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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Post [Story]Ferun

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    Der Schritt durch die Pforte

    Ferun betrat einen kurzen Engpass, der von den zwei dicht beieinander liegenden Hügelketten gebildet wurde, die hier ihren Anfang nahmen. Kaum war dieser überwunden, öffnete sich vor ihm ein kleines Tal, das eingerahmt von den Hügeln nicht nur genügend Platz für den Weg bot, sondern auch einigen Bäumen und Unterholz rechts des Weges Platz spendete. Sein Blick zum Himmel wurde von den Ästen der größeren Bäume behindert, es war aber sogar durch das Blattwerk hindurch zu erkennen, dass er von einem strahlenden Blau war und die Sonne nur von vereinzelten Wolken verdeckt wurde. Doch Laub raschelte unter seinen nackten Füßen und erinnerte ihn daran, dass der Sommer bald enden würde. Und mit ihm Feruns bisheriges Leben.
    Sein halblanges braunes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Strähnen, die für diesen zu kurz gewesen waren, fielen ihm in seine Stirn und manchmal auch in seine Augen, so wie jetzt. Als er sie sich mit einer Hand aus dem Gesicht wischte, spürte er wieder die Bartstoppeln, die sich erst seit kurzem an seinem Gesichtsrand bemerkbar machten. Noch hoffte er einigermaßen gepflegt auszusehen, doch schon bald würde er sich rasieren müssen, wenn das so bleiben sollte. Er war immer froh gewesen, damit verschont geblieben zu sein, hatten andere Jungen in seinem Alter doch schon vor Jahren zum Rasiermesser gegriffen, aber irgendeiner Laune der Natur hatte er es zu verdanken, dass die Borsten nun doch noch gekommen waren. Als er seinen Weg fortsetzte, kratzte er sich im Nacken, wo der Verschluss des Amulettes scheuerte. Es würde bald alles sein, was ihm noch von seiner Mutter geblieben war. Er war noch nicht gewohnt, es zu tragen, und die Kette reizte seine Haut, aber er war entschlossen, es nicht mehr abzunehmen. Er hatte allerdings beschlossen, es unter seinem Hemd und der alten Hirschlederjacke zu verbergen, um etwaigen Dieben nicht noch mehr Anreiz zu bieten, als es der prallgefüllte Geldbeutel tat, der direkt neben dem Kurzschwert von seinem Gürtel baumelte. Er seufzte. Sein schlanker, hoch gewachsener Körper war mit einem einfachen Hemd und einer eben solchen Hose bekleidet.
    Ferun prüfte mit einem Griff, ob das Gold noch da war. Beinahe paranoid vergewisserte er sich dessen alle paar Minuten. Er würde es sich nicht verzeihen können, wenn er das Gold verlor. Es war abgesehen von dem Amulett schließlich alles, was seine Mutter ihm hinterlassen hatte. Als er aus der Stadt losgezogen war, hatte er sich große Sorgen wegen der Banditen gemacht. Seine kämpferischen Fähigkeiten hätten bei Weitem nicht gereicht, um diese loszuwerden. Doch er hatte einen reisenden Händler gefunden, der sich über die Gesellschaft zu freuen schien. Und nun, wo er sein Ziel fast erreicht hatte, rechnete er nicht mehr mit einem Überfall. In die Nähe der wohl heiligsten Stätte der Insel schienen sich nicht einmal die zwielichtigsten Gestalten zu trauen.
    Ein schrilles Kreischen ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. Reflexartig hatte er sein Schwert gezogen und hielt es nun mit beiden Händen schräg in die Höhe, noch bevor er den Ursprung des Kreischens überhaupt ausgemacht hatte. Ein riesiger Käfer brach aus dem nahen Unterholz, hob seinen fetten Körper auf die grazilen aber kräftigen Hinterbeine und wetzte drohend seine Sicheln. Ferun fluchte und stolperte einige Schritte rückwärts. Der Feldräuber war mindestens genauso groß wie er und im Gegensatz zu ihm chitingepanzert. Er hatte noch nie einen Feldräuber aus der Nähe gesehen und wusste nicht viel über sie. Konnte er ihm entkommen, wenn er sich einfach umdrehte und rannte? Doch die Vorstellung, wie sich die langen sichelartigen Vorderläufe in seinen Rücken gruben, kurz nachdem er sich umgewandt hatte, ließ ihn erstarren. Er musste sich bewegen, so viel war ihm klar, doch dazu schien er im Moment schlichtweg nicht in der Lage. Erst hatte der Feldräuber bei dem Anblick der gezogenen Klinge inne gehalten, doch nun stieß er erneut sein furchtbares Kreischen aus und stürzte sich mit gierig klickenden Zangen auf sein Opfer.
    Ferun hatte nie gelernt, mit seinem Schwert zu kämpfen. In der Stadt trug jeder ein Schwert, egal ob er kämpfen konnte oder nicht. In seinem Fall um darüber hinwegzutäuschen, dass er nie eine richtige Kampfausbildung erhalten hatte. Der Feldräuber hatte ihn schon fast erreicht, als sein Arm sich endlich träge in Bewegung setzte.
    Doch ehe Schwert und Sichel aufeinander trafen, schoss etwas von links auf den Feldräuber zu und zerplatzte an dessen Rückenpanzerung: Ein Feuerball! Kreischend stolperte das riesige Insekt zurück, während die Flammen es innerhalb von Sekundenbruchteilen vollständig erfassten. Krampfhaft zuckend fiel das Insekt auf den Rücken und strampelte mit seinen vielen Beinen hilflos in der Luft umher. Bis die Bewegungen langsam in zittrigen Krämpfen endeten und auch das Kreischen erstarb. Entgeistert starrte Ferun, das Kurzschwert immer noch erhoben, auf den rußgeschwärzten Feldräuber, dessen Leichnam nur wenige Meter vor ihm lag und vor sich hin kokelte.
    „Die Tage werden kürzer, die Wege gefährlicher.“
    Ferun wandte sich zu der Stimme um und entdeckte einen Mann in der unverwechselbaren Robe der Feuermagier, der die steinernen Stufen eines eindrucksvollen Wegschreins herabkam. Auf einem runden Platz, der direkt in den Fels geschlagen worden war, erhob sich die übermannsgroße Statue eines Kriegers. Runde Säulen stützten eine Kuppel, die den kleinen Platz mit der Statue überdachte. Von der Empore führten halbkreisförmige Stufen zum Boden hinunter. Der Feuermagier setzte soeben den ersten Schritt auf die Erde. Wie Anhänger seines Kreises es oft taten, hatte er seine Hände in die weiten Ärmel seiner flammenbestickten Robe geschoben und schritt weit aus, was ihm einen erhabenen Ausdruck verlieh. Der Mann blieb vor Ferun stehen und musterte ihn kurz mit umwölkter Miene. Sein Bart war deutlich dunkler als sein kurzes, schlohweißes Haupthaar. Dann ließ er seine Augen über den verkohlten Riesenkäfer gleiten.
    „Erstaunlich, wie schnell das Feuer ihren ganzen Körper erfasst, nicht wahr? Feldräuber reichern in ihren Körpern einige leicht entzündliche Sekrete an, die sie für solcherlei Angriffe empfindlich machen. Wenn man mit dem Schwert nicht umgehen kann, ist es gewiss besser, sich ihnen mit einer Fackel zu stellen. Sofern man zufällig gerade eine parat hat, versteht sich.“ Er warf Ferun einen abschätzenden Blick zu, wog ab, ob er noch etwas sagen sollte. Schließlich entschied er sich dafür: „Augenfällig ist außerdem, dass sie von der Schöpfung mit eher kurzen Hinterbeinen gesegnet wurden. Sie machen ihre kleinen Schritte schnell, allerdings bringt ihnen das recht wenig. Ein gesunder Mann ist selten auf der Flucht vor einem Feldräuber gestorben.“
    „Danke, dass Ihr mich gerettet habt“, stammelte Ferun immer noch perplex von dem Angriff des Feldräubers und dem plötzlichen Auftauchen des Magiers. „Und für die Ratschläge“, fügte er rasch hinzu.
    Der Magier runzelte seine Stirn, wobei seine buschigen Augenbrauen sich in der Mitte trafen. „Was macht ein so junger Mann wie du so weit von der Stadt und den Höfen entfernt?“, fragte er ohne Argwohn.
    Ferun war auf diese Frage gefasst gewesen. Er verschaffte sich trotzdem ein wenig Zeit, indem er sein Schwert umsichtig zurück in die Scheide schob, ehe er antwortete: „In der Stadt habe ich keine Zukunft für mich gesehen. Ich habe sie verlassen und bin nun auf der Suche nach dem Kloster der Feuermagier, das hier in der Nähe sein soll.“
    „So?“, erwiderte der Magier hellhörig geworden, „Dann freue ich mich, dir mitteilen zu können, dass du dich nicht verlaufen hast.“
    „Der Feuermagier in der Stadt gab mir eine gute Wegbeschreibung“, erklärte Ferun.
    „Aah, Daron ist in der Tat… höchst umsichtig, wenn er sich einen Vorteil davon erhofft.“
    Der Magier gefiel ihm. Er war so nett und aufmerksam, ganz anders als der verbohrte Daron in der Stadt, mit dem man sich über nichts anderes als Spenden unterhalten konnte. „Heißt das, dass das Kloster hier ganz in der Nähe ist?“, hakte er nach.
    „Oh ja“, erwiderte der Magier mit einem breiten Lächeln, „Es ist hier gleich hinter der Biegung. Du musst nur noch das kurze Stück Weg zurücklegen, das du hier siehst, und dann die Brücke über dem See überqueren. Pedro, der Novize, wird sich deiner annehmen, wenn du drüben bist.“
    „Ich muss mich abermals bei Euch bedanken“, sagte Ferun und verbeugte sich leicht. Er war sich nicht sicher, wie viel Förmlichkeit angebracht war, doch Daron hatte ihn regelmäßig für seinen Umgangston getadelt und er wollte auf keinen Fall unfreundlich erscheinen.
