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Trotz der Finsternis auf ihr Äußeres bedacht, rückte Arzu als erstes ihr Kleid wieder zurecht. Selbst Brandon hatte sich seinerzeit nicht so fest an ihre Brüste geklammert. Nachdem das Wichtigste erledigt war, tat es die Magierin ihrer Begleiterin gleich und sah sich im Raum um. Ein Rondell mit einer Vielzahl von Gängen. Die Varanterin versuchte sich zu erinnern, was das Buch beschrieben hatte.
Hier musste es sein.
Plötzlich spürte Arzu wie Thara an ihrem Kleid zerrte und mit flacher Stimme sagte: »Arzu, w-w-was ist das?« Das Stottern ihrer Begleiterin wurde indes übertönt von donnernden Schritten. Etwas großes schob sich durch einen der acht Gänge. Buchstäblich. Denn sie konnten das Schaben von ledriger Haut auf Stein zwischen den einzelnen Schritten deutlich hören.
Das Widerhallen der Geräusche verschleierte aus welchem der acht Gänge das Ungetüm tatsächlich kam. Arzu ging furchtlos auf eine der Öffnungen zu. Sie wusste schließlich, womit sie es zu tun hatte. Unsanft stieß sich die Magierin aber ihren Kopf und landete auf dem Boden. Sie war gegen eine Wand gelaufen. Was wie ein Gang aussah, war nur aufgemalt! Davon stand nichts im Buch. Etwas Panik stieg in Arzu hoch.
Zügig rappelte sich die Varanterin wieder auf und tastete sich an der Wand des kreisrunden Raums entlang. Auch der zweite und dritte Durchgang entpuppten sich als Täuschung. Indes wurden die Schritte noch lauter als zuvor. Arzu kehrte langsam ins Zentrum des Rondells zurück, wo Thara zusammengekauert wartete. Ihr rechtes Auge schimmerte unheimlich in der Dunkelheit.
Von einem Moment auf den anderen verstummten die Schritte und es wurde so leise, dass man eine fallende Stecknadel gehört hätte. Arzus Blick huschte über die falschen Wandöffnungen. Nichts schien sich geändert zu haben. Bis ihre Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Öffnung fiel. Die dunklen Umrisse dieses vermeintlichen Torbogens dehnten sich nach rechts und links aus. Die Magierin konnte sich keinen Reim darauf machen, bis Thara an ihrem Kleid zupfte und ihren Blick nach oben lenkte. Höher und höher.
Schließlich sah Arzu, was ihre Begleiterin längst entdeckt hatte. Zwei fahl leuchtende Augen umgeben von perfekter Schwärze. Ein kalter Schauer lief den Rücken der Varanterin hinunter. Bis hierher hatte ihr Selbstbewusstsein sie getragen. Doch im Angesicht dieses Ungeheuers überkamen Arzu Zweifel, ob der Sinnhaftigkeit ihres Ausflugs wegen.
»Sei gegrüßt, Wächter!«, sagte die Magierin mit allem Mut, der ihr noch übrig geblieben war. Die Antwort ließ nicht auf sich warten und kam in der Form eines überzeichneten Grinsens mehrerer Dutzend Reißzähne.
»Liiiiiiiiiebe Zauberinnen!«, säuselte das Ungeheuer in einer bizarren Stimmlage. Es beugte sich tief zu ihnen hinunter. Dabei gab es den Blick auf einen immens langen Hals preis, der nicht im Geringsten zum massiven Körper der Kreatur passte. »Sooooooo lange ist es her! Niemand kommt mich mehr besuchen!« Eine große Traurigkeit schwang in der Stimme mit.
Dann hallte ein knautschendes Geräusch im Raum wider, als das Ungeheuer einen weiteren Schritt nach vorne tat und sein Bauch sich aus der Enge des Gangs befreite. Rechts und links trug es jeweils eine Kiste unter dem Arm.
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Thara zuckte zusammen, als das unförmige Monstrum die beiden Kisten, die es unter den Armen getragen hatte, krachend auf den Boden fallen ließ. Sie versteckte sich förmlich hinter Arzu, die mit einer für Thara unbegreiflichen Selbstsicherheit dem Dämon, oder was auch immer das Ding sein mochte, gegenübertrat. Woher wusste sie, dass es sie nicht in Stücke reißen würde?
Das Ungetüm machte einen Schritt zurück. Der runzlige Kopf mit den Reihen scharfer, gelber Zähne schwang auf dem langen, dünnen Hals hin und her. Der Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, aber trotz des Haifischgrinsens wirkte das Wesen nicht aggressiv, und wenn es sprach – in einer Stimmlage, die viel zu hoch war für ein Monstrum dieser Größe – schwang eine unüberhörbare Traurigkeit in seinen Worten mit. Eine Traurigkeit, die Thara nur zu gut nachvollziehen konnte. Sie entspannte sich ein wenig… aber nur ein wenig.
Arzu hingegen hatte wieder gänzlich ihre Fassung zurückgewonnen. Es war, als hätte sie all das erwartet. Es musste wohl in dem Buch gestanden haben, diesem Wälzer über die Geschichte des Kastells.
Die Varanterin verbeugte sich höflich vor dem langhalsigen Riesen und ging dann zu einer der Truhen. Als sie jedoch versuchte, den Deckel zu öffnen – nichts. Die Truhe war fest verschlossen. Sie versuchte es mit der zweiten Truhe, aber auch diese ließ sich nicht öffnen. Sie rief Thara heran, es zu versuchen – umsonst. Die Truhen, zwei schwere, bronzebeschlagene Kästen aus pechschwarzem Holz, waren abgeschlossen.
„Ooooh, es tut mir leiiiiiid“, säuselte der Dämon und zuckte mit den breiten Schultern, so dass sein ganzer aufgeblähter Leib wackelte, „Aber iiiiiiiich habe nur die Geschenke. Ihr werdet die Schlüssssel brauchen…“
Langsam hob er eine Hand und deutete mit einer dolchartigen Klaue auf einen der Gänge an der gegenüberliegenden Wand.
