-
Kaum war er angekommen, demonstrierte Sinistro bereits seine Nützlichkeit. Tharas Hinweis und ihr eigenes schnelles Handeln konnten sie jetzt womöglich retten. Sofern sie denn aus dem Raum heraus kamen.
»Das wissen wir zwar, aber dazu müssen wir durch diese Tür!«, erklärte Arzu und deutete auf die einzige Tür im Raum. »Und dann durch die Goblins. Jetzt wo die Tür magisch verschlossen ist, kannst du sie ohne Weiteres wieder öffnen? Es sei denn, du kannst eine Leiter beschwören. Dann könnten wir auch das Fenster benutzen. Thara hat mir erzählt, du besitzt die Macht einen Golem zu rufen. Der könnte bestimmt die Goblins in die Flucht schlagen. Das Kastell hat mir zwar gesagt, dass ich eine Schwarzmagierin sei, aber zaubern kann ich nicht. Thara genauso wenig.«
Die Varanterin trat an Sinistros Seite und hakte sich bei ihm ein.
»Gewiss kannst du mir die ein oder andere Zauberformel beibringen? Bis dahin sind wir auf dich angewiesen.«, schmeichelte Arzu den Schwarzmagier.
-
Der Magielehrmeister legte seinen Kopf schief und blickte ein wenig skeptisch und kritisch auf die junge Frau herab, die sich eben an ihm untergehakt hatte. Und diese schien in dem Moment sogar noch ein wenig näher an ihn heranzurücken und mit dem liebsten Lächeln und mit den größten haselnussbraunen Augen der gesamten bekannten Welt anzuhimmeln. In diesem Moment war dem Magier klar, dass er sich gar nicht dagegen verweigern könnte, sie und auch Thara zu unterrichten.
„Aber selbstverständlich bin ich in der Lage, die Türe wieder zu entriegeln. Es kann nur niemand anderes hindurchtreten“, verlagerte Sinistro zunächst das Thema, nur um danach ein wenig über den anderen Vorschlag nachzudenken. Und über den Vorschlag einer Lehre der Magie nachzudenken. Und während er weiter so darüber nachdachte, schien die junge Arzu noch weiter auf ihn zukommen zu wollen.
„Die Magie… umgibt uns. Die Magie formt die Welt und hält sie zusammen. Und die Magie… vereint Theorie und Praxis. Nur durch die ausgiebige Recherche in der Bibliothek“, weiter kam der Hohepriester nicht, da es nun erneut donnerte und diesmal irgendetwas Großes neben der magisch verschlossenen Tür an die Wand anklopfte.
Und zwar mit einer Kraft und Wucht, dass die Wand, der Staub, die Spinnweben erzitterten und eine Wolke aus Dreck bildeten, die beinahe den gesamten Raum einnahmen. Aus dem Augenwinkel meinte der Hohepriester zu erkennen, dass sich Steine innerhalb der Wand verschöben.
„Theorie muss Warten – Praktische Demonstration!“ beschrieb der Lehrmeister nun kurz, drückte Arzu ein wenig heftiger als er wollte zur Seite, so dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor und auf dem Boden landete und er begann seine Beschwörung.
Die Augen geschlossen, die Hände zunächst an den Schläfen rechts und links konzentrierte sich der Hohepriester auf das magische Netz, um einzelne Knochen aus dem Boden, aus den Wänden und auch einfach aus dem Nichts entstehen zu lassen. Während seine Augen weiterhin verschlossen waren, bewegten sich seine Hände und Finger scheinbar unwillkürlich, als lösten sie ein kompliziertes Geschicklichkeitsspiel, doch Schritt für Schritt materialisierte sich aus dem, was der Grünäugige beschworen hatte, nun eine Art Leiter, die jedoch noch nicht starr verbunden war, sondern zwischen den knöchernen Anteilen beweglich wie eine Strickleiter.
Der Magier öffnete seine Augen und betrachtete das Werk, das sich immer noch weiter zusammensetzte.
„Ihr vorweg, Thara zuerst, du scheinst die Leichteste, achte auf dein Gleichgewicht und deine Bewegungen. Ich zuletzt- ich muss den Zauber aufrechterhalten, ehe ich euch folgen kann. Und nun- schnell!“ versuchte der mit gespielter Ruhe das weitere Vorgehen festzulegen, seine Intonation konnte die Dringlichkeit der Ausführung jedoch nicht verbergen.
-
Es wäre Thara wohl nie in den Sinn gekommen, dass sie einmal froh darüber sein würde, dass irgendetwas offensichtlich sehr großes und starkes dabei war, die Wand des Zimmers einzureißen, in dem sie festsaß. Aber in diesem Fall sorgte der ungebetene Gast auf der anderen Seite der Tür dafür, dass sie einerseits nicht weiter erbärmlich frierend in der Gegend herumstehen musste, während Sinistro einen Vortrag hielt, von dem sie ohnehin kaum einen Satz verstand, und andererseits die Gewaltphantasien gegen den Hohepriester, die plötzlich und unerwartet in ihr aufkeimten, als Arzu sich bei ihm unterhakte und ihn groß anhimmelte, ein wenig in den Hintergrund rückten.
Die Knochenleiter, die Sinistro beschworen hatte, reichte inzwischen aus dem Fenster, wo sie wie eine schmale, windige Hängebrücke über den abgesoffenen Innenhof in ein anderes Fenster auf der gegenüberliegenden Seite führte. Thara wollte schon einwerfen, dass sie überhaupt nicht wussten, ob es in dem anderen Zimmer nicht auch vor Goblins wimmelte, aber Sinistros Gesichtsausdruck verriet eine gewisse Angespanntheit, die er mit nur mäßigem Erfolg überspielen konnte. Sie hielt also lieber die Klappe und fing an, über die Leiter zu kriechen – vorsichtig und auf allen Vieren, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in das schwarze Wasser unter sich zu stürzen. Ob dieser ‚Alte‘ mit seinem Metallturm wieder auftauchen würde, um sie zu retten, falls sie fiel? Sie wollte lieber nicht darauf wetten.
Das Konstrukt schwankte weniger, als Thara befürchtet hatte. Trotzdem war es keine angenehme Kletterpartie und sie musste auf jede ihrer Bewegungen achten. Immer wieder warf sie auch einen nervösen Blick zum Brunnen – falls die Brunnenhexe bemerkte, dass das Lichtschwert fehlte und vielleicht auf die Idee kam, ihr unterirdisches Zuhause zu verlassen… Das war nichts, worüber Thara zu genau nachdenken wollte.
Meter für Meter kroch sie vorwärts. Fast hatte sie das andere Fenster erreicht, als plötzlich etwas an der Leiter rüttelte. Thara schrie kurz panisch auf und es gelang ihr nur im letzten Augenblick, sich flach hinzulegen und beide Arme um das Knochenkonstrukt zu schlingen, so dass sie nicht fiel. Die Leiter umklammernd wartete sie, ob es zu einer weiteren Erschütterung kommen würde, aber es geschah nichts.
Ohne zu wissen, was den Stoß verursacht hatte, zog Thara sich so rasch wie möglich weiter. Zum Glück war das Fenster auf der anderen Seite nicht verschlossen, so dass sie es einfach öffnen konnte. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich in den Raum plumpsen.
Das Zimmer befand sich in einem ebenso desolaten Zustand wie der Raum, aus dem sie geflohen war. Zumindest aber war er verlassen, keine Spur von Goblins oder schlimmerem. Hoffentlich blieb es dabei…
-
Bei dem Gedanken über das Konstrukt aus Knochen zu kriechen wurde Arzu unwohl. Natürlich war es ein beeindruckendes Schauspiel, wie sich die Einzelteile vor ihren Augen zu einer Leiter zusammensetzten. Dennoch sah es bestenfalls provisorisch aus! Selbst unter Tharas wirklich verschwindend geringem Gewicht wackelte die Angelegenheit bedrohlich. Was blieb ihr für eine andere Wahl?!