    Der Magier beobachtete ihn nun mit einem nachdenklicheren Lächeln als zuvor. „Du solltest deinen Weg jetzt fortsetzen“, sagte er, bevor er noch mit einem schalkhaften Zwinkern hinzufügte: „Wir werden uns sehr bald wiedersehen.“
    „Es wird mir eine Freude sein“, verabschiedete Ferun sich, umrundete den Magier in seiner prunkvollen Robe, und setzte seinen Weg mit neuer Nervosität fort. Er würde also bald da sein. Er merkte, dass er immer weiter ausschritt. Ein Blick zurück auf den Magier, zeigte ihm, dass dieser schon wieder die weißen Stufe hinauf gestiegen war. Ein niedriger Baum verbarg ihn und die Empore des Wegschreins. Wenn alle Magier so nett waren, war das Kloster eindeutig die richtige Entscheidung gewesen.
    Als er den Blick wieder nach vorn wandte, stockte ihm der Atem. Ihm bot sich ein atemberaubendes Bild. Eine majestätische Brücke aus massivem und makellos glattem Stein erstreckte sich vor ihm, die so breit war, dass selbst der große Karren des fahrenden Händlers den See problemlos hätte überqueren können. Am gegenüberliegenden Ende dieser Brücke ragten die Klostermauern auf, hinter denen nur noch die Spitzen der Dächer und die große Kathedrale im Zentrum zu sehen waren. Links von der Brücke stürzten sich mehrere kleine Wasserfälle die Bergflanke hinab. Das Wasser ergoss sich prasselnd in einen großen See, der weit unter der Brücke die ellenlangen Stützpfeiler umgab, und floss dann rechterhand unter einem natürlichen Steinbogen hindurch ab.
    Ferun war stehen geblieben, um dieses beeindruckende Panorama bewundern zu können, doch nun riss er sich von der Aussicht los. Der Horizont färbte sich im Licht der untergehenden Sonne schon zartrosa und er wollte nicht zu spät im Kloster ankommen, um nicht beim Abendessen oder gar der Nachtruhe zu stören. Seine Schritte waren nun zögerlicher, als er die Brücke betrat. Vor dem Tor des Klosters hatte er einen Mann erspäht, der in schwarze Kleidung mit einem kurzen, roten Rock gekleidet war. Es war nicht so eine prächtige Robe wie die von Daron oder dem Feuermagier am Wegschrein, sondern die Kleidung der Novizen, die er ab und zu beobachtet hatte, wenn sie auf ihren Botengängen in die Stadt kamen. Vermutlich war dieser Mann Pedro, von dem der freundliche Feuermagier an dem Schrein erzählt hatte. Mit verschränkten Armen hatte Pedro vor der überraschend schmucklosen Klosterpforte gestanden und mit scheinbar griesgrämigem Blick die umliegende Landschaft beobachtet. Als er Ferun kommen sah, hatte er die Verschränkung seiner Arme jedoch gelöst. Obwohl er offensichtlich der Wächter des Klosters war, wirkte sein Blick nicht sehr wachsam, sondern viel eher verschlafen. Seine Mundwinkel hingen schlaff herunter und sein Oberlippenbart folgte dieser Bewegung. Ferun kam der Gedanke, dass sein Job hier draußen ziemlich einsam und langweilig war.
    „Innos zum Gruß, Fremder“, begrüßte der Novize ihn mit seiner dünnen Stimme.
    „Guten Tag“, sagte Ferun ein wenig steif. Sein Herz hatte so nah vor den altehrwürdigen Klostermauern heftig zu pochen begonnen. Nervös huschte sein Blick über das Tor, die Zinnen und die beiden Türme.
    „Was ist dein Begehr?“, fragte der Novize und erinnerte Ferun damit wieder an seine Anwesenheit.
    „Oh ja, ich, ähm…“, ungeschickt hatte Ferun begonnen den schweren Lederbeutel von seinem Gürtel zu lösen. Seine Ohren liefen rot an.
    Endlich hatte er den Riemen gelöst bekommen und hielt Pedro den Lederbeutel hin. „Ich will als Novize im großen Kloster der Feuermagier in Khorinis aufgenommen werden“, fügte er erklärend hinzu.
    Pedro nahm den Beutel nicht, obwohl Ferun ihn ihm auffordernd hinhielt. „Du bist dir im Klaren darüber, dass du durch deinen Beitritt einen ewigen Vertrag schließt? Du verpflichtest dich zu einem Leben in Innos‘ Diensten. Du wirst auf weltliche Annehmlichkeiten wie Wein und den Beischlaf von Frauen verzichten müssen, ein Leben lang. Desweiteren wirst du beim Eintritt in die Gemeinschaft Innos‘ von all deinen Sünden befreit, doch wage es nicht nach diesem Zeitpunkt zu sündigen. Solcherlei Vorkommnisse werden in unserer Gemeinschaft nicht gestattet und aufs Härteste bestraft.“
    Ferun ließ den Beutel ein Stück sinken. Zum einen, weil eintausend Goldstücke ein ziemliches Gewicht aufbrachten, zum anderen, weil die Worte des Novizen nicht gerade ermunternd zu nennen waren. Er hatte nicht vor, zu sündigen, und von Wein hatte er eh noch nie viel gehalten. Ja, am unangenehmsten war ihm der Gedanke an die Keuschheit. Er dachte an die Tochter des Schmiedes, die er vor zwei Wintern das erste Mal geküsst hatte. Doch dann hatte er den Zweifel überwunden und seine Hand schloss sich wieder fester um den schweren Goldbeutel. Im Vergleich zu dem elendigen Leben, das ihn außerhalb der Mauern des Klosters erwartete, war der Verzicht auf solch profane Dinge nichts.
    „Du bist dir deiner Entscheidung nach wie vor sicher?“, fragte Pedro und sah ihm dabei tief in die Augen.
    Stumm nickte er. Als Pedro den Beutel immer noch nicht nehmen wollte, fügte er noch hinzu: „Ich stelle mein Leben hiermit in den Dienst Innos‘ und schwöre, all seine Gesetze jederzeit zu achten!“
    Nun endlich nickte Pedro und nahm den Beutel. Er wog ihn mit der rechten Hand abschätzend. „Tausend Goldstücke?“
    „Ja, wie es die Regeln besagen.“ Ferun glaubte Zweifel in Pedros nachdenklicher Miene zu sehen, doch dann schnürte der Novize den Beutel zu einem anderen prall gefüllten an seinem Gürtel.
    „Bin ich schon der zweite heute?“, fragte er den Novizen.
    „Allerdings“, antwortete Pedro, „In der Tat ein ungewöhnlicher Zufall. Das letzte Mal, dass unsere Gemeinschaft an nur einem Tag um zwei Mitglieder wuchs, ist viele Winter her. Die meisten Tage vergehen, ohne dass jemand kommt. Selbst in der heutigen Zeit.“ Jetzt wandte Pedro sich dem Eingangsportal zu, klopfte zweimal mit dem großen Eisenring gegen die Tür, wartete kurz und klopfte dann noch einmal.
    Knarrend schwang die Tür nach innen auf. Neugierig spähte Ferun durch den immer größer werdenden Spalt. Auf der anderen Seite wartete schon ein Mann in der Robe der Feuermagier auf ihn, der jedoch nicht so freundlich lächelte, wie sein Ordensbruder am Tempel.
    Ferun schluckte noch einmal. Dann setzte er seinen Fuß über die Türschwelle des Klosters, nicht ahnend, was für Wendungen es für ihn bereit halten würde.

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    Meister Parlan und die Aufnahme im Kloster

    Ferun hatte über die Schulter geblickt, um zuzusehen, wie der Ausschnitt der Brücke und des Gebirgspanoramas immer kleiner wurde, bis das Tor krachend ins Schloss fiel. Er wandte seinen Blick von dem Tor ab. Jetzt war es an der Zeit, nach vorn zu sehen.
    Der Feuermagier, der auf dieser Seite der Mauer scheinbar nur auf ihn gewartet hatte, sah ihn mit seinen tiefliegenden Augen an. Sein Haar war weiß und dicht, seinen Bart hatte er bis auf einen Gesichtskranz vollständig rasiert. Tiefe Augenringe zeichneten sich unter dem trägen Blick des Mannes ab. Doch es lag auch etwas Wachsames in seinen Augen, sodass Ferun sich unangenehm gemustert fühlte.
    Er blickte den Feuermagier erwartungsvoll an. Der Magier jedoch ließ sich Zeit. Zunächst winkte er einen vorbeilaufenden Novizen zu sich und murmelte ihm etwas zu, so leise, dass Ferun kein einziges Wort verstand. Der Novize nickte und machte sich dann eilig auf den Weg, wo auch immer er hingeschickt worden war. Erst jetzt hatte Ferun die ungeteilte Aufmerksamkeit des Magiers, der nun seine Arme aus ihrer Verschränkung löste und plötzlich auch ein Lächeln für ihn hatte. „Dein Erscheinen hier ist seltsam“, eröffnete ihm der alte Mann. Er war ein wenig kleiner als Ferun. So konnte er eine kleine kahle Stelle an dessen Hinterkopf entdecken.
    „Wie meinen Sie das?“, fragte Ferun verwirrt. Das aufgesetzte Lächeln des Magiers gab ihm ein unbehagliches Gefühl.
    „Lassen wir das“, winkte er ab, „Mein Name ist Parlan, meines Zeichens bin ich Mitglied des Kreises des Feuers und dafür zuständig die neuen Novizen hier im Kloster willkommen zu heißen.“ Mit einer weitläufigen Geste seiner Arme zeigte er Ferun das Kloster. „Natürlich bin ich auch für die Verwaltung der zu verrichtenden Arbeiten verantwortlich, doch… aah… Babo!“, er unterbrach sich. Der Novize, dem Parlan etwas ins Ohr geflüstert hatte, war zurückgekehrt. Ferun sah, dass er ein großes Bündel in den Armen hielt und es dem Magier überreichte. Mit einem Kopfrucken befahl Parlan dem Novizen stumm, wieder zu gehen. Babo gehorchte sofort.
    „Dieses Bündel ist für dich“, offenbarte der Feuermagier Ferun und hielt es ihm hin. Ferun nahm es mit fragendem Blick an, er war sich nicht sicher, was darin war.
    „Dort drin ist dein Novizenrock. Du bist dir sicherlich im Klaren darüber, dass hier im Kloster eine gewisse Kleiderordnung herrscht. Sie macht vieles einfacher. Du wirst an dem, was einjeder trägt, sogleich erkennen können, welchen Rang er in Innos‘ heiliger Kirche innehat.“
    Jetzt erschien es Ferun irgendwie klar. So schnell hatte er irgendwie nicht mit seiner eigenen Kleidung gerechnet, doch schließlich hatte er sein Gold ja schon bezahlt.