„Meiiiiiin… Bruder hat sie. All die… Schlüssssel. Er bewahrt siiiiiiie… aber er… er wiiiiill sie für siiiiiiich behalten. Er sagt… die Besuuuuucher haben sie nicht verdient! Siiiiiie sind nicht… wüüüürdig! Die Schätze… sie sollten uuuuuns gehören! Aber er hat… unrecht! Unrecht! Unrecht!“
Das Monster wirkte auf einmal aufgebracht und schlug mit einer Faust auf den Boden. Thara zuckte zusammen und ging wieder hinter Arzu in Deckung. Der Dämon erhob sich schnaubend, sein Kopf schaukelte auf dem viel zu dünnen Hals wild hin und her.
„Ihr müssssst… eure Schlüüüüssel finden!“, knurrte er. Seine Stimme war auf einmal mehrere Oktaven tiefer und jede Freundlichkeit war aus ihr gewichen. „Nur dann… kann ich ihm beweiiiiiiiisen dass er… unrecht hat! Geht! Bringt die Schlüssel! Bringt die Schlüssel!“
Thara kannte diese Stimmlage. So unmenschlich die Stimme des Monsters auch war, so universal war das, was in den Worten mitschwang. Es war keine Bitte. Es war kein Angebot. Es war ein Befehl. Ein Befehl, von dem das Monster erwartete, dass er sofort ausgeführt wurde, und wenn sie nicht gehorchten, würden sie die Konsequenzen zu spüren bekommen. Fast schon instinktiv nickte Thara und huschte mit eingezogenem Kopf davon, wobei sie Arzu hinter sich herzog, in Richtung des Ganges.
„Lauft!“, rief der Dämon, „Briiiiiiingt… die Schlüssel! Und… lasst euch besser nicht von ihm erwischen!“ Er fing an zu kichern. Sein manisches, wahnsinniges Kichern echote in den finsteren Gang, den die beiden jungen Frauen nun entlangrannten, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Seid leiiiiiisssseeee…“, kicherte der Dämon, „Leiiiiiiiiiiiissssssseeeeeee!“
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Die Magierin hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Viel zu lange nun war sie schon damit beschäftigt das magische Auge zu beschwören. Ewig blieb das Podest nun schon völlig leer. Manchmal bildete sie sich ein, dass es kurz etwas wackelte. Doch keine Spur von einem Auge. Die Magierin brach das ganze zwischendrin mehrmals ab, um das Kapitel in ihrem Buch nachzuschlagen aber etwas wirklich Neues ließ sich nicht zwischen den Zeilen erblicken. Leicht schien der Mondschein durch das Fenster oberhalb des Raumes und lenkte sie kurzzeitg ab. Mit der Zeit schien sich Lucia auf alles besser konzentrieren zu können als auf das leerstehende Podest in der Mitte des Raumes.
Erneut schüttelte sie den Kopf und versuchte ihre Gedanken frei zu machen. Abermals wechselte sie ihre Position. Ein Fuß leicht nach vorne gestellt, den anderen etwas zurück. Sie fokussierte ihre Gedanken, konnte das Auge erkennen. In ihrem Kopf konnte sie es bereits wahrnehmen, erkennen - von den Adern bis zum Lid lag es genau vor ihr. Sie musste es nur noch beschwören.
Die rötlich schimmernden Sterne verdichteten sich, machten ihr Wirken realer. 'Jetzt nur nicht ablenken lassen, Lucia..', dachte sie bei sich und blieb dran. Sie hob ihre Hände und ihre Finger schienen sich beim Versuch das Sehorgan zu beschwören beinahe zu verkrampfen. Das rötliche Schimmern wurde intensiver und greller. Und nun endlich nach stundenlangen Versuchen manifestierte sich endlich das Auge. Die Sterne verschwanden - das Auge war völlig klar und deutlich zu sehen. Lucias Stand entspannte sich und sie schritt langsam und ungläubig etwas näher an das Podest, beobachtete das Werk ihrer ersten Beschwörung. Es wirkte so klein, so unscheinbar...kaum zu glauben das sie so viele Stunden damit verbracht hatte es zu rufen. Es starrte sie an. Wäre es nicht ihr eigenes Experiment gewesen, so wäre es ihr vermutlich genau jetzt kalt den Rücken hinunter gelaufen. Plötzlich ein klatschen, direkt hinter ihr. Am Ende des Raumes, in der Nähe der Tür stand sie mit verschränkten Armen und mit einem Bein an der Wand angelehnt. "Na, wurde auch Zeit.", sprach die Manifestation ihrer selbst.
Die Magierin drehte sich zu ihr, sah ihr Spiegelbild überrascht an. Bei der kurzen Freude ihrer erfolgreichen Beschwörung war ihr noch nicht klar, dass sie nur den ersten Teilschritt erfolgreich absolviert hatte. "Jetzt musst du es nur noch schaffen deine Sehkraft auf das Ding zu übertragen...und das möglichst bevor es wieder verschwindet.."
, erklärte ihr Zwilling und exakt in diesem Moment verpuffte das Auge - als würde es verbrennen und verschwand sofort wieder. Hastig wandte sich Lucia wieder von ihr ab, richtete ihren Blick zurück zum Podest und konnte gerade noch erkennen wie das Auge einfach verschwand. Wie sollte sie in dieser kurzen Zeit die Kombination vollführen und anschließend noch einen Nutzen daraus ziehen können? Die Freude in ihrem Gesicht hatte sich ziemlich schnell in Verzweiflung umgewandelt. "Na...willst du schon aufgeben? Los, gleich nochmal..", forderte ihr Abbild.
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Diese spontane Flucht erinnerte Arzu unweigerlich an Yarik. Wieder rannte sie, wieder vor einem riesigen Biest. Dieses Mal jedoch ließ sie niemanden zurück. Im Gegenteil.
Keuchend rannten Thara und Arzu den dunklen Gang entlang, der zuvor nichts weiter als ein aufgemalter Schatten gewesen war. Dass sie in der Dunkelheit nicht stolperten, grenzte an ein Wunder. Nach einigen Minuten des ziellosen Rennens, brachte Arzu ihre Beileiterin zum Stehen.
»Wir können nicht einfach so blindlings weiter rennen.«, sagte die Varanterin und atmete schwer. »Wir sollen leise sein hat... es gesagt.«
Auf Arzu machte es den Eindruck, als ob Thara nur allzu sehr damit vertraut war, geschwind das Weite zu suchen, wenn es Ärger gab. Was auch immer sie in ihrer Vergangenheit erlebt hatte, zeigte auch jetzt noch deutliche Spuren.
