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Diese Frage war einfach beantwortet. Der Grünäugige grinste nur und nickte, ehe er der Adligen die Hand reichte und ihr beim Aufstehen half.
„Die Grundlagen hast du bereits erkannt. Was nun fehlt, ist die magische Kraft. Diese steigert sich auch dadurch, dass man neue Zauber lernt. Und genau das sollten wir in Angriff nehmen. Wenn du weißt, welche Möglichkeiten dir offenstehen, suche mich auf und lege sie mir dar. Und erkläre mir, welche Intention du hast, diese Zauber zu erwählen. Ich muss wissen, welche Vorstellungen du davon hast, was du erreichen möchtest, um dir den Weg dorthin zeigen zu können. Auf bald!“
Erneut klopfte sich der Hohepriester den Staub von seiner Robe und kehrte Lucia den Rücken zu, um sie mit seiner Frage allein zu lassen.
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Unterdessen in… ja, wo eigentlich? Ein anderes Kastell? Ein Fiebertraum?
Als sie sich plötzlich auf Apfelgröße zusammengeschrumpft auf Vabuns Rücken wiederfand, während der entsteinerte Magier über (durch?) den Marmorboden sauste, war Thara endgültig über den Punkt hinaus, dass sie das Geschehen noch hinterfragte. Was passierte, passierte eben, und sie konzentrierte sich nur noch darauf, nicht herunterzufallen, indem sie sich in der Vabuns Vorhang-Toga festkrallte, als würde ihr Leben davon abhängen. Was es auch tat. Also… vielleicht.
Sie hatte keine Ahnung, wo Vabun seine Zwangspassagiere hinzubringen plante. Die Korridore des Kastells sahen zwar einerseits so aus wie die Korridore im ‚echten‘ Kastell, zugleich aber auch völlig anders, ohne dass Thara den Finger darauf hätte legen können, was eigentlich anders war. Jedenfalls hatte sie schon nach wenigen Sekunden jedes Gefühl dafür verloren, wo sie sich möglicherweise befinden mochten. Dass Vabun mit einer nicht zu verachtenden Geschwindigkeit dahin… flog? Schwomm? Glitt? … sich bewegte, tat sein Übriges dazu.
Um so überraschter waren die beiden Passagierinnen, als plötzlich hinter ihnen eine Gestalt auf einem der Beine des Magiers landete. Ein Goblin – allerdings ein ziemlich großer, das hieß, im Verhältnis zu Arzu und Thara, was bedeutete, dass er noch immer deutlich kleiner sein musste als die normalen Goblins, um ebenfalls auf Vabun ‚reiten‘ zu können.
Der Gobliln trug eine schwarze, mit silbernen Stacheln besetzte Lederrüstung und grinste diabolisch, als er Vabuns Bein entlangbalancierte. Mit einem schartigen Messer in der Hand näherte er sich den beiden jungen Frauen sicher nicht mit freundlicher Absicht…
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Eine wahrhaft aussichtslose Situation in der sich die beiden Frauen befanden. Arzu besaß nicht einmal ein Messer, um sich zur Wehr zu setzen, noch beherrschte sie Magie. Notgedrungen wichen die beiden Frauen vor dem Goblin zurück, bis sie im Rücken Vabuns Haaransatz spürten. Augenscheinlich gab es kein Entrinnen.
Plötzlich griff von der Seite eine krallenbewehrte Hand herab, packte den Goblin und riss ihn mit sich. Vabun raste so schnell von dannen, dass sie nur aus der Ferne sehen konnten, zu was diese Hand tatsächlich gehört hatte. Es war eine der abstrakten Statuen, die die Gänge säumten und üblicherweise nur Verwirrung in ihren Betrachtern hinterließen. Handelte es sich in Wahrheit um Kreaturen, die wie fleischfressende Pflanzen nur darauf warteten, dass sich kleine Wesen in ihre Nähe verirrten? Arzu war nur froh darüber, dass es den Goblin und nicht sie erwischt hatte.
Vabun verlangsamte die rasante Fahrt, als sie zu einer Tür gelangt waren. Das Innere des Raums war gefüllt mit Stühlen und Tischen, die in ihrer jetzigen Form auf die beiden Frauen schier gigantisch wirkten. Bald erriet Arzu, um welchen Raum es sich handelte. Noch bevor sie es aussprechen konnte, warf Vabun seine beiden Passagiere ab und sie erlangten ihre ursprüngliche Größe zurück.
»Da-da-das ist das Referrarium.«, bemerkte Thara und erntete dafür einen verwirrten Blick von der Varanterin.
»Refektorium.«, korrigierte Arzu ihre Begleiterin. »Das ist ein Speisesaal.«
Mahnend hob die Magierin den Zeigefinger, denn beinahe wäre Thara das böse Wort mit E herausgerutscht.
»Sieht so aus, als wären die Dämonen nicht zu Haus!«, proklamierte Vabun in einem Reim. »Wenn ihr etwas zu essen haben wollt, müsst ihr wohl selber kochen.«
Damit sprach Vabun einen guten Punkt an. Arzu wusste nicht, wie lange sie schon hier waren. Lang genug jedoch, dass sie bei der Erwähnung von Essen ein starkes Hungergefühl überkam. Kurzerhand ging die Varanterin in die angrenzte Küche. Aus dem Buch wusste sie, dass die Dämonen üblicherweise niemanden duldeten, der sich in der Küche zu schaffen machte. Arzu stellte Vabuns Worte auf die Probe, suchte sich Eier, Mehl, Hefe, Zucker und Salz zusammen und begann damit einen Teig für Fladenbrot herzustellen. Gehen und Backen würden natürlich etwas Zeit brauchen. Eine bessere Alternative hatten die beiden Zauberinnen im Augenblick aber nicht.
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Während Arzu begann, die Zutaten für eine Mahlzeit zusammenzusuchen, stand Thara zunächst unentschlossen daneben, versuchte dann aber, sich nützlich zu machen und der Varanterin zur Hand zu gehen. Leider war sie im Brot backen genauso wenig erfahren wie in den meisten anderen Dingen und stand daher die meiste Zeit eher im Weg herum, bis Arzu ihr schließlich höflich, aber deutlich zu verstehen gab, dass es besser wäre, wenn sie sich eine andere Beschäftigung suchte. Vabun darüber ausfragen, wo sie den Schlüsselwächter finden konnten zum Beispiel – schließlich waren sie deswegen hier, und nicht wegen irgendwelcher Goblinkönige!
Thara gehorchte und schlich mit gesenktem Kopf aus der Küche zurück ins Reflik… Rifak… in den Speisesaal, wo Vabun es sich an einem der Tische bequem gemacht hatte. Er sah zufrieden aus und begrüßte das Mädchen mit einem breiten Lächeln.
„Die Steine hatten recht!“, rief er ihr entgegen, „Sobald wieder Frauen im Haus sind, wird wieder anständig gekocht!“
Thara hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte, also nickte sie einfach nur und ließ sich dem Magier gegenüber nieder. Falls er denn überhaupt ein Magier war. Sie hatte erstmals Zeit, ihn etwas genauer in Augenschein zu nehmen, und Vabun wirkte keineswegs wie einer der Schwarzmagier, die sie bisher kennen gelernt hatte – auch wenn das zugegebenermaßen nicht allzu viele waren. Neben der Tatsache, dass es sich bei seiner ‚Kleidung‘ definitiv um einen Vorhang von einem der Kastellfenster handeln musste, unterschied er sich mit seinem strahlenden Lächeln, der wuscheligen Lockenfrisur und einem vergleichsweise muskulösen, sonnengebräunten Körper deutlich von den blassen Dämonenbeschwörern, die ihr sonst im Kastell begegnet waren.
„A-also… Vabun… W-wir sind, äh… a-a-also eigentlich s-sind wir…“
„Habe ich dir eigentlich schonmal erzählt, wie ich ins Kastell gekommen bin?“, unterbrach er Tharas unbeholfenen Versuch, ihm eine Frage zu stellen. Sie blinzelte und schüttelte den Kopf.
„Oh, das ist eine wirklich spannende Geschichte!“, raunte er geradezu verschwörerisch und zwinkerte ihr zu, „Willst du sie hören?“ Die Frage war natürlich rein rhetorisch und Vabun wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Er lehnte sich zurück – wobei er mitten in der Bewegung kurz versteinerte und dadurch fast vom Stuhl gefallen wäre, sich aber mit erstaunlichen Reflexen wieder fangen konnte – und begann zu erzählen: „Es war ein Morgen im Juni vor ungefähr zwanzig Jahren. Ich war als Sohn eines reichen Mannes geboren und hatte alles, was man sich für Geld kaufen konnte, nur Freiheit hatte ich nicht! Also habe ich nach Freiheit gesucht.“ Er seufzte theatralisch und breitete die Arme aus, eine Bewegung, die wohl das ganze Kastell und alles drum herum miteinschloss. „Ich habe so lange gesucht, aber die Suche geht weiter. Seit ich meine Heimatstadt verließ, habe ich nach Freiheit gesucht, aber ich habe sie noch nicht gefunden! Ich sang die alten Lieder und mit schwerem Gepäck ließ ich meine Heimatstadt hinter mir, ich wanderte die Straßen entlang und versuchte, Ruhe in meinem Geist zu finden. Mein Vater sagte mir, ‚Sohn, es wird dir noch leidtun, dein Zuhause auf diese Art verlassen zu haben, und wenn dir erst klar wird, dass man Freiheit mit Geld kaufen kann, wirst zu wieder nach Hause kommen!‘ Ah, ich machte Schulden, verlor viel, arbeitete auf einem Bauernhof, ich bekam Muskeln auf den Armen, aber ich war noch immer kein selbstständiger Mann. Ich fühle, es wird noch viele Jahre so weitergehen, aber ich werde von Tür zu Tür gehen und suchen, und eines Tages werde ich sie finden, die Freiheit, die ich suche…“
Erst als Vabun sie einige Sekunden lang schweigend angelächelt hatte, verstand Thara, dass seine Geschichte, oder was immer es sein sollte, zu Ende war, und er so etwas wie Beifall oder Bestätigung erwartete.
„Äh… d-d-das ist… s-sehr…“
„Danke, danke!“, unterbrach der sonderbare Magier sie sofort, Stolz funkelte in seinen blaugrauen Augen. „Ich habe mir schon überlegt, ein Lied über meine Suche zu schreiben! Was denkst du?“ Er fing an eine Melodie zu summen: „Da-da da-da da-daaa-daaa…“
„Ich…“
„Du fragst dich, wieso ich hierbleibe, wenn ich doch meine Freiheit noch nicht gefunden habe? Ha! Schlaues Mädchen! Genau wie die Steine es mir gesagt haben, ihr seid nicht auf den Kopf gefallen! Ganz einfach: Weil der verdammte Goblinkönig mit seinem fetten Hintern draufsitzt!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, die sich just in diesem Augenblick in Stein verwandelte und dadurch eine ziemliche Delle in der blankpolierten Tischplatte aus kostbarem dunklem Holz hinterließ, was Vabun aber offensichtlich nicht weiter störte.
„Meraton heißt er. Er ist eigentlich nicht einmal ein Goblin, weißt du? Er ist ein Dämon! Und er hat sich hier im Kastell breit gemacht, weil niemand da war, um ihn zu stoppen. Ich war gerade, äh…“ Vabun schien kurz ernsthaft nachzudenken und ein Hauch von Verwirrung schlich sich in seine Gesichtszüge, aber nur für einen Moment. „Also, ich war indisponiert, und konnte ihm daher nicht in den Hintern treten, und Malar und die anderen, ja also… also ohne mich waren die natürlich aufgeschmissen.“ Er grinste wieder breit und selbstgerecht. „Jetzt tut Meraton so, als würde er das Kastell beherrschen, und lässt hier überall seine verdammten kleinen Goblinschergen herumlaufen.“
„Wa-warum…“
„…sollte dich das interessieren? Ha, gute Frage! Ich sag es dir: Weil die Tür, durch die ich gehen will, dieselbe Tür ist, durch die ihr gehen wollt, und der verdammte Meraton den Schlüssel für diese Tür hat!“ Vabun lehnte sich mit einem triumphierenden Lächeln zurück. „Die Steine haben mir gesagt, dass ihr mir helfen würdet. Und ich helfe euch. Denn ich weiß, wie man Meraton besiegen kann. Ihr braucht dafür zwei Dinge: Das Lichtschwert und die Weiße-Magie-Rune!“
„Licht… Lichtschwert? W-wie ein… Schwert aus… Licht?“, fragte Thara verwirrt. Vabun lachte auf.
„Ein Schwert aus Licht? Hahaha, am besten noch in verschiedenen Farben erhältlich, was, und die der Schwarzmagier sind alle rot? Hahahahaha, also bitte, das ist absurd!“ Der Magier krümmte sich vor Lachen, das dadurch, dass er zwischenzeitlich immer wieder stellenweise zu Stein erstarrte, seltsam abgehackt klang. „Weißt du, wie heiß so ein… Schwert aus Licht sein müsste? Heißer als die Sonne! Heißer als Innos‘ heißeste Träume! Über 25.000 Grad Celsius! Mach dir keine Gedanken über die Einheit, die hab ich mir gerade ausgedacht, aber mein Punkt ist… Du würdest verbrennen, wenn du auch nur in die Nähe so eines Schwertes aus Licht kommen würdest! Oh, allein diese Idee…“ Vabun kicherte noch eine Weile weiter, bis er sich beruhigt hatte. „Nein, es ist ein Schwert, das die Kraft der Weißen Magie-Rune kanalisieren kann und damit in der Lage ist, dem Dämon Meraton ordentlich eines überzubraten. Das brauchen wir. Und ich weiß auch, wo wir es finden: Im Brunnen! Und die Rune – die liegt in einem der Zimmer im ersten Stock. Leider… fangen hier die Probleme an. Siehst du, im Brunnen, da wohnt so ein verrücktes Weibsbild, eine Art dicke Meerjungfrau mit Tentakeln anstatt eines hübschen Fischschwanzes, und im ersten Stock wandert so eine wild gewordene Statue durch die Gänge, auch so ein verrücktes Weibsbild, das versucht, einen mit ihrem Mantel zu fangen! An den beiden müsst ihr vorbeikommen. Aber fürchtet nicht!“, Vabun hob einen Zeigefinger in die Höhe, „Ich habe schon einen Plan! Du…“ – er stieß mit dem Finger geradezu in Tharas Richtung, die erschrocken zusammenzuckte – „bist sieben Zentimeter (die Einheit hab ich mir gerade wieder ausgedacht) kleiner als deine Kollegin, die damit übrigens die größte Schwarzmagierin ist, die seit langem im Kastell herumläuft, und das bedeutet, weil du kleiner und leichter und unauffälliger bist, wirst du dich an der verrückten Brunnenhexe und der verrückten Statue vorbeischleichen und das Schwert und die Rune holen, und deine Kollegin wird währenddessen für Ablenkung sorgen, damit du nicht ertränkt, gefressen, zerquetscht, aufgespießt, verbrannt, erstickt, in Scheiben geschnitten, erdrosselt, erstochen, erschlagen, erschossen, getötet, umgebracht, ermordet, abgemurkst oder sonst wie ums Leben gebracht wirst.“
Vabun lehnte sich zufrieden zurück und betrachtete Thara aufmerksam mit seinen blaugrauen Augen. Sie brauchte eine Weile, um die Worte, mit denen er sie überfahren hatte, in ihrem Kopf zu entwirren und in irgendeinen Zusammenhang zu bringen, der aber noch immer nicht viel Sinn ergab.