    „Hier im Kloster“, hob Parlan von Neuem an, „dienen wir alle Innos, dem Gott des Feuers und des Lichts. Während wir Feuermagier seine Lehren in die Welt hinaustragen und in seinem Namen Recht sprechen, ist es die Aufgabe der Novizen, der Gesellschaft des Feuers den Rücken zu stärken. Sie übernehmen die notwendigen Aufgaben, die im Kreis des Feuers anfallen und die den Erwählten Innos, also uns, den Feuermagiern, hinderlich beim Ausführen unserer Aufgaben sind.“
    Ferun schluckte. Er meinte zwischen den Zeilen lesen zu können, worauf dies hinauslief: Er und die anderen Novizen waren Diener der Magier und durften die Drecksarbeit erledigen, doch es war ihm recht. Im Vergleich zu dem, was ihn außerhalb des Klosters erwartete, war dies das Paradies. Außerdem war die Aufgabe der Feuermagier in diesen Tagen noch wichtiger als je zuvor. Er war zufrieden, wenn er seinen Teil zu ihrer Arbeit beitragen konnte.
    „Jeder Novize bekommt also von mir eine Aufgabe zugeteilt, die er vom Moment seines Beitritts an jeden Tag auszuführen hat. Die zweite Verpflichtung eines jeden Novizen besteht in der Teilnahme am Unterricht. Dort wirst du alles lernen, was du brauchst, und obendrein noch deine Fähigkeiten in einer Vielzahl von Künsten erweitern, sodass du eines Tages vielleicht bereit bist, die Robe des Erwählten Innos‘ zu tragen.“
    Parlan schien mit seiner kleinen Einführung fertig zu sein, denn nun verschränkte er wieder seine Arme, die er zuvor für einige Gesten gebraucht hatte.
    „Hast du noch Fragen, Novize?“
    „Nein“, erwiderte Ferun steif. Natürlich hatte er noch eine Menge Fragen, aber er hoffte, dass diese sich von allein klären würden. Bisher hatte Parlan jedenfalls nicht erwähnt, wo er schlafen würde, oder wann und wo es Essen gab.
    „Dann lass mich nun meine Schriften zu Rate ziehen, um dir deine Aufgabe zuzuweisen.“ Der Magier zog eine kleine, mit einer roten Kordel zusammengebundene Pergamentrolle aus den weiten Ärmeln seiner Robe hervor. Ferun schoss durch den Kopf, dass es äußerst ungewöhnlich war, Dinge in seinem Ärmel aufzubewahren. Bei den weiten Ärmeln der Robe des Feuers schien es ihm jedoch eine Verschwendung, sie nicht als Stauraum zu nutzen.
    Parlan hatte indes die Kordel gelöst und das Pergament entrollt. Sein Blick huschte darauf hin und her, bis er sie wieder zusammen rollte und Ferun wieder ins Auge fasste. „Hast du schon Erfahrung mit dem Keltern von Weinen?“
    „Nein“, antwortete Ferun abermals. Er fühlte sich ein wenig auf die Probe gestellt, als wolle Parlan abtesten, wie wertvoll er für das Kloster sein würde.
    „Das macht nichts“, erwiderte der Magier zu Feruns Verwunderung, „Die meisten der Kelterer unter Meister Gorax waren blutige Anfänger, als sie zu uns kamen. Er ist es gewohnt, ihnen die Kunst des Weinkelterns zu lehren. Doch…“, Parlan warf einen Blick auf die tiefstehende Sonne, „…der heutige Tag ist zu weit fortgeschritten. Melde dich morgen nach dem Unterricht bei Meister Gorax. Jetzt kannst du die verbleibende Zeit bis zum Abendessen nutzen, um dich hier wohnlich einzurichten.“
    „Apropros Abendessen“, setzte Ferun an, doch Parlan ahnte, was er fragen wollte.
    „Alles Weitere kannst du deine Brüder und Schwestern fragen“, mit einem unmissverständlichen Nicken teilte der Magier ihm mit, dass ihr Gespräch hiermit beendet war. Dann winkte er einen weiteren Novizen herbei, wie er es zuvor schon bei Babo getan hatte. Der Novize, der dieses Mal an sie heran trat, hatte jedoch wenig Ähnlichkeit mit dem Novizen, der ihm seine Robe gebracht hatte. Seine Haut hatte einen dunklen Kupferfarbton und seine kohleschwarzen Haare waren stark gekräuselt. Seine schwarzen Augen lugten unter seiner breiten Stirn hervor und seine Lippen waren ungewöhnlich dick. All das ließ Ferun vermuten, dass dieser Novize von den südlichen Inseln stammte.
    „Komm mit“, sagte er mit tiefer Stimme.
    Ferun warf noch einen letzten Blick auf Parlan, der sich jedoch schon abgewandt hatte. Also folgte er dem südländischen Novizen, sein Bündel an sich gepresst. Erst jetzt fiel Ferun auf, dass die Arme des Novizen ungewöhnlich muskulös waren. Wurde hier im Kloster etwa auch Krafttraining betrieben?
    „Wer bist du?“, versuchte er ein Gespräch zu beginnen, während sie einem gepflasterten Weg zwischen zwei Kräuterbeeten hindurch folgten. In den Beeten wuchsen fiel mehr Pflanzen als Ferun kannte. Sie nahmen die gesamte rechte Hälfte des Innenhofs ein, wie er mit einem kurzen Blick feststellte. Doch der voraus gehende Novize interessierte ihn viel mehr als ein paar Pflanzen.
    „Opolos“, antwortete er knapp.
    „Und was ist deine Aufgabe hier?“, fragte Ferun neugierig weiter.
    „Ich hüte die Schafe“, kam die Antwort prompt.
    „Schafe?“, wunderte er sich und warf einen Blick über die Schulter. Tatsächlich: Die linke Hälfte des Innenhofes schien als Weideplatz für eine kleine Schafherde zu dienen.
    „Ist das nicht langweilig?“ Ferun konnte sich nicht vorstellen, dass es sonderlich spannend war ein paar blökende Schafe zu beobachten und ihnen ab und zu mal ein wenig Futter zu geben.
    „Ich freue mich, Innos einen Dienst erweisen zu können“, erwiderte der Novize. Sie hatten die Beete nun hinter sich gelassen und waren ein paar Stufen zu dem steinernen und überdachten Rundgang empor gestiegen, der einmal um den kompletten Innenhof führte. Von ihm schienen Dutzende Türen abzugehen, durch die man die vielen Räume des Klostergemäuers erreichen konnte. Vor einer solchen Tür war Opolos nun stehen geblieben. „In dieser Schlafkammer ist noch ein Bett frei.“ Das war alles, was der Novize noch sagte, bevor er sich abwandte und den gepflasterten Weg zurück zu seiner Schafherde entlang schritt.
    „Komischer Kauz“, murmelte Ferun und wandte sich der Tür zu. Er fragte sich, ob er klopfen sollte, entschied sich jedoch aus irgendeinem Grund dagegen. Er drückte also die Messingklinke hinunter und öffnete die Tür. Er blickte in einen kleinen Raum, der nur von zwei Kerzen erhellt wurde, die einander gegenüber in für sie vorgesehenen Halterungen an der Wand hingen. Das flackernde Kerzenlicht beschien vier Betten, jedes in eine Ecke des Raumes gequetscht und über jedem war eine schmale Borte angebracht. Auf den beiden vorderen Betten saßen zwei junge Männer, etwa in seinem Alter.
    Beide sahen verwundert zu ihm auf, Ferun starrte mindestens genau so neugierig zurück. Der Linke trug wie es sich gehörte einen Novizenrock und hatte schmutzig blondes Haar, das ihm in sein rundes Gesicht fiel. Der Rechte hingegen trug keine Novizenrobe. Sein Glatzkopf wurde von einer markanten Tätowierung geziert und seine Kleidung sah abenteuerlich aus. Doch nun bemerkte Ferun ein Bündel neben ihm auf dem Bett, das dem glich, das er selbst in den Armen hielt. Konnte es sein, dass dies der andere Neuling war, der kurz vor ihm gekommen war?
    „Wer bist du?“, rutschte es dem Blonden nun heraus. Erschrocken schüttelte er seinen Kopf und sprang auf. „Verzeihung, natürlich stellt man sich selbst zuerst vor, bevor man andere nach ihrem Namen fragt! Also: Mein Name ist Zyrus, und wer bist du?“
    „Ferun“, antwortete er einsilbig. Er schalt sich, dass er hier nie mehr als ein paar Worte hervor brachte, obwohl er doch sonst nicht auf den Mund gefallen war. „Ich bin hier, weil Meister Parlan mich herschickte. Ich bin gerade erst dem Kloster beigetreten.“
    „Noch ein Neuer?“, fragte Zyrus verdutzt und warf dem glatzköpfigen Mann, der noch immer auf seinem Bett saß, einen kurzen Blick zu. Dann erschrak er: „Ich hab euch ja noch gar nicht einander vorgestellt! Das ist Isaak, er ist auch gerade erst zu unserer Gemeinschaft gestoßen. Ich war gerade dabei, ihm einige Fragen zu beantworten.“
    Ferun wusste nicht, was er von dem übereifrigen und bemüht höflichen Novizen halten sollte. Er machte irgendwie einen nervösen Eindruck, obwohl keiner der Magier zugegen war.
    „Isaak, das ist Ferun“, fügte er nun hinzu, obwohl er Ferun genauso wenig kannte wie Isaak.
    „Tag“, murmelte Isaak, offensichtlich auch nicht ganz sicher, was er von der steifen Art des Novizen halten sollte.
    Zyrus sah beide einen Augenblick unsicher an, dann klatschte er in die Hände und meinte: „Am besten zieht ihr jetzt beide schnell eure Novizenröcke über, gleich läuten die Glocken zum Abendessen.“
    Ferun zuckte kurz mit den Schultern, durchmaß die kleine Kammer dann mit zwei Schritten und ließ sein Bündel auf das hintere rechte Bett fallen.
    „Nicht da hin“, kam Zyrus‘ Zurechtweisung prompt, „Das ist das Bett von Lysander. Das links ist noch frei.“
    „Wer ist Lysander?“, fragte Isaak, während Ferun ein wenig genervt sein noch fest verpacktes Bündel auf das gegenüberliegende Bett verfrachtete.
    „Der vierte Bewohner dieser Schlafkammer“, antwortete Zyrus wie aus der Armbrust geschossen, „Er ist der Vertrauensträger unserer Kammer.“
    „Unser was?“, fragten Ferun und Isaak fast gleichzeitig. Sie warfen sich einen kurzen Blick zu, sahen dann jedoch schnell wieder auf ihre Bündel.
