-
Als die Tür hinter Sinistro ins Schloss fiel, atmete Thara fast hörbar auf. Sie schlurfte zu einem kleinen Tisch, der etwas abseits in einer Nische stand, und auf dem sie ihr Buch und das Pamphlet abgelegt hatte, bevor das Experiment losgegangen war. Zwischenzeitlich hatte sie befürchtet, die Schriftstücke wären in dem magischen Sturm und Chaos verloren gegangen, aber sie lagen genauso da, wie sie sie zurückgelassen hatte. Als hätte sich in der Zwischenzeit kein Lüftchen geregt.
Sie presste das Buch wieder an sich wie einen Schutzschild und hob kurz den Blick zu Lucia und Evander: „Ich… i-ich brauche etwas… e-ei-ein bisschen Ruhe, g-glaube ich. Aber… d-d-danke…“, murmelte sie abwesend und tapste benommen zur Tür. Ob ihr noch jemand antwortete, bemerkte sie gar nicht mehr. Als würde sie schlafwandeln schlurfte sie den langen Flur entlang, vorbei an obskuren Gemälden und Statuen, deren Formen dem Auge nicht so recht fassbar waren, denen sie aber keinerlei Beachtung schenkte. In ihrem Zimmer angelangt, schloss sie die Tür hinter sich ab, ließ sich auf das Bett fallen und starrte mit leerem Blick zur Decke.
Ruhe… sie brauchte unbedingt Ruhe!
-
Sinistros letzter Auftritt brachte eine gewisse Erhabenheit mit sich. Während Lucia noch der festen Überzeugung war das die nächsten Schritte ihrer Ausbildung direkt starten könnten schaffte es der Hohepriester das Gegenteil heraufzubeschwören. Vielmehr schien Tharas Leseproblem zunächst im Vordergrund zu stehen. Das sollte aber das Problem nicht sein, dachte die Magierin sich, als das Mädchen sich ebenfalls schnurstracks zurück zog. Evander verabschiedete sich ziemlich schnell darauf ebenfalls und Lucia stand nun alleine in diesem Raum.
Sie sah sich noch einmal um.
Nichts mehr. Vor wenigen Momenten tobte der Raum noch, durch die Gewalt des beschworenen Golems und nun war hier diese Stille. Eine zerfressende Stille. Sie schien alles was in diesem Raum übrig geblieben war in sich aufzusaugen, wie die Magie es zuvor mit den Überresten des Experimentes getan hatte. Faszination - ausgelöst durch Lucias Gedanken - lag in der Luft. Ihre absehbare Zukunft war ganz klar geplant. Der Hohepriester hatte zugesagt. Zufrieden verließ nun auch die zurück gelassene Magierin den Raum und schlenderte gemütlich zurück in das obere Stockwerk zu ihrem Schlafgemach.
Es sollte nicht überraschen das ihr vermeindlicher Zwilling bereits Platz genommen hatte. Wie die Abende zuvor saß' sie an ihrem einfachen Schreibtisch. Das Gemälde mit dem Teich wechselte - wie die Stimmung von Lucia - von einem wunderschönen Sommertag zu einer finsteren Nacht. Der Mond schien hell auf den aufgemalten See, er hätte die Magierin beinahe blenden können, so plötzlich wechselte das Szenario auf dem Gemälde. Die Doppelgängerin erhob sich dieses Mal - starrte Lucia für einige Augenblicke einfach nur an. Das Lächeln wirkte freundlich. 'Verdammt', dachte sie sich.'Sie sieht aus wie mein Spiegelbild..'
Wie es die hiesigen Dämonen taten, entwickelte sich die Antwort der Doppelgängerin dieses Mal direkt in ihrem Kopf. Dies verband sich ziemlich schnell mit plötzlichen Kopfschmerzen, die exakt so lange anhielten wie die Gegenüber sprach: "Ich frage dich wieder: Können wir beginnen?"
Kurze Stille. Kurze Schmerzlosigkeit. Lucia, die eben noch ihre Hand gegen ihre Stirn hielt, ließ langsam wieder ab. "Womit sollen wir denn beginnen?", fragte sie, mit der Angst die Schmerzen könnten sofort wieder eintreten.
Der Zwilling, oder Doppelgänger, oder Dämon....was auch immer es war....zeigte mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger lediglich auf das Bett der Grafentochter. Genau in ihrer Sichtweite, direkt neben dem Kopfkissen lag' ein Buch. Die Antworten waren also doch niedergeschrieben. Ohne lange zu zögern begann sie das Buch zu studieren. Die Stunden vergingen wie im Flug und sie merkte gar nicht das die Erscheinung ihrer selbst kurz vor Sonnenuntergang wieder verschwand...
-
Drei Monate! Solange hatte Arzu gebraucht, um an ihr Ziel zu gelangen. Drei Monate, einige Bekanntschaften und ein herber Verlust. Doch sie hatte es schließlich geschafft. Zumindest so viel war sie dem alten Mann schuldig gewesen. Ohne zu mosern hatte die Varanterin das letzte Stück des Weges hinter sich gebracht und war den steilen Pfad dort hinauf gefolgt, wo sie zuvor das Licht gesehen hatte. Was hätte es anderes als ein Zeichen Beliars sein können?
Ein bedrohlich wirkendes Gemäuer offenbarte sich der Varanterin, als sie zum Ende des Pfades gelangte. Von einem Licht war hier keine Spur. Dafür empfing sie eine riesige Tür an der zwei Skelette genagelt waren. Zuerst schenkte sie ihnen keine Beachtung. Doch konnte sie sich bald des Eindrucks nicht erwehren, dass sie aus den leeren Augenhöhlen beobachtet wurde. Als sie abermals hinauf sah, war ihr fast, als drehten sich die beiden Köpfe gerade noch weg. Waren die Skelette nur Zierde oder doch untot? Wenn es ersteres war, dann spielten sie ein Spielchen mit der Varanterin. Ein letztes Mal blickte sie hinauf. Wieder war ihr, als zuckten die Knochen im letzten Augenblick zurück.
Arzu hatte keine Geduld dafür. Es fror ihr, sie hatte Hunger und das Verlangen nach einem ausgiebigen Schlaf. Gerade als sie ihre Hände erhob, um das große Tor aufzudrücken, schwang es von alleine auf. Geradezu schwerelos und ohne das geringste Geräusch von sich zu geben. Nachdem sie eintreten war, schloss sich das Tor hinter ihr ohne jedwedes Zutun. Da hörte sie es. Ein lautes Klappern von Knochen und höhnendes Gelächter, das sofort verstummte, als die Torblätter sich schlossen.