Für einen Augenblick hielten die beiden inne. Selbst jetzt hatten sich Arzus Augen kaum an die Dunkelheit gewöhnt. Lag es am Gemäuer? Sie konnte es nicht sagen. Langsam setzten sie ihren Weg fort. Der Tunnel wandte sich nach rechts und links, ohne eine einzige Abzweigung entlang des gesamten Weges.
Plötzlich spürte Arzu wie die Enge des Tunnels wich. Ein Gefühl der Nacktheit überkam die Varanterin, als ob sie auf freiem Feld stünde und schutzlos ausgeliefert wäre. Zumindest war auch die undurchdringliche Finsternis im Tunnel zurückgeblieben. Beileibe war es nicht hell, jedoch konnten sie jetzt grobe Schemen in der näheren Umgebung ausmachen.
»Ich habe da ein ganz mieses Gefühl.«, flüsterte Arzu und versuchte vergeblich, sich zu orientieren. Zu allem Übel überkam die Magierin auch noch ein Schwindelgefühl und hielt sich noch rechtzeitig an Tharas Schulter fest. Doch da merkte sie, dass das kränkliche Mädchen genauso schwankte wie sie selbst.
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Der Boden unter ihren Füßen schwankte wie ein Schiff auf hoher See und Thara hatte Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren, vor allem, als sich Arzu auch noch an ihrer Schulter festhielt. Das Beben dauerte zum Glück nur wenige Sekunden, bevor es wieder ruhig wurde. Trotzdem hatte Thara ein mindestens ebenso mieses Gefühl wie ihre Begleiterin.
„W-wo… wo s-sind wir?“, fragte sie flüsternd und ihre Stimme zitterte ebenso wie die Hand, mit der sie sich die Haare aus dem Gesicht wischte, um sich besser umsehen zu können. Mit Erstaunen stellte sie fest, dass sie sich offenbar im Freien befanden. Über ihren Köpfen wölbte sich keine steinerne Decke, sondern ein klarer Sternenhimmel.
Nur, dass Thara keine einzige Sternenkonstellation wiedererkennen konnte.
Auch wenn sie keine Gelehrte war, und nichts wusste von den Sternzeichen und Planetenbahnen, in denen manch ein Wahrsager die Zukunft zu erkennen hoffte, kannte sie den Nachthimmel über Argaan doch gut genug. Sie hatte oft Stunden damit verbracht, irgendwo verborgen in einer Nische zu sitzen und einfach nur in diesen Himmel zu starren, während sie sich weit, weit wegträumte, heraus aus der Hölle, die ihr Leben war. Und die Sterne über Argaan waren andere gewesen. Arzu zuckte jedoch nur mit den Schultern. Sie wusste ebenso wenig wie Thara.
Vor ihnen lag eine breite, steinerne Brücke, die sicherlich mehrere hundert Schritte lang war, bis sich am anderen Ende ein schwarzes Gemäuer erhob, eine Art seltsame Burg mit zahllosen Türmen und Türmchen, die gewisse Ähnlichkeit mit dem Kastell hatte und zugleich massiv und ätherisch wirkte – das Gestein, aus dem sie errichtet war, schimmerte bläulich im Mondlicht. Dabei war nicht einmal ein Mond am Himmel zu sehen.
Die Brücke war vier oder fünf Schritte breit, hatte keine Brüstung und bestand aus nur grob behauenem, verwittertem Fels, scharfkantig und durchzogen von Rissen und Spalten. Sie wirkte, als wäre sie aus einem einzigen Stück geschlagen worden.
Und erzitterte plötzlich wieder.
Das Beben dauerte auch diesmal nur einige wenige Sekunden, in denen die ganze Brücke sich kurz nach links und rechts neigte.
„W-was ist das?“, flüsterte Thara, als es vorbei war, aber natürlich konnte ihre Begleiterin ihr das auch nicht sagen. Vorsichtig ließ sich Thara auf alle Viere nieder, um im Falle eines erneuten Bebens besseren Halt zu haben, und kroch langsam zum Rand der Brücke. Arzu zögerte kurz, tat es ihr dann aber gleich.
Was sie erblickten, verschlug ihnen den Atem.
Zunächst war da das Land um sie herum. Der dunkle Gang, aus dem sie gekommen waren, führte in das Innere eines Berges. Zwischen diesem Berg und der Burg auf der anderen Seite spannte sich die Brücke über ein Tal, dessen Grund in Dunkelheit gehüllt war. In der Ferne jedoch erhoben sich weitere schroffe Felsen und Berge, allesamt grau und leblos, triste Wüsten aus Sand und Gestein. Keine Spur von Leben war auszumachen, keine Spur von Bewegung. Selbst der feinste Staub lag vollkommen ruhig da, als gäbe es keinen Wind, ihn aufzuwirbeln.
Wo auch immer sie waren… Es war nicht mehr Argaan!
Ein leises, dumpfes Rumpeln kündete ein erneutes Brückenbeben an. Erschrocken krallten sich die beiden Frauen am Fels fest, um nicht in die unermessliche Tiefe zu stürzen. Das Beben war zum Glück nicht besonders stark, nur ein kurzes Schwanken, als…
Thara blinzelte und kniff die Augen zusammen. Konnte das wirklich sein? Das Beben war eine Folge dessen, dass die Brücke… einen Arm ausgestreckt hatte!
Sie wagte es, sich noch ein Stückchen weiter über den Rand hinaus zu schieben, um einen besseren Blick nach unten zu bekommen. Einen besseren Blick auf die Brücke.
Auf den Golem, auf dessen Rücken sie lagen!
Die Ausmaße der Kreatur waren kaum greifbar, aber Thara war sich sicher, dass sie eine Schulter erkennen konnte, die allein schon die Größe eines Hügels erreichte, und einen Arm, der länger war die Zitadelle von Thorniara hoch. Der Unterleib des Golems verschwand im Dunkel, und so konnte sie nur spekulieren, wie hoch die steinerne Monstrosität wirklich war. Der Golem musste die Dimensionen eines Berges haben. Und er trug nicht etwa die Brücke… er war die Brücke.
Vorsichtig kroch Thara wieder zurück und lehnte sich gegen die Wand des Ganges, aus dem sie gekommen waren, schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Sie zitterte und hatte das Gefühl, dass ihr Herz gegen ihren Brustkorb hämmerte wie ein gefangenes wildes Kaninchen gegen das Gitter seines Käfigs. Jeden Augenblick erwartete sie, dass die Brücke sich wirklich regen und die beiden jungen Frauen auf ihrem Rücken abschütteln würde wie lästige Insekten.