„Äh… u-und… w-w-was machst… du?“, fragte sie schließlich.
„Ich?“, antwortete Vabun überrascht und legte sich eine Hand auf die Brust, „Ich habe den Plan entworfen!“
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Die Küche des Kastells musste, wie auch nicht anders zu erwarten war, ebenfalls magischen Ursprungs sein. Die Arbeit ging leicht von der Hand und den Teig zu backen dauerte nur einen Bruchteil seiner üblichen Zeit. Als Ergebnis gab es ein halbes Dutzend luftiger, warmer Fladenbrote nach bester varantischer Machart. Arzu hatte sich selbst übertroffen.
Mit den Fladenbroten auf einem Brett, begab sich die Varanterin wieder zu Thara und Vabun. Offenbar hatte der teilweise versteinerte Mann gerade eine unglaubliche Geschichte zum Besten gegeben, denn Thara sah drein, als ob sie jeden Moment schreiend davon rennen wollte. Vielleicht waren es aber auch nur die Lichtverhältnisse.
»Das Essen ist fertig.«, rief die Magierin und stellte das Brett auf den eingedellten Tisch. Ohne zu warten, brach Arzu sich etwas vom Fladenbrot ab und biss begierig hinein. Es schmeckte so, wie ihre Mutter es immer zubereitet hatte. Tatsächlich hatte Arzu immer versucht, es genau so nachzubacken. Gelingen wollte es ihr in den seltensten Fällen. Was nicht heißen sollte, dass ihr Fladenbrot nicht schmeckte. Im Gegenteil. Doch das von ihrer Mutter schmeckte eben wie von ihrer Mutter.
»Was habe ich verpasst?«, fragte Arzu und setzte sich neben Thara. Vabun holte bereits tief Luft, als die Varanterin die Hand hob. »Die Kurzfassung, bitte.«
Als er mit seinen Ausführungen endete, stellte sich die Frage, ob das tatsächlich die Kurzfassung war. Zumindest hatte es sich nicht danach angefühlt und inzwischen fehlten auch eineinhalb Fladenbrote.
»Dir ist hoffentlich bewusst, dass wir nicht kämpfen können.«, warf Arzu ein.
»Ja, ja. Die Steine hatten so viel schon verraten. Deshalb soll sie«, sagte Vabun und zeigte auf Thara, »auch schleichen. Wenn wir die Rune und das Schwert haben, werde ich, Vabun, höchstselbst gegen den Goblinkönig antreten und ihm volles Pfund auf die Fresse geben!«
»Na dann ist ja alles klar.«, antwortete Arzu in einem sarkastischen Tonfall. »Nichts von all dem hier stand im Buch.«
»Natürlich nicht!«, erwiderte Vabun. »Der Schinken ist inzwischen ja auch zwanzig Jahre alt. Eine Neuauflage wäre dringend nötig! Aber das tut nichts zur Sache. Seid ihr bereit aufzubrechen?«
»Stehen wir unter Zeitdruck?«
Vabun zuckte mit den Schultern.
»Möglich. Kommt jetzt! Ich muss euch einem Freund vorstellen!«
Thara und Arzu wechselten vielsagende Blicke, doch Vabun schien sich nicht beirren zu lassen. Zu dritt und mit dem restlichen Fladenbrot im Gepäck, verließen sie das Refektorium. Direkt vor der Tür stand eine schwarz glänzende Kutsche, die auf magische Art und Weise die Gänge um sich verformte, um darin Platz zu finden. Interessanterweise fehlte von Pferden jede Spur.
»Hallo Vabun.«, sagte plötzlich eine sanfte Stimme. Es dauerte einen Moment, bis Arzu sie zuordnen konnte. Die Stimme stammte von der Kutsche selbst.
»Hallo mein Freund!«, antwortete Vabun. »Um weiteren Goblinangriffen aus dem Wege zu gehen, fahren wir hiermit durch das Kastell. Ein Kastellinterner Truppentransporter, sozusagen.«
»Das bin ich!«, proklamierte die Kutsche.
»Leider ist nicht so viel Platz im Inneren. Normalerweise ist mein Freund nur für zwei gedacht. Einer von euch muss bei der anderen auf dem Schoß sitzen.«
Gemeinsam gingen Thara und Arzu um die Kutsche herum. An der Vorderseite wanderte ein rotes Licht von einer Seite zur anderen, geradezu hypnotisch. Die Tür auf der anderen Seite der Kutsche öffnete von alleine für sie. Das Innere war hochwertig in sandfarbenen Bezügen hergerichtet und ein großes Fenster erlaubte den Blick nach vorne. Arzu stieg als erstes ein und nahm das Fliegengewicht Thara auf ihren Schoß. Vabun setze sich unterdessen auf die andere Seite und nahm die Zügel in die Hand.
»Auf gehts!«
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Es war nicht die Aussicht auf eine Fahrt in einer pferdelosen, leuchtenden und noch dazu sprechenden Kutsche, die Tharas Puls mit einem Mal in die Höhe trieb – sondern die Ankündigung, dass sie auf Arzus Schoß würde sitzen müssen. Sie brachte weder ein Wort heraus, noch war sie in der Lage, sich zu bewegen, während sie versuchte, diese Aussicht zu verarbeiten und herauszufinden, wie sie damit umgehen sollte. So viel Nähe… ja, sie hatte sich schon an Arzu festgehalten, als der Raum unter ihnen plötzlich in die Tiefe gerauscht war, aber… aber das war eine spontane Reaktion aus Panik heraus gewesen und hatte außerdem nicht lange gedauert, und… aber… war es nicht eigentlich auch irgendwie…
Bevor Thara mit ihren Grübeleien zu irgendeinem Punkt kommen konnte, bemerkte Arzu, dass ihre Begleiterin sich mal wieder nicht von der Stelle rührte, fasste sie am Handgelenk und zog sie einfach hinter sich her. Thara ließ es geschehen. Zu ihrer eigenen Überraschung leistete sie nicht einmal dann reflexartig Widerstand, als die Varanterin sie in der Kutsche auf ihrem Schoß platzierte.
Thara hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie lange die Fahrt am Ende dauerte, aber es kam ihr gleichzeitig endlos und viel zu kurz vor. Trotz der ungeheuer großen, farblosen Fensterscheibe in der Front der Kutsche, durch die sie all die Seltsamkeiten, an denen sie vorbeikamen, bestens beobachten konnte, hatte sie kaum ein Auge dafür. Sie interessierte sich weder für die Goblins, die mit Schleudern bewaffnet in den Alkoven der Flure lauerten und erfolglos kleine Steinchen oder andere Projektile gegen die Kutsche schossen, noch für die Herde von Beißern mit rotglühenden Augen, die an einer Kreuzung an ihnen vorüberzog, oder für die beiden Statuen aus lachsfarbenem Marmor, die der vorbeifahrenden Kutsche böse Blicke zuwarfen, was das Amulett, das an einem kleinen Spiegel über dem Fenster baumelte, kurz zum Leuchten brachte, als es die Magie absorbierte.
All das registrierte Thara nur am Rande – sie war viel mehr damit beschäftigt, mit dem Gefühl umzugehen, wie sich Arzus Körper gegen den ihren presste. Überdeutlich spürte sie die Wärme von Arzus Schenkeln und die weichen Brüste der Varanterin in ihrem Rücken, wenn die Kutsche mal wieder beschleunigte. Sie konnte nicht sagen, ob das flaue Gefühl in ihrem Magen daherkam, dass die Berührungen ihr unangenehm waren – oder vielmehr das genaue Gegenteil. Sie wollte gleichermaßen schreiend wegrennen, wie sie sich wünschte, sich an Arzu anzukuscheln und alles andere zu vergessen.
Aber was auch immer in Tharas Kopf vorging, tatsächlich traute sie sich nicht, Arzu auch nur anzusehen, sondern saß stocksteif da und starrte nach vorn aus dem Fenster. Sie hielt sich mit einer Hand an dem Griff fest, der seitlich an der Kutschendecke angebracht war und presste den anderen Arm eng an ihren Körper. Sie vermied jede überflüssige Berührung, egal wie sehr sie sich insgeheim danach sehnte, und kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr war auf einmal viel zu warm, was nicht an der Temperatur in der Kutsche lag.
Als das magische Gefährt schließlich vor einer schwarzen Flügeltür zum Stehen kam, war das Ende der Fahrt für Thara zugleich Erlösung und Fluch. Sie rutschte unbeholfen von Arzus Schoß und lief ein paar Schritte in Richtung der Tür – nicht, weil sie sich sonderlich für die Schnitzereien in dem dunklen Holz interessierte, sondern weil sie hoffte, dass auf diese Art niemand (insbesondere nicht Arzu) bemerkte, dass sie wahrscheinlich knallrot im Gesicht war.
„Da wären wir!“, verkündete Vabun, der gemächlich um die Kutsche herumging, „Hinter dieser Tür liegen die… äh… irgendwelche Zimmer, deren Zweck mir tatsächlich unbekannt ist. Ich glaube, da hat mal jemand drin gewohnt, als es hier noch Magier gab, aber die sind ja bekanntlich alle weg, und vielleicht ist das auch der Grund, warum diese Statue, die… Klore? Kobe? Ah, Kore, genau, so hieß sie, durchgedreht ist. Vor lauter Langeweile, zu wenig Aufmerksamkeit, wer weiß das schon. Jedenfalls, die Goblins trauen sich nicht hier hoch wegen der Kore, die über den Flur wandert und jeden unter ihrem Mantel verschwinden lässt, den sie einfangen kann. Fragt mich nicht, wo sie einen hinbringt, wenn sie einen ummantelt – ich weiß nur, da wollt ihr nicht hin! Die Weiße-Magie-Rune ist allerdings in einem der Zimmer. Die Steine haben mir so viel verraten, dass sie in dem letzten Zimmer sein wird, in dem ihr nachschaut. Also… Ihr denkt an den Plan? Arzu, du kümmerst dich um die Statue, Thara, du holst unauffällig die Rune. Was schaut ihr mich so an? Ich bin weder schnell noch leise genug. Aber ich versichere euch meiner moralischen Unterstützung!“
Mit diesen Worten stieß er die Flügeltür auf, hinter der ein langer, dunkler und staubiger Korridor zum Vorschein kam. Spinnweben hingen in den Ecken und Fenstern, die Vorhänge und der dunkelrote Teppich waren von Motten zerfressen (oder von etwas anderem, wer wusste schon, ob es in dieser Version des Kastells überhaupt Motten gab). Vabun trat zur Seite und blickte die beiden zauberunkundigen Magierinnen erwartungsvoll an. „Nun?“
Geändert von Thara (18.09.2023 um 19:38 Uhr)
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Gerade als Arzu gedacht hatte, sie hätte Thara ein Stück weit kennengelernt, legte das dürre Mädchen neue, unvorhergesehene Eigenheiten an den Tag. Wahrlich ein Buch mit sieben Siegeln. Bevor sich die Varanterin um ihre Begleiterin kümmern konnte, ergriff Vabun bereits das Wort und erklärte seinen Plan für die weiße-Magie-Rune. Arzu fiel dabei der leichtere Teil zu. Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen war ein Kunststück, dass sie schon früh gemeistert hatte. Ob das natürlich bei magischen Statuen wirkte, stand auf einem anderen Blatt.
»Dann wollen wir mal.«, sagte Arzu und warf einen Blick entlang des Spinnweben verhangenen Korridors hinab. Von einer Statue war indes noch nichts zu sehen. Vielleicht war ihnen Beliar wohlgesonnen. »Halte dich erst mal im Hintergrund, Thara. Thara?«
Für einen Moment sah es so aus, als wäre ihre Gefährtin in vorauseilendem Gehorsam in Deckung gegangen. Doch dann entdeckte Arzu sie in einer besonders schattigen Nische, wo Thara wie angewurzelt stand und nervös an ihrem Kleid fummelte.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte die Varanterin. Thara wich ihren Blicken aus. »Ich brauche dich, sonst kommen wir nicht mehr zurück! Ich werde schon aufpassen, dass die Statue dich nicht einfängt.«
Die Angst musste Thara gepackt haben. Verständlich, wenn auch unpassend in diesem Moment. In der Zwischenzeit tippte Vabun ungeduldig mit dem Zeigefinger auf sein linkes Handgelenk. Was auch immer diese Geste bedeuten sollte. Es lag an Arzu, den ersten Schritt zu machen und das tat sie.
Mit den Händen riss die Varanterin die filigranen Spinnweben ein, die ihr im Weg hingen. Wenn Vabun mit seiner Aussage recht behalten sollte, dann war die Reihenfolge in der sie die Türen anging ganz egal. So oder so müsste Arzu jede von ihnen öffnen. Ein letztes Mal warf sie einen Blick entlang des Korridors; noch immer kein Zeichen von einer lebendigen Statue.
Sie rannte los. Hinter den ersten drei Türen verbargen sich nur leere Räume. Erst in der vierten gab es etwas zu sehen.
Ein kleines Männchen saß dort an einem Spinnrad, umringt von einer Unzahl an Strohballen.
»Heyda! Raus hier, ich arbeite!«, krächzte das Männchen und schlug die Tür Arzu vor der Nase wieder zu. Schnell zur gegenüberliegenden Tür gerannt, riss die Varanterin auch diese auf. Zu ihrem Erstaunen befand sich dahinter ein gigantisches Treppenhaus. Zwei Männer kamen mühsam die Stufen hinauf. Der kleinere der beiden besaß blondes Haar und einen Schnurrbart und der größere war ein richtiges Schwergewicht.
»Entschuldigung. Wissen sie wo Schalter Nummer Zwei zu finden ist?«, fragte der Blonde, sichtlich von etwas genervt.