Vorsichtig trat Arzu einige Schritt weiter. Wie von Geisterhand entzündeten sich Kerzen und hüllten die Vorhalle in ein fahles Licht. Unmittelbar vor der Varanterin stand ein Steinkoloss. In seinen Händen eine Schale. Die Geste war unmissverständlich. Zügig kramte Arzu in ihrer Tasche herum, bis sie eine verzierte Kassette herausholte. Ein kleines Vermögen in Form von Edelsteinen befand sich darin. In Varant war es früher Gang und Gebe gewesen, den Schwarzmagiern ein großzügiges Geschenk darzubieten, wenn man um ihre Gunst bat. Dies konnte nichts anderes sein. So stellte Arzu die volle Kassette auf die Schale und wenige Augenblicke später war die Kassette verschwunden.
Doch was nun? Niemand kam aus den Schatten und hieß sie willkommen. War ihr Geschenk zu gering gewesen? Ein stechender Kopfschmerz suchte sie heim.
»Ich bin gekommen, um mich in den Dienst Beliars zu stellen! Um eine Magierin zu werden!«, antwortete Arzu auf die Frage, welche sich in ihren Gedanken geformt hatte.
»Verstanden.«, sagte sie auf die nächste Eingebung hin und setzte sich in Bewegung. Ein Gang führte sie von der Eingangshalle fort. Er war gesäumt von bizarren Bildern und Statuetten, die auch nach längerem Hinsehen keinen Sinn ergaben. Schließlich gelangte sie an eine Tür. Einen stechenden Kopfschmerz später wusste sie, dass sie hier ihren Hunger stillen konnte.
Eine Vielzahl von Tischen und Stühlen füllten den Raum. Der schieren Anzahl nach zu urteilen, musste es hier mehrere Dutzend Magier geben. Im Augenblick war jedoch kein einziger zu sehen. Mit einem Schulterzucken setzte sich Arzu in Bewegung und nahm auf dem erstbesten Stuhl Platz. Sie überlegte noch, was sie haben wollte, als bereits ein Teller herbeigeflogen kam und zielgenau direkt vor ihr auf dem Tisch landete. Es war gebratener Lachs. So wie sie ihn in Stewark gegessen hatte. Verstohlen blickte sich die Varanterin noch einmal um. Noch immer war sie allein und ihr Hunger war zu groß, als dass sie den gebratenen Fisch ignorieren konnte.
-
Nachdenklich stand Thara vor dem kleinen, angelaufenen Spiegel in ihrem Zimmer und kämmte sich langsam die nassen Haare, nachdem sie ein dringend nötiges Bad genommen hatte, um das Blut und Erbrochene auszuwaschen. Der alte Knochenkamm, dem schon einige Zinken fehlten – eines der wenigen Besitztümer, die sie noch aus ihrem alten Leben, ihrem Leben vor dem Kastell, mitgebracht hatte –, blieb immer wieder in einem Haarknoten hängen, den sie dann umständlich lösen musste. Sie tat es mit einer abwesenden Gleichgültigkeit, ihre Gedanken waren ganz woanders.
Nach dem Experiment hatte sie lange Stunden im Bett verbracht, aber nur wenig geschlafen. Die meiste Zeit hatte sie nur mit offenen Augen zur Decke gestarrt, während sie im Geiste immer wieder die jüngsten Ereignisse vor sich ablaufen sehen und vergeblich gehofft hatte, sie in eine für sie sinnvolle Ordnung bringen zu können. Sie musste sich eingestehen, dass sie noch immer nicht einmal ansatzweise verstand, was eigentlich vor sich gegangen war. Und Sinistro hatte das auch bemerkt… er hatte sie glatt durchschaut.
Jedes Mal, wenn sie auch nur daran dachte, wünschte sie, sie könnte die Zeit zurückdrehen und ihren plumpen Versuch, dem Hohepriester etwas vorzuspielen, ungeschehen machen. Warum hatte sie überhaupt den Mund aufgemacht? Sie hätte einfach die Klappe halten sollen… oder wenigstens zugeben, dass sie absolut keinen Schimmer hatte, was während des Experiments passiert war.
„Warum bin ich so dumm?“, flüsterte sie zu ihrem Spiegelbild. Der Kamm blieb mal wieder an einem kleinen Knoten hängen. Thara riss einfach daran. Ein kurzer, scharfer Schmerz, als sie sich einige Haare ausriss. Sie lächelte betrübt.
Sinistro war nicht einmal auf ihren Fehltritt eingegangen. Aber warum nicht? Je länger sie darüber nachdachte, umso unverständlicher war ihr das. Hob er sich die Strafe dafür, dass sie ihn hatte hinters Licht führen wollen, für irgendwann später auf? Oder… war sie einfach zu unwichtig?
Aber scheinbar wollte Sinistro ja noch immer, dass sie Magie erlernte. Der Gedanke daran ließ Thara sofort wieder nervös werden. Glaubte der Hohepriester wirklich, dass sie, ausgerechnet sie, jemals in der Lage sein würde, eine Magierin zu werden – Dinge zu vollbringen, wie er sie vollbracht hatte? Das war doch völlig unmöglich…
Thara ließ den Kamm sinken und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie sah noch nicht einmal aus wie eine Magierin. Lucia, Evander, Sinistro… sie alle trugen diese edlen, schwarzen Roben, die jede für sich genommen sicherlich ein Vielfaches dessen wert waren, was sie selbst in ihrem erbärmlichen Leben jemals besessen hatte. Sie hingegen hatte nur ein einfaches, weißes Kleid. Sicher, es war neu und, nun, es kam irgendwie vom Kastell, auch der Stoff war weicher und angenehmer als der ihrer alten Kleidung, aber dennoch…
Gehörte sie überhaupt hier her?
Die anderen schienen sich dessen sicher zu sein, aber egal wie sehr Thara sich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass es doch stimmen musste – es gelang ihr nicht. Die Zweifel blieben und nagten an ihr, hielten sie wach in den langen, stillen Stunden der Nacht und lenkten sie ab am Tag. Denn falls sie nicht hierhergehörte – wohin sollte sie dann gehen?
„Dummes Mädchen, hör auf, darüber nachzudenken!“, schalt sie sich selbst. Ihr Blick wanderte zum Tisch, auf dem das Buch und Sinistros Pamphlet lagen. „Tu lieber, was dir aufgetragen wurde!“
Sie musste lesen lernen. Das war der erste Schritt. Wenn sie das schaffte, vielleicht… vielleicht würde dann auch wirklich dazugehören?