Kurz sah sie zu Arzu, aber die Varanterin schien bereits zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Thara wollte sie packen und schütteln und ihr ins Gesicht schreien, was bei Beliar sie sich bei all dem gedacht hatte, ob sie überhaupt nachgedacht hatte…
Aber natürlich tat sie das nicht. Sie nickte nur stumm, als Arzu erklärte, dass sie wohl keine andere Wahl hatten, als die ‚Brücke‘ zu überqueren.
Langsam stand Thara auf und setzte behutsam einen Fuß auf die Brücke, auf den Golem, immer in Erwartung dessen, dass er sich regen würde.
„Wir… m-müssen vorsichtig sein…“, murmelte sie, „Meinst du, dass… s-so ein Golem uns… spüren kann?“
Ob der Brückengolem sich deshalb bewegt hatte? Weil die beiden Menschen auf seinem Rücken ihn kitzelten? Wie Fliegen, die einem auf der Haut herumkrochen? Thara hatte keine Vorstellung davon, wie so ein Golem… funktionierte.
Zögerlich ergriff sie Arzus Hand und sie begannen ihren Weg über die Brücke. Sie hielten sich möglichst in der Mitte und Thara setzte mit äußerster Behutsamkeit einen Fuß vor den anderen, trat mit den Zehen zuerst auf, als würde sie schleichen, und vermied es, auf Risse und Spalten zu treten aus Angst, dass es vielleicht den Brückengolem reizen könnte. Während der ganzen Zeit wagte sie kaum zu atmen, den Blick starr auf den Boden vor sich geheftet.
Daran, was sie auf der anderen Seite der Brücke erwarten mochte, verschwendete sie keinen Gedanken.
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Nachdem der Magier die gewonnenen Erkenntnisse seines Experiments niedergeschrieben hatte, versuchte er über die letzten Tage hinweg, die verschiedenen vorher beschriebenen Ausgänge mit dem tatsächlichen Hergang übereinzubringen. In der Theorie hätte der Golem die Sphären durchschreiten sollen, die Praxis endete in einem heillosen Chaos. Und hierfür hatte der Schwarzmagier derzeit noch keine Erklärung. Es waren seine magischen Fähigkeiten, die ein Schlimmeres verhindert hatten, dennoch war die Magie in diesem Fall gefühlt unkontrolliert und ungebändigt über ihn, seine Helfer und das Experiment hereingebrochen. Und es war dort noch etwas zusätzlich Ungreifbares, das den Magier mit den grünen Augen beschäftigte. Etwas, das sich neben ihnen allen in dem Raum befand, in dem Sinistros Experiment stattgefunden hatte.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit machte sich breit, als er erneut darüber nachdachte, dass die Magie während seines Experiments seiner Kontrolle entzogen war. Es war das eingetreten, wovor er seine Zöglinge immer gewarnt hatte, es war das eingetreten, das nicht eintreten durfte.
Doch all sein Grübeln und Missmut halfen im nicht dabei, eine Lösung zu finden. Und so machte sich der Hohepriester auf, die Bibliothek zu befragen und eine Erklärung für das Geschehene zu finden.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Grünäugige sein Ziel erreicht hatte, das Kastell schien ihm, der sonst immer versuchte auf die Kleinigkeiten zu achten, die diesen Ort auszeichneten, heute einen Umweg aufzubürden – so zeitaufwändig kam ihm der Weg von seinem Labor in die Bibliothek noch nie vor. Doch damit nicht genug: auch die Bibliothek schien heute, anders als gewohnt, nicht die übliche Geschwindigkeit zu zeigen, nachdem Sinistro ein Stichwort zur Suche hatte fallen lassen.
Oder lag es an dem Hohepriester selbst? War er wacher, aufmerksamer und schneller als gewohnt und interpretierte dadurch das Kastell als träge?
Auch das galt es zu beobachten und zu hinterfragen. Dennoch hatte der Magielehrmeister zunächst eine andere Aufgabe, um die er sich kümmern wollte und so setzte er sich an eines der Lesepulte und begann zu lesen.
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Dies konnte unmöglich das Kastell sein, dachte sich Arzu, als sie zum Sternenhimmel aufblickte. Andererseits wusste sie aus dem Buch, dass innerhalb des Gemäuers allerhand Unmöglichkeiten möglich waren. Vielleicht handelte es sich nur um eine Illusion, der die beiden Frauen anheimfielen. Eine in der Tat sehr mächtige Illusion.
Indes zeigte die Varanterin nur wenig Reue aufgrund ihrer derzeitigen Situation. Thara schien sich nicht wohl bei der ganzen Sache zu fühlen, aber Arzu wusste, dass sie vom Kastell nichts zu befürchten hatten. Solange sie sich nicht völlig dämlich anstellten. Selbst der enorme Brückengolem änderte nichts an der Einstellung der Magierin. Doch wie sollte sie das Thara begreiflich machen, wenn sie nicht einmal das Buch lesen konnte, aus dem Arzu ihr Wissen zog?
Hände haltend machten sich die beiden Zauberinnen auf den Weg über den Rücken des Golems. Tharas Frage konnte Arzu nicht beantworten.
»Wir haben keine andere Wahl.«, erwiderte Arzu. »Die andere Kreatur wird uns ohne Schlüssel nicht zurückschicken.«
Voran also! Thara erwies sich als geschicktes, lautloses Mäuschen, wie sie sich über den steinernen Rücken vorwagte. Im Gegensatz dazu bewegte sich Arzu mehr wie eine übergroße Katze; durchaus geschmeidig, aber gewiss nicht lautlos oder unbemerkbar. Während sie also Katz und Maus auf ihre ganz eigene Art spielten, begann unter ihren Füßen ein lautes Getöse. Es bestand kein Zweifel mehr, dass der Golem sie bemerkt hatte, Tharas Vorsicht zum Trotz.
»Lauf!«, rief Arzu und zog ihre Begleiterin aus ihrer gebückten Haltung. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte und der Horizont sackte mit jeder Sekunde weiter nach unten fort. Tharas Hand fest umklammert, lief Arzu zielstrebig auf das Ende der Golembrücke zu. Sie würden springen müssen!