»Nein, tut mir leid.«, antwortete Arzu und schloss die Tür wieder. Auf zur nächsten! War das Treppenhaus bereits unerklärlich, konnte es dem was folgte, nicht das Wasser reichen. Als Arzu die Tür aufschwang, sah sie sich mit dem Ausblick auf eine Stadt konfrontiert, die in Neonfarben leuchtete. Unweit von Arzu entfernt standen sich ein riesiger, muskelbepackter Mann mit bloßem Oberkörper und ein Kind in der Begleitung einer körperlosen Hand von der Größe eines Elefanten gegenüber. Sie alle wechselten Blicke und Arzu zog vorsichtig die Tür zu. Die Varanterin hielt einen Moment lang inne, um das Gesehene zu verarbeiten.
Die Anzahl der restlichen Türen war überschaubar. Bevor Arzu überhaupt die nächste erreichen konnte, schob sich plötzlich eine Statue in die Mitte des Korridors. Das musste sie sein, die Kore. Auf den ersten Blick kein besonders furchteinflößendes Geschöpf. Mal davon abgesehen, dass es sich um eine sich bewegende Statue handelte. Doch spätestens nach der Begegnung mit Vabun war das längst nicht mehr so beeindruckend.
Die Kore positionierte sich so, dass Arzu von den restlichen Türen abgeschnitten war und es für sie kein Vorankommen mehr gab. Doch das war auch nicht der Plan. Demonstrativ stellte sich die Varanterin gegenüber der Statue auf und stemmte die Hände in die Hüfte. Unterdessen zog die Kore mit einer Hand ihren Umhang auf und entblößte ihren steinernen Körper.
»Hey! Hast du dich verlaufen? Nach Nuttenhausen geht es dort entlang!«
Das gefiel der Statue ganz und gar nicht. Wie eine Schachfigur schnellte die Kore über den zerfressenen Teppich und kam eine Nasenlänge vor Arzu zum Stehen. Die Varanterin sprang einen Schritt zurück, um gerade noch dem Umhang der Statue zu entkommen. Das Spiel hatte begonnen!
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Thara verbarg sich hinter einem löchrigen Vorhang und wartete, die bis verrückte Steinfrau sich ganz auf Arzu konzentrierte. Als die Statue auf die Varanterin zu… stürmte? -rutschte?, musste Thara zwar einen ersten Impuls unterdrücken, ihrerseits laut rufend auf sich aufmerksam zu machen, damit das durchgedrehte Dekorstück von Arzu abließ, aber ihr war klar, dass sie Arzu am besten helfen konnte, indem sie so rasch wie möglich diese Weiße-Magie-Rune beschaffte. Also wartete sie nicht lange, sondern huschte, sobald die Statue an ihr vorbei war, den Gang entlang zur nächsten Tür.
Hinter der ersten Tür befand sich nur ein unauffälliges Zimmer, dessen spärliches Mobiliar von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Hinter der zweiten Tür ebenfalls. Als sie jedoch Tür Nummer drei aufstieß, bot sich ihr ein Anblick, auf den sie nur zu gern verzichtet hätte: Zwei dickliche Herren fortgeschrittenen Alters, die sich splitterfasernackt in einem Badezuber gegenüberstanden und aufgeregt über irgendetwas diskutierten. Tatsächlich waren die beiden so sehr in ihren Disput vertieft, dass sie die unfreiwillige Zuschauerin nicht einmal bemerkten. Thara vernahm noch die Worte „…die Ente bleibt draußen!“, bevor sie entsetzt die Tür wieder zuschlug.
Sie warf einen Blick über den Korridor und zählte noch sechs weitere Türen. Die Rune wird hinter der letzten Tür sein, die ihr ausprobiert, hatte Vabun behauptet. Wenn sie systematisch vorgehen und die Türen der Reihe nach ausprobieren würde, dann wäre die letzte Tür die ganz hinten auf der rechten Seite. Wenn sie nun stattdessen einfach direkt zu dieser Tür ging, könnte sie die ganze Suche abkürzen… Thara war schon losgelaufen, als sie plötzlich innehielt. Einen Moment – das ergab doch überhaupt keinen Sinn! Egal hinter welcher Tür sich die Rune befand, es würde immer die letzte Tür sein, hinter der sie nachschaute, schließlich musste sie danach keine weiteren Türen mehr öffnen! Was für ein Blödsinn! Vabuns ‚Tipp‘ war also vollkommen wertlos. Na toll… Sie verdrehte genervt die Augen, lief dann aber einfach weiter zur hintersten Tür. Schließlich war es vollkommen egal, da konnte sie auch einfach beenden, was sie angefangen hatte.
Thara öffnete die Tür mit einer gewissen Vorsicht. Sie hatte herzlich wenig Bedarf, noch mehr nackte alte Männer zu sehen. Zum Glück erwies sich diese Befürchtung jedoch als unbegründet: Auf der anderen Seite befand sich stattdessen eine Wendeltreppe, die nach unten führte. Thara warf noch einen kurzen Blick zurück zu Arzu, die am anderen Ende des Korridors weiter mit der Kore Fangen spielte, und stieg dann die Treppe hinunter.
Es dauerte nicht lange, bis sie das untere Ende der Treppe erreicht hatte. Sie mündete in einen kurzen Gang, dessen Wände aus grob behauenem Fels bestanden. Der Gang wiederum führte in eine größere Halle, die den Eindruck erweckte, Teil einer natürlichen Höhle zu sein.
Thara hielt sich gar nicht erst damit auf, sich zu fragen, wie das sein konnte – was stattdessen sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war das Podest in der Mitte der Halle, wo auf einer Halterung aus drei ineinander verschlungenen, kunstvoll verzierten Messingstäben ein etwa faustgroßer, ovaler Stein ruhte, der aus seinem Inneren heraus in einen sanften, weißen Schimmer glühte. Das musste sie sein – die Weiße-Magie-Rune! Jedenfalls sah sie genau so aus, wie eine Weiße-Magie-Rune aussehen musste, oder?
Tahas Freude wurde allerdings dadurch gedämpft, dass zwei Kerle in Rüstungen und mit langen Schwertern am Gürtel langsam um das Podest mit der Rune herumgingen. Die Visiere ihrer Helme waren geschlossen, so dass man ihre Gesichter nicht sehen konnte.
Thara duckte sich hinter einen Felsen, und die beiden Wachposten schienen sie nicht zu bemerken. Sie marschierten einfach stoisch und gemessenen Schrittes in einander entgegengesetzter Richtung um das Podest mit der Rune herum. Immer, wenn sie sich nach jeweils einer halben Runde trafen, blieben sie kurz stehen, sahen sich an und tauschten knappe Sätze aus: „Schwierigkeiten?“ – „Missachte das Gesetz, und du missachtest mich!“ – „Was braucht Ihr?“ – „Alles ist in Ordnung!“ – „Ein bisschen spät, um noch herumzuwandern, findet Ihr nicht?“ – „Mein Cousin ist draußen und kämpft gegen Drachen, und was muss ich tun? Wache schieben!“ – „Einst war ich ein Abenteurer wie Ihr, aber dann bekam ich einen Pfeil ins Knie…“ Und dann, ohne von ihrem jeweiligen Gegenüber eine Antwort bekommen zu haben, setzten sie ihre Runde fort.
Thara beobachtete das seltsame Schauspiel eine Weile und fragte sich, wie lange die beiden Wachen nun schon im Kreis latschten und sich sinnlose Sätze an den Kopf warfen. Stunden? Tage? Wochen, Monate… Jahre? Allein bei der Vorstellung bekam sie Kopfschmerzen. Besser, sie dachte nicht weiter darüber nach. Zumal ihr eigentliches Problem war – wie kam sie an ihnen vorbei, um die Rune zu klauen? Sie ließen das Podest keine Sekunde aus den Augen…
Während sie überlegte, verlagerte Thara ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und trat dabei aus Versehen einen kleinen Stein los. Das Steinchen rollte den abschüssigen Weg hinab und prallte schließlich mit einem vernehmbaren Geräusch gegen die Felswand. Thara verfluchte sich innerlich für ihre Ungeschicktheit und machte sich so klein sie nur konnte, als die beiden Wachposten auf das Geräusch reagierten, ihre Schwerter zogen und lautstark zu wissen verlangten, wer dort herumschleiche. In kampfbereiter Haltung gingen die beiden in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und suchten die Umgebung ab.
Als sie nach einer Weile nichts fanden, zuckte einer von ihnen mit den Schultern: „Muss wohl der Wind gewesen sein!“ Dass sich in der Höhle kein Lüftchen regte, schien ihn nicht zu stören. Die beiden Wachen entspannten sich, steckten ihre Waffen weg und nahmen ihre endlosen Runden um das Podest mit den immer gleichen Kurzmonologen wieder auf.
Wenn sie nicht längst akzeptiert hätte, dass in diesem Kastell nicht allzu viel wirklich Sinn ergab, hätte Thara sich vielleicht mehr über das Verhalten der Wachen gewundert. So aber erkannte sie vor allem ihre Chance: Während sie nach dem Ursprung des Geräusches gesucht hatten, hatten die Wachposten die Rune völlig außer Acht gelassen! Sie musste die beiden also nur ablenken, und dann schnell genug sein, um die Weiße-Magie-Rune an sich zu nehmen, bevor die Wachen zurückkamen.
Schnell hatte sie einen Stein gefunden, der geeignet war, für die nötige Ablenkung zu sorgen, und als gerade keiner der Wachen in ihre Richtung schaute, warf sie ihn mit aller Kraft zum anderen Ende der Höhle. Der Stein flog über die Köpfe der Posten hinweg und landete mit einem scharfen klackern irgendwo hinter dem Podest. Wie Thara gehofft hatte, zogen die Wachen ihre Schwerter und liefen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, wobei sie den Schurken, den sie da vermuteten, anblafften, dass er sich zeigen solle.
Thara lief los. Jetzt musste sie schnell sein – und lautlos zugleich! Es war eine Sache der Abwägung: Zu schnell, und die Wachen würden sie vielleicht hören, zu langsam, und sie würden ihre Suche nach dem nicht vorhandenen Eindringling aufgeben, zurückkommen und den echten Eindringling bemerken.
Als die das Podest mit der Rune erreichte, waren die Wachen noch immer dabei, den hinteren Bereich der Höhle abzusuchen. Thara fragte sich einen Moment lang, wieso die beiden nicht kapierten, dass es überhaupt keine Möglichkeit gab, dorthin zu gelangen, ohne vorher an ihnen vorbeizumüssen, aber das sollte nicht ihr Problem sein. Sie schnappte sich die Rune, die sich warm anfühlte und ein angenehmes Kribbeln ihren Arm hochsandte, und wandte sich um, gerade in dem Moment, als einer der Wachposten verkündete: „Muss wohl der Wind gewesen sein!“
Thara warf erschrocken einen Blick über die Schulter, wo die beiden Wachen entspannt ihre Schwerter wegsteckten, und rannte los. Diesmal achtete sie nicht mehr darauf, leise zu sein. Sie sprintete einfach in Richtung der Treppe. Seltsamerweise blieb der Alarmruf, den sie erwartet hatte, aus – und als sie kurz vor der Treppe noch einen Blick zurück riskierte, da hatten die beiden Wachen ihre Patrouillengänge um das nun leere Podest wieder aufgenommen, als wäre nichts geschehen. Thara schüttelte den Kopf. Das sollte einer verstehen…
Egal. Sie hatte die Rune! Den warmen, schimmernden Stein fest in der Hand, hastete sie die Treppe nach oben, stieß die Tür auf und stürzte in den Gang hinaus. Hoffentlich ging es Arzu gut…
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Die Kore war eine erbitterte Gegnerin und trieb die Varanterin den verstaubten Korridor rauf und runter. Einen anderen Weg gab es nicht. Arzu misstraute den Türen. Womöglich könnte man eintreten, aber nicht wieder herauskommen. Auf die Probe stellen wollte sie es nicht. Zu Arzus Glück war die lebendige Statue alles andere als gewandt. Drehen und Wenden waren ihre Schwäche und nur wenn sie sich ungehindert geradeaus bewegen konnte, nahm die Kore wirklich an Fahrt auf. Für Arzu hieß das, so oft wie möglich Haken zu schlagen. Jetzt war sie froh darüber, mit Yarik über die ganze Insel gelaufen zu sein, denn die Ausdauer brauchte die Varanterin nun dringend.
Als ihr langsam die Luft ausging, entdeckte Arzu am Ende des Korridors Thara. Triumphierend hielt sie die Rune in die Höhe. Das Spielchen mit der Kore hatte sich gelohnt. Mit einem Wink deutete die Magierin ihrer Begleiterin so schnell wie möglich zur Kutsche und damit in Sicherheit zu rennen. Keuchend hastete Arzu an der Statue vorbei. Dieses Mal jedoch blieb ihr Stiefel am Mottenzerfressenem Teppich hängen und sie kam unsanft zu Fall. So unsanft, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. Panik stieg in der Varanterin auf, denn sie spürte förmlich wie die Kore sich von hinten näherte. Gerade noch rechtzeitig schaffte es Arzu auf die Beine. So dachte die Magierin zumindest.
Der weite Umhang flatterte auf Arzu zu und es erschien unumgänglich, darin gefangen zu werden. Ohne einen anderen Ausweg zu haben griff die Magierin nach einem Zipfel des Umhangs und zog ihn zwischen sich und die näher kommende Statue. Unfähig auszuweichen raste die Kore in gerader Linie in ihren eigenen Umhang und verschwand. Was zurück blieb war eine verdutzte Arzu in einem ansonsten leeren Korridor. Um ihr Glück nicht weiter zu strapazieren, lief die Varanterin Thara hinterher und sprang in die Kutsche.
»Tschuldigung!«, rief sie, als sie sich geradezu auf ihre Begleiterin schmiss.
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Wenn es etwas gab, worauf Thara nicht vorbereitet war, dann darauf, plötzlich unter Arzu zu liegen. Sie erstarrte förmlich, als die Varanterin sich mit einem lapidaren „‘tschuldigung!“ auf sie warf und die Tür hinter sich zuzog. Gleich darauf gab auch noch Vabun den nicht vorhandenen Pferden die Zügel, so dass die Kutsche mit quietschenden Rädern einen Satz nach vorn machte, was die beiden ineinander verschlungenen Frauen nur noch tiefer ins Sitzpolster drückte. So engen Körperkontakt hatte Thara seit Jahren nicht mehr mit irgendwem gehabt… und auch davor höchstens alles andere als freiwillig. Dass sie es außerdem nicht als unangenehm empfand, machte die Sache nicht besser. Es widersprach allem, was sie gewohnt war. Wie sollte sie jetzt darauf reagieren? Sie hatte keine Ahnung!