Aber wenn sie es nicht schaffte?
Daran durfte sie gar nicht erst denken. Wenn sie das in Betracht zog, verlor sie schon beim Anblick des Buches jeden Mut. Nein, sie durfte nicht versagen. Sie durfte es einfach nicht!
Entschlossen nahm sie ihre Unterlagen an sich. Lucia und Evander hatten ihr gestern, vor dem Experiment, zumindest einige Dinge erklärt, an die sie versuchen musste, sich zu erinnern. Und sie wollte probieren, die Buchstaben nachzumalen – in der Bibliothek hatte sie Schreibpulte gesehen, an deren leere Pergamente, schwarze Tinte und edel gefasste Schreibkiele bereitstanden.
Thara versuchte, ihre Grübeleien zu verdrängen und trat auf den Gang hinaus, machte sich auf den Weg in die Bibliothek.
„Ich muss es schaffen…“, murmelte sie zu sich selbst, „Ich muss!“
-
Lucia war sich nicht sicher wieviel Zeit inzwischen wieder vergangen war. Das Buch, dass der Zwilling ihr gezeigt hatte war zu ihrer Tagesaufgabe geworden. Noch am selben Abend begann sie die ersten Zeilen des riesigen Wälzers zu verschlingen, bis sie mitten in einem der zahlreichen Kapitel einschlief. Den ganzen darauffolgenden Tag war sie beschäftigt die Zeilen zu studieren und versuchte das Geschriebene zu verstehen. Interessanterweise handelte das Buch von bestimmten Beschwörungen. Schicksalhafterweise nach dem Experiment mit Hohepriester Sinistro und ihrem Wunsch tiefer in die Beschwörungsmagie einzutauchen. Von ihrem Doppelgänger fehlte am darauffolgendem Tag jede Spur. Es war, als hätte sie ihr selbst ein Zeichen geben wollen. Warum aber dieses Buch in ihrem Zimmer, wo es doch in der Bibliothek soviel mehr zu erfahren gab? An diesem Abend erwischte sich die Magierin dabei wie sie abschweifte, in ihren Gedanken versunken. Diese Ablenkungen konnte sie sich nicht leisten, wenn sie ihre magischen Fertigkeiten voran treiben wollte.
Das aktuelle Kapitel umfasste die Beschwörung eines ihrer mächtigsten Sinne selbst. Der Zauber schien äußerst hilfreich und interessant, war allerdings nur die erste Stufe einer viel komplizierteren Beschwörung. Im Buch stand alles über ihren Ursprung, ihrer Wirkung und der Optik - aber nichts über die Anwendung selbst. Da die Grafentochter nun aber wusste um welchen Zauber es sich handelte war ein Besuch in der Bibliothek äußerst notwenig. Zügig machte sich Lucia auf den Weg...
-
Nach dem Essen, das wie ein perfektes Duplikat des Gerichts aus Stewark geschmeckt hatte, leitete die körperlose Stimme Arzu zu einem Zimmer mit einer Vielzahl von Betten. Auch hier lag der Gedanke nahe, hier lebten eine Vielzahl von Menschen. Aller Wahrscheinlichkeit die Aspiranten dieser Gemeinschaft, welche sich noch nicht das Recht erarbeitet hatten, ein eigenes Schlafgemach zu beziehen. Zu sehen war weiterhin niemand.
Zu erschöpft war die Varanterin von ihrer Reise, sich weiter darüber Gedanken zu machen. Statt dessen wählte sie spontan ein Bett und ließ sich darin nieder. Wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder erwachte, konnte Arzu nicht einschätzen.
Sie nahm die Bürste aus ihrer Tasche und pflegte wie nach jedem Schlaf ihre langen, seidigen Haare. Dabei fiel ihr ein Stapel Kleidung auf, welche am Fußende des Bettes platziert lag. Arzu wusste mit absoluter Sicherheit, dass er noch nicht dagelegen hatte, als sie einschlief.
»Woher stammen diese Kleider?«, fragte sie in den Raum hinein und teste damit zeitgleich eine Vermutung. Die Antwort formte sich unmittelbar, begleitet von einem Kopfschmerz in ihrem Schädel.
Ein Geschenk des Kastells. Zumindest weiß ich jetzt, wie dieses Gemäuer genannt wird., dachte sie.
Nachdem sie die Haare zu ihrer Zufriedenheit gebürstet hatte, widmete sich Arzu den für sie bereit gelegten Kleidern. Zu ihrem Erstaunen handelte es sich hierbei wie auch zuvor beim Essen, um ein perfektes Duplikat. In diesem Falle von den Kleidern, die sie am Leibe trug. All die Spuren, die die lange Reise zu diesem Kastell an ihrer Kleidung hinterlassen hatte, fehlten in den Duplikaten.
Die Anprobe zeigte, dass das Kleid, die Stiefel und die Unterwäsche ihr wie angegossen passten. Sogar noch etwas besser vielleicht, als die alte Garderobe. Dieses legte die Varanterin zusammen und platzierte sie am Bettende. Vielleicht ließ sich ein Schneider finden, der sie stopften konnte. Oder es wurde auf magische Weise von allein erledigt.
»Ich will mit einem Menschen sprechen.«, sprach Arzu laut aus und die Antwort erhielt sie prompt auf die inzwischen übliche Weise. »Und wo ist die Bibliothek?« Auch dazu manifestierte sich die Lösung in ihren Gedanken.
Es war ein seltsames Gefühl, durch unbekannte Gänge zu laufen, die ihr dank der gerade erfahrenen Eingebung dennoch bekannt waren. Es würde Zeit brauchen, sich daran und vor allem an den schmerzhaften Kommunikationsstil des Gemäuers zu gewöhnen.
Bald hatte Arzu die richtige Tür erreicht. Wie das große Haupttor öffnete sie sich vollkommen lautlos. Was sich dahinter verbarg, hatte die Varanterin allerdings nicht ansatzweise erwartet. Sie hielt inne und ließ den Blick schweifen. Dies war nicht die erste Bibliothek, die Arzu zu Gesicht bekommen hatte, aber definitiv die größte. In Gedanken fragte sie sich, wie viele Bücher hier wohl lagerten und bereute die Frage auch direkt. Denn die Antwort kam einen Augenblick später. Nicht, dass diese Zahl ihr wirklich eine Vorstellung der Menge gab. Zumindest hörte es sich nach einer schier gigantischen Anzahl an.