Was auch immer von außen gegen die Wand hämmerte, drängte Arzu zur Eile. Vorsichtig stieg sie auf die Fensterbank und kniete sich herunter, um das Ende der Leiter zu greifen. Ihre großen Augen waren auf das tiefe Gewässer unter sich gerichtet. Kein Zeichen des Alten und seines Ungetüms. Vielleicht kam Vabun auch gar nicht mehr zurück, sondern blieb bei seinem neuen Kameraden. Dann wären sie tatsächlich aufgeschmissen. Nun gut. Sie hatten Sinstro und seine windig anmutende Leiter.
Langsam setzte die Varanterin eine Hand vor die andere und bewegte sich auf allen Vieren voran. Sie war dankbar für ihre hohen Lederstiefel, denn ihre Knie würde den Ausflug über die Knochenleiter ansonsten nicht heil überstehen. Je weiter die Schwarzmagierin zur Mitte kam, desto mehr wirkten sich selbst die kleinsten Bewegungen aus. Mehrere Male musste Arzu inne halten, bis sich das Konstrukt unter ihr wieder beruhigt hatte. Die knarzenden und knackenden Geräusche überhörte sie dabei geflissentlich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichte sie schließlich das andere Ende und Thara reichte ihr aus dem Fenster die Hand. In dem Augenblick hörte Arzu ein entferntes, kaum hörbares Geräusch, bevor sie sich endgültig in die Sicherheit des Zimmers schwang.
Moopsy...
-
Während der Magier weiterhin die Verbindung zu seinem Knochenkonstrukt aufrechterhielt, rieselte der Staub von den Decken und er musste wieder und wieder ein Husten unterdrücken. Doch scheinbar hatten es die beiden Frauen geschafft, so dass es nun an ihm war, den Oceanus Internus zu überqueren, wie er die „kleine Überschwemmung“ im Innenhof liebevoll getauft hatte. Gleichzeitig, denn das war den beiden jungen Frauen sicher nicht in den Sinn gekommen, wollte er sich als Entdecker des Oceanus Internus verewigen. Und dazu musste der nächste Weg wohl in die Bibliothek führen.
Gut- musste zunächst über die knöcherne Stegbrückenkonstruktion führen. Und danach irgendwann in die Bibliothek.
Ein erneutes Hämmern an die Wand und ein Krachen an derselben riss den Hohepriester aus seinen Gedanken und er kletterte nun vorsichtig auf die von ihm beschworene Konstruktion.
Arzu blickte in Richtung des Grünäugigen, der ganz im Stil eines Hohepriesters erhobenen Hauptes und Erhaben über seinen beschworenen Steg schreiten wollte.
Wollte traf es in diesem Fall sehr gut, da seine Knie wackelten, die Knochen unter ihm wackelten und gleichzeitig das Brückenkonstrukt hin und her schwang.
Nach wenigen Metern, genau genommen noch fast im Fensterrahmen des Kämmerchens aus dem die beiden Magierinnen und er geflohen waren, beugte er sich herunter und so überquerte er, den Blick stets nach unten auf den von ihm entdeckten Ozean, das neuentdeckte Gewässer.
Als er nun ungefähr die Hälfte des Weges geschafft hatte, gab es einen erneuten Knall und ein Krachen und kurze Momente später stob eine riesige Wolke aus dem Fenster des Ortes, von dem sie gerade noch rechtzeitig geflohen waren. Sinistro erkannte, dass nun auch das Wesen oder die Wesen, die so freundlich an das Zimmer klopften, leichtes Spiel hätten, ihm zu folgen. Und so intensivierte er seine Bemühungen und man könnte das Tempo, das er nun an den Tag legte, als flink bezeichnen. Elegant konnte diese Art der Flucht letztendlich nie sein.
Als er nun endlich an der gegenüberliegenden Seite angekommen war, beeilte er sich umso mehr, die Verbindung zu den Knochen aufzulösen und sie wieder an ihren ursprünglichen Lagerort zu entlassen.
Sollten sich Kreaturen aufgemacht hatten, sie zu verfolgen, so landeten sie nun im Wasser.
„Ähm… und nun?“ stellte er die offensichtliche Frage und wartete ab, ob sich die beiden Frauen bereits über das weitere Vorgehen ausgetauscht hatten.
-
Thara hob auf Sinistros Frage ihn überrascht eine Augenbraue. War er nicht der Hohepriester und sollte wissen, wie es weiterging? Sinistro bemerkte wohl den merkwürdigen Blick, den sie ihm zuwarf, und als er ihn erwiderte, wandte sich Thara hastig ab und stammelte eine leise Entschuldigung. Was ihr wiederum einen kritischen Blick von Arzu einbrachte, so dass sie sich reflexartig fürs Entschuldigen entschuldigte und ihr gleich darauf das Blut ins Gesicht schoss, als Arzu leicht den Kopf schüttelte.
„W-w-wir m-müssen den… äh… a-a-also das Licht… L-lichtschwert und d-d-die Rune müssen zu… zusammen…“, platzte Thara heraus in der Hoffnung, die unangenehme Situation damit beenden zu können.
„Wir müssen das Lichtschwert und die Weiße-Magie-Rune irgendwie zusammenfügen“, übernahm Arzu die Erklärung und Thara nickte zustimmend. Leider war der Einzige, der vermutlich wusste, wie das ging, Vabun, und der war noch immer abgetaucht. Der Plan lautete daher nach wie vor, im Reflecktosirum auf ihn zu warten. Zumindest Thara wünschte sich inzwischen auch nichts sehnlicher, als einfach eine Weile vor dem angeheizten Kamin zu sitzen und sich aufzuwärmen.
Nachdem ihr Ziel also klar war, öffnete Sinistro vorsichtig die Tür und spähte auf den Gang hinaus. Zum Glück war hier die Luft rein, keine Goblins weit und breit. Das hieß… keine lebenden Goblins.
Während sie sich zügig in Richtung Treppenhaus bewegten, fielen ihnen immer wieder seltsame, ledrige Häuflein auf, die hier und da auf dem Gang lagen. Sinistro, ganz der Wissenschaftler, hielt es nicht lange aus, einfach nur an dieser Merkwürdigkeit vorbeizulaufen, und so sahen sie sich eines der ‚Lederbündel‘ aus der Nähe an. Aus dem, was sie entdeckten, wurde keiner von ihnen sonderlich schlau: Es handelte sich um Häute von Goblins, jedoch vollkommen ohne Innenleben. Weder Fleisch von Knochen waren übrig, nur noch die bloßen, leeren Hüllen. Thara sah sich beunruhigt um. Konnte es sein, dass die Goblins deshalb diesen Gang mieden – weil sich hier etwas noch Schlimmeres breitgemacht hatte…?
-
Weißwurst! Sinistro und wahrscheinlich auch die beiden Frauen wussten nicht, was eine Weißwurst war, aber der geneigte Leser mag sich die Zeit nehmen, sich einmal einen Teller nach dem Genuss einer dieser Würste anzusehen. Da liegt ein kleines, zusammengeschrummpeltes Etwas am Tellerrand. Die Weißwurst-Pelle! Im Idealfall: „ausgezuzelt“! Und genau dasselbe nur in grün lag da vor den Dreien. Außerdem war es natürlich erheblich größer, derber in der Konsistenz, härter auf der Oberfläche und zusammengefasst kein schöner Anblick. Rein vom Material hätte es sicher einen guten Handschuh abgegeben – wenn es nicht so optisch unansehnlich gewesen wäre.
Der Magielehrmeister legte seine Stirn in Falten und nahm diese goblinhafte Hülle schnurstracks an sich und warf sie sich über die linke Schulter.
„Das wird uns noch nützlich sein“, murmelte er und deutete mit einem Nicken seines Kopfes, dass sie nun ihren Weg fortsetzen sollten. Nicht, ohne dass er unbemerkt von den beiden Magierinnen über die Schulter blickte und den Gang inspizierte. Deutlich forderte er seine Begleiterinnen nun zu mehr Tempo auf.
Es dauerte nicht lange und sie kamen an die Treppe, die ins Untergeschoss führte. Zumindest an die Stelle, an der sie sein sollte. Da war sich der Grünäugige ganz sicher. An ihrer Stelle jedoch war nur der riesenhafte Eingang einer Art Röhre zu sehen, die steil und eher uneinladend in die Tiefe führte. Der Lehrmeister musste unweigerlich grinsen.