Letztlich war es Arzu, die die Hauptarbeit dabei übernehmen musste, sich und Thara wieder in eine halbwegs sitzende Position zu bringen. Thara selbst vor allem versuchte vor allem, sich hinter ihren Haaren zu verstecken und Arzus Blicken auszuweichen. Sie spürte schon wieder allzu deutlich, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Fast schon krampfhaft hielt sie die Weiße-Magie-Rune umklammert, als wäre das eine Entschuldigung dafür, dass sie nicht mithelfen konnte.
Vabun lenkte die Kutsche unterdessen durch ein seltsames Labyrinth an Tunneln und Korridoren, deren Weitläufigkeit nicht den geringsten Sinn ergab. Man konnte fast meinen, sie existierten nur aus dem Grund, damit die pferdelose Kutsche des halbversteinerten Schwarzmagiers mit einem Affenzahn durch das Kastell rasen konnte. Nicht, dass Thara sich gerade auch nur im Geringsten dafür interessiert hätte – sie war viel zu sehr damit beschäftigt, zu versuchen, nicht zu atmen und zugleich ihren rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Entsprechend bekam sie auch wenig davon mit, was Vabun über das Lichtschwert erzählte, das sie als nächstes zu beschaffen hätten...
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Gekonnt quetschte sich Arzu neben Thara auf den Sitz. Wieder machte ihre Begleiterin einen abwesenden Eindruck und versteckte sich geradezu hinter ihren Haaren.
»Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?«, erkundigte sich die Varanterin. Selbst durch den Schleier aus Haaren war deutlich das gerötete Gesicht erkennbar. »Du hast doch kein Fieber, oder?«
Für Arzu käme es zumindest nicht als Überraschung. Die Temperaturen auf der Insel ließen zu wünschen übrig und das bisschen Kleidung, das Thara trug, konnte mit Sicherheit nicht warm halten.
»Wenn wir das hier heile überstanden haben, holen wir heiße Milch mit Honig aus dem Refektorium. Das hilft mir immer, wenn ich mich nicht ganz wohl fühle.«
Dann wandte sich Arzu an Vabun, der in der Zwischenzeit unentwegt vor sich hin plapperte. Ob ihm nun jemand zuhörte oder nicht.
»Erzähl noch einmal die Sache mit dem Schwert.«
»Also! Meraton kann nur mit dem Lichtschwert besiegt werden. Das verrieten mir die Steine. Und sie zeigten mir den berühmt berüchtigten Hinweis!«
Der zeitweise versteinerte Mann erntete daraufhin nur ratlose Blicke.
»Elzebir hat sich das Teil doch ausgeliehen oder es gestohlen. Darüber beraten die Steine noch. Jedenfalls hinterließ er diesen Hinweis mit einem Rätsel, das ich nach langer, harter Arbeit entschlüsselt habe. Der Vorteil eine Statue zu sein ist, dass man jede Menge Zeit hat, sich über diese Dinge Gedanken zu machen. Daher weiß ich, dass sich das Lichtschwert mit ziemlicher Sicherheit im Brunnen befindet. Behütet von diesem Scheusal von Frau!«
»Das wussten wir doch schon alles!«
»Tatsache? Hm, dann ist es halt nur eine Gedankenstütze für die Leser.«
»Wer?«
»Denkt nicht weiter drüber nach! Wir sind nämlich schon da!«
Sie waren am Eingang zum Innenhof angelangt. Zu ihrem Erstaunen floss Wasser von dort in den Korridor und stand ihnen bereits Kniehoch. Zu dritt wateten sie in den Innenhof und mussten erkennen, dass die Situation dort noch schlimmer aussah. Wo sich sonst Blumenbeete und Rasen befanden, blickte man jetzt in ein tiefblaues Gewässer, aus dem nur die Esche und der Brunnen herauslugten. Arzu machte mutig den ersten Schritt in der Annahme, dass das Wasser hier nicht tiefer sein konnte als im Korridor. Schließlich waren Korridor und Innenhof ebenerdig. Doch der Eindruck hatte getäuscht! Im Bruchteil eines Augenblicks verschwand die Varanterin unter der Wasseroberfläche und hinterließ nur noch Luftblasen.
»Sie war doch noch so jung!«, schrie Vabun theatralisch mit beiden Fäusten in den Himmel gehoben, während Thara auf den Knien in das Wasser starrte. Nach einer kurzen Weile kamen weitere Luftblasen an der Stelle empor, an der Arzu verschwunden war. Plötzlich stieß die Magierin durch die Wasseroberfläche, als ob sie etwas aus den Tiefen herauf hievte. In in einiger Entfernung stieß außerdem ein metallischer Turm an die Oberfläche und mit ihm ein rutschiger Laufweg, der vom Eingang des Innenhofs, am Turm vorbei bis hin zum Brunnen auf der anderen Seite reichte. Ein Mann erschien auf der Spitze des Turms und grüßte.
»Man nennt mich den Alten. Eure Kameradin war in Seenot; da musste ich helfen!«
»Tausend Dank!«, antwortete Vabun, »Wir müssen dort hinten zum Brunnen. Spricht was dagegen, wenn wir über... das Ding hier laufen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber macht schnell!«
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Thara balancierte vorsichtig möglichst mittig auf dem glitschigen Steg, oder was auch immer es war, das da plötzlich aus den schwarzen Fluten mitten im Innenhof des Kastells aufgetaucht war. Das Metall unter ihren Fußsohlen war eiskalt, aber größere Sorgen bereitete ihr die Furcht, auszurutschen und ins Wasser zu fallen. Sie konnte nicht schwimmen und würde wahrscheinlich einfach untergehen wie ein Stein, und wer wusste schon, ob selbst dieser ‚Alte‘ ihr dann noch helfen konnte? Und Vabun würde wahrscheinlich nicht einmal theatralisch jammern wie bei Arzu, sondern einfach nur mit den Schultern zucken.
„Immer froh zu helfen“, sagte der ‚Alte‘, während er zusah, wie Vabun gefolgt von Arzu und Thara auf seinen eisernen Turm zuwankte, „Aber was willst du beim Brunnen? Nach dem letzten Mal dachte ich nicht…“
„Oh, bei Beliar, erinner‘ mich nicht daran!“, stöhnte Vabun, „Zu meiner Verteidigung, ich war betrunken und alles war ein einziges großes Missverständnis!“
„Ändert nichts daran, dass die Geschichte noch immer zu beliebtesten Theaterstücken unter den Goblins zählt“, grinste der ‚Alte‘, „Insbesondere der dritte Akt, 'Hart wie Stein', wo du deinen Zauberstab…“
„Hör auf!“, kreischte Vabun und fuchtelte wild mit den Armen, „Kinder könnten das hier lesen! Und außerdem, wir haben jetzt wichtigeres zu tun! Meine beiden Begleiterinnen hier werden das Lichtschwert bergen, damit wir Meratons fetten Hintern endlich vor die Tür setzen können!“
Der ‚Alte‘ runzelte die Stirn: „Das Lichtschwert? Ich dachte, das sei längst gefunden worden? Wenn ich die Logbucheinträge noch richtig in Erinnerung habe, war da dieser Waldläufer…“
„Du meinst wohl diesen Esteban? Oder, wie er sich nannte, Don Esteban? Pfff!“ Vabun machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich frag mich ja bis heute, wer diesen Streuner überhaupt ins Kastell gelassen hat! Nur weil er vor dem Tor geschlafen hat wie so ein heimatloses Hündchen… So ein Gesindel kann doch mit zivilisierter Lebensweise gar nichts anfangen! Ich wette, der hat sich längst wieder eine Höhle gesucht, in der er hausen kann, das Kastell war jedenfalls eindeutig kein Ort für ihn. Äh, was wollte ich eigentlich sagen? Achja, nein, das Lichtschwert, das dieser Strauchdieb geführt hat, war das Falsche. Irgendeine geringfügig magische Klinge, aber nicht das eigentliche, das echte Lichtschwert! Das lag die ganze Zeit hier, genau unter ihren Nasen, und sie sind nicht draufgekommen. Tja, hätten sie mich mal damals schon gefragt…“
„Du warst damals noch gar nicht–“
„Woher willst du das denn wissen? Du bist gerade mal einen Post alt, ‚Alter‘! Sag mir lieber, ob noch was von dem Rum da ist!“
„Der Rum? Du meinst den vom letzten Mal?“, grinste der ‚Alte‘, „Ja, da ist noch etwas da… Warum fragst du?“
„Weil wir uns schließlich die Zeit vertreiben müssen, während die Mädels die Sache mit dem Lichtschwert deichseln“, erklärte Vabun und wollte gerade die Leiter zu dem metallenen Turm des ‚Alten‘ hochklettern, aber Arzu hielt ihn fest. Die Varanterin stemmte empört die Hände in die Hüften und verlangte zu wissen, wieso er sich eigentlich schon wieder verdrücken wollte, nachdem sie schon die Weiße-Magie-Rune ohne seine Hilfe hatten bergen müssen. Vabun und der ‚Alte‘ wechselten einen kurzen Blick und der Mann auf dem Turm verzog wie von einem tiefen inneren Schmerz erfüllt das Gesicht. „Tjaaa, also, das…“, begann er zögerlich.
„…ist kompliziert“, beendete Vabun den Satz für ihn, „Zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen, junge Dame. Für euch beide ist der Brunnendämon jedenfalls viel weniger gefährlich. Also ist es besser, ich halte mich da raus. Und nun…“
Plötzlich hörte man aus dem Brunnen ein leises Plätschern und einen Moment später flötete eine kräftige Frauenstimme herauf: „Daaaarliiiiiing! Bist duuuuu daaaaaas?“
Der ‚Alte‘ riss entsetzt die Augen auf, während Vabun im wahrsten Sinne des Wortes vor Schreck erstarrte: Für eine Sekunde verwandelte er sich gänzlich in Stein, bevor er wie von der Tarantel gestochen den Turm hochkletterte.
„Verdammt! Verdammt!“, schimpfte der ‚Alte‘, schob sich die Mütze aus der Stirn und brüllte durch eine Luke oder Falltür in seinem Turm nach unten: „Alarmtauchen! Fluten! Alle Mann nach vorn! Schnella! SCHNELLAAAA!“, bevor er selbst hineinsprang, dicht gefolgt von Vabun, der dabei eine schwere metallene Klappe hinter sich zuzog. Es gab ein lautes Klonk!, dann standen Arzu und Thara allein neben dem Turm und sahen sich ratlos an.
„Daaaarling! Ich höre doch, dass du da bist!“, tönte es aus dem Brunnen. Zugleich begann das Eisenkonstrukt unter ihren Füßen zu zittern und zu rumpeln – und wieder in den Fluten zu versinken! Zum Nachdenken blieb keine Zeit, die beiden jungen Frauen liefen den schwankenden Eisensteg entlang, so schnell sie konnten. Das eisige Kastellinnenhofwasser reichte ihnen schon wieder fast bis zu den Knien, als sie es auf das rettende Inselchen mit dem Baum und dem Brunnen daneben schafften. Ungläubig sahen sie zu, wie der Steg samt Turm wieder im Wasser versank, bis nichts mehr außer ein paar Luftblasen überhaupt noch auf seine Existenz hindeutete.
„Daaarling?“
Ein langer, schwarzer Tentakel glitt über den Brunnenrand, dann ein zweiter, ein dritter.
Schließlich hievte sich eine korpulente Frau mit bläulicher Haut aus dem Brunnen. Ihr Gesicht war stark geschminkt und die weißen Haare hatte sie zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt. Ihr gewaltiger Busen steckte in einem hautengen, organisch wirkenden schwarzen Kostüm, das irgendwie nahtlos in die Tentakel überging, die sie statt Beinen besaß. Sie ließ sich mit einer gewissen Eleganz auf dem Brunnenrand nieder und suchte den Innenhof ab.
„Seltsam…“, murmelte sie mehr zu sich selbst, „Ich war mir sicher, ich hätte den guten Vabi gehört…“ Schließlich richtete sich ihr fragender Blick auf Arzu und Thara, die unschlüssig am Rand der kleinen Insel standen. „Ihr habt ihn nicht zufällig gesehen?“
Die beiden zögerten eine Sekunde, schüttelten dann aber gleichzeitig die Köpfe. Die Tentakelfrau seufzte. „Hach… naja. Wer seid denn ihr beide? Ich kenne meine üblichen Besucher, wenn überhaupt welche kommen, und euch zwei habe ich noch nie gesehen…“
Mit einer geradezu unheimlichen Leichtigkeit glitt der massive Frauenkörper auf den Tentakeln vom Brunnenrand und auf die beiden angehenden Schwarzmagierinnen zu. Der Brunnendämon überragte sie ein gutes Stück und beugte sich zu ihnen herunter, ein irgendwie nicht so recht vertrauenerweckendes Lächeln im Gesicht.
„Oh, ihr armen, unglücklichen Seelen – ihr habt etwas auf dem Herzen, das sehe ich euch an!“ Sie musterte zuerst Arzu, dann Thara, die sich nicht zu rühren wagte – nicht einmal, als die Tentakelfrau ihre Hand ausstreckte und ihr die Haare aus dem Gesicht strich, um dann eine Grimasse zu ziehen, die zur Hälfte Abscheu, zur Hälfte Mitleid war: „Oh, Darling, was ist denn mit deinem Auge passiert? Das sieht ja eklig aus! Herrjeh… Habt keine Angst, ich kann euch bestimmt helfen! Aber oh, was bin ich nur für eine furchtbare Gastgeberin!“ Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn: „Verzeiht mir, meine Manieren! Kommt doch herein, ich mache uns Kaffee und Kuchen, und dann könnt ihr mir in aller Ruhe erzählen, was ihr braucht!“
Irgendwie schaffte es der Dämon, zwischen die beiden jungen Frauen zu gleiten und ihnen jeweils einen Arm und einige Tentakeln um die Schultern zu legen. Ohne ihr eigenes Zutun wurden Arzu und Thara in Richtung des Brunnens geschoben. Es war offensichtlich eine Einladung, die sie nicht ablehnen konnten…
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Arzu wusste ganz und gar nicht, was sie von diesem Dämon aus dem Brunnen halten sollte. Im ersten Augenblick erschien die Kreatur ihnen freundlich gesinnt zu sein. Fast zu freundlich. Doch im Anbetracht der Reaktion des Alten und Vabuns, wuchs in der Varanterin der Argwohn. Denn spätestens, wenn sie das Schwert in ihren Besitz gebracht hätten, würde der Dämon aus dem Brunnen gewiss andere Saiten aufziehen. Arzu hatte nicht den blassesten Schimmer, wie sie dann vor dem Wesen fliehen sollten. Schließlich hatten die beiden Männer den einzigen Weg vom und zum Brunnen versenkt. Ob sie das Kunststück wiederholen konnten und den Turm aus den Fluten heben?