Als Arzu weiterging entdeckte sie endlich einen Menschen. Ein zierliches, fast geisterhaft wirkendes Mädchen. Ihre Haare waren sogar noch ein Stück länger als die der Varanterin. Dafür in einem erbärmlichen Zustand. Selbstbewusst ging Arzu auf die Unbekannte zu.
»Hey, du.«, sagte die Varanterin offen heraus und ließ das Mädchen damit ungewollt zusammenschrecken. »Entschuldigung? Ich bin Arzu und bin hier vor... Vor einer Weile angekommen. Du bist die erste Menschenseele, die ich hier treffe. Wo sind all die Schwarzmagier?«
Kaum hatte die Varanterin ihren Satz beendet, sah sie aus dem Augenwinkel noch jemanden in die Bibliothek eintreten. Ebenfalls eine junge Frau und stattlicher anzusehen, als das junge Mädchen. Die körperlose Stimme hatte Recht behalten; hier gab es Menschen.
-
Zielstrebig schritt die Magierin in Richtung Bibliothek um ein Buch über besagte Beschwörungsformeln oder ähnliches zu finden. Nach dem Eintreten konnte sie ziemlich schnell zwei weitere Frauen erblicken. Thara war für sie sofort zu erkennen, aber in ihrer unmittelbaren Nähe stand eine weitere, ihr völlig Fremde Person. Lucia konnte sich ein Lächeln an dieser Stelle nicht verkneifen. Wo kamen plötzlich all die Frauen her? So viele Schwarzmagierinnen und die, die es werden wollten hatte sie selten auf einen Fleck gesehen. Sie musste einfach inne halten und trat näher an die beiden Frauen heran. Sie begrüßte sie mit einem leichten Kopfnicken und sprach schließlich: "Guten Abend, die Damen. Tahara, wie kommst du vorran?", fragte sie und wandte sich außerdem der Fremden zu: "Hallo, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Lucia."
-
»Ich bin Arzu, Arzu von Ishtar.«, antworte die Varanterin und lächelte freundlich. Auf den ersten Blick fiel Arzu der Unterschied in der Kleidung der beiden Frauen auf. Lucia trug schwarz und Thara hingegen weiß. Die Varanterin mutmaßte, dass es sich bei letzterer um ein Dienstmädchen handeln könnte. Im Gegensatz zu Thara war Lucia nämlich gut gepflegt und adrett gekleidet. Doch es wollte nicht so richtig Sinn ergeben. Essen und Kleidung und Antworten auf alle Fragen erschienen auf magische Weise. Welchen Zweck hätte ein Dienstmädchen in diesem Gemäuer also? Nein, es war nicht so wie es schien.
»Ich kam erst vor kurzem hier an. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob es gestern oder heute war. Mein Zeitgefühl ist ein wenig durcheinander. Als ich hier ankam, bat ich an der Statue um Aufnahme und gab eine Kassette mit Edelsteinen als Tribut. Doch seid ihr beide die ersten Menschen, auf die ich hier treffe. Ich bin verwirrt, denn die Schwarzmagier aus meiner Heimat hatten immer einen sehr strikten Prozess, wenn es darum ging, neue Aspiranten zu wählen.«
-
Thara zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich unerwartet angesprochen wurde. Sie war so sehr darin vertieft gewesen, ungelenke Kritzeleien (als Buchstaben wollte sie das noch nicht bezeichnen) auf ein Stück Pergament zu malen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie jemand die Bibliothek betreten hatte. Bevor sie sich aber sammeln und auf die Frage der ihr unbekannten Frau antworten konnte, kam auch noch Lucia dazu und nahm das Gespräch auf. Tharas Blick huschte unsicher zwischen den beiden Frauen hin und her, während sie sich mal wieder fehl am Platz fühlte…
Sie musterte die Fremde, die sich als ‚Arzu aus Ishtar‘ vorgestellt hatte. Sie hatte bronzene Haut, große, dunkle Augen und eine weibliche Figur, von der Thara selbst nur träumen konnte. Ihr hüftlanges schwarzes Haar floss geradezu über ihre Schultern und sie bewegte sich mit einer selsbtsicheren Anmut, dass man meinen konnte, ihr gehörte das Kastell, obgleich sie offenbar erst vor kurzem eingetroffen war. Sie musste aus einer reichen Familie stammen – dass sie eine Kassette mit Edelsteinen als Tribut gegeben hatte, passte dazu. Thara konnte sich nicht einmal so recht vorstellen, wie eine Kassette mit Edelsteinen überhaupt aussah…
„I-i-ich g-glaube, das… d-das entscheidet das Kastell… s-selbst irgendwie…“, versuchte sie dennoch, Arzus Frage nach der Auswahl der Aspiranten zu beantworten. Und fragte sich gleich darauf, wieso sie das getan hatte. Sie hätte es doch einfach Lucia überlassen können? Hastig wandte Thara den Blick ab und spielte dabei nervös mit dem Federkiel in ihren Händen herum, ohne zu merken, dass sie ihre Finger mit schwarzer Tinte beschmierte.
-
Arzu von Ishtar. Diese Stadt war der Magierin tatsächlich ein Begriff. Vor langer Zeit, als das Kastell noch in der Wüste Varant zu finden war, hatte sie den Namen dieser Stadt schon einmal aufgeschnappt. Die Fremde schien auf den ersten Blick das völlige Gegenteil von Thara dar zu stellen. Sie war selbstbewusst, wirkte gepflegt und wusste scheinbar sofort was sie wollte. Das schüchterne Mädchen war alles andere davon und das bewies sie sofort mit ihrer gewohnt stotternden Antwort. Im Hinterkopf von Lucia war zwar immer noch der Gedanke das dies alles nur ein Spiel sein könnte...aber bei jeder weiteren Begegnung mit ihr zweifelte sie an ihren eigenen Gedanken.
"Sehr erfreut, Arzu von Ishtar.", reagierte Lucia schließlich. "Ihr habt euren Tribut am versteinerten Vabun geleistet. Damit habt ihr Euch Einlass und Verpeflegung und natürlich Zugang zu unserer Bibliothek erkauft.", erklärte die Magierin anschließend.
Sie warf nun einen Blick auf das Kritzekrackel von Thara. Offensichtlich versuchte sie ihre ersten Buchstaben aufzuzeichen. Lucia hob das Pergament und betrachtete es kurz. "Das sieht doch schon nach etwas aus. Das wird schon besser..", lobte sie den Fortschritt des Mädchens im weißen Kleid.