Genau das taten sie auch. Im Sprung entglitt Arzu die Hand ihrer Begleiterin und sie schlug so unsanft auf dem Boden auf, dass es ihr den Atem verschlug. Es dauerte einen Moment, bis sich die Magierin aufrappeln konnte, da reichte Thara ihr bereits die Hand. Anscheinend hatte sie den Sturz wesentlich besser weggesteckt als die Varanterin.
Inzwischen hatte sich der Brückengolem zu seiner vollen Größe aufgebaut. Obwohl sie ihn nur von der Hüfte aufwärts sehen konnten, überragte dieser Gigant sie um ein Vielfaches. Neugierig blickte der lebende Stein auf die beiden Zauberinnen hinab, machte jedoch keinerlei Anstalten nach ihnen zu greifen. Wenn er überhaupt ein Bewusstsein besaß, dann wunderte er sich vermutlich in erster Linie, woher diese ungeladenen Gäste stammten.
Arzu spürte, wie Thara an ihrem Handgelenk zog. Ihre Begleiterin wollte es offensichtlich nicht darauf ankommen lassen, ob der Golem ihnen gut oder böse gesinnt war. Statt dessen zerrte sie die Varanterin in Richtung des schwarzen Gemäuers, welches sich diesseits der Kluft befand. Ein diffuses Licht schimmerte auf dem Gestein und erschwerte es, einen Eingang ausfindig zu machen. Als sie ihn schließlich in der Form eines großen Tors fanden, öffneten sich dessen Flügel vor ihren Augen, ohne dass sie auch nur einen Finger rühren mussten.
Im ersten Augenblick hätte Arzu wetten können, dass sie sich im Foyer des Kastells befanden. Es war der gleiche, kreisrunde Raum. Eines fehlte jedoch. Die große Statue in der Mitte fehlte!
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Tharas Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, angetrieben von einer Woge von Adrenalin, die durch ihren Körper jagte. Sie konnte sich selbst kaum erklären, wie sie es überhaupt geschafft hatte, die Kraft für den Sprung aufzubringen, als der Brückengolem sich aufgerichtet hatte. Als wäre sie hier irgendwie leichter als in… im echten Kastell.
Denn das hier, das konnte nicht das Kastell sein, oder? Obwohl der Raum, in dem sie sich jetzt ebenso staunend wie misstrauisch umsah, der Eingangshalle des Kastells fast vollkommen glich. Nur die Statue, die Neuankömmlingen so auffordernd ihren Silberteller entgegenstreckte, fehlte.
Zögerlich streckte Thara eine Hand nach der Wand aus und war fast überrascht, als sie kühlen, festen Stein unter ihren Fingern spürte. Sie hatte geradezu erwartet, dass das ‚falsche Kastell‘ sich als eine substanzlose Illusion aus Mondlicht entpuppen würde. Aber nein, es war ebenso solide wie ein Vorbild.
„I-ist das hier ein… zweites Kastell? Oder e-eine… eine andere V-version des Kastells?“
Konnte es vielleicht sogar sein, dass das ‚echte‘ Kastell gar nicht das… echte Kastell war, sondern eigentlich das Abbild und sie sich hier im ‚echten‘, um Ur-Kastell befanden? Vorausgesetzt, es gab überhaupt so etwas wie ein Ur-Kastell und ein Abbild-Kastell und die beiden Gemäuer standen nicht in einem völlig anderen Verhältnis zueinander, das Thara noch weniger begreifen konnte. Sie wünschte sich glatt, Sinistro wäre hier. Der Hohepriester hätte bestimmt eine Erklärung für all das, die er in einem weitschweifigen Vortrag darlegen könnte. Nach dem Vortrag wäre sie zwar genauso schlau wie vorher, aber allein die Tatsache, dass irgendwer in diesen verwirrenden Dingen Sinn und Logik erkennen konnte, hätte sie ein wenig beruhigt.
So musste sie aber wohl ohne diesen Strohhalm zurechtkommen. Arzu auf der anderen Seite machte noch immer einen sehr zuversichtlichen und, für Tharas Verständnis, deutlich zu sorglosen Eindruck.
„W-wohin jetzt?“, fragte das Mädchen vorsichtig. Arzu zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht… Aber wenn das hier das Kastell ist, müsste es ja auch Dämonen geben, oder?“, schlug die Varanterin vor und schloss kurz die Augen, nur um sie nach einigen Sekunden stirnrunzelnd wieder zu öffnen: „Hm… nichts.“
„Keine D-dämonen? U-u-und nun?“
Da sie keine direkten Anhaltspunkte hatten, wo sie als nächstes hinmussten, beschloss Arzu, den Ort aufzusuchen, an den sich jeder normale Magier begab, der nicht weiterwusste: Die Bibliothek.
Arzu schritt zielstrebig voraus, Thara folgte ihr, wobei sie sich nervös immer wieder umsah. Als sie den Eingang der Bibliothek fast erreicht hatten, flog plötzlich krachend die schwere Eichentür auf und unter lautem Kreischen und Zetern kamen drei kleine, menschenartige Wesen mit grau-grüner Haut, großen Ohren und runzligen Gesichtern herausgestürmt. Die beiden jungen Frauen erstarrten mitten in der Bewegung, aber die kreischenden Wesen schenkten ihnen überhaupt keine Beachtung, sondern rannten einfach an ihnen vorbei. Warum, wurde klar, als aus der Bibliothek eine dunkelviolette Flamme hervorschoss, die den letzten der drei Kleinen erwischte. Das Kreischen des Wesens steigerte sich in ungeahnte Höhen, als es plötzlich von lila Feuer umhüllt wurde. In Sekundenschnelle verkohlte seine Haut und begann das Fleisch geradezu von den Knochen zu schmelzen, siedendes Fett fiel in Tropfen zu Boden und verströmte einen auf perverse Art appetitanregenden Bratengeruch. Das Wesen machte noch ein paar taumelnde Schritte, bevor es zusammensackte und reglos liegenblieb. Seine Kameraden sahen sich nur flüchtig um und beschleunigten noch einmal ihr Tempe, blanker Horror stand in ihren großen Augen. Dann waren sie um die nächste Ecke verschwunden.