Umgeben von Armen und Tentakeln stiegen Thara und Arzu in den Brunnen hinab. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, tauchten sie dabei unter Wasser und nur ein Zauber der korpulenten Tentakelfrau ermöglichte ihnen das Atmen. Ihre Situation änderte sich schnell von bedrohlich zu geradezu aussichtslos.
Zu Arzus Erstaunen machte das Innere des Brunnens einen geradezu heimeligen Eindruck. Es gab Möblierung im Stil wie man ihn auch im Rest des Kastells finden konnte. Mit der Eigenheit, dass alles aus Materialien zu bestehen schien, die es nur in den Tiefen des Meeres zu finden gab. Zwei dicke Muränen schwammen wie wohl erzogene Wachhunde sogleich zum Dämon aus dem Brunnen und buhlten um die Aufmerksamkeit der Kreatur.
»Meine Lieblinge!«, säuselte die feiste Frau und kraulte die langen Schnauzen ihrer Haustiere. »Habt keine Angst, meine Herzchen tun niemandem etwas! Solange man sich benimmt.« Mühelos schaffte es der Dämon aus dem Brunnen, gleichermaßen freundlich und bedrohlich zu klingen. Für Arzu stand fest, dass ihre Gastgeberin tückischer als Treibsand war. Wenn sie und Thara nicht aufpassten, endeten sie aller Wahrscheinlichkeit nach, als Futter für die Muränen.
»Meine Darlinge, nehmt doch Platz!«, sagte die korpulente Dame und schob Thara und Arzu sehr bestimmt in zwei große Ohrensessel aus einer Art rotem Schwamm. Die beiden Muränen legten sich indes unter den Tisch aus Korallen.
»Bevor ihr mir eurer Anliegen schildert, wie wäre es mit Kaffee und einem Stück Kuchen? Besonders DU könntest mehr auf deine Rippen vertragen!«, sagte der Dämon aus dem Brunnen und deutete auf die hagere Thara. In unerwarteter Grazie wirbelte ihre Gastgeberin um die eigene Achse und im nächsten Augenblick erschienen aus dem Nichts Kaffee und Kuchen auf dem Korallentisch.
»Nur zu! Esst!«, sprach die korpulente Frau ihnen in einem charmanten, aber kommandierenden Tonfall zu. Gabeln aus Fischgräten materialisierten sich in den Händen der beiden Magierinnen und um den Dämon aus dem Brunnen nicht unnötig zu verärgern, aß Arzu ein Stück des Kuchens. Es war eine seltsame Mischung aus Algen und Lachs. Nicht etwas, dass sie jeden Tag haben müsste, doch auch nicht ungenießbar.
»Nun, was führt euch also zu mir? Oh, sagt es nicht! Die Kleine will eine Rundumerneuerung! So dürr, so grässlich! Gut, dass du zu mir gekommen bist!«
»Nein, es geht um mich!«, warf Arzu schnell ein, die sich inzwischen bewusst war, wie ungern Thara im Fokus der Aufmerksamkeit stand. Doch was genau wollte Arzu eigentlich? Offensichtlich hatte sich der Dämon aus dem Brunnen auf Äußerlichkeiten spezialisiert. Auf ihr Äußeres war Arzu jedoch stolz; das besaß keinen Makel!
»Also...«, fuhr die Varanterin fort und suchte verzweifelt nach einer Idee. Dann fiel ihr etwas ein. »Die Liebe! Es ist die Liebe, die mich herbringt! Ich habe schon alles versucht, doch finde ich nicht den richtigen! Der letzte wollte mich sogar umbringen!« Arzu setzte ein betrübtes Gesicht auf. Einen Mann um den Finger zu wickeln war eine Sache. Einen Dämon zu belügen eine ganz andere. Deshalb bemühte sich Arzu bei der Schilderung ihres fiktiven Problems so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.
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Thara stocherte mit ihrer Gabel in dem seltsamen Algen-Lachs-Kuchenstück herum und nahm hin und wieder einen Schluck von dem schwarzen Gebräu, diesem ‚Kaffee‘, wünschte sich aber eigentlich nur noch, irgendwo sehr, sehr weit weg zu sein. Sie machte sich ja keine Illusionen darüber, dass sie nicht sonderlich hübsch war, vor allem verglichen mit einer Schönheit wie Arzu, aber musste dieser verdammte Brunnendämon unbedingt so sehr darauf herumreiten?
Und dann die Geschichte, die Arzu erzählte – von einem Barden namens Brandon, mit dem sie geflirtet hatte, der sie aber dann hatte umbringen wollen, wie er schon etliche Mädchen vor ihr umgebracht hatte. Zum Glück war er erwischt worden, bevor er Arzu etwas antun konnte, und schließlich hatte man ihn an einem Dienstag (das schien irgendwie wichtig zu sein, jedenfalls betonte Arzu, dass es für sie ein ganz normaler Dienstag gewesen sei) erhängt.
Thara konnte natürlich nicht sagen, wie viel von der Geschichte stimmte. Vielleicht tischte Arzu dem Dämon ja auch ein reines Märchen auf. Aber wenn auch nur ein Teil der Erzählung der Wahrheit entsprach, dann kam sie nicht umhin, zu bedauern, dass dieser Brandon bereits tot war und sie ihn nicht ein zweites Mal umbringen konnte. Dafür, dass er unschuldige junge Frauen ermordet hatte. Dafür, dass er Arzu nach dem Leben getrachtet hatte. Und schließlich dafür, dass… Arzu sich für ihn interessiert hatte.
Eigentlich, wenn Thara ehrlich war zu sich selbst, dann war es vor allem letzteres, wofür sie Brandon gern filetiert hätte wie einen Lachs. Allein die Vorstellung, dass Arzu diesem Kerl ihr strahlendes Lächeln schenkte und ihn mit ihren großen, braunen Augen anhimmelte, versetzte ihr einen Stich. Ganz zu schweigen von allem, was sonst noch vielleicht zwischen den beiden passiert war. Es war eine seltsame Empfindung, die sie nicht recht einordnen konnte. Woher kam das? Warum? Es gab überhaupt keinen Grund dafür! Und doch, während Arzu erzählte, loderte in Thara immer wieder das Gefühl hoch, niemanden auf der Welt jemals so sehr gehasst zu haben wie diesen Brandon – einen Mann, den sie nie kennen gelernt hatte…
„Oh, Darling, das ist ja furchtbar!“, rief der Brunnendämon, als Arzu mit ihrer Erzählung zum Ende gelangt war, und hielt sich theatralisch die Hand vor die Stirn, „So viel Pech, dabei bist du so ein hübsches Ding! Nur gut, dass du zu mir gekommen bist! Ich habe genau das Richtige für dich…“
Die dämonische Brunnenhexe vollführte eine knappe Bewegung mit dem Handgelenk und plötzlich erschien ein kleines, silbernes Döschen auf ihrer Handfläche. Als sie es öffnete, loderte mit einem Mal eine bläuliche Flamme darin auf.
„Ich nenne es ‚Zunder‘, weil es dazu dient, die wahre Liebe zu entfachen!“, erklärte der Dämon, „Es funktioniert folgendermaßen: Hier in der Flamme siehst du Kandidaten, die für dich in Frage kommen, und wenn dir einer gefällt, wischst du kurz nach rechts. Gefällt er dir nicht, wischst du nach links. Und wenn du dir schließlich einen ausgesucht hast…“
„Äh… e-entschuldigt, a-a-aber ich… m-müsste mal w-w-wohin…“, unterbrach Thara schüchtern die Ausführungen ihrer Gastgeberin, die ihr daraufhin einen Blick zuwarf, als wäre das Mädchen irgendetwas Ekliges, in das sie gerade hineingetreten war.
„Oh, natürlich, Darling!“, sagte sie schließlich und setzte wieder ihr durch und durch falsches Lächeln auf, „Für dich ist das hier sowieso noch nicht interessant, bei dir müssen wir erst einmal ganz woanders ansetzen… Wie auch immer. Der dritte Gang links.“ Der Dämon wedelte mit der Hand in Richtung eines Durchgangs, den ein aus bunten Korallenstückchen gefertigter Perlenvorhang verdeckte, und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz Arzu.
Thara verschwand hinter dem Vorhang, froh, die Freier-Auktion für ihre Begleiterin nicht miterleben zu müssen. Aber das war selbstverständlich nicht der eigentliche Grund, wieso sie behauptet hatte, mal für kleine Mädchen zu müssen (versuchte sie sich einzureden) – vor allem ging es natürlich darum, das Lichtschwert zu finden! Im Wohnzimmer des Dämons hatte sie nichts entdecken können, was auch nur annähernd wie ein Schwert aussah, mit oder ohne Licht. Also musste diese tolle magische Klinge wohl irgendwo hier hinten aufbewahrt werden. Nur… wo?
Wie sich herausstellte, war sie Behausung des Brunnendämons weitläufiger, als man auf den ersten Blick erkennen konnte. Thara betrat einen langen Stollen, von dem links und rechts zahlreiche weitere Gänge abzweigten. Als sie zum dritten Gang links kam, sah Thara dort drei Türen eingelassen, auf die jeweils ein Strichmännchen gemalt war – eines ohne besondere Merkmale, eines mit Kleid und Zöpfen und das dritte war eine Mischung aus den anderen beiden – es hatte nur auf einer Seite ein Kleid, so dass es aussah, als würde ein starker Wind wehen und an seiner Kleidung zerren. Thara hatte keine Idee, was das bedeuten sollte, und stieß probehalber die Türen auf, aber hinter allen dreien befand sich nur ein einfaches Plumpsklo.
Thara trat zurück und schaute den Gang entlang. So viele Abzweigungen, so viele Türen – so viele Plätze, an denen das Lichtschwert sein konnte… Wo sollte sie nur anfangen?
Wie lange würde Arzu den Dämon beschäftigen können, bevor er misstrauisch wurde?
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»Zunder?«, wiederholte Arzu ungläubig. Was für ein absurder Name für solch ein Ding! Die Idee für sich genommen hatte allerdings Potential. Neugierig nahm die Varanterin die kleine Dose entgegen und sah direkt einen Kandidaten in der blauen Flamme. Nicht nach ihrem Geschmack. Mehrfach wischte Arzu auch bei den folgenden Anwärtern nach links und händigte die Dose schließlich enttäuscht an ihre Gastgeberin zurück. Sie musste sich ja nicht mit jedem abgeben.
»Woher kommen die Männer überhaupt?«, fragte Arzu.
»Natürlich aus der ganzen Welt, Darling! Das Meer ist voller Fische, warum sich also auf einen Tümpel beschränken?«
»Aber wie kommt der denn dann zu mir? Oder muss ich zu ihm?«
Offensichtlich eine Frage, die der Dämon aus dem Brunnen nicht zu beantworten wusste.
»Nun, meine Liebe, das ein oder andere Detail meines Zunders ist noch in Arbeit.«, druckste die feiste Dame herum.
»Verstehe!«
Tatsächlich hatte Arzu beinahe vergessen, dass sie Thara Zeit verschaffen und nicht nach der großen Liebe Ausschau halten sollte. Die beiden Muränen unter dem Korallentisch riefen es ihr in Erinnerung, als sie unruhig um die Tentakeln ihrer Herrin schlängelten. Eine schoss plötzlich in die Richtung davon, in die auch Thara verschwunden war. Die zweite Muräne wollte gerade folgen, als Arzu beherzt nach ihr griff und sie an ihre Brust zog.
»Was für liebreizende Haustiere!«, sagte die Varanterin und kraulte die lange Schnauze der Muräne, wie sie es zuvor bei dem Dämon aus dem Brunnen gesehen. Im ersten Augenblick versuchte sich der Fisch noch aus Arzus Griff zu winden, doch hatte die Magierin offenbar die richtige Stelle zum Kraulen getroffen.
»Wie schade, dass sie nur unter Wasser leben!«, erklärte die Varanterin bekümmert. Die Augen ihrer korpulenten Gastgeberin leuchteten begierig auf.
»Es ließe sich einrichten, dass du unter Wasser leben könntest!«, sagte der Dämon aus dem Brunnen. »Du würdest eine hervorragende Meerjungfrau abgeben!«
»Muss ich tatsächlich eine Jungfrau dafür sein?«
Die feiste Dame lachte laut und grinste.
»Du könntest auch Tentakeln bekommen, wenn dir das mehr zusagt.«, erwiderte der Dämon aus dem Brunnen und stricht sich über die eigenen Tentakeln.
»Ein verlockendes Angebot! Aber da ist doch bestimmt ein Haken an der Sache!?«
»Ein Haken? I wo! Es kostet nur eine Kleinigkeit.«
»Und das wäre?«
»Dein liebreizendes Stimmchen, Darling.«
»Aber ich mag meine Stimme! Die behalte ich!«
»Wie bedauerlich!«
Ihr Gespräch war an einem Wendepunkt angelangt, das konnte Arzu spüren. Die Geduld des Dämons wollte sie nicht noch weiter strapazieren und sie hoffte inständig, dass Thara das Schwert bald gefunden hätte.
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Kisten, Kisten und… mehr Kisten!
Leise fluchend schloss Thara die Tür wieder. Es war nun schon der fünfte oder sechste Raum, in dem sich bis unter die Decke irgendwelcher Kram stapelte. Diese dämonische Brunnenhexe schien eine Sammlerin zu sein, nur eben nicht eine Sammlerin bestimmter Dinge, sondern einfach von absolut allem! Dinge, die tatsächlich wertvoll aussahen, lagen da zusammen mit völlig unbrauchbarem Schrott auf einem Haufen. Wie sollte sie in diesem Chaos jemals das Lichtschwert finden? Wahrscheinlich war das gute Stück irgendwo unter einem Berg von wertlosem Kram vergraben!
Unwillkürlich musste Thara an die verrückte alte Nachbarin denken, die immer mit dieser Astgabel in der Hand durch ihren versumpften Hinterhofgarten gelaufen war, weil sie behauptete, mit ihrer ‚Wünschelrute‘, wie sie das Ding nannte, Wasseradern und Schätze unter der Erde orten zu können. Das wäre genau, was sie jetzt bräuchte – eine Wünschelrute für Lichtschwerter (und zwar eine, die auch wirklich funktionierte; die alte Nachbarin hatte nie etwas wertvolleres als Schweinescheiße gefunden)!