„Schnappt euch auch noch so ein Ding und dann mir nach“ forderte er Thara und Arzu auf, während er selber die Hülle schon auf den Boden geschmissen hatte, darauf Platz genommen hatte und die Dinger, die wohl einst die Arme des Goblins waren, als Steuer in die Hände genommen hatte. Einen kurzen Moment dauerte es, dann stieß sich der Hohepriester ab und rutschte auf der Goblinhülle in die unbekannte und dunkle Tiefe.
-
Bei dem Fund der Goblinhüllen wurde Arzu unmittelbar so übel, dass sie sich die Hand vor den Mund halten musste. Bei genauerem Hinsehen fehlten nämlich nur die Knochen der kleinen Monster. Alles andere war hingegen noch vorhanden. Ohne die stützende Struktur natürlich vollständig kollabiert. Es stellte sich unweigerlich die Frage, wie lange die Goblins noch am Leben geblieben waren, nachdem man ihnen die Knochen ausgesaugt hatte.
Dass Sinistro so nonchalant mit den Fleischsäcken umging und sogar einen davon mitnahm, widerte die Varanterin an. Darüber konnten die hübschen grünen Augen nicht mehr hinwegtäuschen. Es schüttelte Arzu bei dem Gedanken, sich an seine Seite geschmiegt zu haben. Wer wusste denn, was er vor der Entführung durch den Spiegel getan hatte?!
Thara schien Arzus Ekel schnell zu bemerken und erkundigte sich in ihrer typisch schüchternen Art, um das Wohlbefinden der Varanterin. Inzwischen hatte sich die andere Hand an ihrem Mund hinzugesellt. Arzu konnte es nicht länger ertragen und rannte in eine Ecke, um sich zu übergeben. Schwer atmend starrte sie auf das Erbrochene am Boden und spuckte dann aus, um sich des säuerlichen Geschmacks im Mund zu entledigen.
»Das ist ja absolut widerlich!«, erklärte Arzu als sie wieder zu Thara und den leeren Goblins zurückkam. Ein Blick in das große Loch in welches Sinistro völlig unbedacht auf der knochenlose Hülle herabgerutscht war und Arzu wusste, dass sie sich in einer Zwickmühle befanden. Einen anderen Weg gab es nicht, um zum Schwarzmagier wieder aufzuschließen, als durch das dunkle Loch zu folgen. Und dazu mussten sie wohl oder übel auf der Haut herunter rutschen. Bei dem Gedanken kam es Arzu sogleich wieder hoch. Etwas bleich um die hübsche Nase, kam sie danach zu Thara zurück.
»Kannst du bitte... Ich meine... Das Steuern, übernimmst du das bitte?«
-
Der Überresteschlitten unter ihm hatte einen guten Dienst erwiesen, die ledrige grüne Oberfläche war jedoch nun, da der Magielehrmeister im Erdgeschoss und in der Nähe der Eingangshalle angekommen war, schon ordentlich in Mitleidenschaft gezogen.
Während er nun auf Thara und Arzu wartete, untersuchte er das vor ihm liegende Überbleibsel ein wenig genauer.
Zunächst einmal breitere er es flach wie einen Teppich auf dem Boden aus, die Konsistenz war, wie er schon bei der Fahrt darauf feststellen konnte, weich und eher bequem, da sich die darin zu befindenden, schwereren Anteile als leicht beweglich erwiesen. In seinem Labor hätte der Grünäugige nun wahrscheinlich das Ding auf seinen Untersuchungstisch gelegt und nach einer ersten magischen Inspektion das Skalpell benutzt, um sich haptisch und optisch ein Bild des Verbliebenen zu machen. Hier jedoch…
Hier jedoch musste es ebenfalls Laboratorien und Instrumente und Gerätschaften geben, die man dazu nutzen konnte. Und während er hier ohnehin nur warten müsste, bis die zwei Magierinnen ankamen…
Ehe er jedoch dazu kam, seinen Plan in die Tat umzusetzen, hörte ein Poltern und Rumpeln aus der Röhre und war sich sicher, dass die Zwei bald hier ankommen müssten. Also entschloss er sich, doch nur seine magischen Fähigkeiten zu nutzen. Alles Weitere könnte man ja eventuell später in Angriff nehmen.
Der Grünäugige kniete sich nun auf den Boden und seine Hände berühren das Ding, das ihm zuvor als Schlitten nutzte. Die Augen hatte er schon wieder geschlossen und er sammelte die magische Energie aus der Umgebung ein, die er dazu nutzte, sie auszusenden, um das Innere des Dings zu erkunden. Hierbei sollte ihm zugutekommen, dass seine magischen Fähigkeiten auch das Heilen umfasste, so dass er auch anatomische Strukturen in dem Ding erkennen könnte. Denn was der Hohepriester nun erkannte, war, dass es sich vor ihm um ein Lebewesen handelte, das alle Organe aufwies, die es zum Leben benötigte. Lediglich das stützende Knochengerüst fehlte, was dazu führte, dass insgesamt der Zusammenhalt fehlte und das Ding, er wollte es ab nun als Wesen bezeichnen, eines eher qualvollen Todes gestorben sein müsste.
Wesen – als der Grünäugige näher schaute und es genauer untersucht hatte, erkannte er, dass es sich tatsächlich um einen Goblin handelte. Und er erkannte im Nacken des Goblins eine Verletzung, die einem Biss gleich aussah. Zumindest hatte er jetzt Sicherheit und konnte den beiden Magierinnen erklären, dass dieser Goblin keines natürlichen und keines magischen Tods gestorben war. Was jedoch mit den Knochen geschehen wer, konnte er natürlich nicht herausfinden. Hatte ein Schwarzmagier diese Knochen aus dem lebenden Wesen einfach herausbeschworen? War so ein Vorgehen überhaupt möglich? Sinistro kannte nur die Möglichkeit, sterbliche Überreste zu beschwören – Überreste, die sich in seiner Nähe befanden oder Überreste aus Beliars Reich, die ihm nach Durchdringen der Sphären hier zu Diensten waren. Aber das Skelett aus einem lebenden Wesen zu beschwören? Das musste ein mächtiger Zauber sein. Oder war der Goblin durch den Biss bereits tot und die Knochen wurden durch den Magier von der nächsten Quelle beschworen? Die ganze Geschichte wurde immer verwirrender. Andererseits: sie waren hier auch im Kastell, aber genauso nicht im Kastell… wie hätte der Hohepriester schon wissen können, was hier möglich wäre und was nicht.
Erneut hörte er das Poltern und Rumpeln und sah vom Köper des Goblins auf. Thara und Arzu hätten sich doch sicher bemerkbar gemacht, wenn Sie sich näherten…?
-
„J-ja, sicher…“, antwortete Thara auf Arzus Frage, ob sie das Steuern übernehmen konnte. Die Varanterin wirkte ein wenig mitgenommen, die Fassade der Selbstsicherheit, die sie sonst vor sich hertrug, hatte ein paar Risse bekommen. Thara war jedoch überzeugt, dass Arzu dadurch nur noch hübscher aussah. Ein bisschen nahbarer. Ein schüchternes Lächeln huschte kurz über Tharas Gesicht, bevor sie sich schnell abwandte.
Sie konnte Arzu ihre Reaktion auf die knochenlosen Überreste auch keineswegs übelnehmen. Der ganze Korridor war von einem unangenehmen Verwesungsgeruch erfüllt, und einige der Goblinhüllen lagen offensichtlich schon eine ganze Weile hier, so dass sie sich trotz der kühlen Umgebung in einem fortgeschrittenen Zustand der Zersetzung befanden. Das, zusammen mit dem verstörenden Anblick der völlig verdrehten Körper und Gliedmaßen, konnte einem schon den Magen umdrehen.
Es war Thara sogar ein wenig peinlich, dass sie selbst nicht ähnlich reagierte wie Arzu, aber der Gestank, so unangenehm er auch sein mochte, war nichts im Vergleich zur Gosse des Armenviertels oder der Auslage von Orins Fischstand am Abend eines heißen Sommertages. Schmerzlich wurde ihr mal wieder bewusst, wie sehr sich doch ihre Herkunft von Arzus unterscheiden musste.
