. Doch noch während sie zur Kaimauer hastete, wurde ihr klar, dass kein Feuer ausgebrochen, sondern das Holz des Schiffes wie durch eine große Kraft zersplittert worden war. Es war tatsächlich in voller Wucht gegen die feste Kaimauer gedonnert und war durch den Aufprall in Einzelteile zerlegt worden.

    »He, Soladaten«, rief sie drei Milizionären zu, die gerade ihren Weg kreuzten.
    »Folgt mir zum Avisboot des Hafenmeisters.«
    Sie zeigte auf ein in der Nähe vertäutes größeres Ruderboot, mit dem der Hafenmeister Schiffe, die vor dem Hafen auf Reede lagen, besuchte, um die Zollformalitäten zu klären. Das war sicher eine perfekte Gelegenheit für Sankar gewesen, sein Zweiteinkommen zu verhandeln und sich die besten Waren herauszusuchen, die er dann von den Hehlerbanden verkaufen lassen wollte - gegen eine gewisse Provision. Aber damit war es jetzt zu Ende. Schnell sprang sie ins Boot, wies einen der Soldaten an, die Vertäuung zu lösen und dann folgten ihr die Milizionäre, zwei nahmen die Riemen, einer steuerte, Nienor stand am Bug und dirigierte.
    »Weiter nach rechts!«
    Dort hielten sich einige Leute an Balken und Brettern fest, die im Hafenbecken herumdümpelten. Es waren Kinder. Nienor half, nachdem das Boot die ersten erreicht hatte, sie in die Schaluppe zu ziehen.
    Was genau es mit dem zerstörten Schiff auf sich hatte, das herauszufinden war später noch Zeit.

  18. Beiträge anzeigen #378
    Lehrling Avatar von Val
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    Val ist offline
    Das hat er nicht getan! Der hat mich nicht wirklich einfach fallen lassen!

    Ihr Hintern tat weh. Und das nur wegen diesem dümmlichen Blondschopf. Wahrscheinlich wollte er später noch eine Belohnung für das unnötige Auffangen Vals. Zumindest ging die Braunhaarige fest davon aus. Es wäre auch etwas ganz Neues, wenn einer der Rutenprügler mal nicht erfreut werden wollte. Nichtsdestotrotz konnte sie schlecht im Hafen liegen bleiben. Die Leute waren aufgewühlt und liefen wie angeköpfte Hühner wild und planlos umher. Die Schäden am Schiff waren immens. Vermutlich würde das Teil in wenigen Minuten bereits untergegangen sein.

    "Hey Mädchen! Alles okay bei dir?"
    "Ja."
    "Gut. Kannst du uns helfen die Kinder aus dem Hafen zu holen?"
    "Ja."
    "Ähm... gut. Dann komm mit. Vor allem brauchen wir aber Leute, die den Kleinen trockene Klamotten und eine warme Mahlzeit geben. Angeblich sind das alles Sklaven."
    "Ehemalige Sklaven. Wir sind ehemalige Sklaven."
    "Wir?"
    "Innos, lass Hirn vom Himmel regnen. Oder Steine, aber ziel dann besser... Ich bin auch vom Schiff. So ein blonder Kerl hat mich gefangen als ich vom Kahn flog, hat mich dann auf den Boden geworfen und ist ins Becken gesprungen. Ah, der da. Das ist der Kerl. fragt den nach Hilfe, ich kümmer mich derweil um Menschen, die es wert sind."


    Sie machte in ihrer gewohnt abwertenden Art kehrt und ging eiligen Schrittes zu einer kleinen Ansammlung von mehreren Frauen und sicher bereits ein Dutzend Kindern.
    "Ah, geht's euch gut?"
    "Val!", schrien die Kinder und fielen Ihr in die Arme.
    "Ja, ich bin wieder bei euch. Jetzt wird alles besser. Der König und seine Getreuen werden sich fortan gut um uns kümmern. Nicht wahr?"

    Die Irritation war den beiden Frauen, eine davon ganz offensichtlich Teil der Stadtgarde, ins Gesicht geschrieben. natürlich war es dreist, aber was blieb ihr übrig? Irgendwie musste Sie ja dafür Sorge tragen, dass ihr kleinen Freunde endlich etwas bekamen, dass man leben nennen konnte.