„Wenn ich eines hasse, dann sind das Goblins in meinem Kastell!“, ertönte eine raue Stimme aus der Bibliothek. Schwere Schritte näherten sich und Thara war versucht, davonzurennen, aber Arzu hielt sie fest. Schließlich trat ein Mann durch die Tür, seine rechte Hand wurde von denselben violetten Flammen umspielt, die der kleinen Kreatur eben ein so grausames Ende bereitet hatten. Ein Magier also – allerdings war er nicht in eine der üblichen schwarzen Roben des Zirkels gekleidet, sondern hatte sich eher provisorisch ein Stück Stoff um den Körper gewickelt, das verdächtig nach einem Vorhang aussah. Er bewegte sich auf eine seltsam unbeholfene, stockende Art, erstarrte immer wieder mitten in der Bewegung, wobei Teile seines Körpers steingraue Farbe annahmen, nur um wenige Augenblicke später wieder normal auszusehen. Als sein Blick auf die beiden Frauen fiel, blieb er stehen, ließ die züngelnden Schattenflammen mit einem beiläufigen Schütteln seines Handgelenks verlöschen und grinste breit.
„Ha! Da sind sie!“, stellte er zufrieden und kein bisschen überrascht fest, „Die Steine haben nicht gelogen! Willkommen im Kastell!“ Er machte eine kurze, ironische Verbeugung, die von einer plötzlichen Starre unterbrochen wurde, als sein Rücken für einen Augenblick die Farbe und vielleicht auch Konsistenz von Stein annahm. „Mein Name… ist Vabun!“
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Arzu wusste zuerst nichts mit dem Namen anzufangen. Dann erinnerte sie sich an Lucias Worte über den versteinerten Vabun. Die Varanterin sah den Mann an und erkannte tatsächlich eine Ähnlichkeit zu der großen Statue in der Vorhalle des Kastells. Ganz besonders, wenn sich seiner Haut gräulich färbte. Wie konnte das sein? Hatte er sich von seinem Zauber befreit und deshalb seinem Platz im Foyer verlassen können? Das war nicht möglich. Auch wenn es dem Kastell ähnelte, konnte dies nicht die Wirklichkeit sein. Oder das, was Arzu als Wirklichkeit wahrgenommen hatte.
Argwöhnisch musterte die Magierin Vabun, der auf sie einen ausgesprochen exzentrischen Eindruck machte. Sein Gebaren, seine Kleidung, einfach alles.
»Du hast uns erwartet?«, fragte die Varanterin schließlich.
»Natürlich habe ich das! Die Steine verrieten es mir!«
»Welche Steine?«, fragte Arzu verwirrt und erntete ein empörtes Prusten von dem Mann aus Stein.
»Unter welchem Stein lebt ihr denn? Ah, sagt es mir nicht!«, antworte Vabun.
Thara und Arzu wechselten verwirrte Blicke. Einerseits war dies der erste wirkliche Ansprechpartner, den sie nach dem Truhenwächter begegnet waren. Andererseits beantwortete er nicht wirklich ihre Fragen.
»Bist du die Statue aus dem Kastell?«, fragte Arzu.
»Was? Seh ich aus wie eine Statue?«, sagte Vabun und sah an sich herab. Just in diesem Moment versteinerte sich ein Teil seines Körpers, nur um direkt wieder zu Fleisch und Blut zu werden.
»Ach, deswegen. Nein!«, rief er theatralisch. »Diese Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden, toten oder versteinerten Personen sind rein zufällig!«
Arzu wusste nicht, was sie darauf noch antworten sollte. Auch Thara schien sich keinen Reim daraus machen zu können.
»Jetzt, da wir das Rechtliche aus dem Weg haben,«, sprach Vabun weiter, »könnte ihr mir bei eurer Aufgabe helfen. Oder andersrum. Das ist nicht so wichtig. Der Goblinkönig hat sich im Thronsaal eingenistet. Da hat der Kerl nichts zu suchen!«
»W-w-wir können aber g-g-gar nicht zaubern.«, warf Thara ein.
»Dann erschlagt ihn halt mit einem Kronleuchter! Hm...« Vabun drehte seinen Kopf zur Seite und stützte sein Kinn auf seine Faust. In diesem Augenblick versteinerte der obere Teil seines Körpers und verwandelte sich auf der Stelle wieder zurück. »Oder das Lichtschwert! Das könnte auch funktionieren! Wisst ihr was, kommt einfach mit!«
Von einem Moment auf den nächsten schrumpften Thara und Arzu zur Größe eines Apfels und fanden sich auf dem Rücken Vabuns wieder. Mit den Armen eng an seinen Körper angelegt, beugte er sich vor und schwamm förmlich über das Schachbrettmuster des Bodens. Sogar eine Heckwelle hinterließ er in Form von wabernden schwarzen und weißen Fließen.
»Gut festhalten!«
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Kurz darauf versuchte es die Magierin noch einmal. Sie beschwor das magische Auge. Doch jedes Mal, noch bevor sich die Adelige auch nur annähernd darauf konzentrieren konnte ihre eigene Sehkraft zu übertragen verschwand es wieder. Lucia erkannte das es Übung brauchte die Beschwörung aufrecht zu erhalten, bevor sie weitere Zauber einfließen lassen konnte. Unter der Aufsicht der mysteriösen Erscheinung ihrer selbst hatte es einige Tage gedauert das magische Auge lange genug in dieser Spähre zu behalten, um einigermaßen zufrieden zu sein. Sie verließ ihren Übungsraum lediglich zum Essen. In der Ecke des Raumes hatte sich Lucia einen kleinen Schlafplatz eingerichtet. Eine einfache Decke und ihr Buch lagen dort bereit, in dem sie immer wieder den Hergang des Zaubers nachließ.
Nun hatte sie schon einige Tage damit verbracht den Folgezauber zu erproben. Das beschworene Auge lag stets für eine ausreichend lange Zeit in seinem Podest und die Magierin konzentrierte sich stetig darauf ihrer Herbeirufung die Fähigkeit zu verleihen statt ihr zu sehen. Ihre Augen brannten. Nach zahllosen Versuchen und einigen kleineren Erfolgserlebnissen, in denen sie deutlich spüren konnte wie ihre Sehkraft schwächer wurde und sie durch das Auge plötzlich den Raum aus einem anderen Winkel erkennen konnte, machte sich die Magie mit Kopf- und Augenschmerzen bemerkbar. Die Magierin versuchte der Pein zu trotzen und übte weiter. Die spöttischen Bemerkungen ihres Spiegelbildes machten die Situation nicht leichter. Sie wurde allmählich wütend. Wütend über sich selbst und die viele Zeit die der Zauber nun schon gefordert hatte. Allmählich müsse das ganze funktionieren, dachte sie sich mehrmals. Ihre Gedanken schweiften schon wieder ab. 'Volle Konzentration, Lucia..', sagte sie sich selbst. Sie konnte nicht zählen wie oft sie sich ablenken ließ' und sich selbst mit derartigen Sätzen wieder zurück holen musste. Auch diese ließ ihre Erscheinung nicht ein einziges Mal unkommentiert. Sie lief immerzu im Raum auf und ab und gab Erklärungen oder Anmerkungen zu ihren Versuchen, Sätzen oder auch Gedanken ab. Selten waren hilfreiche Hinweise zu Handbewegungen oder zum Zauber allgemein dabei. Und wenn kannte Lucia diese schon aus den Büchern. Möglicherweise diente dieser vermeindliche Zwilling Beliar zur Belustigung? Vielleicht auch nur den hiesigen Dämonen.