    „Jede der acht Kammern wird jetzt von vier Novizen bewohnt“, begann Zyrus zu erklären und an seinem Tonfall meinte Ferun erkennen zu können, dass er weit ausholte. „In jeder Kammer gibt es einen Vertrauensträger, der von den Feuermagiern die Aufgabe bekommen hat, dafür Sorge zu tragen, dass es in ihrer Kammer ordentlich zugeht, dass es immer sauber ist und so’n Zeug halt.“
    „Ist er sehr streng?“, fragte Isaak, der es gerade geschafft hatte, den festen Knoten seines Bündels zu öffnen. Ferun mühte sich immer noch mit seinem ab.
    Zyrus schwieg und Ferun warf ihm einen Blick von der Seite her zu. Es schien gar nicht zu dem eifrigen Novizen zu passen, eine Frage nicht zu beantworten. „Ihr werdet es schon sehen“, sagte er schließlich. „Ach ja, und jeden dritten Tag in der Woche ist bei uns Putztag. Einer von uns muss dann die Kammer fegen.“
    Das war schon in Ordnung, dachte Ferun, während er endlich den Knoten seines Bündels aufbekommen hatte und nun seine säuberlich zusammen gefaltete Kleidung vor sich liegen hatte. Im Hafenviertel hatte er ganz andere Arbeiten verrichten müssen. Und noch nie in seinem Leben hatte er hinter richtigen Mauern schlafen können. Er erinnerte sich noch gut an das Heulen des Windes in der Nacht, der immer einen Weg in die Holzhütte gefunden hatte, in der er mit seiner Mutter gelebt hatte.
    Zyrus ging zur Tür und warf einen Blick auf den Himmel, bevor er die Tür zuzog. „Ihr solltet euch jetzt wirklich beeilen. Gleich am ersten Tag das Abendessen zu verpassen, wäre wohl nicht in eurem Sinne.“
    „Nein, wäre es tatsächlich nicht“, stimmte Ferun ihm zu. Sein Magen hatte gerade hungrig rumort.

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    Das erste Abendmahl

    Als Ferun, Zyrus und Isaak gemeinsam die Schlafkammer verließen, trugen sie alle die Tracht der Novizen, schwarz mit roten Ornamenten. Ferun fand den etwa knielangen Rock recht gewöhnungsbedürftig, doch Zyrus hatte ihm versichert, dass er spätestens am übernächsten Morgen gar nicht mehr darüber nachdenken würde.
    Im Licht der Dämmerung gingen sie den Weg zwischen den Kräuterbeeten entlang. Die rasch kühl werdende Abendluft strich um Feruns Knie, als er von einer Novizin abgelenkt wurde, die in einiger Entfernung ebenfalls den Speisesaal anzusteuern schien. Ferun starrte sie vollkommen verwundert an, und wäre fast in eines der Beete getreten, wenn Zyrus ihn nicht am Arm gepackt und zurückgezogen hätte.
    „Hey! Pass auf, dass du nicht auf die Kräuter trittst!“, ermahnte Zyrus ihn hastig. „Was ist denn los mit dir?“
    „Hier gibt es Frauen?“, kam Ferun ihm mit einer Gegenfrage, während er beobachtete, wie der schlanke Rücken, über den langes blondes Haar wallte, um die Ecke hinter die Kathedrale verschwand.
    „Hast du ja gerade gesehen“, antwortete Zyrus und gluckste, „Die meisten Neuen reagieren so wie du. Die Magier reden außerhalb der Mauern nicht viel darüber, weil viele von ihnen immer noch der Meinung sind, dass es nur den Männern erlaubt sein sollte, dem Kreis des Feuers beizutreten. Deshalb sind die meisten Magier auch froh darüber, dass Alexia sich mit einem Leben im Kloster abgefunden hat und nicht umherzieht, um in den Städten zu predigen.“
    „Wer ist denn Alexia?“, fragte Isaak, noch bevor Ferun die Frage stellen konnte.
    „Die zweite Feuermagierin in der Geschichte dieses Klosters“, antwortete Zyrus, „Sie unterrichtet ein paar Novizen im Bogenschießen.“
    Einen Moment lang sah Ferun Zyrus verwirrt an. Das konnte doch nichts anderes sein als ein absurder Witz, den Zyrus jeden Moment brüllend vor Lachen enttarnen würde. Doch das geschah nicht. Als das Schweigen sich in die Länge zog, kam er zu dem Schluss, dass Zyrus es ernst meinen musste.
    „Davon hat man wirklich noch nicht gehört“, sagte Isaak. Ferun vermochte es nicht, einzuschätzen, ob er diese Neuigkeit befürwortete oder missbilligte. Er wusste nicht einmal, was er selbst davon halten sollte. Novizinnen. Und sogar eine Magierin.
    „Wir sollten uns wirklich beeilen“, erinnerte Zyrus sie mit einem leisen Lächeln. Ferun und Isaak folgten ihm und sie erreichten den breiten, gepflasterten Weg, der von der Klosterpforte zur Kathedrale führte. Vor ihnen lag nun die eingezäunte Schafweide, um die sie einen Bogen machen mussten.
    Ferun grübelte noch immer über die Novizin nach, als ihm plötzlich etwas auffiel: „Wie kommen Frauen von außerhalb denn auf die Idee, dem Kloster beizutreten, wenn gar keiner weiß, dass sie es dürfen?“
    „Och, einige wissen es durchaus. Die Feuermagier reden wahrscheinlich nie drüber, sodass die meisten es nur für ein Gerücht halten“, plötzlich sah Zyrus ein wenig beschämt drein, „Aber vielleicht täusche ich mich da auch. Es sollte jedenfalls nicht so klingen, als würde ich die Vorgehensweise der Magier kritisieren.“ Danach schwieg er, bis sie vor einer offen stehenden Doppeltür standen, die in den Teil des Klostergebäudes führte, der links der Kathedrale lag. „Das ist er“, verkündete er und trat ein, „Der Speisesaal!“
    Ferun und Isaak staunten nicht schlecht, als ihre Blicke über die Schar von Novizen, die hohe Decke und die vielen Speisen glitten. Zu ihrer Linken führten drei Stufen zu einer etwas erhöhten Ebene empor, auf der ein großer runder Tisch stand, an dem auf zehn Stühlen die Magier des Klosters saßen. Ferun erkannte die Frau unter ihnen sofort an ihrem langen roten Haar. Das musste also diese Alexia sein. Dann blickte er nach rechts, wo an vielen kreuz und quer stehenden Tischen die Novizen saßen. Gleich neben dem Eingang war ein Tisch, an dem ausschließlich junge Frauen Platz genommen hatten. Die mit den langen, blonden Haaren war nicht unter ihnen.
    „Da hinten sind noch Plätze frei.“ Zyrus deutete auf einen Tisch ganz hinten in der Ecke, an dem nur zwei andere Novizen saßen. Sie bahnten sich einen Weg durch die verschieden großen Tische. Im näher kommen erkannte Ferun, dass er einer der beiden Babo war, der Novize, der ihm auf Parlans Anweisung hin seinen Novizenrock gebracht hatte. Ferun wurde unangenehm bewusst, dass einige von ihren Schalen grünen Breis aufsahen und ihre Löffel mitten in der Luft hängen ließen, um einen ausgiebigen Blick auf die Neuen zu werfen.
    „Guten Abend“, begrüßte Zyrus die beiden Novizen an dem Tisch in der Ecke. Sie sahen auf und musterten Ferun und Isaak.
    „Dich kenne ich schon“, schmatzte der schwarzhaarige Babo und deutete mit einem vollen Löffel auf Ferun, „Ich hab dir deinen Kram gebracht, als du gekommen bist.“
    „Ja, ich weiß“, erwiderte Ferun wieder ein wenig nervös.
    „Das sind jedenfalls Babo und Caio“, stellte Zyrus ihnen ihre Sitznachbarn vor, „Und das sind Ferun und Isaak.“
    „Freut mich“, schmatzte der etwas pummelige Novize neben Babo. Er hatte kurz geschorenes Haar und ein rundes Gesicht, das er sich überall mit Brei voll gekleckert hatte. Im Gegensatz zu Babo hatte er sich nicht die Mühe gemacht, eine Pause beim Essen einzulegen, um die drei Neuankömmlinge zu begrüßen, sondern schlang eifrig weiter.
    Ferun hoffte, dass ihm die Skepsis nicht ins Gesicht geschrieben stand und setzte sich mit Zyrus und Isaak gegenüber von Babo und Caio. Jetzt war nur noch der Platz neben Caio frei. Schwungvoll griff Zyrus nach der Kelle, die in dem großen, schwarzen Bottich gelehnt hatte, der in der Mitte des Tisches stand, und tat sich eine große Portion auf, wobei ein wenig nach links und rechts über den Rand der Schüssel spritzte. Schon tauchte er die Kelle wieder ein, um auch seinen beiden Begleitern etwas aufzutun, da konnte Isaak anscheinend nicht mehr an sich halten: „Gibt es nicht auch etwas anderes?“
    Mit hochrotem Gesicht sah er Zyrus an, der zurückstarrte. Dann brach Babo in Gelächter aus und Zyrus schien es schwerzufallen, nicht mit einzustimmen. Caio war mit seinem eigenen Brei beschäftigt und Ferun war einfach nicht nach Lachen zumute. Er hatte auch keine Lust, diesen Brei zu essen.
    „Es gibt nichts anderes, nein“, antwortete Zyrus schließlich, „Lass das bloß nicht Hilta und ihre Leute hören, die hätte dich für diesen Satz gevierteilt.“
    „Jaja, die gute Hilta“, sagte Babo, stellte seine leere Schüssel vor sich auf den Tisch und streckte sich.
    „Wer ist denn Hilta?“ Allmählich hatte Ferun das ständige Fragen satt, doch diese musste allein deshalb sein, damit der Moment, in dem er diesen Brei essen musste, noch weiter hinausgezögert wurde.
    „Die Küchenchefin“, antwortete ihm dieses Mal Babo, da Zyrus damit beschäftigt war Isaak gut zuzureden und ihm eine Kelle aufzutun.