-
Wie nicht anders zu erwarten war, besaß die große Statue im Foyer einen Namen. Vielleicht der Anführer der Schwarzmagier oder zumindest ihr Gründer?
»Bleibt die Frage offen, wie ich ein Teil dieses Kreises werde. In Varant ist es aussichtslos, denn alle Schwarzmagier dort leben im Untergrund. Deshalb bin ich bis hierher gereist.«
Lucia kommentierte was auch immer das war, das Thara auf ihren Papieren gemalt hatte. Weil Arzu noch nicht genau wusste, wem sie hier besser nicht auf die Füße trat, ließ sie ihrerseits das Kunstwerk unkommentiert. Selbst im Geiste verkniff sie sich einen Gedanken dazu. Immerhin hörte das Gebäude mit.
-
Thara nahm hastig das Pergament mit ihren ungelenkten Schreibversuchen und rollte es zusammen.
„N-nur die… d-d-die e-ersten Ver-versuche, i-i-ich… d-die sind… ich…“, stammelte sie und warf dabei einen verstohlenen Seitenblick auf die Neue. Arzu ließ sich aber nichts anmerken. Vielleicht hatte sie gar nicht gesehen, was Thara da auf dem Pergament veranstaltet hatte? Sie hoffte es inständig. Denn was auch immer sie fabriziert hatte, mit Buchstaben hatte es bislang kaum Ähnlichkeit. Entweder floss die Tinte nur so aus der Feder und bildete riesige Kleckse, oder sie kratzte nur über das Pergament, ohne dass irgendetwas passierte. Am Ende hatte Thara also in erster Linie Tintenflecken mit ein paar krummen, ungelenken Strichen hier und da erzeugt. Nicht gerade, worauf sie gehofft hatte. „D-du musst dich damit noch nicht…. i-ich meine, ich w-werde noch… Übung brauchen… viel… davon.“, fügte sie hinzu und senkte den Kopf.
Die Frage, die Arzu stellte, ließ Thara allerdings aufhorchen. Es war dieselbst Frage, die ihr selbst ununterbrochen im Kopf herumging, und die sie nie so direkt auszusprechen gewagt hatte. Die Frage, die über ihr Leben entscheiden würde.
-
"Lass' dir Zeit mit den Übungen. Unter Druck wird das nichts..", entgegnete Lucia und wandte sich der Frage von Arzu zu. Die selbtbewusste Frau wusste offensichtlich ganz genau was sie hier wollte. Teil des Zirkels sein. Die Magierin hatte es eher selten erlebt das jemand in das Kastell eintrat und ziemlich genau wusste was er wollte. Die Bibliothek als größter Wissenshort der bekannten Welt war zwar immer eine Reise wert gewesen aber der Wunsch Mitglied in diesem Kreis zu werden kam doch eher später als früher.
"Nun..du hast den ersten Schritt schon gemacht. Du bist hier...du weißt von diesem Ort und was er verbirgt. Alles weitere wird sich fügen."
Lucia drehte sich um, neigte ihren Kopf durch die Bibliothek und versuchte Arzu mit ihrer Mimik und Gestik auf den schier endlosen Raum noch deutlicher aufmerksam zu machen.
"Sprich mit der Bibliothek. Es geht doch nicht's über ein gutes Buch, oder?", fügte sie abschließend hinzu und ließ' die beiden Frauen vorerst stehen um sich das Buch zu suchen, weshalb sie zu der späten Stunde überhaupt noch hier her gekommen war..
-
Eine mysteriöse und nicht ganz zufriedenstellende Antwort seitens Lucias. Es war offensichtlich, dass die Schwarzmagier hier sich elementar anders verhielten, als jene, die Arzu aus Ishtar kannte. Die ließen keinen Zweifel daran, wer das Sagen hatte und was getan werden musste. Vielleicht war die hiesige Methode besser, denn der Autorität eines Unbekannten wollte sich die Varanterin auch nicht unterwerfen. Sie war ihr eigener Herr.
Die abschließenden Worte Lucias machten Arzu stutzig. Was meinte sie mit zu Bibliothek sprechen? Die Antwort manifestierte sich prompt. Es war also tatsächlich wörtlich zu nehmen. Eine Weile sinnierte die Varanterin, womit sie beginnen sollte. Die Auswahl war erschlagend groß. Dann fiel es ihr ein.
»Eine kurze Geschichte des Kastells!«, rief Arzu in den Raum und ein massiver Foliant fiel wie ein Findling von einem der Regale. Verwirrt sah die Varanterin Thara an. »Gehen die Bücher nicht kaputt, wenn sie so achtlos herunter donnern?«
Kurzerhand suchte Arzu die Stelle, wo das Buch aufgeschlagen war, und hievte es vom Boden. Laut Einband handelte es sich um eine zusammengefasste Version der Geschichte. Die Varanterin wollte gar nicht erst wissen, wie viele Regale umkippen würden, wenn sie nach der gesamten Historie fragte.
Mit dem Buch in den Armen, kehrte sie zu Thara zurück. Nach dem Umgang, den Lucia mit dem geisterhaften Mädchen pflegte, handelte es sich bei Thara keinesfalls um ein Dienstmädchen. Sie sah zwar ungepflegt aus, aber Arzus Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass Aussehen täuschen konnte.
»Was genau übst du überhaupt?«, fragte die Varanterin und setzte sich an einen der Tische. Sie schlug die erste Seite auf.
Es gab ein Geräusch, als wenn eine Fackel im Wind verlischt...
Arzu stöhnte. So eine Geschichte war das also.
-
Lucias Antwort war nicht, was sich Thara erhofft hatte, und an Arzus Gesichtszügen ließ sich ablesen, dass sie auch die junge Frau aus Ishtar nicht wirklich zufriedenstellte. Allerdings ließ sich die Schwarzmagierin nicht dazu bewegen, konkreter zu werden, und war schon zwischen den Regalreihen verschwunden.
Thara seufzte und breitete wieder das tintenbeschmierte Pergament vor sich aus. Arzu ihrerseits folgte Lucias Vorschalg und ‚suchte‘ sich ein Buch aus. Wie Thara selbst damals, als sie zum ersten Mal die Bibliothek betreten hatte, war auch Arzu zunächst überrascht von deren Funktionsweise, begriff sie aber offensichtlich schneller als Thara es getan hatte. Auf Arzus Frage, ob die Bücher denn nicht kaputtgehen würden, wenn sie ständig einfach aus den Regalen fielen, konnte Thara allerdings auch nur ratlos mit den Schultern zucken. Wahrscheinlich war da wohl einfach irgendeine Magie im Spiel.