Thara stutzte. Ihre Hand fuhr in die kleine Seitentasche ihres Kleides und zog den darin befindlichen Gegenstand heraus: Die Weiße-Magie-Rune! Nachdenklich betrachtete sie erstmals gründlicher den flach-oval geformten, blütenweißen Sein von der Größe eines Hühnereis, drehte ihn hierhin und dorthin und fuhr mit dem Finger langsam die feinen Gravuren auf seiner Oberfläche nach, auch wenn sie über die Bedeutung der arkanen Symbolfolge 255.255.255|#FFFFFF höchstens mutmaßen konnte. Das Lichtschwert bündelt die Kraft der Weißen-Magie-Rune, oder irgendetwas in diese Richtung hatte Vabun ihnen erklärt, deswegen bräuchten sie ja auch beides. Und wenn die Rune und das Schwert zusammengehörten…
Thara nahm die Rune in beide Hände, schloss die Augen, atmete langsam ein und aus und versuchte, sich auf den magischen Stein zu konzentrieren. Sie wusste nicht so recht, was genau sie sich davon erhoffte, aber zumindest war das, wie sie sich die Funktionsweise von Magie vorstellte. Ein weiser Mann hatte einst gesagt: Magie ist Physik durch Wollen! Muss man wissen! Und Thara wollte jetzt das Lichtschwert finden!
Zunächst geschah nichts, aber gerade, als sie ihr Experiment enttäuscht aufgeben wollte, bemerkte Thara, wie die Rune in ihren Händen plötzlich wärmer wurde und sie einen silbrig schimmernden Punkt sehen konnte, obgleich sie die Augen noch immer geschlossen hielt. Das musste es sein! Die Rune wies ihr den Weg zum Lichtschwert – wie eine Wünschelrune!
Hoffentlich ist es am Ende keine Schweinescheiße…, dachte sie und lief los.
Die Suche erwies sich dennoch als nicht ganz einfach. Thara konnte das leichte Schimmern des Lichtschwertes nur sehen, wenn sie die Augen schloss, und es zeigte nicht den Weg an, nur das Ziel. Die Höhle des Brunnendämons entpuppte sich jedoch als ein labyrinthartiges Gewirr aus Gängen, und mehrmals, als Thara glaubte, kurz vor dem Ziel zu sein, musste sie wieder umdrehen, weil der Stollen in einer Sackgasse endete.
Gerade war ihr wieder genau so etwas passiert und sie wandte sich seufzend um, als sie hinter dem Durchgang, der sie in die Sackgasse geführt hatte, einen Schatten vorbeigleiten sah – etwas Längliches, das ein paar Fuß über dem Boden zu schweben schien. Erschrocken versteckte sich Thara hinter einem Türstock und spähte vorsichtig in den Gang. Da war es wieder! Jetzt erkannte Thara auch, worum es sich handelte: Eine der Muränen des Brunnendämons! Klar, dass es aussah, als würde sie schweben – sie befanden sich ja unter Wasser und der Fisch konnte einfach schwimmen. Der Zauber, mit dem die beiden angehenden Magierinnen vom Brunnendämon belegt worden waren, um in diesem für sie eher ungeeigneten Habitat überleben zu können, sorgte hingegen dafür, dass sie sich praktisch genauso bewegen konnten, als befänden sie sich an Land, so dass Thara fast vergessen hatte, dass sie eigentlich unter Wasser war.
Sie fluchte innerlich und biss sich nervös auf die Unterlippe. Was wollte die Muräne hier hinten? War der Brunnendämon misstrauisch geworden und hatte seine Wach…fische ausgeschickt, um nach ihr zu suchen? War Arzu okay? Sie musste endlich das verdammte Lichtschwert finden! Aber dafür musste sie irgendwie unbemerkt an der Muräne vorbei.
Vorsichtig öffnete Thara die Tür, bei der sie sich versteckt hatte, und spähte in den dahinterliegenden Raum. Wie sie erwartet hatte, war er voller Gerümpel, und leider sah nichts davon so aus, als ob es ihr irgendwie helfen könnte. Gerade wollte sie enttäuscht wieder die Tür schließen, als ihr Blick auf einen alten Wäschekorb fiel, der in einer Ecke vor sich hingammelte. Er war groß genug, dass sie sich darin verstecken konnte, wenn sie in die Hocke ging. Als Kind hatte sie manchmal versucht, sich in einem solchen Korb oder einer Kiste vor ihrem Vater zu verstecken…
Thara biss sich in den Daumenballen, kräftig genug, dass ihre Zähne tiefe Abdrücke hinterließen, um die mehr als unangenehmen Erinnerungen für den Moment zu verscheuchen und sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Sie wusste nicht, ob ihre Idee irgendeine Aussicht auf Erfolg hatte, aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle einfach nicht ein. Sie leerte die halb verrotteten Klamotten, die sich noch in dem Korb befanden, aus, drehte ihn um und kroch darunter. Einige Löcher im Geflecht ermöglichten ihr, nach draußen zu sehen. Derart getarnt wagte sich Thara wieder auf den Gang hinaus…
Vorsichtig näherte sie sich dem Durchgang. Zum Glück sammelte die Brunnenhexe ihre Andenken (oder was auch immer das ganze Zeug war) nicht nur in den Zimmern, sondern auch auf den Gängen stapelte sich der Müll. So bewegte sich Thara Stück für Stück vorwärts, indem sie von einem Müllhaufen zum nächsten tippelte und so tat, als wäre sie nichts weiter als ein harmloser, vor sich hin schimmelnder Wäschekorb, der schon immer hier gelegen hatte.
Schließlich hatte sie den Durchgang erreicht und schob sich langsam hinaus auf den Hauptgang, wo irgendwo die Muräne herumschwimmen musste. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie durch die schmalen Gucklöcher hinausspähte, aber von dem Tier war nichts zu sehen. So schnell wie möglich lief sie zum nächsten Stapel an Gerümpel, den sie entdecken konnte, und kuschelte sich dort förmlich gegen eine zersplitterte Kiste, ein altes Weinfass ohne Boden und die Überreste eines Stuhls mit nur noch zwei Beinen. Sie gönnte sich eine kurze Verschnaufpause – sich so in der Hocke fortzubewegen ging ziemlich auf die Oberschenkel, und sie war nun nicht gerade eine Sportskanone…
Gerade wollte sie weitergehen, als die Muräne um die Ecke gebogen kam. Das Tier schwamm gemächlich den Korridor entlang, schwenkte seinen großen Kopf mit den bösartig aussehenden Zähnen mal hier hin, mal dort hin und kam langsam näher. Als es auf ihrer Höhe war, wagte Thara kaum zu atmen und das Geräusch ihres eigenen Herzens schien ihr so laut zu sein wie orkische Kriegstrommeln.
Die Muräne schwamm jedoch nur unbeeindruckt weiter und würdigte den Wäschekorb keines Blickes (soweit Thara das bei einem Fisch beurteilen konnte), wenig später verschwand sie in einem Seitengang. Thara atmete erleichtert auf und verschwendete keine Zeit – so rasch und zugleich leise wie möglich huschte sie weiter. Sie hielt zwischendurch nur so lange inne, wie sie brauchte, um ihren Beinen eine kleine Pause zu gönnen und sich mit Hilfe der Rune zu vergewissern, dass sie auf dem hoffentlich richtigen Weg war.
Und schließlich, endlich, war sie sich sicher, dass sie nun den richtigen Stollen gefunden hatte. Er war nicht sehr lang und am Ende lag eine Tür aus dunklem, mit Algen bewachsenem Holz. Der inzwischen deutlich wahrnehmbare Schimmer, den sie bei geschlossenen Augen sehen konnte, musste seinen Ursprung hinter dieser Tür haben.
Und gerade, als sie zu einem letzten Sprint ansetzen wollte, tauchte die Muräne wieder auf. Diesmal kam sie von der anderen Seite und Thara konnte sich glücklich schätzen, das Tier überhaupt bemerkt zu haben. Sie kauerte sich wieder hin und versuchte wie beim letzten Mal, nicht das geringste Geräusch von sich zu geben, während die Muräne sich durch den Gang schlängelte.
Zunächst schien es, als würde der Plan auch diesmal funktionieren, aber als sie schon fast an Tharas Wäschekorb vorbei war, hielt die Muräne plötzlich inne und bog ihren langen Körper in Richtung des Korbes. Es sah fast aus, als würde sie an dem modernden Geflecht schnuppern wie ein Hund, und als sie den Korb mit ihrer Schnauze anstupste, hätte Thara fast aufgeschrien. Sie presste sich die Hände vor den Mund und hielt die Luft an, war sich aber inzwischen so gut wie sicher, dass die Muräne wusste, dass etwas faul war. Wenn sie den Korb umwarf…
Stattdessen stieß das Tier mit dem Kopf nach unten, packte irgendetwas, das noch kurz in ihrem Maul zappelte, bevor es einfach heruntergeschluckt wurde, und schwamm dann gemächlich davon. Thara war so erleichtert, dass ihr fast schwindlig wurde. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren! Sowie die Muräne außer Sicht war, kam sie unter dem alten Wäschekorb hervor und hastete den Gang entlang zu der Tür, hinter der sie das Lichtschwert vermutete.
Wie auch die restlichen Türen, war diese nicht abgeschlossen – Einbrecher bereiteten dem Brunnendämon offenbar keine Sorgen. Der Raum dahinter bot jedoch ein völlig anderes Bild, als Thara erwartet hatte. Statt einer weiteren Kammer voller Gerümpel, betrat sie einen Raum, der auf den ersten Blick wie ein Bordellzimmer wirkte, dominiert von einem riesigen Himmelbett aus Koralle und Gold. Magische Kerzen brannten mit tiefrot flackernden Flammen und tauchten den ganzen Raum in ein geradezu erdrückend sinnliches Dämmerlicht. Die Wände waren mit Bildnissen unterschiedlicher künstlerischer Güte sowie Texttafeln behängt (Thara stellte fest, dass sie den einen oder anderen Buchstaben inzwischen sogar benennen konnte, was sie ein klein wenig stolz machte – um die Texte tatsächlich zu lesen, reichten ihre Fähigkeiten aber noch nicht aus), die meisten davon protzig in Gold oder Silber gerahmt. Massive Regale aus dunkler, auf Hochglanz polierter Koralle enthielten kleine Statuetten und andere Dinge, die allesamt in die Kategorie ‚Kitsch‘ fielen – aus rötlichem Kristall geschnitzte Herzen, Glaskugeln, in deren Inneren glitzernde Flitter schwammen, Bücher, die es irgendwie schafften, sich unter Wasser nicht aufzulösen und deren Einbände mit Variationen des immer gleichen Themas verziert waren: Ein muskulöser, oft oberkörperfreier Mann hielt in seinen starken Armen eine dahinschmelzende Frau und sah ihr tief in die schmachtenden Augen, während ihre imposanten Brüste geradezu aus ihrem viel zu engen Korsett zu springen drohten. Thara verzog angewidert das Gesicht und schob das Buch wieder zurück ins Regal. Wenn der Inhalt hielt, was der Einband versprach, dann war sie alles andere als traurig darüber, es nicht lesen zu können…
Gut, sie hatte also offensichtlich das Schlafzimmer der alten Brunnenhexe gefunden. Aber wo war das Lichtschwert? Thara schloss die Augen und drehte sich langsam im Kreis, bis der helle Schein hinter ihren Lidern auftauchte. Das Licht war inzwischen so gleißend, dass sie, als sie die Augen wieder öffnete, kurze Zeit kaum mehr als ein Nachbild sehen konnte. Als sich ihre Sicht wieder normalisierte, erkannte sie die Umrisse von etwas, das wie ein Schrein für eine Gottheit wirkte: Eine Art Altar aus schwarz-rot geädertem Marmor, auf dem zahlreiche der magischen Unterwasserkerzen um ein silbernes Standbild und mehrere kleinere Bilder herum aufgebaut waren. Es hätte Thara nicht weiter überrascht, wenn das Standbild auf dem Altar die gehörnte Maske Beliars gezeigt hätte, oder vielleicht sogar das Symbol Adanos‘, angesichts der offensichtlichen Verbundenheit des Brunnendämons mit dem nassen Element. Aber nein, der Altar war offensichtlich jemand anderem geweiht…
Einem Zwerg.
Die mit großer Kunstfertigkeit geschaffene Plastik zeigte einen kleinwüchsigen Mann, der sich mit einem kecken Grinsen im Gesicht auf etwas stützte, das verdächtig nach dem Rand eines Brunnens aussah. Die kleinen Portraits, die um die Figur herum aufgestellt waren, bildeten denselben kleinwüchsigen Kerl ab. Und nicht nur ihn – auf manchen war auch der Brunnendämon zu sehen. Verwundert nahm Thara eines der Bilder zur Hand, das den Kleinwüchsigen zeigte, wie er vor dem Dämon stand und die Brüste der noch deutlich schlankeren, aber dennoch mit beachtlicher Oberweite gesegneten Tentakelfrau über seinen Kopf stemmte. Das Bild war wie ein Kutschenunfall – Thara wollte nicht hinschauen, aber wegsehen konnte sie auch nicht. Zumal es so scharf und realistisch wirkte, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie jemand dieses Bild gemalt haben sollte. Es war, als hätte man mittels Magie einen Moment der Realität in das Bild gebannt.
Thara schüttelte kurz den Kopf und stellte das Bildnis wieder zurück an seinen Platz. Der Altar war wirklich sonderbar. Aber wo war das Lichtschwert? Auf dem Marmorstein lag nichts, das auch nur annähernd wie ein Schwert aussah. Oder auch nur wie ein Dolch. Nicht einmal ein Licht-Brieföffner! Thara fluchte leise und trat einen Schritt zurück. Konnte es sein, dass die Rune sie doch nicht zum Lichtschwert geführt hatte, sondern aus irgendwelchen Gründen mit diesem absurden Altar für einen kleinwüchsigen Typen verbunden war? Aber warum?
Da bemerkte sie erstmals den in Gold eingelassenen Umriss eines Herzens in dem Marmor, der ihr wegen des dunklen Rotlichts im Zimmer zunächst nicht aufgefallen war. Und in dem Herz stand ein Wort. Thara betrachtete die Buchstaben: Der erste war ein E, dann kam ein L… den nächsten Buchstaben kannte sie nicht, dann wieder ein E, gefolgt von zwei weiteren Buchstaben, die ihr nicht einfallen wollten und schließlich einem R. Zusammen ergab das EL … E … … R - Elzebir!? Das würde passen! Der Name des Typen, der laut Vabun das Lichtschwert entwendet hatte! Konnte es sein, dass dieser Elzebir der Kleinwüchsige war, dem die Brunnenhexe diesen Altar geweiht hatte (aus Gründen, über die Thara lieber nicht zu genau nachdenken wollte)? Und dass sie das Lichtschwert vielleicht irgendwo hier aufbewahrte?