    Ferun wollte gerade weiter nachhaken, da tat Zyrus auch ihm eine Kelle auf und sein Blick wurde wie magnetisch von seiner Schüssel angezogen. Der Brei war klumpig und an den meisten Stellen von einem matschigen Braunton, doch ab und zu ließen sich auch grüne Flechten auf der schlammigen Oberfläche finden. „Ähm, was ist das denn?“, fragte er in einem Versuch, interessiert und nicht angeekelt zu klingen.
    Wieder war es Babo, der ihm antwortete: „Pürierte Kräuter und Gemüse aus unseren Beeten. Heute hat sie ein bisschen von dem Unkraut reingetan, dass wir letzte Woche gezupft haben, wunder dich also nicht, wenn es ein bisschen komisch schmeckt. Aber sie hat Meister Gorax auch ein paar Beeren abschwatzen können, das müsste es wieder wett machen.“
    „Woher weißt du so vie…“, er brach ab, ihm war ein Gedanke gekommen. „Du arbeitest hier im Kloster als Gärtner?“
    „Jepp“, entgegnete Babo, „Ich und drei andere von uns. Ist ja nicht so, dass der Garten von einem Novizen allein gestemmt werden kann.“
    Schweigen breitete sich aus, in dem nur das unanständig laute Schmatzen Caios zu hören war. Ferun sah wieder auf seine eigene Holzschale hinab. Langsam grub er seinen Löffel in die schlickartige Substanz und zog ihn wieder heraus. Ein Geräusch wie ein Fuß, der aus einem Sumpfloch gezogen wurde.
    „Macht euch nichts draus“, versuchte Babo sie aufzumuntern. „Ich war an meinem ersten Tag hier auch zu aufgeregt, um einen Bissen runterzukriegen.“
    Isaak hatte sich inzwischen einen Löffel genehmigt, doch aus seinem Gesicht konnte Ferun nicht ablesen, ob ihm die Brühe den Erwartungen gerecht wurde oder nicht. Feruns Magen meldete sich lautstark zu Wort und er erinnerte sich an die Abende im Hafenviertel, an denen er gar nichts zu essen gehabt hatte. Mit einem Blick auf Caio schob er sich einen voll beladenen Löffel in den Mund. Wenn dieser Schleim giftig war, hätte der immer noch wild schlingende Novize längst tot von der Bank fallen müssen. Vorsichtig begann er zu kauen. Er fühlte sich unangenehm beobachtet und bereute es nun, sich Babo direkt gegenüber gesetzt zu haben. Er versuchte zu lächeln. Tatsächlich schmeckte der Brei nicht halb so schlimm wie er aussah. Na gut, die Konsistenz des Ganzen war immer noch abscheulich, aber er schmeckte kein Unkraut heraus, dass schon eine Woche lang in irgendeiner Kiste vor sich hin gemodert hatte. Stattdessen meinte er etwas rauszuschmecken, das er noch nie zuvor gekostet hatte. Er konnte es natürlich nur vermuten, da er es eben halt noch nie gekostet hatte, doch anscheinend war der Brei, Schleim, Mus oder wie auch immer man ihn nennen wollte, gewürzt. Gewürze waren teuer, das wusste Ferun, deshalb verwunderte es ihn, dass die Magier den Novizen gewürztes Essen zugestanden. Wie Perlen vor die Säue, schoss es ihm durch den Kopf. Doch bei dem Reichtum der Kirche machten die paar Gewürze wohl nichts aus. Bauten sie es vielleicht sogar selbst an?
    „Ist das Gewürz auch aus deinem Garten?“, fragte er Babo, dessen Blick aus dem hohen Glasfenster hinaus auf die karge Berglandschaft entschwunden war.
    „Ja natürlich, wir handeln sogar damit“, erklärte er Ferun und gähnte. „Ich glaub, ich geh ins Bett. Morgen beginnt die Woche von vorne, das wird also anstrengend. Nacht alle miteinander!“ Mit diesen Worten erhob er sich und machte sich durch die wirr angeordneten Tische davon.
    „Kann nicht mal auf mich warten“, murrte Caio und ließ seine leere Schüssel auf den Tisch fallen. Einen Moment starrte er sie an, dann tat er sich noch eine Portion auf.
    „Keiner denkt mal wieder dran, mir Bescheid zu geben“, eine Novizin nahm den freien Platz gegenüber von Zyrus ein, noch bevor Ferun mehr als vier Löffel gegessen hatte. Er hatte erst bemerkt, dass es sich bei ihr um eine junge Frau etwa in seinem Alter handelte, als sie gesprochen hatte. Aus dem Augenwinkel hatte er sie mit ihren kurzen nussbraunen Haaren erst nicht für eine gehalten. Nun, wo er sie sich genauer ansah, wurden ihre weiblichen Gesichtszüge jedoch offensichtlich. Gerade warf sie Caio einen schlecht versteckten, angewiderten Blick zu, was sicher etwas mit der beachtlichen Menge Brei in dessen Gesicht zu tun hatte. Sie sagte jedoch nichts und zog den Bottich zu sich her. Als sie hineinblickte, verengten sich ihre Augen und sie funkelte böse zu ihrem Sitznachbarn hinüber.
    „Hier scheinen einige sehr hungrig zu sein“, fügte sie mit spitzem Ton hinzu und begann den letzten Rest aus dem Bottich zu kratzen. Dabei bemerkte sie, wer ihr gegenüber saß. „Huch, wer seid ihr denn?“
    „Zyrus, schon vergessen?“, antwortete er ihr. Ein vernichtender Blick war die wortlose Antwort darauf.
    „Ich bin Ferun und das ist Isaak, wir sind neu hier“, übernahm Ferun es, ihrer Bitte um Antwort nachzukommen.
    „Dass ihr neu seid, sehe ich“, entgegnete sie barsch. Zyrus hatte sie offensichtlich gereizt. „Ich hoffe ihr verlasst euch nicht auf eine einzelne Person, wenn es darum geht, eingewiesen zu werden“, fuhr sie an Ferun und Isaak gewandt fort. Sie wollte gerade noch etwas hinzufügen, als Zyrus ihr ins Wort fiel: „Wieso bist du überhaupt zu spät zum Essen gekommen?“
    „Du weißt, dass es in der Bibliothek keine Fenster gibt. Nach der Arbeit habe ich mich in eine Lektüre vertieft und nicht bemerkt, wie die Zeit verging. Das kann jedem Mal passieren“, erklärte sie hochmütig.
    „Mir nicht. Ich lese nämlich nicht“, gab Zyrus mit vollem Mund zurück.
    „Stimmt, du hast dir ja auch noch nicht mal den Zugang zur Bibliothek verdient“, konterte sie und Zyrus konzentrierte sich plötzlich auf seine Schale, was Ferun eindeutig als Punkt für die Novizin wertete.
    Stumm löffelten sie ihre Schalen leer, wobei die Novizin als erste fertig wurde. Sie hatte dem Bottich nicht mal mehr eine halbe Portion abringen können. Ferun hatte es für unklug gehalten, ein Gespräch zu versuchen, da er dumpf ahnte, dass auch dieses wieder in einer Schlammschlacht zwischen ihr und Zyrus geendet hätte.
    So sprach er erst wieder, als er allein mit Zyrus und Isaak über den nun dunklen Innenhof zurück zu ihrer Schlafkammer ging.
    „Wer war denn diese Novizin?“, fragte er, da sie sich nicht einmal vorgestellt hatte.
    „Das war Rowina“, schnaubte Zyrus verächtlich, „Seit sie sich den Zugang zur Bibliothek erarbeitet hat, verbringt sie dort jede freie Minute. Dass sie mit Menschen nicht gut umgehen kann, habt ihr ja gesehen. Gegenüber den Magiern ist sie aber natürlich die Unschuld in Person.“
    „Wie erarbeitet man sich denn den Zugang zur Bibliothek?“, fragte Isaak, der wohl das Thema von Rowina weglenken wollte, damit Zyrus sich beruhigte.
    „Wenn man seine zweite Prüfung bestanden hat, bekommt man einen Schlüssel“, erklärte Zyrus, „Am besten ich erzähl euch morgen alles weitere. Jetzt müssen wir erst einmal schlafen, um morgen für den Stabkampfunterricht fit zu sein.“
    „Den was?“
    „Stabkampfunterricht. Heute war der siebte Tag der Woche, da haben wir alle frei, um uns ganz unseren Aufgaben widmen zu können, doch die anderen sechs Tage der Woche besucht jeder Novize den Unterricht. An jedem Wochentag haben wir bei einem anderen Lehrer Unterricht, was auch heißt, das wir jeden Tag etwas anderes lernen, da jeder Lehrer sich auf etwas anderes spezialisiert hat.“
    Ferun schwirrte der Kopf, doch er schaffte es nicht, eine Frage aus seinen vielen herauszupicken, ehe sie ihre Kammer erreicht hatten und Zyrus die Tür aufstieß.
    „Ah, da seid ihr ja endlich. Wieso habt ihr euch so viel Zeit gelassen?“, tönte eine näselnde Stimme aus der mit Kerzenlicht beleuchteten Kammer. Ein drahtiger Mann mit Brille, der wie sie alle in einen Novizenrock gekleidet war, hatte auf dem hinteren, rechten Bett auf sie gewartet. Nachdem sie eingetreten waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, erhob er sich, rückte mit ausgestrecktem Zeigefinger seine Brille zurecht und fuhr fort: „Zyrus, du bist mit den beiden doch hoffnungslos überfordert. Das solltest du selbst am besten wissen.“
    Zyrus wollte gerade widersprechen, als der Näselnde auch schon fortfuhr: „Deshalb werde ich dir ab morgen einen der beiden abnehmen. Ich hoffe mit dem anderen kommst du allein zurecht? Es ist gewiss ein Test der Feuermagier, uns mit gleich zwei Neulingen zu betrauen.“
    „Das ist Lysander“, wisperte Isaak Ferun zu, „Er war da, als ich gekommen bin, ist dann aber ziemlich schnell wieder verschwunden. Meinte, er müsse arbeiten, während Zyrus sich ruhig mit mir herum schlagen solle.“
    „Klingt so, als würde er sich für was Besseres halten“, flüsterte Ferun zurück und Isaak grinste.
    „D-Das brauchst du nicht! Wirklich!“, empörte Zyrus sich, doch Lysander wollte ihm gar nicht zuhören.
    „Wir sollten nun alle zu Bett gehen, damit wir morgen auch voller Tatendrang den Tag beginnen können.“ Das schienen die letzten Worte zu sein, die Lysander mit ihnen wechseln wollte, denn nun zog er sich schon den oberen Teil seines Novizenrocks über seinen Kopf.