„Was genau übst du eigentlich?“, fragte Arzu beiläufig und schlug den Folianten auf, den sie herangeschleppt hatte. Thara warf ihr vorsichtig einen Seitenblick zu. Das Buch, das, wenn sie Arzu richtig gehört hatte zwischen den Regalreihen, eine ‚kurze Geschichte des Kastells‘ beinhalten sollte, sah schwer genug aus, dass sich Thara nicht einmal sicher war, ob sie es überhaupt hätte hochheben können, und die Schrift wirkte winzig und verschnörkelt – ganz anders als die großen, mit klaren Linien gemalten Buchstaben in ihren eigenen Unterlagen. Und sie hatte mit denen schon Schwierigkeiten... wie sollte sie da jemals so etwas lesen können? Arzu war ihr offensichtlich weit voraus. Genau wie jeder andere innerhalb dieser Gemäuer.
„I-ich… ich… v-v-versuche... l-lesen zu lernen“, gab Thara schließlich zögerlich zu. Sie zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend. „D-du wirst s-s-sicher bald M-magierin… deswegen b-bist du hier, oder? I-ich meine… äh…" Sie stockte und wandte sich hastig wieder ihren eignen Büchern zu. "T-t-tut mir leid, ich will dir nicht auf die N-nerven gehen…“
-
Arzu legte den Kopf schräg und betrachtete noch mal die Malereien auf den Papieren von Thara. Mit einiger Fantasie konnte man tatsächlich Buchstaben erkennen. Die Varanterin vermochte sich nur schwer vorzustellen, wie man in Tharas Alter noch nicht Lesen oder Schreiben konnte. In Kombination mit dem kränklichen Aussehen lag es nahe, dass das Mädchen aus sehr ärmlichen Verhältnissen stammen musste. Es beeindruckte Arzu, dass Thara es trotzdem bis hierher geschafft hatte. Nur zu gut wusste sie, wie tückisch der Weg zum Kastell war.
»Ja, ich hoffe, dass ich bald Magierin bin.«, sagte Arzu und rieb sich die Schläfe, denn ein stechender Schmerz machte sich just in diesem Moment in ihrem Kopf breit. »Offenbar bin ich bereits Magierin.« Die Varanterin zuckte mit den Schultern.
»Zaubern kann ich trotzdem noch nicht.«, sagte sie und ließ ein helles Lachen von sich. »Lesen bringt dir besser jemand anderes bei, Thara. Aber wenn du eine Frage hast, sprich mich einfach an. Ach, und eines noch. Entschuldige dich nicht. Bei niemandem. Die Welt wird ständig versuchen, dir alles wegzunehmen. Mach es ihr nicht zu einfach.«
-
Thara biss sich gerade noch auf die Unterlippe, bevor ihr eine Entschuldigung dafür, sich entschuldigt zu haben, herausrutschte. Sie nickte zögerlich und widmete sich wieder ihren ersten unbeholfenen Schreibversuchen.
Oder zumindest versuchte sie es, erwischte sich aber immer wieder dabei, wie sie stattdessen hinter ihrem Schleier aus Haaren hervor einen verstohlenen Seitenblick auf Arzu warf. Die dunkelhäutige junge Frau saß über den voluminösen Folianten gebeugt, der wohl das Beste aus der Geschichte des Kastells enthielt. In ihrer Miene zeichnete sich ab, dass es sich um eine sehr bewegte Geschichte handeln musste: Mal lächelte sie, ab und an ertönte sogar ein kurzes, klares Lachen, dann kniff sie wieder zweifelnd die Augen zusammen oder runzelte sie Stirn, ab und an riss sie sogar in einem Ausdruck von Unglauben die Augen weit auf oder verzog angewidert das Gesicht.
Thara konnte nicht anders, als sie zu bewundern, und vielleicht war sie auch ein wenig neidisch. Arzu war gerade erst im Kastell angekommen und schien sich von der ersten Minute an zugehörig, ja heimisch zu fühlen. Auch wenn Thara nicht so recht verstand, was Arzu damit meinte, sie wäre bereits Magierin, obwohl sie noch nicht zaubern könne. Eine seltsame Logik, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Arzu das ausgesprochen und hingenommen hatte, diese Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein, die Zuversicht, die sie ausstrahlte – Thara wünschte sich, sie hätte auch nur einen Funken von Arzus Selbstsicherheit. Vor ihrem inneren Auge sah sie Arzu bereits als mächtige Magierin in einer reich verzierten schwarzen Robe von einem dunklen Thron herab Hof halten, während sie selbst noch immer stammelnd und stotternd zu ihren Füßen herumhuschen würde, immer von der Angst getrieben, etwas falsch zu machen und der Gewissheit, nichts wirklich zu können.
Aber vielleicht war das einfach die Rolle, die Beliar für sie vorgesehen hatte? Wer wollte sich schon anmaßen, die Pläne des dunklen Gottes zu kennen? Thara bestimmt nicht. Und wenn es das war, was der Herr des Totenreiches für sie im Sinn hatte, dann würde sie sich nicht dagegen sträuben. Für einen Thron war sie ohnehin nicht geeignet. Ein unscheinbares Leben in Arzus Schatten würde ihr völlig ausreichen.
Wie man wohl ihren Namen schrieb?
-
Die Magierin hatte den rest des Abends in einer kleinen Ecke der Bibliothek ihre Zeit damit verbracht das Buch über den Zauber zu studieren, welcher im ersten Wälzer zwar wundervoll beschrieben war, aber nichts über seine Anwendung bereit hielt. Als sie nach einigen Stunden des Lesens wieder auf ihr Zimmer zurück kehrte um ihr neues Wissen mit dem Buch des vermeindlichen Zwillings abzugleichen verging wieder einige Zeit. Irgendwann fielen ihr zwar die Augen zu, aber kurz darauf wurde sie wieder vom einem kräftigen Sonnenstrahl der direkt auf ihr Bett schien geweckt. Lucia streckte sich und beschloss der Theorie einigen Praxiserfahrungen hinzuzufügen. Noch etwas schlaftrunken und mit dem dicken Buch unter ihrem Arm stolzierte sie nun durch das Kastell auf der Suche nach einem entsprechendem Übungsraum. Das Gemäuer ließ mit diesem Wunsch nicht lange auf sich warten und schon stand sie in einer dieser Kammern. Der Raum war recht groß, sehr dunkel, besaß lediglich ein Fenster, weit oben und hatte praktisch keinen weiteren Inhalt. Ein paar schmucklose Fackeln hingen an den Seiten. Nach dem sich die Magierin kurz umgesehen hatte entzündete sie die insgesamt sechs Fackeln von Zauberhand.