Während Arzu dezent Abstand wahrte, machte sich Thara daran, einen geeigneten Rutsch-Untersatz für sie beide zu finden. Die ersten Goblins, die sie sich näher ansah, waren jedoch schon in einem viel zu fortgeschrittenen Verwesungsstadium, als dass sie in Frage gekommen wären. Wenn man versucht hätte, sich auf einen von ihnen draufzusetzen, wäre das verflüssigte Innenleben wahrscheinlich aus sämtlichen Körperöffnungen gespritzt. Keine angenehme Vorstellung, zumal selbst Thara sich in ihrer Nähe gezwungen sah, durch den Mund zu atmen, so penetrant war der Gestank dieser vor sich hin faulenden Kadaver. Hinzu kamen Wolken fetter, träger Schmeißfliegen, die sich ärgerlich brummend in die Luft erhoben, sobald sie ihnen zu Nahe kam, und den Blick freigaben auf Legionen sich windender Maden, die sich an den toten Goblins gütlich taten.
Thara machte einen Schritt zurück und wedelte mit der Hand, um die Fliegen zu verscheuchen. Sinistro hatte wohl Glück gehabt, dass er eine bereits recht alte und daher schon ledrig getrocknete Haut gefunden hatte, aber hier schienen die Kadaver allesamt frischer zu sein. Sie inspizierte einen toten Goblin nach dem anderen, aber keiner von ihnen war in einem Zustand, dass er sich als rutschbarer Untersatz geeignet hätte. Ihr wurde lediglich klar, dass diese Goblins über längeren Zeitraum hier gestorben – oder nach ihrem Tod hier hingebracht worden – waren, da sie sich in teilweise recht unterschiedlichen Graden der Zersetzung befanden. Nur leider war diese Erkenntnis für die anstehende Aufgabe ziemlich nutzlos.
Gerade als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und fürchtete, dass sie einfach auf dem Hintern die Röhre würden hinunterrutschen müssen, fiel Tharas Blick auf einen Körper, der im Schatten einer kleinen Nische lag, weshalb sie ihn nicht früher gesehen hatte. Die Haut des Goblins hatte noch einen kräftigen dunkelgrünen Farbton, im Gegensatz zu der grauen und schwarzen Färbung, die die verwesenden Kadaver aufwiesen, und es krochen auch auffällig wenige Fliegen auf ihm herum.
Thara kniete sich neben den toten Goblin und zog vorsichtig an einem seiner Arme. Er war schlaff – natürlich, so ohne Knochen –, aber er zerfloss nicht gleich unter ihren Fingern, was alles war, worauf es ankam. Als sie den schlabbrigen Körper umdrehte, kam zudem ein kruder Dolch zum Vorschein, der in einer grob genähten Lederscheide am Gürtel des toten Goblins steckte. Thara zog die Klinge heraus. Sie war schartig und hatte zahlreiche Rostflecken, aber als Thara kurz prüfend mit dem Daumen über die Schneide fuhr, stellte sich diese als schärfer heraus, als sie auf den ersten Blick aussah. Kurzentschlossen löste Thara den Strick, der dem Goblin als Gürtel gedient hatte, und schlang ihn sich um die Hüfte. Mit dem Goblindolch an ihrer Seite fühlte sie sich zumindest ein kleines bisschen sicherer.
„I-ich denke, der hier… geht!“, verkündete sie anschließend und schleifte den knochenlosen Leichnam zur Öffnung der Röhre, wo sie ihn ausbreitete wie einen obszönen, fleischigen Teppich. Das Gesicht des Goblins wirkte besonders seltsam, so deformiert und eingedrückt in Ermangelung eines Schädels. Sein Mund stand offen und wo sich normalerweise die Reihen scharfer gelber Zähne befunden hätten, sah Thara nur dunkelrotes, löchriges Zahnfleisch. Hatte es die Zähne mitsamt den Knochen aufgelöst? Wer oder was bei Beliar war zu so etwas im Stande?
„Ich soll mich da draufsetzen?“, riss Arzu Thara aus ihren Gedanken. Die Varanterin sah aus, als müsste sie eine nicht unerhebliche Portion an Willenskraft aufbringen, um nicht erneut zu kotzen, und deutete auf den Goblin. Genauer gesagt, deutete sie auf das untere Ende des Goblins, wo sie würde Platz nehmen müssen, wenn Thara das Steuern übernehmen sollte.
„Oh…“, sagte Thara und lächelte entschuldigend, „T-t-tut mir leid, d-daran… ha-hatte ich nicht gedacht… ähm…“
Ausnahmsweise schalt Arzu Thara nicht für die Entschuldigung, sondern zog nur leicht angewidert die Mundwinkel nach unten. Als Thara den Gürtel des Goblins an sich genommen hatte, hatte sie nicht daran gedacht, dass der Strick auch das einzige war, das den Lendenschurz der Kreatur an seinem Platz hielt. „E-entschuldige… e-e-einen Moment…“, stotterte Thara schuldbewusst und lief los, um den Lendenschurz zu holen.
Gerade als sie den schmierigen Lumpen aufheben wollte, vernahm sie ein Geräusch, das aus einem dunklen Alkoven ein Stück den Gang hinunter kam. Ein tiefes, nasses Gurgeln, gefolgt von einem Klatschen, Schaben und Knirschen.
Thara erstarrte, den Goblin-Lumpen in der Hand, und kniff ihr sehendes Auge zusammen in dem Versuch, in den Schatten etwas zu erkennen. Etwas, das auf den ersten Blick wie eine Schlange aussah, schob sich auf den Korridor. Einen Moment später wurde Thara jedoch klar, dass es sich um einen Arm handelte – einen Arm, der sich knochenlos hin und her wand…
Thara blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, sich von dem makabren Schauspiel abzuwenden, das sich ihr bot. Dem Arm folgte ein großer, unförmiger Leib. Thara hatte keine Ahnung, was dieses konturlose Ding, das sich langsam auf sie zu wälzte, einst gewesen war, aber es war deutlich größer als ein Goblin. Selbst in seinem knochenlosen Zustand überragte sie der Fleischberg beinahe. Er wälzte sich noch einmal herum, ein Auswuchs, bei dem es sich um den Kopf handeln musste, hing von der unförmigen Masse herunter und offenbare einen zahnlosen Schlund, in dem eine lange rosa Zunge unkontrolliert herumflappte, während das Ding diese gurgelnden, fast klagenden Geräusche ausstieß. Plötzlich ploppte ein schleimiger weißer Ball aus einer Öffnung neben dem Mund und baumelte an einem rosa Strang hin und her – es dauerte einen Moment, bis Thara verstand, dass es sich um eines der Augen der Kreatur handeln musste, das, ohne sicher in einen Schädel eingebettet zu sein, einfach zwischen den schlaffen Augenlidern hindurchgerutscht war…
Thara schüttelte langsam den Kopf. Wie konnte es sein, dass dieses Wesen noch am Leben war?
Plötzlich wurde sie am Oberarm gepackt und relativ unsanft nach hinten gezogen. Thara zuckte erschrocken zusammen, aber es war nur Arzu, die den Anblick der knochenlosen Kreatur wohl deutlich weniger interessant fand.
„Komm schon, nichts wie weg hier!“, zischte sie und würgte kurz noch einmal, wobei sie Thara hinter sich her zu ihrem Goblinschlitten zog. Thara entschuldigte sich stammelnd und verlor keine weitere Zeit. Sie breitete den Leinenfetzen über den Kronjuwelen des toten Goblins aus und nahm auf dessen Brustkorb platz, so dass sie die Arme des Kadavers zum Lenken benutzen konnte (jedenfalls stellte sie sich das so vor, ob es überhaupt funktionieren konnte, hatte sie keine Ahnung). Arzu setzte sich hinter sie und schlang die Arme um Tharas Hüfte, und trotz der absurden Situation, in der sie sich befanden, genoss Thara das Gefühl, wie sich die schöne Varanterin an sie presste.
Leider blieb ihr nicht viel Zeit dafür, denn das knochenlose Monster kam langsam nähergekrochen. Gemeinsam schoben sich die beiden Magierinnen auf dem toten Goblin in Richtung der Röhre.