    Zyrus wandte sich um und tauschte mit ihnen einen vielsagenden Blick mit ihnen. In diesem Moment war ihnen allen klar, dass keiner von ihnen Lysander leiden konnte. Doch vielleicht weil seine herablassende Art eine Überlegenheit verströmte, die erst noch zu beweisen war, oder weil er älter als sie alle war: Keiner widersprach ihm. Zyrus hatte sich wahrscheinlich schon an ihn gewöhnt, schließlich lebte er schon länger mit ihm in dieser kleinen Kammer. Ferun hatte heute Abend keine Lust mehr auf Diskussionen.
    Stattdessen ließ er sich endlich vollständig entkleidet in sein Bett fallen, während Zyrus noch schnell die Kerzen löschte, bevor auch er unter seine Decke kroch.
    Während seine Augen sich an die vollständige Dunkelheit gewöhnten, hatte er das Gefühl, nicht einschlafen zu können. Zu viele Fragen schwirrten ihm noch im Kopf herum, zu viele Novizen und Magier hatte er heute kennengelernt. Doch dann übermannte ihn urplötzlich die Erschöpfung des Tages.

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    Das Morgengebet

    An seinem ersten Morgen wurde Ferun von lautem Glockengeläut geweckt. Er brauchte nur einen Augenblick, bis er sich erinnerte, wo er war. Er unterdrückte ein Gähnen und streckte sich. Zyrus stieß irgendwo zu seinen Füßen einen Fluch aus, kurze Zeit später flammte eine der Kerzen auf. Als ihre Blicke sich trafen, wusste Ferun sofort, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. „Wir haben das Frühstück verpasst“, verkündete Zyrus zerknirscht.
    „Was?“, entfuhr es Ferun, doch dann fiel sein Blick auf die anderen beiden Betten: Weder Lysander noch Isaak waren da. „Wieso haben sie uns nicht geweckt?“ Hastig sprang er aus seinen Laken und stieß die Truhe am Fußende seines Bettes auf, in der er seinen Novizenrock und all seine anderen Habseligkeiten am Vorabend verstaut hatte.
    „Ich schätze, Lysander wollte mir eins auswischen“, stieß Zyrus hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. Er war schon dabei, die Riemen seines Schuhwerks festzuziehen. „Wollte mir beweisen, dass ich nicht mal mit einem Neuling zurechtkomme!“
    Als sie endlich angezogen waren, löschte Zyrus noch schnell die Kerze und Ferun stieß die Tür auf. „In die Kathedrale“, wies Zyrus ihn an, während sie in Laufschritt verfielen.
    Trotz der Eile, die offensichtlich geboten war, konnte Ferun nicht anders als erst einmal zu staunen, als sie die große Kirche betreten hatten. Links und rechts zogen sich schwarz vertäfelte Bankreihen entlang, allesamt makellos glatt und sauber, während sich über ihnen ein beeindruckend großer Raum erstreckte und erst an der hohen mit Malereien und Ornamenten verzierten Decke endete. Hohe Fenster zu beiden Seiten bestanden aus buntem Glas, mit dem kunstvoll Bilder von wichtigen Königen und Magiern oder Innos-Abbildern geformt worden waren. Sie schritten zwischen den Bankreihen den Gang in der Mitte entlang und Ferun sah, dass sich am anderen Ende der Kirche schon viele Novizen versammelt hatten.
    „Wir sind die letzten“, fluchte Zyrus halblaut.
    Eine riesige Innosstatue stand am Ende der Kirche und davor knieten in langen Reihen, die Hände zum Gebet gefaltet, über zwei Dutzend Novizen. Sie schienen zu warten, während die nachhallenden Glockenschläge allmählich seltener wurden. Am Fuße der hoch aufragenden Innosstatue standen drei Throne, auf denen drei Magier saßen, deren Roben um einiges imposanter gestaltet waren als die der anderen Magier, die Ferun bisher gesehen hatte. Sie waren kunstvoller bestickt und wurden am Hals von einem großen Rubin zusammengehalten. Ferun wagte es kaum, diesen Magiern in die Augen zu sehen. Er hatte den Eindruck, dass sie eine Aura umgab, die mehr war als bloße Magie. Während sie die Bankreihen entlang gingen, hielt Ferun seinen Blick gesenkt. Er entdeckte Lysander trotzdem in der ersten Reihe, Isaak direkt neben sich. Zorn schwelte in ihm, als er die beiden so gottesfürchtig knien sah.
    Zyrus bugsierte ihn an das linke Ende der hintersten Reihe, wo noch genug Platz für sie war. „Mach uns einfach alles nach“, wisperte er ihm ins Ohr und nahm dann die gleiche Haltung ein wie die anderen Novizen. Ferun bemühte sich, jedes Detail abzugucken. Die Hände gefaltet, Beine geschlossen, den Rücken durchgestreckt, das Kinn ein wenig gehoben, sodass er zu dem steinernen Gesicht der Statue aufblickte. Irgendwann fiel ihm auf, dass er seine Hände ein wenig zu hoch hielt, und senkte sie ein Stück. Dann dröhnte der letzte Glockenschlag durch die Kathedrale. Die drei ehrwürdigen Magier erhoben sich von ihren Thronen.
    Ferun ahnte, dass dies der hohe Rat war, der nicht nur das Kloster leitete, sondern auch die höchste Instanz der Innoskirche auf den Khor-Inseln verkörperte.
    Der Rat in der Mitte trug ein tief gefurchtes Gesicht zur Schau, das von einem stahlgrauen Vollbart eingerahmt wurde. Seine Augen wanderten wachsam über die Reihen der Novizen. In ihnen lag ein Glanz, der jeden Eindruck von Alter und Müdigkeit verblassen ließ. Alter und Müdigkeit beschrieben den rechten Rat hingegen zutreffend, dessen buschige Augenbrauen seine Augen fast in Gänze verdeckten. Lange Tränensäcke berührten beinahe die Mundwinkel. Der Mann war gewiss der älteste im Raum und es schien ein Wunder, dass er sich aus eigener Kraft auf den Beinen hielt, wenn auch nur mit der Hilfe eines schlanken Gehstocks. Der linke Rat war deutlich jünger als seine beiden Kollegen. Mit einer großen Hakennase und einem harten Zug um den Mund wirkte er beinahe furchteinflößend. Das Licht der Kerzen spiegelte sich auf seinem haarlosen Kopf.
    „Novizen des Feuers“, der Mittlere hatte die Arme und die Stimme erhoben, „Innos hat auch heute, am ersten Tag der dreiunddreißigsten Woche des Jahres tausendundzwölf der vierten Ära, die Sonne, sein Attribut, wieder auferstehen lassen. Nun spendet sie uns Glaubenden neue Kraft, um ihm zu dienen, und ist uns ein Zeichen dafür, dass Innos uns nicht vergessen hat. Ohne sie ist die Existenz der Menschheit undenkbar und so danken wir Innos wie jeden Morgen für das Leben, das er uns schenkt.“ Ferun wurde ein wenig mulmig im Magen, während er der Ansprache lauschte. Er hatte geglaubt, gläubig erzogen worden zu sein, doch dieses Gebiet war gottesfürchtiger als alles, was seine Mutter ihm gelehrt hatte. Eine Gänsehaut überkam ihn und die Worte hinterließen ein Gefühl der Geborgenheit in seinem Inneren. Es ermutigte ihn zu hören, dass Innos sie nicht vergessen hatte, in diesen schwarzen Zeiten, in denen Beliar so stark wie nie war.
    „Und nun lasst uns die Erwartungen des Herren nicht enttäuschen und unsere Dienste für ihn und in seinem Willen verrichten, auf dass er uns eines Tages reich dafür beschenkt.“ Der Prediger ließ seine Arme sinken und der hohe Rat wandte sich um, setzte sich wieder auf die Throne. In diesem Moment verbeugten sich alle Novizen tief, bis sie mit der Stirn die Steinfliesen des Bodens berührten. Ferun beeilte sich, es ihnen gleich zu tun. Dann erhoben sie sich einer nach dem anderen und gingen den Mittelgang zurück aus der Kathedrale hinaus.
    „Komm“, Zyrus zog an seinem Arm, doch schon hatte ihnen ein Novize den Weg versperrt.
    „Guten Morgen, Lysander“, grüßte Zyrus. Ihm gelang ein arglos freundlicher Tonfall.
    „Gibst du etwa mir die Schuld dafür, dass ihr verschlafen habt?“ Lysander hatte ihn sofort durchschaut und zog eine Augenbraue hoch, als würde er einen solchen Gedanken für frech halten. Isaak drückte sich mit schuldbewusstem Gesicht im Hintergrund herum. „Ich wusste, dass du nicht vertrauenswürdig genug bist, um die Verantwortung für einen Neuen auf dich zu nehmen“, erklärte der drahtige Novize und schob seine Brille ein Stück weiter die Nase hoch. „Innos möge dir helfen, deine Fähigkeiten von nun an richtig einzuschätzen. Ich werde dir auch den zweiten Neuling abnehmen. Innos wird mir die Kraft geben auch mit…“
    „Nein“, unterbrach Zyrus ihn trotzig. Ferun versuchte stumm, Blickkontakt mit Isaak herzustellen, doch der schien sich sehr für eines der Buntglasfenster neben dem Hohen Rat zu interessieren.
    „Das liegt nicht in deiner Entscheidung“, entgegnete Lysander, „Ferun sollte selbst entscheiden, wen er für vertrauenswürdiger hält.“
    Zyrus funkelte Lysander wütend an, während der sich zu Ferun umwandte. „Nun, Ferun, wie entscheidest du dich?“
    „Danke, hab mich schon lange entschieden“, antwortete er ohne Zögern. „Komm, Zyrus, lass uns gehen.“ Und mit diesen Worten wandte er sich um und ging. Zyrus warf Lysander ein unverschämtes Grinsen zu und schloss zu ihm auf.
    Wütend starrte Lysander ihnen nach. Über Isaaks Gesicht huschte ein verstohlenes Lächeln.

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    Meister Talamon und der Stabkampfunterricht

    Als sie aus der Kathedrale traten, wurden sie in gleißendes Sonnenlicht gehört. Die Morgenandacht wurde wohl genau zu dem Zeitpunkt abgehalten, zu dem die Sonne die ersten Strahlen über die Berge warf. Ob das bedeutete, dass sie im Winter länger schlafen durften? Ferun streckte sich in der offenen Flügeltür. Nach dem unbequemen Hocken beim Gebet taten Ferun die Bewegung und die Wärme der Sonne gut, doch sein Magen rumorte anklagend.