Der komplexe, magische Zauber bestand nun darin zwei Teilschritte miteinander zu kombinieren. Ratsam wäre es gewesen zunächst den ersten Schritt zu üben. Also musste sie es zunächst schaffen ein magisches Auge zu beschwören, dem sie schließlich mit einem weiteren, zweiten Zauber ihre Sehkraft übertragen könne. Erst dann könne sie es nutzen, um umher zu fliegen und die Umgebung für sie zu entdecken. Aus dem Buch geht außerdem hervor das es dem Magier irgendwann möglich sein könne einen untoten Magier zu rufen, dem man seine magischen Fähigkeiten übertragen könne. Aber davon war Lucia noch sehr weit entfernt.
Ein paar Augenblicke später fand Lucia ein Podest in der Mitte des Raumes vor. Dies war der perfekte Ort um dieses magische Auge erscheinen zu lassen. Sie konzentrierte sich auf diese Stelle, versuchte ihre Vorstellungskraft zu fokussieren und den Zauber geschehen zu lassen...
-
Arzu verfolgte einen bestimmten Handlungsstrang in der Geschichte des Kastells mit besonderen Interesse. Er handelte auch von einer Magierin, die so wie die Varanterin noch nicht lange ein Teil des Zirkels gewesen war. Als Arzu die Passage zu Ende gelesen hatte, blickte sie erschrocken auf und lief zu einem naheliegenden Fenster, um zum Himmel zu gucken. Der Mond hatte in den letzten Tagen ihrer Reise zugenommen und genau heute war Vollmond.
»Thara! Mitkommen!«, rief sie dem kränklichen Mädchen zu und zog Thara vom Stuhl. »Das Lesenlernen kann warten!«
Gemeinsam mit ihrer zwangsrekrutierten Kameradin an der Hand, rannte Arzu durch die Gänge des Kastells und sucht den Weg zum Innenhof. Zwar war sie selbst noch nicht dort gewesen, aber aus dem Buch wusste sie, dass es ihn gab. Und tatsächlich. Plötzlich stand sie in der Mitte des Hofs unmittelbar vor der Esche.
Im Augenblick interessierte sich die Varanterin weniger für den Baum, als was einige Stockwerke über ihnen passierte. Laut dem Buch aus der Bibliothek besaß das Kastell nur drei Stockwerke. Was sie jetzt sahen, widersprach dem allerdings. Eine vierte Reihe von Fenstern erstreckte sich oberhalb des dritten Stockwerks.
»Wenn wir dort hinauf gelangen, erwarten uns Geschenke.«, sagte Arzu zu Thara. Letztere schien sich zu fragen, was in die Magierin gefahren war. Für eine weitere Erklärung gab es keine Zeit. Arzu eilte wieder ins Innere des Gebäudes auf der Suche nach einem Weg, um in die höheren Stockwerke zu gelangen. Endlich fand die Varanterin eine Wendeltreppe und ging dann hastigen Schrittes hinauf.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, das Ende der Treppe zu erreichen. Augenscheinlich führte sie nur in das vierte Stockwerk, was Arzu seltsam erschien. Wenngleich nicht seltsamer als aus dem Nichts erscheinende Stockwerke. Endlich oben angelangt, bot sich der Magierin ein verwirrendes Bild. Vor ihr erstreckte sich ein langer Gang, rechts und links gesäumt von Türen. Hier brannten keine Fackeln, dafür strahlte das Licht des Vollmondes herein - ohne dass es Fenster gab. Es war wie im Buch beschrieben. Dennoch zögerte Arzu einen Schritt in den Gang zu machen. Argwöhnisch setzte sie probehalber einen Fuß auf den Boden. Er gab nicht nach. Statt dessen breiteten sich Ringe unter ihrem Fuß aus, als wäre sie auf die Oberfläche eines spiegelglatten Sees getreten. Doch dies war kein Wasser; es war Mondlicht.
Arzu nahm all ihren Mut zusammen und stellte sich mit beiden Füßen in den Gang. Als sie an sich heruntersah, bemerkte die Magierin, wie das Licht des Vollmonds auch durch ihren Körper strömte, als sei er gar nicht da. Schließlich setzte sich die Magierin in Bewegung. Weshalb sie nicht furchtsamer war, konnte sich Arzu nicht so recht erklären. Etwas sagte ihr, dass sie in diesen Hallen keine Angst haben müsste.
Schließlich erreichte die Varanterin eine Tür. Sie ließ sich nicht öffnen, deshalb versuchte Arzu die nächste und dann die übernächste. So stand es nicht im Buch beschrieben. Irritiert runzelte die Magierin die Stirn. Bis jetzt hatte alles übereingestimmt. Der Vollmond, das ominöse vierte Stockwerk, die nicht endende Wendeltreppe. Warum ging es nicht weiter?
-
„W-w-was ist das? Wo… wo s-sind wir hier?“, fragte Thara zweifelnd und ein wenig ängstlich und sah sich um. Das geisterhafte Stockwerk, in das Arzu sie geführt, oder besser: entführt hatte, erstreckte sich vor ihnen in Form eines langen, fensterlosen Ganges, durchflutet von silbernem Mondlicht. Vorsichtig setzte Thara einen Fuß vor den anderen; unter ihren nackten Fußsohlen spürte sie… nichts. Nicht einmal einen leichten Widerstand. Es fühlte sich an, als würde sie einfach durch die Luft laufen – eine eher verstörende als angenehme Erfahrung. Am liebsten wäre sie umgedreht, zurück in die Sicherheit des echten Kastells aus festem Stein und Marmor, aber als sie zurückschaute, erstreckte sich hinter ihr auch nur derselbe, endlos erscheinende Gang. Von der engen Wendeltreppe, die sie hier hoch geführt hatte, war nichts mehr zu sehen!