Als sie sich also endlich wieder vollständig sammeln konnte setzte Lucia zu einem weiteren Versuch an. Das magische Auge war inzwischen Gewohnheit und blitzschnell beschworen, lag zunächst auf dem Podest. Die Hände der Magierin nahmen verschiedenste Formen an, verkrampften sich beinahe wieder und ihre Augen begannen erneut heftiger zu schmerzen. Ihr Körper zitterte vor Anstrengung und abermals wurde ihr für kurze Zeit schwarz vor Augen, bevor sie aus dem Auge sich selbst zaubern sehen konnte. Zunächst nur ganz kurz und schwach, als wenn man gerade aufgewacht wäre - doch kurz darauf verdeutlichte sich das Bild. Das magische Auge begann leicht zu schweben und die Grafentochter sah' durch es hindurch. Sie konnte sich erstmals selbst zaubern sehen. Auch ihr Spiegelbild, wie es den hastigen Auf- und Abgang beendete und erstaunt zwischen Lucia und dem magischen Auge abwechselnd Hin und Her blickte. Lucia hatte es geschafft. Das Auge schwebte Hin und Her und gab ihr einen besseren Blick über den Raum. Es flog hinauf, bis hin zum entfernten Fenster, dass die letzten Wochen völlig unerreichbar schien - doch genau als sie kurz davor war kehrte die Sehkraft zu ihr zurück und die Beschwörung verpuffte wieder. Der wichtigste Schritt war getan.
"Fast zwei Wochen für diesen einen Zauber...", beschwerte sich ihr Gegenüber. "Du solltest dir eine kurze Verschnaufpause gönnen, bevor du weiter übst. Und wenn du diesen Zauber perfektioniert hast sehen wir uns wieder. Bis dahin...brauchst du unbedingt einen Lehrmeister. Vielleicht stellst du dich dann in Zukunft nicht mehr so an.", fügte sie anschließend hinzu, hielt danach aber kurz inne und dachte nach. "Wie wär's mit dem Grünäugigen? Der schien' mir nett zu sein!" - Danach verschwand sie. Einfach so und es kehrte eine Stille ein in diesem Raum, als wäre nie jemand da gewesen...
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Gefühlt saß der Magielehrmeister nur wenige Minuten in der Bibliothek und war noch weit davon entfernt, eine Erklärung auf seine Frage gefunden zu haben, trotz der Tatsache, dass er sich Buch um Buch…
Wie soll er Buch um Buch gelesen haben in einem für ihn als Augenblick zu bezeichnenden Moment?
Der Hohepriester legte das nun in seiner Hand befindliche Buch beiseite und versuchte sich daran zu erinnern, wann die Zeit für ihn das letzte Mal gefühlt normal abgelaufen war. Und ihm fiel ein, dass das vor Beginn seines Experiments mit dem Golem gewesen sein musste.
Also erhob sich Sinistro langsam und schritt beinahe behäbig zu dem Raum, in dem sein Experiment so grandios scheiterte.
Etliche Biegungen und Wendungen später, auch auf diesem Weg schien der Schwarzmagier mehr Zeit zu benötigen als normal, stand er nun vor dem Raum, den er als den Raum interpretierte, in dem er Lucia, Thara und den jungen Mann Evander solch einem enormen Risiko ausgesetzt hatte und öffnete die Tür.
Und hier stand Lucia. Vollkommen alleine in einem leeren Raum. Und der Grünäugige konnte nicht sagen, ob es wirklich der Ort war, zu dem er wollte…
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Und gerade hatte der Doppelgänger noch von ihm gesprochen und schon stand er da. Hohepriester Sinistro höchstselbst, als hätte Lucia ihn plötzlich heraufbeschworen. Sie schreckte kurz auf, als jemand die Tür öffnete und konnte anschließend ihren Augen kaum trauen. Als der Magielehrmeister nun also - zugegebenermaßen wirkte er etwas verloren - vor ihr stand musste sie wahrhaftig zwei Mal hinsehen.
"Hohepriester...", murmelte sie schließlich, räusperte sich etwas und fuhr dann fort: "Wie...äh....alles in Ordnung?", hinterfragte sie seinen betrübten Blick.
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Ein wenig verwirrt blickte der Magier die blonde Frau vor ihm an. Gefühlt war er am falschen wie auch am richtigen Ort. Und nur einen minimalen Moment durchfuhr ihn ein stechender Schmerz im Kopf, der zentral von der Stirn bis in seinen Nacken zog.
„Oh… seid gegrüßt, edle Dame!“ begrüßte der Hohepriester, „Ordnung… dass ihr das ansprecht. Ordnung ist Innos, es ist hoffentlich nie Ordnung…“ antwortete er auf ihre freundliche und besorgte Nachfrage.
„Aber sagt, was treibt euch hier an den Ort des magischen Unfalls? Oder sind wir hier gar nicht in dem Raum, den ich gedachte aufzusuchen?“
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"Unfall?", hinterfragte die Magierin argwöhnisch. "Habt Ihr das Experiment nicht als vollen Erfolg bezeichnet?"
Lucia sah' sich etwas fragend um. Hatte sich der Hohepriester verlaufen? Oder in welchem der zahllosen Räume des Kastells hatte die Schwarzmagierin ihren Zauber erprobt? Sie muss für einen Moment verwirrt drein geblickt haben, entgegnete aber schließlich: "Nun...ähm...nein. Ich habe hier einige Zeit verbracht einen Zauber zu erproben..."