  19. Beiträge anzeigen #379
    Waldläufer Avatar von Jacques Percheval
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    „Lass mich ma‘ durch hier, blöd schauen kannst du auch woanders!“
    Eine ältere matronenhafte Frau mit der fleckigen Schürze einer Fischverkäuferin stieß einen der umstehenden Gaffer grob zur Seite und kniete sich ächzend neben dem bewusstlosen Kind nieder. Sie achtete nicht weiter auf Jacques, sondern begann umgehend damit, dem kleinen Mädchen über den Mund Luft in die Lunge zu pusten. Nach ein paar derart verabreichten Atemzügen riss das Kind plötzlich die Augen auf und begann erbärmlich zu husten. Die Frau brachte es in eine sitzende Position und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken, während das Mädchen zwar mühsam, aber wieder selbstständig atmete und brackiges Salzwasser aushustete.
    „Na siehst du… es war nicht so schlimm, wie es ausgesehen hat!“, beruhigte die Matrone die Kleine.
    „Vielen Dank, dass Ihr geholfen habt!“ Jacques neigte fast ehrerbietig den Kopf vor der Fischersfrau, „Euch hat wahrlich Innos selbst geschickt!“
    Die Frau winkte ab: „Blödsinn, ich hab‘ einfach meinen Stand da drüben, du Quatschkopf! Und da werd‘ ich jetzt auch wieder hingehen, wenn du nichts dagegen hast, das Schiff da ist eh so gut wie abgesoffen. Kümmer‘ dich um das Kind. Ich hab‘ schon fünf, brauch‘ nich‘ noch eines!“
    Sie erhob sich und drückte dem überraschten Jacques das Mädchen in die Arme. Der Bursche wusste zunächst nicht so recht, was er jetzt tun sollte, und während er der noch immer hustenden Kleinen beruhigend auf den Rücken klopfte, sah er sich zum ersten Mal wirklich um und realisierte, was geschehen war.

    Das Schiff hatte kein elegantes Anlegemanöver vollführt, ganz im Gegenteil, es war einfach mit voller Fahrt gegen die Kaimauer gekracht. Der Bug war völlig zerschmettert, so dass schnell Wasser ins Innere lief und die Brigg bereits merklich Schlagseite hatte. Es würde vermutlich wirklich nicht mehr lange dauern, bis sie auf dem Grund des Hafenbeckens lag. Inzwischen hatte sich ein ganzer Menschenauflauf gebildet, einige versuchten zu helfen, indem sie Waren und Passagiere aus dem untergehenden Schiff bargen, viele aber standen nur dumm in der Gegend herum, glotzten und machten keinen Finger krumm. Die Stadtwache war auch da und versuchte, Ordnung zu schaffen, wobei sie von einem mies gelaunten alten Seebären unterstützt wurde, der gerade mit seinem Stock und wilden Flüchen eine Gruppe besonders penetranter Gaffer auseinandertrieb.

    Schließlich entdeckte Jaques auch das wunderschöne Mädchen wieder, das er aufgefangen hatte, als es beim Aufprall des Schiffes von Bord geflogen war. Und dann hatte er sie fallen lassen. Er verzog peinlich berührt das Gesicht. Das war wirklich nicht die feine Gorthar’sche Art gewesen – auch wenn er natürlich einen guten Grund gehabt hatte, der ihm noch immer ins Ohr hustete (inzwischen aber etwas weniger). Das Mädchen war von einem Haufen Kinder umringt, die es anhimmelten, als wäre es ihre Erlöserin. Sie schienen alle vom Schiff zu kommen… Sonderbar, was machten so viele Kinder auf einem Schiff?

    Jacques ging kurzentschlossen zu ihr – um das Schiff kümmerten sich mittlerweile genug andere Leute, da war seine Hilfe nicht mehr unmittelbar von Nöten. Als er sich näherte, schnappte er Brocken einer Unterhaltung auf, die sie mit ein paar Leuten führte – er hörte etwas von „Sklaven“. Sklaven? Erstmals realisierte er die zerlumpte Kleidung der Kinder und auch der Erwachsenen, die von dem Schiff gekommen waren. Konnte es etwa sein, dass jemand die Kinder versklavt hatte? Die Vorstellung allein drehte ihm den Magen um. Wenn das stimmte, würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um diesen Übeltätern das Handwerk zu legen, so wahr Innos im helfe!