Gerade, als sie kurz davor waren, in die Dunkelheit zu rutschen, spürte Thara plötzlich ein leichtes Zucken unter ihren Händen. Konnte es etwa sein, dass…? Nein, das war unmöglich! Der Goblin zumindest musste tot sein!
„Und los!“, verkündete Arzu und gab ihnen einen letzten Schubs, der sie über die Kante beförderte, gerade als der Goblin die Augen aufriss.
Und anfing zu schreien.
Es war ein spitzer, quietschender Schrei wie rostige Nägel, die über eine Schiefertafel kratzten, der in Tharas Ohren dröhnte, während sie auf ihrem noch lebenden Untersatz die Rutschbahn hinabschossen. Die Wände der Röhre glommen leicht in einem geisterhaften Licht, so dass es nicht gänzlich finster war, aber Thara war sich nicht sicher, ob sie das als Segen betrachten sollte, denn so konnte sie sehen, wie die Augen des Goblins unkontrolliert in den nicht mehr vorhandenen Höhlen rollten und sie musste daran denken, wie dem anderen Fleischsack das Auge aus dem Gesicht gehangen hatte.
Und das Kreischen! Das Geräusch bohrte sich wie Dolche in ihr Hirn, verstärkt durch den Widerhall innerhalb der engen Röhre, die sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hinabrasten. Der Untergrund war nicht ganz eben und Thara bemerkte, wie kleine Huckel und Kanten immer wieder Haut- und Fleischstücken aus ihrem unfreiwilligen Untersatz rissen, bis sie eine immer breiter werdende Blutspur hinter sich herzogen.
Zu allem Überfluss machte die Röhre auch noch einige scharfe Kurven, und Thara zog instinktiv an den Armen des Goblins, um zu lenken. Sie spürte das Zucken der Muskeln in dem knochenlosen Fleisch und seine Finger wanden sich wie Würmer, während sich das Gesicht der unglückseligen Kreatur auf immer groteskere Weise verformte.
Und während der ganzen Zeit schrie und kreischte der Goblin, er wollte einfach nicht aufhören…
Die albtraumhafte Rutschpartie dauerte wahrscheinlich kaum mehr als einige Sekunden, aber es kam Thara vor, als wären Stunden vergangen, bis endlich das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels auftauchte. Es ging noch einmal steil nach unten, das unmenschliche Geschrei des Goblins erreichte eine neue Höhe, und dann schossen sie aus der Öffnung der Röhre hinaus in die Eingangshalle des Kastells. Der Goblin schlitterte noch einige Meter über den Marmorboden, wobei er eine breite Blutspur hinterließ. Sein ganzer Rücken musste vollkommen gehäutet worden sein. Und trotzdem… trotzdem lebte er noch immer!
Während Arzu sich einfach zur Seite fallen ließ, sich so rasch wie möglich aufrappelte und irgendwo hin verschwand, blieb Thara noch auf dem Goblin sitzen. Er hatte jetzt aufgehört zu schreien, gab aber ein konstantes, gequältes Gurgeln von sich, während blutiger Speichel aus seinen zusammengesackten Mundwinkeln sickerte. Eines seiner Augen war weit aufgerissen und sein Blick verriet ein kaum vorstellbares Ausmaß an Schmerz und purem Grauen.
Erneut konnte Thara sich nicht abwenden. Unangenehme Fragen gingen ihr durch den Kopf. Wie fühlte es sich an? Wie fühlte es sich an, knochenlos und halb gehäutet zu sein, und dennoch nicht sterben zu können? Wie konnte das überhaupt möglich sein? War es die Magie des Kastells, die ein derart grausames Spiel spielte?
Der Goblin krächzte und gurgelte noch immer. Wie in Trance zog Thara den Dolch, setzte ihn an seinem zusammengesunkenen Hals an und stieß mit einem kräftigen Ruck zu. Heißes Blut schoss aus der Wunde über ihre Hand und ihren Unterarm, besudelte ihr Kleid. Vielleicht hatte sie eine Schlagader erwischt. Dessen ungeachtet sägte sie mit der schartigen Klinge durch das weiche, nachgiebige Fleisch, und als sie die Knorpel von Luft- und Speiseröhre durchtrennte, erstarb das Röcheln. Ein letztes Mal spürte sie die Muskeln des Goblins unter sich zucken, dann lag er endlich still.
Thara erhob sich langsam und wich ein paar Schritte vor dem blutigen, geschundenen Ding zurück. Alle Kraft verließ sie. Der Dolch glitt ihr aus der Hand und landete klirrend auf dem Marmorboden, ihre Knie fühlten sich auf einmal so weich an wie Butter. Sie taumelte zur nächsten Wand und ließ sich langsam daran hinunterrutschen, bis sie sich auf dem Boden zusammenrollte.
Diesmal lag es nicht an der Kälte, dass sie am ganzen Körper zitterte.
-
Nicht nur Sinistro besaß diese morbide Faszination mit den Überresten der Goblins. Zu Arzus Leidwesen erwies sich Thara als nicht minder interessiert daran. Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen gehörte zu einem Schwarzmagier wie der Sand in die Wüste gehörte. Doch musste man sich nicht darin suhlen wie ein Mastschwein. Yarik hätte Arzus Begleitern zweifellos einen strengen Blick der Missbilligung geschenkt. Die Varanterin war indes zu sehr damit beschäftigt, sich nicht noch einmal übergeben zu müssen. Denn die blutige Rutschfahrt und die Erkenntnis, dass die Überreste noch einen Funken Leben in sich trugen, waren Arzu ein Graus.
Als sie endlich in der Eingangshalle angekommen waren, trat die Schwarzmagierin beiseite und atmete tief durch. Aus dem Augenwinkel beobachtete Arzu, wie Thara der Agonie des Goblins ein Ende bereitete und sich anschließend wie ein kleines Häufchen Elend zusammenrollte. Vielleicht gab es noch etwas Hoffnung für das dürre Mädchen.
»Ein großartiger Plan!«, raunte Arzu den Schwarzmagier an und deutete auf die Spur von Eingeweiden und Blut, die sie hinterlassen hatten. »Ich will nur hoffen, dass wir den Goblins nicht in die Hände fallen.«
Ohne jeden Zweifel würde es die Monster wenig interessieren, dass sie nicht für das Schicksal ihrer knochenlosen Kameraden verantwortlich waren. Arzu sah sich bereits in einem Kochtopf der Kreaturen schwimmen. Übel nehmen könnte sie es ihnen nicht.
Dann ging die Schwarzmagierin zu Thara herüber und hockte sich neben sie.
»Komm schon. Wir müssen weiter.«, sagte sie in einer sanften Stimme. Während sie Thara auf die Beine half, wandte sich Arzu erneut an Sinistro. »Das wäre der perfekte Zeitpunkt uns ein wenig Magie zu zeigen, damit wir uns zumindest zur Wehr setzen können.«
-
Arzus Nettigkeit dem Hohepriester gegenüber hatte sich nun, nachdem sie und Thara die Röhre auf einem scheinbar zumindest halb lebendigen Goblin heruntergerutscht waren, beinahe vollkommen ins Gegenteil verändert. Wut und Ärger schienen dem männlichen Teil dieses ungleichen Trios entgegenzuwehen.
„War die schnellste Möglichkeit, hierherzukommen. Und wie dein Körper ausgesehen hätte, ohne dass du auf irgendwas geritten wärest, kannst du dir ja an dem jämmerlichen Rest von Goblin ansehen, der da liegt. Blieb wohl die bestmögliche Lösung… egal, wie eklig dir das vorkommen mag…“ zuckte er mit den Schultern und kniete sich kurz über den verbliebenen Körper, dem Thara gütig den Tod geschenkt hatte. Auch hier fand er die Spuren im Nacken, die er auch an seinem Untersatz nach eingehender Untersuchung feststellen konnte.
Nachdem er nun die beiden jungen Frauen aufgefordert hatte, ihren Weg ins Refektorium zu suchen und er Thara kurz beiseite genommen hatte, um ihr zu sagen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, den Goblin zu erlösen, begann er, ein wenig über das allumfassende Netz der Magie zu erzählen, aus dem die beiden jungen Frauen versuchen mussten, zunächst einmal ihre Kraft zu ziehen, um überhaupt Zauber wirken zu können. Er versuchte, ihnen die Möglichkeiten klarzumachen, die sie hatten, ihre Umgebung zu beeinflussen. Und er wollte, dass die beiden Magierinnen zunächst versuchen sollten, die sie umgebende Magie überhaupt zu erkennen.