Es war ihre letzte Hoffnung – wenn sich die Spur als falsch herausstellte, hatte sie keine Ahnung, wo und wie sie noch nach dem Lichtschwert suchen sollte. Kurzentschlossen nahm Thara die silberne Statue und drehte sie herum. Und tatsächlich – an ihrer Rückseite war eine Halterung angebracht, in der etwas saß, das wie der Griff eines Schwertes aussah! Ein goldglänzender, leicht gebogener Schwertgriff mit kurzer Parierstange, der Griff selbst war mit dünnem weißem Leder umwickelt. Vorsichtig nahm Thara das Artefakt aus der Halterung und betrachtete es genauer. Sie war sich sicher, den Griff des Lichtschwerts gefunden zu haben – aber wo war die Klinge? Als sie jedoch kurz über eine seitlich der Parierstange eingelassene Rune fuhr, erwachte der Griff plötzlich zum Leben: Er fing an, leise zu summen, und es zischte kurz, als sich die Klinge einfach materialisierte – wie Quecksilber schien Metall aus dem Griff herauszufließen, um sich einen Moment später in Form einer langen, schmalen Klinge zu verfestigen. Verwundert schwang Thara die Waffe zwei, drei Mal hin und her. Sie war unglaublich leicht, fast als würde die Klinge tatsächlich aus nichts anderem als Licht bestehen. Das Metall wirkte allerdings irgendwie dumpf und glanzlos und sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihm etwas fehlte – wahrscheinlich die Verbindung zur Rune!
Thara überlegte kurz, ob sie versuchen sollte, diese Verbindung herzustellen, entschied sich aber dagegen. Sie hatte ohnehin schon viel zu lange gebraucht und konnte nur hoffen, dass der Brunnendämon nicht bereits misstrauisch geworden war. Jetzt galt es, mit dem Lichtschwert aus dem Brunnen zu entkommen, über alles andere konnten sie sich später Gedanken machen!
…womit sie beim nächsten Problem war. Wie sollte sie das Lichtschwert, selbst wenn es nur ein Griff war (eine zweite Betätigung der Rune ließ sie Klinge wieder verschwinden), unbemerkt herausbringen? Um es in die Seitentasche ihres dünnen Kleides zu stecken, war es zu groß, und eine andere Transportmöglichkeit hatte sie nicht! Thara sah sich hastig um. Als ihr Blick auf das Bett fiel, kam ihr eine Idee – mit Hilfe des Lichtschwertes schnitt sich kurzerhand eine der kuschelig-weichen Decken in Streifen und nutze diese, um das Schwert an ihrem Oberschenkel festzubinden. So konnte sie es unter ihrem Kleid verbergen – sie musste nur hoffen, dass sie nicht aus Versehen die Rune betätigte...
Thara spähte kurz durch den Türspalt und schlüpfte dann auf den Gang hinaus, wo sie auf Zehenspitzen weiterschlich. Ob die Muräne noch durch die Gänge schwamm? Sie überlegte, ob sie sich wieder in dem Wäschekorb verstecken sollte, aber das würde sie zu viel Zeit kosten. Sie musste einfach hoffen, dass sie der Muräne nicht über den Weg lief oder sich notfalls irgendetwas einfallen lassen.
So schnell sie konnte, ohne dabei zu viel Lärm zu machen sein, hastete sie die Gänge entlang und hoffte, dass ihre Erinnerung sie in Bezug auf den Weg nicht im Stich ließ. Ein paar Mal glaubte sie, irgendetwas zu hören und sprang erschrocken in irgendeine Nische, aber es war jedes Mal falscher Alarm.
Tatsächlich erreichte sie den Korallenvorhang ohne Zwischenfall. Sie schob sich hindurch und nickte Arzu kurz zu, bevor die Brunnenhexe, die mit dem Rücken zu ihr gewandt dasaß, sie bemerkte. Anschließend schlurfte sie mit hängendem Kopf wieder zu ihrem Platz.
„T-t-tut mir leid, d-dass ich so… l-lange gebraucht habe“, entschuldigte sie sich bei dem Dämon, „W-w-wahr… wahrscheinlich s-sollten wir besser mal gehen, o-oder?“
Geändert von Thara (07.10.2023 um 20:24 Uhr)
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Thara besaß wirklich ein Talent, ungesehen durch die Welt zu kommen. Ein wirkliches Mauerblümchen. Für Arzu wäre so ein Leben undenkbar. Sie brauchte die Aufmerksamkeit und Bewunderung. Insofern - das musste die Varanterin eingestehen - ergänzten sich die beiden ausgezeichnet.
Gerade als Thara vorschlug, dass sie besser verschwinden sollten, durchfuhr den Kopf der Varanterin ein starker Schmerz. Der gleiche Schmerz, der ihr vor diesem Abenteuer offenbarte, dass sie nun eine Magierin sei. Dieses Mal war sie hingegen zur Schwarzmagierin erhoben worden. Wo genau der Unterschied lag, wusste Arzu nicht so recht. Vielleicht war es beim ersten Mal auch einfach nur ein Formfehler gewesen und man hatte das Schwarz vor der Magierin einfach vergessen gehabt. Ein gewisser Stolz wuchs in Arzu heran. Schließlich war das genau der Grund, weshalb sie überhaupt die lange Reise von Isthar hierher auf sich genommen hatte. Mit all den merkwürdigen und gefährlichen Zwischenepisoden.
Wenn sie wieder im anderen Kastell wären, müsste sie Robert einen Brief schreiben. Seit ihrer Abreise hatte die Schwarzmagierin keinen Kontakt mehr zu ihrem Bruder gehabt. Gewiss wäre er stolz auf seine Schwester. Ihre Eltern konnten den erfolgreichen Werdegang ihrer Tochter indes leider nicht mehr miterleben.
»Ja.«, sagte Arzu, kurz durch den Kopfschmerz abgelenkt, »Ja, wir sollten wirklich los.«
»Darling, du willst schon los?! Wie schade! Dabei habe ich noch einige verlockende Angebote, die ihr euch anhören könntet.«, sprach der Dämon aus dem Brunnen mit säuselnder Stimme. Arzu kannte diese Taktik nur zu gut; schließlich hatte sie sie schon das ein oder andere Mal selbst angewendet.
»Es tut mir wirklich leid! Ich habe noch Fladenbrot im Ofen.«
»Fladenbrot? Dafür willst du dir das hier entgehen lassen?!«
»Hey! Es ist eine Kunst ein gutes Fladenbrot zu machen! Das lasse ich mir nicht mies reden.«
Die feiste Dame zuckte mit ihren breiten Schultern und wandte sich statt dessen zu Thara.
»Aber DU kannst doch gewiss noch etwas bleiben?«
Das dürre Mädchen versank der ungeteilten Aufmerksamkeit wegen fast in ihrem Sessel.
»I-i-ich...«
»Sie muss mitkommen. Sie ist nämlich meine Assistentin!«, mischte sich Arzu schnell ein, bevor Thara noch etwas herausrutschte. Die Schwarzmagierin schwamm von ihrem Platz herüber und griff nach Tharas Hand.
»Es tut mir ausgesprochen leid! Wirklich!«, sagte die Varanterin und zog ihre Begleiterin langsam, aber bestimmt von ihrem Sessel. Die korpulente Tentakelfrau schürzte ihre Lippen.
»Du würdest ihr einen Gefallen tun, wenn du sie hier lässt, Darling!«, sprach der Dämon aus dem Brunnen, griff Tharas anderes Handgelenk und zog das hagere Mädchen an ihre ausladende Brust.
»Nein, das glaube ich nicht!«
Arzu wiederum zog ihrerseits an Thara und presste sie an ihre nicht ganz so große Oberweite. Das Spielchen ging noch einige Male hin und her, bis der Dämon aus dem Brunnen ihre Hände hoch schmiss und abwinkte.
»Ja, dann verschwindet doch!«, sagte sie in einem beleidigten Tonfall. »Ihr seid nicht besser, als mein Vabi!«
Der Aufforderung kam Arzu auch sogleich nach. Obwohl es nicht so aussah, ahnte die Schwarzmagierin, dass die Situation ausgesprochen brenzlig war. Noch ein paar falsche Worte und die feiste Dame würde sie vielleicht auch noch in Muränen verwandeln. Oder Lachse.
Mit Tharas Handgelenk fest im Griff, schwamm Arzu zum Ausgang des Brunnens hinauf. Als die durch die Wasseroberfläche stießen, platzten die Luftblasen um ihre Köpfe und sie konnten endlich wieder frische Luft einatmen. Von Vabun oder dem Alten und seinem metallischen Ungetüm war indes nichts zu sehen. Wie sollten sie also von der kleinen Inselchen herunterkommen? Arzus Gedanken rasten. Zur Not müssten sie schwimmen, doch war das Wasser um die Insel herum um ein Vielfaches tiefer als es den Anschein machte. Als sie sich umblickte, fiel der Blick der Varanterin auf die Esche. Das war die Lösung!
»Magische Esche! Ich bin eine Schwarzmagierin und brauche dringend deine Hilfe!«, rief Arzu zur Baumkrone hinauf. Im ersten Augenblick tat sich nichts. Tatsächlich war der Plan der Schwarzmagierin eher ein Bauchgefühl. Alles im Kastell war magisch. Warum also nicht auch die Esche?
Plötzlich beugte sich der massive Baum mit lautem Knarzen und Knacken zu den beiden Magierinnen herab. Ein Ast legte sich um Thara und Arzu und im nächsten Augenblick hob die Esche sie in die Höhe. Immer weiter hinauf und fort von dem kleinen Inselchen und dem Brunnen. Schließlich neigte sich der Baum den Kastellwänden entgegen und stieß ein Fenster im ersten Stockwerk auf, um seine Passagiere dort behutsam abzusetzen.
»Ich danke dir, magische Esche!«, rief Arzu dem Baum hinterher, als er sich wieder in seine Ausgangsposition begab.
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Das Zimmer, in dem die Esche die beiden frischgebackenen Schwarzmagierinnen absetzte, befand sich in einem desolaten Zustand. Es war offenbar seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, nicht mehr betreten worden, und die einstmals luxuriöse Einrichtung war fast zur Gänze verfault und verrottet. Grünspan überzog das Gestell eines Himmelbettes, das früher golden geglänzt und mit einer weichen Matratze zum Verweilen eingeladen haben musste. Die Matratze selbst war von Schimmel zerfressen und wirkte, als würde sie sich verflüssigen, wenn man sie auch nur berührte. Von den Wänden blätterte der weiße Putz in großen Flocken herunter. Die zerschlissenen Überreste eines Wandteppichs, der einst von roter oder schwarzer Farbe und mit fantastischen Figuren verziert gewesen sein mochte, klebten in modrigen Streifen an der Wand und diente Käfern und Spinnen als Unterschlupf. Die fein gearbeiteten Holzmöbel waren in einem gleichermaßen bedauernswerten Zustand, und im Kamin lagen Erde und Unrat.
Das Auffälligste an dem Zimmer war jedoch ein riesiger Spiegel. Sein einstmals silberner Rahmen war schwarz angelaufen und auf seiner Oberfläche hatte sich eine dicke Staubschicht abgelagert. Trotzdem beherrschte er den Raum, es war, als gäbe es keinen Winkel in dem Zimmer, von dem aus man sich nicht in ihm hätte betrachten können, wenn er denn sauber gewesen wäre.
Thara schenkte der Einrichtung inklusive des Spiegels zunächst jedoch kaum Beachtung. Sie war nur froh, dass sie es geschafft hatten, dem Brunnendämon zu entkommen – vor allem nach dem Tauziehen zwischen Arzu und der Tentakelfrau, bei dem sie selbst als Tau hatte herhalten müssen. Thara konnte sich nicht erinnern, dass man sich jemals darum gestritten hätte, sie bei sich zu behalten… Normalerweise war eher das Gegenteil der Fall. Und obwohl die Erfahrung selbst alles andere als angenehm gewesen war, erfüllte die Tatsache, dass Arzu so um sie gekämpft hatte, Thara insgeheim mit einem sonderbaren, unerklärlichen Glücksgefühl. Da fiel ihr ein…
„Oh, äh… i-ich hab‘ das L-l-lichtschwert!“, rief Thara aus und zog den magischen Schwertgriff unter ihrem nassen Kleid hervor, um ihn stolz Arzu zu präsentieren. Bevor die Varanterin etwas sagen konnte, ließ Thara die Klinge sich materialisieren und reichte ihr dann die magische Waffe. „J-jetzt haben wir a-alles, was wir… was wir brauchen, o-oder? Wir m-müssen nur noch V-vabun finden, und dann… k-k-können wir w-wieder zurück…“
„Ja“, bestätigte Arzu, während sie die Klinge begutachtete. Da sie jedoch keine Ahnung hatten, wo Vabun stecken konnte – vielleicht soff er noch immer mit dem ‚Alten‘ irgendwo am Grund des überfluteten Innenhofes –, schlug Arzu vor, dass sie einfach im Reflektiribum auf ihn warten könnten. In der Küche war es warm und sie könnten sich etwas zu essen machen, bis der verrückte Magier wieder auftauchte. Seine Steine würden ihm schon verraten, wo er hinmusste.
Beschwingt öffnete die Varanterin die Tür und trat auf den Gang hinaus…
…um gleich darauf wieder auf dem Absatz kehrt zu machen und zurück ins Zimmer zu hasten, wobei sie Thara fast umgerannt hätte. Sie schlug die schwere Tür hinter sich zu und rammte den eisernen Riegel vor. Nur wenige Sekunden später hörte man wildes Gekreische und Gekicher von der anderen Seite und das Gehämmer von Fäusten und Gegenständen gegen die Tür.
„W-w-was…?“, stotterte Thara und wich ängstlich zurück.
„Goblins!“, keuchte Arzu, „Dutzende!“
Die beiden Frauen starrten nervös zur Tür, während das Hämmern und die Geräusche anhielten. Zum Glück bestand sie aus massivem Holz mit ebenso massiven Eisenbeschlägen, so dass sie trotz ihres Alters selbst für Horden von Goblins eine unüberwindliche Barriere darstellte. Nur, wie sollten die beiden Magierinnen jetzt hier herauskommen?
Arzu versuchte, die Esche noch einmal darum zu bitten, sie doch woanders abzusetzen, aber diesmal reagierte der Baum nicht. Vielleicht waren sie zu weit weg, vielleicht hatte das Gewächs auch einfach keine Lust… jedenfalls verhielt es sich einfach wie ein ganz normaler Baum.
Sie saßen fest.
Nach einer Weile hörten die Goblins zwar auf, wie wild auf die Tür einzuschlagen, aber man konnte noch immer ihr Geschnatter vernehmen. Sie hatten es sich vor dem Zimmer bequem gemacht und dachten sicherlich nicht daran, sich so bald zu verziehen.