    „Verzeiht, werte Dame…“, sprach Jacques das schöne Mädchen an. Als es sich überrascht zu ihm umdrehte, ließ er sich auf ein Knie nieder und senkte entschuldigend den Blick: „Ich muss Euch wohl um Verzeihung bitten für die unziemliche Behandlung, die ich Euch habe widerfahren lassen, aber ich sah dieses Kind im Hafenbecken treiben und es wäre beinahe ertrunken, wenn ich es nicht herausgezogen hätte. Die Umstände ließen kein Zögern zu. Ich hoffe, Ihr vergebt mir mein ungehobeltes Verhalten!“
    Er hob den Blick und lächelte hoffnungsvoll.
    „Die Kinder scheinen Euch zu vertrauen, kann ich dieses Mädchen in Eure Obhut übergeben? Und falls ich noch etwas tun kann, um zu helfen, sagt mir einfach Bescheid, ich bin mit Freuden Euer ergebenster Diener. Oh, äh, mein Name ist Jacques, übrigens… und… äh…“
    Plötzlich wusste er nicht weiter. Sie war so wunderschön! Diese herablassend und belustigt hochgezogene Augenbraue! Dieser Blick, der unmissverständlich sagte Oh Innos, was ist denn das bitte für ein Volltrottel? Alles an ihr war so perfekt! Sie musste wahrlich ein Engel sein, gesandt, die armen Kinder aus der Sklaverei zu erretten. Jacques wusste, er würde alles für sie tun. Er würde ihr Ritter sein!

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    King Kong Avatar von Griffin
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    Die Waldbruderschaft im Forenrollenspiel
    Griffin ist offline
    »Du scheinst ja ganz ne feine Dame zu sein.«, lallte der Betrunkene lautstark in Richtung eines jungen Mädchens. Mühsam wischte er sich mit dem Handrücken die Überreste seiner letzten Mahlzeiten und ein bisschen was Erbrochenes aus dem Bart, bevor er sich mühsam und unter lautem Ächzen von der Kaimauer hochstemme. Er hatte sich mittlerweile zwar an seinen Körperumfang gewöhnt, seine alten Knochen schienen aber weiterhin Probleme damit zu haben, das massive Gewicht zu tragen. Sein Schädel brummte höllisch, als er den Blick auf die junge Dame vor sich richtete. Wobei mit "Brummen" eigentlich das konstante, undurchdringliche Hämmern gemeint war, als habe jemand einen Amboss auf seinem Haupt abgestellt und würde nun im Akkord eine mittelgroße Bestellung an Eisenwaren zusammenklöppeln. Nur unter Aufwendung höchster körperlicher Anstrengung war es dem in die Jahre gekommenen Herren möglich, die Frau vor sich zumindest annähernd in den Fokus zu bringen. Irgendwo in den hintersten, dunkelsten, verborgensten Winkeln seines Gehirns erinnerte er sich daran, dass er ursprünglich mal nicht alles doppelt gesehen hatte. Für den Moment musste er sich damit bemühen, die junge Frau vor sich gleich im Doppelpack zu sehen. Höflich wie er war, entschied er sich dazu, abwechseln die linke und dann die rechte Dame für einen Herzschlag zu mustern. Sollte sich die richtige von beiden aussuchen, welche sie war.

    »Und dieser Typ hier ist dann anschein-« Ein lautes, tiefes Rülpsen unterbrach die Ausführungen. »'tschuldigung die Dame.«, gab er höflich an und deutete - zumindest so weit seine Kleidung das zuließ - eine Verbeugung an. Keine wirklich gute Idee, denn prompt meldeten Gleichgewichtssinn, in die falsche Richtung wanderndes Essen und Kopfschmerzen gleichzeitig ihre Anwesenheit an. Sehr zu seiner Freude, denn der Schmerz in seinem Schädel ließ ihn unvermittelt zusammenzucken, wodurch das bereits auf halbem Wege befindliche Essen sich kurzerhand entschied, doch wieder abwärts Richtung Magen zu wandern. Er nahm sich vor, sich das zu merken. Kater half anscheinend gegen Kotzen. Hätte er nie gedacht.
    »Na jedenfalls ist das ja anscheinend so eine Art Edelmann.« Er versuchte nicht mal, die beiden nebeneinander schwebenden Versionen des jungen Mannes zu beachten. Jede zu schnelle Drehung seines Kopfes hätte entweder zu Schmerzen oder zu Übergeben geführt. Er war sich nicht sicher, ob er nochmal so viel Glück haben konnte wie gerade. Deswegen wollte er nichts riskieren.
    »An dem Auftritt üben wir aber nochmal, Jungchen.«, schloss er ab und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

    »Jedenfalls, euer Hochwohlgeboren«, er betrachtete zu diesem Zeitpunkt die linke Version derselben Frau, die vor ihm schwebte. »Wenn ihr so ne feine Dame seid, habt ihr vielleicht ein paar Groschen für nen armen Kerl wie mich übrig?«

    »Und hab ich das eigentlich nur geträumt oder ist das scheiß Schiff hier volle Kanne gegen die Kaimauer gedonnert?«, fragte er und beobachtete für einige Augenblicke lang, wie durch das riesige Loch im Bug des Schiffes unaufhörlich Wasser ins Innere strömte.

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