Arzu stand derweil nachdenklich vor einer der Türen. Sie hatte mehrere ausprobiert, aber keine wollte sich öffnen lassen. Der Gang, der nun in beide Richtungen führte, war jedoch noch gesäumt mit dutzenden weiteren, identisch aussehenden Türen. Irgendwie war sich Thara jedoch sicher, dass sich keine davon würde öffnen lassen, und Arzu schien diese Gewissheit zu teilen. Die Türen rechts und links des Ganges waren wohl eher Dekoration oder führten in Bereiche, die nicht für die beiden Besucherinnen bestimmt waren. So oder so würden sie nach einem anderen Weg suchen müssen.
„Arzu, die… d-die Treppe ist… w-weg!“, merkte Thara vorsichtig an, aber Arzu zuckte nur mit den Schultern. Anders als Thara schien sie nicht beunruhigt zu sein, lediglich ungeduldig.
Angesichts der verschlossenen Türen und des versperrten Rückwegs hatten sie nicht viele Optionen. Arzu schritt entschlossen den Gang aus Mondlicht entlang, die Türen rechts und links ignorierend. Thara folgte ihr dicht auf den Fersen, wobei sie sich immer wieder nervös umsah.
Der Gang schien sich geradezu endlos auszudehnen. Er machte dann und wann eine Biegung und hin und wieder führten sie kurze Treppen ein Stück nach oben oder nach unten, aber es gab keine Abzweigungen. Es ging einfach nur geradeaus, weiter und weiter – Thara konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich noch innerhalb des Kastells befanden. Dessen Grundriss erstreckte sich doch nicht über hunderte, vielleicht tausende Schritte! Andererseits war es nicht das erste Mal, dass die Dimensionen eines Raumes nicht zu passen schienen. Für die Bibliothek galt dasselbe, und ebenso für die Halle, in der Sinistro sein Experiment durchgeführt hatte. Aber sowohl die Bibliothek als auch das Experimentalzimmer hatten einen eindeutig erkennbaren Zweck – der Gang aus Mondlicht hingegen schien nur endlos und vor allem ziellos zu mäandern.
Und… bildete sie sich das nur ein, oder wurde es langsam dunkler und auch kühler? Thara glaubte, einen leichten, eisigen Lufthauch zu spüren, der sie unter ihrem dünnen Kleid frösteln ließ. Und es war still. Vollkommen still. Nicht ein Geräusch war zu vernehmen, nicht einmal ihre Schritte verursachten auch nur den geringsten Hall.
„W-wie weit denkst du, dass… d-dass der Gang noch w-w-weitergeht?“, fragte Thara schließlich. Nicht, weil sie sich eine Antwort auf die Frage erhoffte – Arzu war ganz offensichtlich genauso ratlos wie sie selbst –, sondern einfach, weil die Stille anfing, an ihren Nerven zu zerren.
Als hätte der Gang selbst beschlossen, eine Antwort zu geben, machte er eine Biegung und endete abrupt. Sie standen vor einer Tür, größer und reicher verziert als diejenigen, an denen sie bis jetzt vorbeigekommen waren. Arzu zögerte keine Sekunde und drückte die Klinke – geräuschlos schwang die Tür auf.
Dahinter lag ein schmuckloser, runder Raum. Die Wände bestanden aus dunklen, fast schwarzen und nur relativ grob behauenen Steinquadern, die im schwachen Mondlicht, das noch immer trotz des Fehlens jeglicher Fensteröffnungen irgendwie seinen Weg ins Innere fand, stellenweise bläulich schimmerten. Davon abgesehen… nichts. Eine Sackgasse? Thara sah sich ratlos um, aber Arzu nickte zufrieden: „Ein runder Raum – wie im Buch!“, stellte sie fest und begann, die Wände abzutasten. Bevor Thara fragen konnte, was sie da machte, rief die Varanterin auch schon: „Ha, hier! Achtung, festhalten!“
Festhalten? Woran denn? Und wieso?
Zumindest die letzte Frage, die Thara durch den Kopf schoss, wurde beantwortet, sowie Arzu den hervorstehenden Stein drückte, den sie gefunden hatte. Die Tür hinter ihnen fiel – vollkommen geräuschlos – ins Schloss, und dann setzte sich der Boden unter ihren Füßen mit einem Mal in Bewegung. Er raste so schnell nach unten, dass Thara fast den Eindruck hatte, frei zu fallen. Panisch suchte sie nach irgendeiner Möglichkeit, sich festzuhalten und schwankte dabei durch den Raum wie eine Betrunkene, aber es gab nichts – der Raum selbst war vollkommen leer und die Wände rasten an ihnen vorbei. Am Ende war das Einzige, woran sie Halt finden konnte, ihre Begleiterin. Thara achtete nicht auf Arzus Proteste, als sie sich an ihr festklammerte und sich weigerte, loszulassen, bis die ganze Kammer ebenso abrupt, wie sie sich in Bewegung gesetzt hatte, wieder zum Stillstand kam. Die beiden Frauen wurden vom Momentum zu Boden geschleudert, der nun auch wieder eine gewisse Festigkeit aufwies.
Sie rappelten sich auf und Thara ließ Arzu endlich los. Betreten rückte sie ein Stück von ihr ab und wollte sich gerade für ihre Aufdringlichkeit entschuldigen, als ihr wieder einfiel, dass Arzu ihr gesagt hatte, dass sie sich bei nichts und niemandem für irgendetwas entschuldigen sollte. Also stand sie einfach nur unschlüssig da und sah sich um.
Sie befanden sich in einem weiteren runden Raum, einem größeren allerdings. Die Decke war sicherlich zehn Schritt hoch und der Schacht, durch den sie nach unten gefahren waren, war als pechschwarze Öffnung über ihren Köpfen gerade so zu erkennen. Es war deutlich dunkler hier, die groben Steine schimmerten nur noch schwach, gerade ausreichend, dass sie überhaupt noch etwas sehen konnten.
Von dem Raum gingen nicht weniger als acht Gänge ab – allesamt schmale, dunkle Öffnungen, die sich in nichts voneinander unterschieden. Thara drehte sich im Kreis. Ein dumpfes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Die Dunkelheit, die Enge… kein erkennbarer Ausweg außer diesen schmalen, finsteren Gängen, die aussahen wie Schlünde…
„Wo… wo sind wir?“ Tharas Stimme zitterte, ebenso wie sie selbst. Sie fühlte sich gefangen und hilflos.
Und dann hörten sie ein Geräusch. Als würde etwas großes, schweres sich über den felsigen Untergrund schleppen. Es kam aus einem der Gänge, aber aus welchem, vermochten sie nicht zu sagen.
„Arzu, w-w-was ist das?“
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
|