Geändert von Lucia von der Berg (13.09.2023 um 20:59 Uhr)
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„Vielleicht war Unfall das falsche Wort, wobei ich es schon mit Bedacht wählte. Das Experiment war erfolgreich, doch es geschah Etwas, das nicht geschehen sollte. Das niemals geschehen sollte. Die Magie reagierte allein, sie widersetzte sich zwar nicht meiner Kontrolle, dennoch agierte sie ohne meine Führung. Und das habe ich dir, das habe ich jedem Magier, den ich das Vergnügen hatte, die Magie Beliars lehren zu dürfen, versucht klarzumachen, darf niemals geschehen, denn die Folgen können unvorhersehbar sein. Nun ist es jedoch passiert…!“ der Grünäugige machte eine theatralische Pause.
„Nun ist es passiert und nichts ist passiert. Doch das, was hätte passieren können, beschäftigt mich. Magie ohne Kontrolle ist unberechenbar und zerstörerisch. Stell dir vor, du beschwörst ein Wesen und verlierst die Verbindung zu ihm, verlierst die Kontrolle darüber – du selbst wärst vielleicht sein nächstes Opfer. Merk dir das für jeden Zauber…“
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"Wie schaffe ich es in solchen Momenten die Kontrolle zu behalten? Oder woran merke ich überhaupt das mir die Führung über die Zauber entgleitet? Bei meinen bisherigen Zaubern...naja...sie sind bisher ohne Risiko...", hinterfragte die Magierin sogleich die Worte des Lehrmeisters. Ein wohliges Gefühl machte sich in ihr bemerkbar. Es war schön, wieder mit einem anderen Zauberer sprechen zu können - und nicht nur mit sich selbst. Sicher konnten die Worte und alles, was der Hohepriester zu zeigen hätte, von Vorteil für Lucia werden..
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„Kein Zauber ist ohne Risiko. Nimm die Schattenflamme, sie ist in deiner Hand harmlos für dich. Doch nutze ich sie, kann ich dir damit Schaden zufügen. Wenn du jedoch die Verbindung verlierst, wenn du die Kontrolle verlierst, dann kann die von dir beschworene Schattenflamme dieselbe Wirkung für dich haben, wie die von mir beschworene. Sie kann dir schaden. Und darum ist es so wichtig, die Magie immer zu bündeln, sie zu lenken und sie nie ohne Kontrolle zu lassen. Zeig mir doch mal, was du bisher kannst und ich zeige dir, welche Folgen ein Verlust der magischen Beeinflussung durch dich haben kann“, forderte der Magier die blonde Frau auf.
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"Mh...bisher schien mir keine Schattenflamme zu einem Problem zu werden...", entgegnete die Magierin, enttäuscht murmelnd. Nun sollte sie dem Hohepriester also ihre bisherigen....Kunststücke zeigen? Als viel mehr konnten die Anfänge der Magie kaum bezeichnet werden. Obgleich es Sinistro war, der ihr die Anfänge damals beigebracht hatte.
So galt es also seine Theorie zu testen. Konnte eine einfache Schattenflamme zu einer Gefahr für sie selbst oder der Allgemeinheit erachtet werden? Lucia nickte dem Hohepriester zu, bündelte ihre Energie und schickte eine Schattenflamme an das andere des Raumes. Sie schoss langsam aus ihrer Hand bis zu einer Wand und verpuffte schließlich an dieser, hinterließ kaum eine Spur. "Seht Ihr...keine Gefahr...", sprach Lucia und schaute den Blicken des Lehrmeisters hinterher, der Lucia beobachtete. Wie sie den Zauber wirkte und nun der Schattenflamme und ihrem Weg bis zu der Wand verfolgte. In diesem Moment kanalisierte die Magierin eine weitere Schattenflamme, aber dieses Mal in Richtung von Sinistro. Sie war gespannt auf die Reaktionsfähigkeit eines Hohepriesters der dunklen Mächte.
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Der Grünäugige zog seine linke Augenbraue nach oben, als er bemerkte, was die junge Frau dort gerade versuchte. Danach grinste er, hob seine Hände mit den Handflächen nach oben in die Luft und spielte mit seinen Fingern, als zögen sie an unsichtbaren Fäden. Und just während er dies tat, erkämpften sich neben ihm die körperlichen Überreste eines Goblins ihren Weg an die Oberfläche. So langsam, dass es gemütlich aussah, aber so schnell, dass die Schattenflamme nicht den Hohepriester, sondern sein Geschöpf treffen musste.
„Und wenn ich nun die Kontrolle verloren hätte – das Geschöpf wäre nicht mehr rechtzeitig erschienen, mich vor deinem uninspirierten Angriff zu schützen. Aber warte!“ forderte der Grünäugige die Adlige auf und erschuf nun seinerseits eine Schattenflamme, in die er erheblich mehr Kraft und Energie legte als Lucia zuvor. Nachdem er sie losgelassen und auf die Stelle geschickt hatte, an der eben auch Lucias Schattenflamme die Wand getroffen hatte, erklärte er ihr, dass es möglich ist, die Richtung des entstandenen Zaubers zu beeinflussen und so machte die Schattenflamme kehrt, ehe sie auf die Wand traf. Sie steuerte nun direkt auf die Blonde und den Grünäugigen zu.
„Duck dich!“ schrie er Lucia nun an und schubste sie zu Boden, während auch er sich auf den Boden warf.
„Das passiert, wenn man die Kontrolle verliert und die Schattenflamme nicht mehr beeinflusst“, führte der Hohepriester grinsend aus, während er sich wieder erhob und den Staub von seiner Robe klopfte.
Ob er wirklich die Kontrolle verloren oder aufgegeben hatte, oder ob er während der gesamten Zeit die Kontrolle über seine Schattenflamme hatte, sollte sein Geheimnis bleiben.
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Lucia konnte sich kaum vorstellen das der Hohepriester in irgend einem dieser Momente keine Kontrolle über die Geschehnisse hegte. Das Grinsen und das leuchten in seinen grünen Augen verrieten ihn, auf irgend eine Art und Weise.
"Spannend..", entgegnete die Magierin und musterte das Ergebnis seiner Schattenflamme. Während die beiden am Boden hockten und der Hohepriester auf seiner Robe umher klopfte sah' sie ihn eindringlich an und fragte: "Werdet Ihr mich lehren besser zu werden? Besser als das was ich da beschworen habe?"
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