Während der Lehrmeister erzählte und erzählte, hatten sie das Refektorium erreicht und nachdem Sinistro über die an diesem Ort nicht bestehende Rundumversorgung informiert wurde, näherte er sich einem Kamin und forderte die Frauen auf, ihm zu folgen.
„Egal, wie erfahren, es benötigt Konzentration, also bitte keine Ablenkung“, merkte Sinistro an, während er seine Gedanken sammelte und sich anstrengte, das Netz der Magie zu finden, zu fühlen, zu greifen und zu manipulieren. Und anders, als es sonst der Fall war, leuchtete das allumwebende Netz hier an diesem Ort für ihn und die Magierinnen sichtbar.
Unweigerlich musste er grinsen, während er vor seinem geistigen Auge eine Schattenflamme beschwor, deren Energie er in seinen Fingern zu sammeln schien. Man konnte regelrecht sehen, wie der Grünäugige eine gen Handfläche gehende Bewegung mit den Fingern seiner rechten Hand machte, um mehr und mehr der magischen Energie aufzunehmen.
„Je nach Kraft, je nach Können des Anwenders ist es möglich, einen Zauber aufzuladen und zu beeinflussen. Ihr werden gleich eine Schattenflamme sehen, die die Holzscheite hier in Flammen setzen sollte“, sprach der Hohepriester, streckte seine rechte Hand blitzartig aus und öffnete seine Finger, so dass eine Schattenflamme sie verließ und die Holzscheite, wie angekündigt, in Flammen setzte.
-
Fasziniert betrachte Arzu das leuchtende Netzwerk aus Magie, welches Sinistro für sie sichtbar gemacht hatte. Mit ihrer Hand fuhr sie durch die einzelnen Fäden, um sie zu berühren. Doch bis auf ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen spürte die Schwarzmagierin nichts. Das eigentliche Kunststück folgte erst noch. Arzu konnte regelrecht mit ansehen, wie Magie aus dem Netz in Richtung von Sinistros Hand floss als er seinen Zauber beschwor und von außen mehr magische Energie nachfolgte. Es mutete fast so an, als ob der Schwarzmagier Wasser aus einem Brunnen schöpfte.
Vielleicht musste Arzu ihre Haltung Sinistro gegenüber noch einmal überdenken. Er war ein eigenartiger, schwafelnder Kauz. Gutaussehend, doch viel zu sehr in seiner eigenen kleinen Welt, wie es schien. Wie schade. Doch es war ein Makel, über den Arzu hinwegsehen konnte. Zumindest wenn es darum ging von Sinistro zu lernen. So wie sie es nämlich einschätzte, machte der Schwarzmagier das nicht zum ersten Mal.
Nachdem Sinistro das Gehölz im Kamin in Flammen gesetzt hatte, kamen sogleich eine Menge Fragen in der Varanterin hoch.
»Wieso beherrschst du denn Feuer?«, wollte Arzu wissen. Zwar sah die Flamme alles andere als natürlich aus, doch Feuer blieb Feuer. »Und gibt es Orte, wo keine Magie vorhanden ist?«
-
Thara war Sinistro und Arzu schweigend ins Reflekorium gefolgt und dabei ihren eigenen Gedanken nachgehangen, so dass Sinistros Vortrag auf dem Weg für sie kaum mehr als ein Hintergrundrauschen dargestellt hatte. Die Ereignisse auf der Rutsche machten ihr noch immer zu schaffen. Das Bild des Goblins, der Qualen, die sie in seinem eingedrückten Gesicht gesehen hatte, stand ihr noch immer viel zu lebhaft vor Augen. Was hatte diese Kreatur getan, um so eine Strafe zu verdienen? Noch am Leben zu sein, ohne Knochen – wie war das überhaupt möglich?
Die Antwort auf diese Frage war natürlich auf den ersten Blick recht offensichtlich – Magie. Die Magie war, wie Sinistro eindrücklich vorführte, überall um sie herum. Aber daran, dass die ganze Zeit irgendwelche sichtbaren magischen Effekte passierten, hatte Thara sich inzwischen längst gewöhnt. Im Kastell gehörte das schließlich zum Alltag, und in dieser sonderbaren Version des Kastells, in der sie sich gerade befanden, vielleicht sogar noch mehr.
Aber warum hatte die Magie des Kastells diese knochenlosen Kreaturen am Leben erhalten? Oder war es vielleicht doch etwas oder jemand anderes, der dafür verantwortlich gewesen war? War es einfach nur ein zufälliger Nebeneffekt der allumfassenden Magie, oder steckte bewusste Absicht dahinter? Das war die Frage, die sie sich nicht beantworten konnte, und die ihr schlicht Angst machte.
Selbst Sinistros eindrückliche visuelle Demonstration des magischen Geflechts konnte ihr daher nur mäßiges Interesse entlocken. Immerhin hatte der Hohepriester die Geistesgegenwart besessen, bei dieser Gelegenheit gleich den Kamin zu entzünden. Thara schlurfte zu dem Feuer und ließ sich wenig elegant davor einfach auf den Hintern plumpsen, so nah, dass die Hitze schon nach kurzer Zeit fast wehtat. Trotzdem rückte die nicht von den Flammen ab. Mit einer seltsamen Faszination betrachtete sie ihre Hände, während das Blut des Goblins an ihnen schnell trocknete, und versuchte, die Klinge des Dolches am Saum ihres Kleides abzuwischen.
Sinistro redete im Hintergrund weiter, aber sie hörte ihm kaum zu.
-
„Magie umgibt uns alle – immer – überall. Sie ist nur im Normalfall nicht so gut sichtbar wie es hier der Fall ist. Die Bibliothek bietet hunderte von Büchern, die versuchen, den Ursprung der Magie zu beschreiben. Als ich anfing, mich mit der Magie zu beschäftigen, konnte ich das Netz noch nicht sehen – es war mir verschlossen, ein Buch mit sieben Siegeln. Ich nutzte magische Steine, sogenannte Runen, die ihrerseits wohl die magisch umgebende Energie anzapften, um einen Zauber wirken zu können. Die Rune gab dem Zauber die Form – die jetzige Magie, die uralt und ewig schon existiert, jedoch nach Entdeckung der Runen beinahe in Vergessenheit geriet, benötigt viel mehr Konzentration und Sorgfalt des Wirkenden. Man muss die Magie im wahrsten Sinne des Wortes formen; ihr zeigen, was man von ihr möchte“, scheinbar wahllos fuchtelte der Grünäugige mit seinen Fingern in der Luft herum, um zu verdeutlichen, was er meinte und um eine der Fragen der jungen Varanterin zu beantworten. Kurz darauf erwähnte er noch, dass im Kastell ein antimagischer Raum existierte, der durch Magie vor Magie abgeschirmt wäre, so dass darin keine Magie existierte. Eigentlich, so brachte ihn die junge Dame auf eine Idee, sollte jeder Magier einmal erkennen, wie es ist, ohne Magie um sich herum.
Ebenfalls versuchte er in kurzen Worten zu erklären, dass die Schattenflamme zwar eine Flamme, aber eine Flamme aus reiner dunkler Energie darstellte. Sie konnte, je nach stärke des Magieanwenders, kleiner oder größer ausfallen, aktiv in der Form beeinflusst werden, brennend oder eisig sein.
Im Gegensatz zu Feuer gab es mannigfaltige Eigenschaften, die die Schattenflamme ihr Eigen nennen konnte.
Während der Lehrmeister nun erklärte und erklärte, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass Tharas Aufmerksamkeit gar nicht bei seinen Ausführungen zu liegen schien. Ihre blutverschmierten Hände und der erbeutete Dolch schienen sie viel mehr zu beschäftigen als die Grundlagen der Magie, von der Sinistro sprach.
„… und Thara möchte uns nun einmal demonstrieren, wie sie das magische Netz bereits zu weben im Stande sei. So ganz ohne Grundlagen…“ endete der Monolog des Hohepriesters und er blickte nun demonstrativ zu der jungen Frau, die immer noch versuchte, das angetrocknete Blut mit ihrem weißen Kleid von dem Dolch zu wischen.