„W-w-was jetzt?“, fragte Thara vorsichtig, aber Arzu warf nur mit einer ratlosen Geste die Arme in die Luft: „Woher soll ich das wissen? Wir müssen wohl auf Vabun warten!“
Thara seufzte. Schöner Mist. Wann Vabun auftauchen würde, stand in den Sternen, aber nachdem sie auch keine bessere Idee hatte, würden sie wohl so lange in diesem kalten, zugigen und nach Moder und Feuchtigkeit stinkenden Zimmer ausharren müssen. Thara fror bereits, seit sie den Brunnen wieder verlassen hatten – ihr ohnehin recht dünnes Kleid war ziemlich durchnässt und auch ihre Haare hingen in nassen Strähnen in ihr Gesicht.
Sie ließ sich in einer Ecke nieder, zog die Beine eng an ihren Körper und schlang die Arme um die Knie, während sie versuchte, nicht allzu sehr zu zittern. Nicht, dass es viel gebracht hätte. Als trotz allem ihre Zähne anfingen, zu klappern, wandte sie beschämt den Blick ab.
Geändert von Thara (15.10.2023 um 01:02 Uhr)
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Es war das erste Mal während ihres Abenteuers, dass Arzu dessen überdrüssig wurde. Sie fror genauso wie Thara in ihren nassen Kleidern und es gab keine Möglichkeit, sich hier aufzuwärmen. Was nutzte es der Schwarzmagierin Yariks Trick mit dem Feuerholz zu kennen, wenn sie weder Holz noch Zunder hatte! Davon abgesehen stank der Raum erbärmlich nach feuchtem Moder. So viel Nässe war Arzu einfach nicht gewohnt, obwohl sie gefühlt den ganzen Weg von Stewark bis zum Kastell durch Regen gelaufen war. Nicht zu vergessen, der Morast des Sumpflands. Zumindest hatte sie dort aber ein Feuer machen können.
Arzu hob das Schwert und versuchte die Klinge erneut zu rufen wie es ihre Begleiterin zuvor getan hatte. Erst auf den Hinweis von Thara, dass sie die Rune am Griff berühren musste, erschien die eigentliche Klinge der Waffe. Die Schwarzmagierin missbrauchte sie als Stock, mit dem sie auf der Suche nach etwas Nützlichem durch den Moder stocherte. Doch außer Ungeziefer, welches in alle vier Himmelsrichtungen floh, fand sich rein gar nichts. Natürlich kam Arzu der Gedanke, die Goblins mit dem Schwert zu erschlagen. Im Gegensatz zu vielen anderen Varantern, war sie jedoch kein Schwertmeister. Einen einzelnen Goblin traute sie sich noch zu, aber nur weil sie größer als diese Monster war und nicht wegen des Schwertes.
Verärgert schnaubte Arzu und legte die Waffe beiseite. Nicht einmal hinsetzen konnte sie sich, ohne sich völlig zu verdrecken. Dann fiel ihr Blick auf den großen Spiegel. Er sah ebenfalls heruntergekommen aus wie der Rest des Zimmers. Ein geschickter Handwerker könnte ihn aber sicher noch retten. Die Schwarzmagierin trat vor den Spiegel, um zu sehen, wie schlimm es um ihr Äußeres bestellt war. Wie lange waren sie bereits unterwegs? Tage? Wochen? Es grauste Arzu bei dem Gedanken, dass das einzige Bad, das sie in letzter Zeit genommen hatte, das im Brunnen war. Vorsichtig schnupperte sie an sich selbst. Entweder war es nicht so schlimm oder der Moder übertünchte ihren Geruch.
Mit dem Ballen ihrer Hand versuchte die Varanterin die Oberfläche des Spiegels ein Stück weit zu säubern. Als Arzu sie berührte, durchfuhr die Schwarzmagierin ein elektrisierendes Gefühl und sie sprang augenblicklich zurück. Dort wo ihre Hand den Spiegel berührt hatte, bildeten sich konzentrische Ringe wie auf einer Wasseroberfläche. Fasziniert trat Arzu wieder näher und beobachtete, wie die Ringe langsam verebbten und zuletzt wieder eine glatte Fläche zurückließen. Die Varanterin kam sich dumm vor. Dem Spiegel wohnte Magie inne. Wie hätte es auch anders sein können.
Inzwischen hatte sich Thara zur ihr gesellt und betrachtete ebenfalls das kleine Schauspiel. Vorsichtig stupste Arzu mit der Spitze ihres Zeigefingers auf die Spiegelfläche. Das gleiche elektrisierende Gefühl überkam sie und abermals bildeten sich konzentrische Ringe.
»Probiere das auch mal.«, sagte Arzu zu Thara, die argwöhnisch drein blickte. »Es wird dir nichts passieren. Mir ist ja auch nichts geschehen.« Eine gewagte These, musste sich die Schwarzmagierin eingestehen. Was sollten sie sonst anderes ohne Vabun machen? Herumsitzen war - wie bereits angemerkt - keine Alternative.
Arzu trat zur Seite und beobachtete gespannt, wie Thara ihre Hand gen Spiegel streckte.
»Da-da-da.« stotterte ihre Begleiterin erregt. »Da ist S-s-sinistro!«
»Wer?«
»E-e-er ist ein Sch-Schwarzmagier!«
Geschwind blickte Arzu in den Spiegel und tatsächlich sah sie einen blassen Mann mit stechend grünen Augen. Er schien sie seinerseits nicht zu sehen, obwohl er zum Greifen nah auf der anderen Seite stand. Thara erzählte Arzu über das Experiment, bei dem sie Sinistro zusammen mit Lucia und einem weiteren Schwarzmagier geholfen hatte. Wenngleich sie die Ereignisse erstaunlich kohärent schilderte, schien sie nicht den blassesten Schimmer gehabt zu haben, worum es bei dem Experiment tatsächlich ging. Ein Detail ließ Arzu dennoch aufhorchen. Sinistro hatte einen Golem heraufbeschworen. Mit einem solchen Wesen an ihrer Seite hätten die Goblins nicht den Hauch einer Chance gegen sie. Fieberhaft dachte die Schwarzmagierin darüber nach, wie sie die Aufmerksamkeit Sinistros auf sich ziehen konnten. Weder Winken noch Rufen schien einen Effekt zu besitzen. Dann schoss Arzu ein Gedanke durch den Kopf.
»Tritt beiseite, Thara!«, sagte sie bestimmt und holte tief Luft. Arzu war mulmig zumute und setzte ihr Vertrauen darauf, dass das Kastell ihr keinen Schaden zukommen lassen würde. Beherzt streckte sie ihre Hand aus und griff durch die Oberfläche des Spiegels. Das elektrisierende Gefühl übermannte die Schwarzmagierin beinahe und sie biss die Zähne zusammen. Plötzlich fühlte sie Stoff und sah durch die Wellen auf der Spiegeloberfläche hindurch, dass sie Sinistros Kragen gepackt hatte. Ohne einen Moment lang zu zögern, zog Arzu mit aller Kraft und zerrte den überraschten Schwarzmagier durch den Spiegel.
»Thara, hilf mir!«, rief Arzu und mit gemeinsamen Kräften gelang es ihnen Sinistro vollständig auf ihre Seite zu bringen. Zu dritt fielen sie auf den Boden. Thara begraben unter Arzu und Sinistro wiederum auf der Varanterin. Aus der Nähe sahen die grünen Augen noch stechender aus, als durch den Spiegel.
»Salām!«, säuselte Arzu in ihrer Muttersprache und machte keine Anstalten aufzustehen.
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Der Hohepriester hatte Lucia vor nur einem kurzen Augenblick verlassen, als er erneut durch die Gänge des Kastells irrte – wobei man, wenn man ihn genauer betrachtete, es ebenfalls als schlendern sehen konnte. Ihm selbst kam es auch nicht vor, als irre er umher. Der Magielehrmeister trieb durch das Kastell wie durch das Leben, geführt von einer höheren Macht.
Und während der Mann mit den stechend grünen Augen so dahinschlenderte, die Bilder an den Wänden nicht beachtend, verspürte er einen kurzen und kräftigen Zug an seiner Robe im Nackenbereich, einen Zug, der ihn abrupt abbremsen und stehen bleiben ließ und der ihn im wahrsten Sinne des Wortes aus der Szenerie und aus seinem ruhigen Geschlendere riss.
Nur einen Augenblick später fand sich der Magier auf einer ihm vollkommen unbekannten jungen Frau, die wiederrum auf Thara lag und diese blickte ihn mit erstaunten Augen an. Auch seine Umgebung hatte sich vollkommen verändert. War er eben noch im Kastell, so fand er sich hier in einer heruntergekommenen Kammer wieder, modriger Geruch lag in der Luft und der Staub und die Spinnenweben auf den Möbeln und an den Wänden zeugten davon, dass sie sich an einem Ort zu befinden schienen, den schon lange kein Mensch mehr betreten hatte. Den vielleicht noch nie ein Mensch zuvor gesehen hatte.
Und als könnten sie ihn von der gesamten Umgebung ablenken, blickte Sinistro nun in ein paar haselnussbrauner Augen, deren Besitzerin ihn auf varantisch grüßte. Lange hatte er diese Sprache nicht mehr vernommen und so blickte er einfach weiter in die Augen der jungen Frau, während sein linker Mundwinkel ein Lächeln andeutete und nach oben wanderte.
Nun, wahrscheinlich hätten die Drei noch stundenlang so gemütlich aufeinander liegen können, Thara, die keine Widerworte von sich geben wollte, die Unbekannte, die ihre Augen nicht von den grünen Augen des Hohepriesters lassen konnte und Sinistro, der
Sich soeben an seine Zeit in Bakaresh erinnerte, doch ein Donnern an der Türe riss das unfreiwillig zusammengewürfelte Trio aus ihrer Ruhe.
„D-d-die Go-goblinsen..!“ flüsterte Thara und riss ihr gesundes Auge auf. „W-w-wir …“ begann sie einen Satz, führte ihn jedoch nicht zu Ende.
Auch die haselnussbraunen Augen der Frau direkt unter dem Hohepriester wurden nun noch größer. Sie versuchte sich zu erheben, was zu mehreren Dingen führte: Zunächst einmal spürte Sinistro ihre Oberweite an seiner Brust und zog dabei seine linke Augenbraue nach oben, gleichzeitig bewegte sich der Hohepriester ein wenig in die Höhe, um ihre Intimsphäre nicht weiter zu verletzen und nicht mehr mit vollem Gewicht auf den beiden Frauen zu liegen und drittens bewegte sich irgendein Knie unterhalb des Magielehrmeisters so, dass es ihn beinahe an einer sehr empfindlichen Stelle mit nicht unerheblicher Wucht getroffen hätte.
Katzengleich war der Grünäugige nun in einem Wimpernschlag auf seinen Beinen und half auch schon den beiden Frauen, wieder auf ihren eigenen Füßen zu stehen.
Dann drehte er sich einmal um sich selbst, begutachtete die Szenerie ausführlich und seufzte.
„Hmm, euer Anblick verleiht dem Örtchen hier einen ganz besonderen Glanz“, schmunzelte der Magus als er Thara und die unbekannte in Vergleich zu dieser Kammer setze.
Erneut vernahm man deutlich ein Donnern gegen die Türe.
Und wie aus dem nichts waren nun beide Münder der Frauen in Bewegung. Leider hatten sie ihre Geschichte vorab nicht aufeinander abgestimmt, seltsamerweise kam Thara auch vor lauter Panik kaum mehr ein Stottern über die Lippen, doch verständlich war das, was ihm zu Ohren kam, nicht für den Überraschten.
Also beschloss er, sich ein wenig Zeit zu verschaffen. Er trat an die Türe und schloss die Augen, legte dabei seine Hände auf den eisernen Riegel und tippte scheinbar wahllos auf der Oberfläche des Riegels herum. Es dauerte einen kurzen Augenblick, dann leuchtete die Türe und der Türrahmen einmal kurz in einem grellen grün auf, ehe sich der Magier wieder zu den beiden Frauen umdrehte.
„Was auch immer Gogoblinsen sein mögen- die kommen hier nicht mehr durch. Diese Tür habe ich magisch verschlossen“ beruhigte er nun die beiden Frauen und forderte sie auf, ihm in Ruhe zu erzählen, wo er hier war, wie er hierhergekommen sei und warum sie beide hier wären.
Dabei wanderte Sinistros Blick wieder und wieder über die vermoderte und heruntergekommene Einrichtung dieses Kämmerchens.
Skeptisch und staunend verfolgte der Magielehrmeister nun die Geschichte der beiden jungen Frauen und nur der Umstand, dass Arzu und Thara ihm die weiße-Magie-Rune und das Lichtschwert zeigen konnten, ließ ihn davon abkommen, seine heilerischen Fähigkeiten an ihrem Geist wirken zu lassen. Andererseits: Er hatte ebenfalls bereits Erfahrung mit dem obersten Stockwerk des Kastells machen dürfen – und diese Geschichte klang im Nachhinein erheblich unwahrscheinlicher als das, was die jungen Frauen erlebt hatten. Nachdem der Magier nun erfahren hatte, welchem Umstand er seine Anwesenheit hier zu verdanken hatte, nahm er den Spiegel, der ohnehin das gesamte Zimmer einzunehmen schien, einmal ein wenig genauer in Augenschein. Vielleicht wäre der Weg aus dieser Kammer hinaus genauso einfach wie in diese Kammer hinein.
Der Grünäugige blickte Arzu kurz an und zwinkerte ihr zu, dann schenkte er Thara ein Lächeln und seine Hände trafen auf den schwärzlich verfärbten Rand des Spiegels. Er schloss die ihn beschreibenden grünen Augen und suchte nach dem Ursprung dessen, was ihn hierhergebracht hatte, er suchte nach der Magie, die hinter diesem Objekt stecken musste.
Tiefer und intensiver suchte er nach dem Ursprung, nach dem Netz, nach dem Funken Magie, der diesem Spiegel innewohnen musste. Nur um wenige Augenblicke später festzustellen, dass die Oberfläche des Spiegels vollkommen ermattet war und nach dem Transport eines Hohepriesters durch die Hände zweier junger Frauen kein Funke Magie mehr in dem Ding verblieben war.
Der Suchende gab einen kurzen Laut des Erstaunens von sich, das Wort Mist kam ebenfalls über seine Lippen und er murmelte den jungen Frauen zu, dass der Weg, den sie für ihn genutzt hatten, für niemand anderen mehr zu Verfügung stünde und sie nun zu dritt die Suche nach dem nicht immer versteinerten Vabun antreten müssten.
„Und da ihr wisst, wo man den Steinernen, der nicht mehr steinern ist, finden kann – geht voran. Ich halte euch den Rücken frei…“
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