    „Wieso klingelt die Glocke nicht schon zum Frühstück?“, machte er seinem Unmut Luft.
    „Die Magier sagen, wir müssen lernen, unsere innere Uhr zu trainieren. Meistens klappt das auch ganz gut, aber es gibt halt auch Tage, an denen man erst von den Glocken wach wird. Oder zumindest welche, an denen ich erst von den Glocken wach werde“, antwortete Zyrus zerknirscht.
    „Selbstdisziplin also“, erwiderte Ferun. Sie schwiegen, während sie um die Ecke bogen und wieder den Gang links der Kathedrale betraten, an dem auch der Speisesaal lag. „Gestern hast du gesagt, wir hätten heute Stabkampfunterricht“, versuchte Ferun das Gespräch wieder aufzunehmen und sich von dem Gedanken an Essen abzulenken.
    „Ist auch so“, bestätigte Zyrus, „Wir sind gerade auf dem Weg dorthin.“
    „Brauch ich dann nicht einen Kampfstab?“ Er konnte sich schwer vorstellen, wie man ohne einen den Kampf mit ihm lernen sollte.
    „Den bekommst du gleich von Meister Talamon.“
    „Gibt er den Unterricht?“
    „Genau.“
    Sie waren nun hinter der Kathedrale angekommen, wo es einen ebenso großen Innenhof gab wie vor ihr, nur wurde der Platz hier nicht von Schafen und Kräuterbeeten in Anspruch genommen. Das einzige, was den Rasen unterbrach, war eine große Sonnenuhr in der Mitte des Hofs. Außerdem fiel ihm auf, dass die Abstände zwischen den Türen des Klostergebäudes hier viel größer waren, und er vermutete, dass dies die Räumlichkeiten der Magier waren. Zyrus bestätigte es ihm, als er seine Theorie laut äußerte. Die Räume hinter den Türen in der rückwärtigen Wand mussten direkt in den Berg gehauen sein.
    Eine große Traube bewaffneter Novizen hatte sich bereits an der Sonnenuhr versammelt. Sie hatten sich offenkundig um einen alten Mann in der Robe der Feuermagier versammelt, der drei Kampfstäbe geschultert trug. Einer von ihnen war groß und knorrig, die anderen klein und schmal.
    „Sind jetzt alle da?“, schnarrte er, als Ferun und Zyrus mit einigen anderen Nachzüglern dazukamen. Ferun wunderte sich über den Klang seiner Stimme. Er hatte eine dem Alter angemessene, vielleicht sogar gebrechliche Stimme erwartet, doch in Wahrheit war sie laut und herrisch. Der Kopf des Magiers war ebenso haarlos wie der des linken Magiers des Hohen Rates, allerdings war seine Haut deutlich dunkler. Er schien mehr Zeit draußen zu verbringen als der Rat. Um den Mund herum wuchs ihm ein grau melierter Bart. Seine zu Schlitzen verengten Augen gaben ihm zusammen mit der großen Hakennase das Aussehen eines Geiers, der nur darauf wartete, sich auf sein nächstes Opfer zu stürzen. Kaum hatte er diesen Gedanken gehabt, fiel ihm auf, dass alle Novizen einschließlich Zyrus ganz still dastanden. Ferun hatte die Novizen zwar noch in keinem anderen Unterricht erlebt, aber er glaubte nicht, dass sie sich bei jedem Magier so diszipliniert verhielten.
    „Nun denn“, sagte Talamon laut und zog mit einer schnellen, kraftvollen Bewegung die beiden dünneren Kampfstäbe. „Wer von euch sind die beiden Neuen?“, donnerte er und blickte argwöhnisch in die Runde. Ferun wusste natürlich, dass er gemeint war, doch irgendetwas hielt ihn davon ab, vorzutreten. Es war, als hätte der Geier ihn als Maus entlarvt und auf seine Speisekarte gesetzt.
    Er tauschte einen Blick mit Isaak, der ihm ungefähr gegenüberstand und eine ähnliche Unlust zu verspüren schien.
    „Geh schon“, zischte Zyrus ihm zu und drückte ihm eine Hand ins Kreuz.
    Langsam, doch immer noch unwillig, setzte er sich in Bewegung und sah erleichtert, dass Isaak es ihm gleich tat.
    „Wieso hat das so lange gedauert, hä?“ Der Feuermagier zog missbilligend eine seiner Augenbrauen hoch. Weder Ferun noch Isaak gab ihm eine Antwort. Sie standen stocksteif vor ihm und sahen zu ihm auf. Erst jetzt wurde Ferun bewusst, wie groß der Magier war. „Das sind eure Stäbe, Grünschnäbel“, erklärte Talamon knirschend und rammte ihnen die Stabspitzen vor die Brust. Ferun und Isaak taumelten keuchtend ein paar Schritte zurück und rieben sich dann fluchend ihre Brust. „Möge Innos euch schnell geschickter werden lassen. Eure Reaktionen sind erbärmlich.“ Sie nahmen die Stäbe entgegen, dann wandte Talamon sich ab, als wolle er sie nicht länger ansehen. „Einzelkämpfe, die üblichen Paarungen!“, befahl er in einem Tonfall, den Ferun eher von einem Kommandanten der Miliz erwartet hätte.
    Sofort kam Bewegung in die Novizen. Alle suchten sich ihren Partner und zerstreuten sich dann auf dem Innenhof. Ferun und Isaak hatten kaum Zeit sich einen Blick zuzuwerfen, da wandte Talamon sich auch schon wieder zu ihnen um. Isaak machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts, was der Magier augenblicklich bemerkte, jedoch nicht kommentierte. „Die Paarungen sind nach der Stärke der Novizen zusammengestellt“, erklärte er knapp und wenig freundlich, „Da ihr beide blutige Anfänger seid, werdet ihr es mal miteinander versuchen.“
    „Entschuldigung, Meister Talamon, aber was genau sollen wir denn machen?“, fragte Isaak und Ferun war insgeheim froh, dass er die Frage nun nicht mehr stellen musste.
    „Na, kämpfen natürlich“, erwiderte der Lehrmeister als sei es selbstverständlich, „Im Kampf lernt man am schnellsten. Streckt euren Partner nieder!“
    Und wieder wandte der Geier in der Magierrobe sich von ihnen ab, und schritt fort zu einem der anderen Kampfpaare. Ferun sah sich um. Tatsächlich hatten gut zwei Dutzend Novizen um sie herum damit begonnen, die Stäbe zu schwingen. Manche Kämpfe, wie die der Mädchen, verliefen zaghaft und das Klappern der aneinander schlagenden Stäbe war nur schwach. Doch nur wenige Meter weiter hatte sich ein großer blonder Novize schon verbissen auf Babo gestürzt, der mit mindestens genauso viel Eifer bei der Sache war. Ihre Stäbe flitzten mit rasender Geschwindigkeit durch die Luft und schmetterten mit brachialer Gewalt gegeneinander. Auf der anderen Seite des Platzes erspähte er Zyrus, der sich in einem Kampf zwischen diesen beiden Extremen befand. Sein Gegner hatte einen langen braunen Pferdeschwanz und ein unrasiertes Gesicht.
    „Ich glaube, wir sollten auch anfangen. Der Meister hat uns gerade so einen bösen Blick zugeworfen“, riss Isaak ihn aus seinen Gedanken und ruckte mit dem Kopf in Richtung Talamon. Ferun war froh, dass sein Gegner mindestens so nervös war wie er selbst.
    „Gut“, stimmte Ferun ihm zu, denn auch er war nicht sonderlich auf eine Standpauke von Talamon erpicht. Er packte seinen Stab fest mit beiden Händen und hob ihn in die Luft, doch noch im selben Moment fiel ihm auf, dass er ihn wie ein Schwert hielt. Wie hielt man überhaupt einen Stab? Rasch blickte er sich zu den anderen um, um sich die Haltung abzugucken. „Ah!“, entfuhr es ihm, als er einen Schmerz in seiner Hand aufflammen spürte. Der Stab glitt ihm aus seinen Händen, noch bevor er registrierte, dass Isaak seine Abwesenheit genutzt hatte, um ihm einen Schlag mit dem Stab zu verpassen. Wütend stellte er fest, dass sein Gegenüber ihn ähnlich falsch hielt.
    „Wir halten die Stäbe falsch“, murrte Ferun gereizt und hob seinen wieder auf.
    „Eins zu null für mich“, erwiderte Isaak selbstzufrieden.
    Ferun ließ ihn dieses Mal keinen Moment aus den Augen und fasste den Stab nun nahe der Enden an. Der Stab beschrieb nun eine Waagerechte. Isaak, der offensichtlich nicht ganz wusste wie er auf diese Haltung reagieren sollte, blieb bei seiner schwertähnlichen Stabführung und startete einen Angriff von oben. Sein Stab prallte auf den von Ferun. Noch einmal versuchte Isaak es mit dieser Taktik, nur mit ein wenig mehr Kraft. Ferun hielt auch dieser Attacke stand, wusste aber nicht, wie er in die Offensive gehen sollte. Jetzt nahm Isaak Feruns Finger ins Visier. Rasch machte er einen Schritt zurück, sodass der Hieb ins Leere ging. Seine Finger waren heute schon einmal zu oft getroffen worden. Lange wollte er sich diese hinterhältige Taktik Isaaks nicht mehr gefallen lassen.
    Isaak hatte bei dem Hieb ins Leere das Gleichgewicht verloren und war vornüber ins Gras gekippt. „Eins zu eins“, kommentierte Ferun die ruhmvolle Pose auskostend.
    „So geht das nicht weiter!“, donnerte die schnarrende Stimme Talamons über den Innenhof. Beide zuckten zusammen und rissen ihre Köpfe zu der nahenden Gestalt in roter Robe herum. „Ihr bearbeitet euch beide wie Heilpflanzen, die es nach einem Hagelschauer wieder aufzupäppeln gilt!“, wetterte er weiter und war jetzt bei ihnen angelangt. „Ich werde euch neue Partner zuweisen. Doch wer entspricht eurem Niveau?“ Suchend sah er sich um und Ferun war erleichtert. Ein erfahrenerer Novize würde ihm ein paar Grundlagen erklären können und nicht gleich auf seine Finger losgehen, hoffte er. Ein bisschen schade fand er es aber auch, dass er es Isaak nun nicht mehr heimzahlen konnte. Doch als er sah, gegen wen sie kämpfen sollten, wünschte er sich sofort weiterhin mit Isaak trainieren zu dürfen.