-
Den Worten des Schwarzmagiers hörte Arzu aufmerksam zu. Dies war der erste Schritt in eine für sie unbekannte Welt. Eine sehr mächtige und einflussreiche Welt.
»Von dem antimagischen Raum habe ich bereits etwas gelesen.«, warf die Schwarzmagierin ein. Ein interessanter Zufall war, dass sie viele Eckpunkte aus 'Der Geschichte des Kastells' bereits während ihres Abenteuers mit Thara besucht hatte, diesen antimagischen Raum - trotz Erwähnung im Buch - jedoch noch nicht. Was sie genau erwarten sollte, wäre sie einmal in diesem Raum, wusste Arzu nicht so recht. Denn aus ihrer Perspektive war alles um sie herum nicht magisch. Zumindest außerhalb der Kastellmauern. Doch wie sie jetzt von Sinistro gelernt hatte, war es genau das Gegenteil. Magie war überall und der antimagische Raum die Ausnahme.
Sinistros Rede endete mit einer Aufforderung an Thara. Ihre Begleiterin beschäftigte sich mit anderen Dingen, als dem Zuhören. Ganz offensichtlich hatte sie keine strengen Lehrer in ihrer Jugend gehabt, so wie Arzu. Bei diesem Gedanken fiel der Schwarzmagierin auf, dass sie recht wenig über Tharas Hintergrundgeschichte wusste, obwohl sie nun schon eine ganze Weile gemeinsam unterwegs waren. Manches ließ sich natürlich erahnen. Das Gros blieb hinter dem Schleier schwarzer Haare versteckt.
»Thara!«, rief Arzu, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen. »Du musst aufpassen, sonst lernst du nicht das Zaubern!«
-
Thara fuhr erschrocken hoch, als Sinistro und Arzu plötzlich die Stimmen hoben. Die beiden sahen sie kritisch an.
„W-w-was? Äh … T-t-tut mir leid, i-ich … ich … ich w-wollte nicht …“, stammelte sie und zog den Kopf zwischen die Schultern.
„Nun?“, fragte Sinistro ruhig. Seine Hände vollführten langsame Bewegungen, und in der Luft um ihn herum schimmerten leuchtende Schlieren, die im selben trägen Rhythmus auf und ab waberten. Thara warf kurz einen hilfesuchenden Blick zu Arzu, aber die Varanterin hatte erwartungsvoll die Augenbrauen gehoben und den Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie wollte genauso wie der Hohepriester, dass Thara ihre Fähigkeiten im Umgang mit der Magie demonstrierte. Dabei wussten sie doch beide, dass sie über solche Fähigkeiten gar nicht verfügte! Aber verweigern konnte Thara sich auch nicht. Sie verstand sehr gut, dass es eine Strafe für ihre Unaufmerksamkeit war, dass die beiden sie jetzt bloßstellten. Und sie konnte nichts anderes tun, als es über sich ergehen lassen. Schließlich war sie selbst schuld.
Thara rappelte sich auf, bis sie mit hängendem Kopf vor Sinistro und Arzu stand wie eine reuige Angeklagte vor ihren Richtern, und biss sich nervös auf die Unterlippe. Das Netz der Magie weben? Wie sollte sie das anstellen? Sie hob zögerlich eine Hand, als wollte sie die leuchtenden Fäden magischer Energie, die Sinistro sichtbar machte, berühren. Was wusste sie schon über Magie? Eigentlich nichts. Einzig die Weiße-Magie-Rune kam ihr in den Sinn. Sie erinnerte sich, wie sie sich auf die Rune konzentriert hatte und dadurch irgendwie eine Art Verbindung hatte herstellen können, die es ihr ermöglichte, das Lichtschwert zu ‚sehen‘, so dass sie es im Labyrinth des Brunnendämons hatte finden können. Und wenn sie das jetzt wieder versuchte, eine Verbindung zur Magie aufzubauen?
Thara schloss die Augen und bemühte sich, die Schuld- und Schamgefühle und das Wissen darum, dass Sinistro und Arzu jede ihrer Bewegungen genau verfolgten, zumindest für den Moment zu ignorieren und sich ganz auf… auf irgendetwas zu konzentrieren, das sich wie Magie anfühlte. Oder so. Sie hatte eigentlich keine Ahnung, worauf sie sich zu konzentrieren versuchte. Sie stellte sich einfach die Fäden der Magie vor und wie sie sie mit ihren Händen fasste und zu sich zog.
Fast schon gegen ihren Willen folgten ihre Hände ihrer Vorstellung und Thara vollführte langsame, greifende Bewegungen. Mit Verwunderung bemerkte sie, wie ihre Fingerspitzen zu kribbeln begannen, und bald darauf spürte Wärme, die sich rasch bis über ihre Unterarme ausbreitete. Thara konnte es kaum glauben. Hatte sie es tatsächlich geschafft, die Magie zu manipulieren? Sie öffnete die Augen und starrte perplex auf ihre Hände, mit denen sie nach wie vor die langsamen Gesten vollführte. Bildete sie sich das nur ein, oder waren sie von einem sanften Leutchen umgeben, während sie tatsächlich die Fäden der Magie zu sich zog?
Die Wärme in ihren Armen nahm zu, breitete sich weiter über ihren Körper aus und steigerte sich dabei nach und nach zu einer Hitze, die langsam unangenehm wurde. Thara hielt mit den Bewegungen Inne, aber die Magie strömte noch immer zur ihr, sammelte sich um sie und in ihr. Es war, als würde die magische Energie in ihr ein Feuer entfachen – ein Feuer, das schnell größer wurde…
„Wa-was passiert hier?“ Perplex hob sie ihre Hände. Als sie mit einem Mal von bläulichen Flammen umzüngelt wurden, stieß Thara einen erschrockenen Schrei aus und stolperte rückwärts, als ob sie vor ihren eigenen Händen davonlaufen könnte. Sie versuchte, den Strom der Magie zu stoppen, aber ohne Erfolg. Die Magie schürte das Feuer in ihr weiter und weiter und Thara war sich plötzlich sicher, dass sie regelrecht von innen heraus verbrennen würde, wenn sie es nicht schaffte, die Magie irgendwie abzuleiten.
Von Panik ergriffen sah sie sich um. Die blauen Flammen in ihren Händen nahmen immer weiter an Intensität zu und begannen, ihre Unterarme hinaufzukriechen. Als Tharas Blick auf den Kamin und das Feuer darin fiel, handelte sie instinktiv. Flamme zu Flamme…
Mit einem einzigen Stoß ihrer Gedanken ließ sie die Magie ins Feuer strömen. Die Flammen im Kamin brüllten auf, verfärbten sich kurz von rot zu blau und eine Flammeneruption schoss aus dem Kamin. Thara spürte die sengende Hitze auf ihrer Haut und taumelte benommen nach hinten, wobei sie über einen Stuhl stolperte, der augenblicklich regelrecht in dunklem Feuer explodierte. Innerhalb eines Wimpernschlags waren nur noch ein paar verkohlte Überreste von dem Möbelstück übrig. Thara verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings zu Boden. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, als sie mit dem Hinterkopf auf die Marmorplatten prallte, und die Welt wurde schwarz.
-
Während Thara zurücktaumelte und mit dem Kopf auf dem Marmor landete, zuckte der Magielehrmeister kurz mit der linken Augenbraue und unterdrückte den Reflex, sich sofort auf seine Schülerin zu stürzen und nach ihrem Wohlbefinden zu gucken. Er wandte sich zunächst Arzu zu und sprach sie ernst und belehrend an: „Das passiert, wenn man zu viel auf einmal will. Nimm es dir zum Vorbild, wie man es nicht machen sollte. Aber nimm es auch zum Vorbild, wie man es machen solle, denn Thara hat bei ihrem ersten Versuch Magie nutzen und formen können. So etwas habe ich noch nie erlebt, schon gar nicht, ohne dass man sich mit den Möglichkeiten der Verbindung zum magischen Geflecht vertraut gemacht hatte…“
Nachdenklich betrachtete der Grünäugige das Chaos, das seine Schülerin hinterlassen hatte. Und während er sich langsam zu ihr herunterbeugte, um sich um sie zu kümmern, übermannte ihn ein Gedanke an die Endlichkeit des Seins. Er überdachte die Zeit, die er bisher auf dieser Welt verbringen durfte und setzte sie in Relation zu dem, was Beliar seinen Anhängern versprach – das Leben an seiner Seite und das Kommando über seine dunklen Heerscharen. Und als er Thara berührte, um ihren Kopf anzuheben und die Schwere ihrer Verletzung zu überprüfen, spürte er ein Kribbeln und ein Schauer jagte über seinen Rücken. Auch flackerte das Netz der Magie kurz auf, ehe es vollkommen erlosch, nachdem der Magier seine Schülerin berührt hatte
Thara öffnete leiht die Augen, ehe sie ihre Stimme erhob und beinahe flüsterte, dass es ihr leid täte. Arzu schalt sie mit einem einzigen Blick und schonwieder stammelte die junge Frau mit dem besonderen Auge eine Entschuldigung.
Sinistro hingegen legte seine Stirn in Falten, ehe er kurz zu Arzu blickte und den Kopf schüttelte – er wollte ihr andeuten, dass weitere Lektionen über Entschuldigungen und Demut derzeit fehl am Platz sind.
Stattdessen ergriff der Grünäugige die Chance und versuchte seinen beiden Anvertrauten zu erklären, was genau geschehen war. Er führte aus, dass Thara der Magie früher ein Ziel hätte geben müssen, wenn sie sie schon so sehr sammeln konnte, dass es jedoch nicht ungewöhnlich ist, seine Kräfte zunächst nicht einschätzen zu können und er erklärte, dass die Kunst auch darin bestünde, die Magie ohne unterstützendes Leuchten überhaupt greifen zu können.
Gleichzeitig versuchte sich Sinistro daran, die Aspekte des Glaubens an die Götter und ihre Sphären für das Wirken der Magie herauszustellen. Er erklärte, dass die Kraft der Magie einem Magier die Möglichkeit gäbe, Kreaturen aus der Sphäre Beliars in diese Welt, in diese Sphäre zu bringen. Er wollte gerade die drei existierenden Sphären näher erläutern, als er sich daran erinnerte, dass Thara dieser Art der Erklärung trotz der Teilnahme an seinem Experiment vielleicht nicht vollkommen folgen könnte und so unterbrach sich der Lehrmeister selber, um erneut nach der gerade noch bewusstlosen Frau zu schauen.
„Jetzt werd erstmal wieder klar im Kopf, dann erkläre ich euch mehr… und Arzu, möchtest du dich auch einmal daran versuchen, hier ein wenig Chaos anzurichten? Thara und ich würden in der Zwischenzeit ein wenig Deckung suchen“, forderte der Magielehrmeister seine zweite Schülerin auf, sich am Wirken der Magie zu versuchen.
„Und lieber zu früh als zu spät loslassen…“ fügte er mit einem Grinsen hinzu.
-
Arzu konnte es kaum glauben. Wie hatte ausgerechnet Thara es geschafft, bei ihrem ersten Wirken von Magie eine solch gewaltige Explosion herbeizuführen!? Neid stieg in der Varanterin hoch. Hatte doch der Wassermagier Hyperius ihr gesagt, dass ein großes magisches Potential in ihr schlummerte. Und dann kam das dürre Mädchen einfach daher und produzierte dieses Feuerwerk! Dass Thara dabei in Ohnmacht fiel war einerlei. Der Ehrgeiz packte Arzu. Den langen Weg zum Kastell war sie nicht gegangen, um eine mittelmäßige Schwarzmagierin zu werden.
Die Varanterin führte sich vor Augen, was Thara vor ihrer Beschwörung gemacht hatte. Wie ihre Begleiterein streckte Arzu ihre Arme aus und vollführte eine ziehende Bewegung. Nichts geschah. Es kann doch unmöglich an den geschlossenen Augen liegen!, mutmaßte die Schwarzmagierin in Gedanken, nur um dann doch die Augen zu schließen und die gleiche Handbewegung noch einmal zu wiederholen. Nichts geschah. Noch einmal! Nichts geschah.
Zähneknirschend öffnete Arzu wieder die Augen. Keine Flamme, kein Flämmchen, kein Funke. Nichts außer wohl manikürter Finger. Innerlich brodelte es in der Varanterin, aber sie machte gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich nichts davon anmerken. Statt erneut Thara nachzuäffen, überlegte Arzu statt dessen, was Sinistro vorher gesagt und getan hatte. Magie umgibt uns alle immer überall, wiederholte sie in Gedanken. Wenn das der Wahrheit entsprach, war Tharas Rumgegrapsche in der Luft völlig sinnfrei! Natürlich war es das! Es war pures Anfängerglück gewesen!
Mit den Händen in die Hüfte gestemmt, überlegte die Schwarzmagierin ihre nächsten Schritte. Ihr war es dabei völlig egal, ob Sinistro und Thara sie anstarrten oder sonst was taten. Sie wollte ihren Willen. JETZT!
Eine Hand hob Arzu vor sich, als ob sie eine große Kugel darauf balancieren würde. Immer und überall! Der Blick der Varanterin fixierte einen imaginären Punkt unmittelbar über ihrer Handfläche. In ihrem Kopf brannte dort bereits eine Flamme. Es musste nur noch Realität werden. Abermals knirschten ihre Zähne und Arzus Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
Erfolg! Ein pechschwarzes Flämmchen, nicht größer als ein Fingernagel, flackerte über der Hand der Schwarzmagierin. Weder warf es einen Schatten, noch spendete es Licht. Ihre großen Augen weiteten sich und ein diabolisches Grinsen zeichnete sich auf Arzus Gesicht ab. Alles was jetzt noch fehlte, war eine größere Flamme. All ihre Gedanken fokussierte die Varanterin auf das winzige, schwarze Feuer. Als ob es Unterstützung bäuchte, griff die Varanterin das Handgelenk mit ihrer anderen Hand. Von einem lauten Fauchen begleitet, wuchs die Schattenflamme im Bruchteil eines Augenblicks um ein Vielfaches an, nur um im nächsten Moment vollständig zu vergehen.
-
Während Arzu sich an der Zauberei versuchte, hatte Thara sich ein wenig abseits des Kamins mit angezogenen Beinen auf einen Stuhl gehockt und rieb sich gedankenverloren ihren schmerzenden Hinterkopf.
Verstohlen warf sie einen kurzen Blick zu Sinistro. So richtig konnte sie noch nicht glauben, dass ihr so spektakulär gescheiterter Versuch, mit Magie umzugehen, keine weiteren Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Aber vielleicht war ihr Versagen in seinen Augen schon Strafe genug? Nicht, dass Thara selbst das Ergebnis ihrer unbeholfenen Stümperei überrascht hätte. Sie hatte ohnehin nie geglaubt, dass sie in der Lage sein würde, Magie zu wirken. Ihre Unfähigkeit, die magischen Kräfte zu kontrollieren, hatte nur gezeigt, dass sie damit richtig lag. Es war eben nicht jeder zum Magier geboren.
Arzu hingegen…
Zunächst geschah nichts, aber nach einigen Versuchen schaffte es die Varanterin, eine kleine magische Flamme zu erzeugen. Und zwar ohne dabei gleich sich selbst und das halbe Gebäude abzufackeln. Das dunkle Feuer erschien über ihrer Handfläche, flackerte kurz, und verpuffte schließlich in einer größeren, aber kontrollierten Stichflamme.
So musste es aussehen, Magie zu beherrschen! Natürlich konnte Arzu das.
„D-das war… toll!“, rief Thara und lächelte unsicher. Irgendwie schien Arzu nicht ganz derselben Meinung zu sein. Jedenfalls wirkte der Blick, mit dem sie das Mädchen bedachte, wenig begeistert. „Ich… i-i-ich m-meine du k-kannst die Magie kon… kontrollieren, nicht w-wie ich, u-u-und… und…“, schob Thara hastig hinterher und zuckte hilflos mit den Schultern. Hatte sie schon wieder etwas Falsches gesagt?
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
|