    „A-Aber Meister Talamon! Das sind Mädchen!“, entfuhr es ihm, als die Novizin mit dem blonden Haar, die er am Vorabend von hinten gesehen hatte, und ihre brünette Partnerin herantraten.
    „Schlagt euch nicht mehr wie kleine Mädchen und ihr bekommt auch keine mehr als Gegner, so einfach ist das“, schmetterte Talamon den Einwand ab. Dann wandte er sich den Novizinnen zu: „Iskaja, du nimmst den Haarigen, Kamilla kann den Glatzkopf übernehmen.“
    Ferun stockte bei diesem Kosenamen der Atem. Haariger. Nur weil Isaak eine Glatze zur Schau trug. Wäre Talamon doch nur einer der Novizen, dann hätte er es ihm das ins Gesicht gesagt. Aber Talamon war nun mal kein Novize, sondern der furchteinflößendste Feuermagier, der ihm bisher begegnet war.
    „Hi“, begrüßte die Blonde ihn, stellte sich kampfbereit vor ihm auf und hob den Stab.
    „Du bist Iskaja, oder?“, versuchte Ferun den Kampf hinauszuzögern.
    Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie antwortete: „Unter den Novizen bin ich besser bekannt als Kaja, aber mein Taufname ist Iskaja, richtig. Und du bist Forun?“
    „Ferun“, korrigierte er sie und wunderte sich über seinen butterigen Tonfall. Wer hatte beschlossen, Frauen im besten Alter in ein Kloster zu lassen, in dem Keuschheit angesagt war?

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    Kampf mit Kaja

    Unnötig brutal stach er auf seine Kartoffeln ein. Fürchtete schon, die Holzschale zu zerbrechen, wenn er sich nicht bald beherrschte.
    Die Mittagspause hatte vor kurzem begonnen. Die Luft war erfüllt von dem Geruch der deftigen Soße und den Stimmen der Novizen. Ferun hatte sich mit Isaak, Zyrus und dessen Kampfpartner mit dem langen Pferdeschwanz einen kleinen Tisch in der Mitte des Speisesaals gesucht. Hinter ihm hatten die Mädchen einen größeren Tisch in Beschlag genommen, und ihr lautes, frohes Gegacker machte ihn fast noch wütender. Da er nicht gefrühstückt hatte, plagte ihn eigentlich großer Hunger. Er hatte versucht, es vor Zyrus zu verbergen, um ihm kein schlechtes Gewissen zu bereiten. Doch nachdem er Dutzende Male gegen Kaja verloren hatte, fehlte ihm einfach der Appetit. Zyrus neben ihm machte sich gierig über die Kartoffeln mit der Kräutersoße her. Und zu allem Überfluss erzählte Isaak gerade lauter als nötig, wie er Kamilla und ihn bezwungen hatte. Immerhin schien das niemanden weiter zu interessieren.
    Es war doch zum Verrücktwerden. Nach der Mittagspause musste er sich zusammenreißen und Kaja niederstrecken, so wie Talamon es von ihm verlangte. Sonst würde er bald zum Gespött des Klosters werden. Kann nicht mal ein Mädchen besiegen. Die gehässigen Sticheleien klangen ihm jetzt schon in den Ohren. Doch selbst wenn er seine Ritterlichkeit über Bord warf, so musste er auch noch seine Konzentration behalten. Es gab einige Novizinnen, bei denen ihm das nicht weiter schwer gefallen wäre. Eine zum Beispiel hatte trotz ihrer Jugend stumpfes, graues Haar und dickere Brillengläser als die alte Fischersfrau im Hafen von Khorinis. Aber nein, er bekam die gepflegte blonde Schönheit vorgesetzt. Der Gedanke an den Keuschheitseid, den er geleistet hatte, machte die Sache nicht besser.
    „Jetzt halt doch mal den Rand, du nervst tierisch mit deiner Selbstdarstellung!“, bellte Zyrus‘ Trainingspartner Wulf plötzlich und alle in der Nähe ihres Tisches schraken zusammen. „Ist ja toll, dass du eine von denen und nen Neuen umgehauen hast, macht dich das jetzt zu nem Helden oder was? Iss endlich deine verfluchten Kartoffeln!“ Grimmig stierte Wulf wieder auf sein eigenes Mittagessen und bearbeitete es nun mindestens genauso brutal wie Ferun zuvor seines. Erst sah es so aus, als würde Isaak etwas erwidern, doch dann entschied er sich doch, lieber mürrisch seine Gabel in eine gekochte Knolle zu versenken. Ferun empfand nicht viel Mitleid mit ihm. Die Finger seiner linken Hand taten immer noch ziemlich weh.
    Kurze Zeit später erhob Wulf sich von seinem Platz und ging als erster hinaus. Man konnte sehen, wie seine Kiefer immer noch mahlten.
    „Platzt dem immer so schnell der Kragen?“, fragte Isaak und gab sich Mühe so zu klingen, als würde ihn das eigentlich gar nicht interessieren.
    Noch bevor Zyrus antworten konnte, nahm Lysander den frei gewordenen Platz an ihrem Tisch ein. „Was war hier los? Gab es Probleme mit Wulf, Isaak?“ Die hochwichtige Miene des Novizen wurde nur noch von dem hochwichtigen Tonfall übertroffen, den er an den Tag legte. Und als hätte Ferun es nicht geahnt, schob er nun auch seine Brille ein Stück die Nase hinauf.
    „Nein“, erwiderte Isaak ertappt.
    „Tu doch nicht so. Innos gab mir Ohren, Isaak.“
    „‘s ist nicht der Rede wert!“
    „Sich mit Wulf anzulegen ist überaus unklug“, überhörte Lysander ihn gekonnt, „Sein Vater ist ein einflussreiches Mitglied der Alchemistenzunft und er selbst ist der persönliche Assistent von Meister Neoras. Selbst der Meister ist davon überzeugt, dass Wulf ein ausgeprägtes Talent für die Alchemie besitzt!“
    „Ich dachte, für dich sei es kein Problem, auf einen Neuling aufzupassen“, fiel Zyrus ihm mit einem Unschuldslächeln in die Rede.
    Lysander lief puterrot an. „Isaak muss lernen auf eigenen Beinen zu stehen!“, fauchte er, sprang auf und verschwand Wulf hinterher durch die Flügeltür zum Innenhof.
    „Danke“, sagte Isaak und er, Zyrus und Ferun grinsten sich verstohlen an.

    „Bereit?“ Ihre Stimme war gewissermaßen wohlklingender als die anderer Mädchen. Irgendwie süß und trotzdem selbstsicher. Er verscheuchte den Gedanken schnell, während er und Kaja die Kampfstäbe erhoben. Dieses Mal würde er nicht versagen.
    Wolken schoben sich vor die Sonne. Ferun wusste inzwischen, dass Kaja auf einen Moment der Unachtsamkeit wartete, doch diesen Gefallen würde er ihr nicht mehr machen.
    Plötzlich preschte sie vor, wollte offenbar von links seine Deckung durchbrechen. Im nächsten Moment wurde ihm klar, dass das nur eine Finte war, denn schon machte sie einen Schritt nach rechts, holte aus. Er würde wieder vor ihr auf dem Boden liegen. Er hatte sie wieder durch seine Deckung gelassen. Er war wieder zu langsam gewesen. Verzweifelt und beinahe schon panisch riss er den Stab hoch, ließ seinen Stab an einem Ende los und tauchte mit der freien Spitze unter ihrem Stab hinweg. In der Hektik hatte er all seine Kraft in diesen Hieb gelegt.
    Ein Geräusch wie ein zerbrechendes Ei schallte über den Innenhof. Kajas Stab bremste abrupt ab und fiel zu Boden. Freude wollte in Ferun aufsteigen, schließlich hatte er sie abgewehrt! Doch dann bemerkte er, dass er der Novizin seine Stabspitze geradewegs gegen die Stirn gestoßen hatte. Entsetzt sah er zu, wie Kaja rückwärts taumelte, sich an den Kopf fasste, wo deutlich Blut zu erkennen war, und zusammenbrach.
    Der Stabkampfunterricht wurde für gewöhnlich von dem endlosen Geklacker aneinander schlagender Kampfstäbe begleitet, doch in diesem Moment war es vollkommen still. Alle Novizen hatten sich zu ihm umgedreht und sahen entweder mit aufgerissenen Mündern die am Boden liegende Kaja oder mit wütenden Blicken den vor ihr stehenden Ferun an. Dumpf schlug auch sein Stab auf dem Rasen auf, viel lauter als es normal schien.
    Hektisch blickte er sich um, wagte es nicht, Kaja anzusehen. Sie war nur ohnmächtig, das stand für ihn fest. Durch so einen kleinen Stoß starb man schließlich nicht und trotzdem funkelten ihn alle böse an. Er suchte Zyrus, fand aber nur den nahenden Meister Talamon.
    „Platz da“, beschwerte der große Magier sich und schob ihn mit einer knorrigen Hand zur Seite. Während er sich zu Kaja hinunter bückte und vorsichtig ihren Kopf abtastete, war es Ferun, als warte er auf sein Urteil.
    „Nur eine Platzwunde, der Schädelknochen ist intakt“, grummelte er und richtete sich wieder auf. „In der Not handeln wir nach unserem Instinkt und nicht nach unserem Gehirn. In einem echten Kampf hätte dir dein Instinkt gerade dein Leben gerettet, doch in meinem Unterricht muss ich dich davor warnen, noch einmal eine Novizin derartig zu verletzen. Sollte so etwas noch einmal vorkommen, wird es Sanktionen geben, hast du mich verstanden?“ Sein Blick war bedrohlich. Ferun unterdrückte den Drang, einige Schritte zurück zu treten.
    „Verstanden?“, schnarrte der Geier. Bei falscher Antwort würde er sein Opfer mit einem gezielten Hieb in den Nacken töten, so viel war klar.
    „Verstanden“, Feruns Stimme zitterte. Sein Herz pochte schneller als üblich, schon die ganze Zeit, doch erst jetzt wurde es ihm bewusst.
    „Dann bring sie zu Alexia. Sie versteht sich am besten auf Heilungsmagie. Du bist für den restlichen Tag vom Unterricht befreit.“ Kaum hatte Talamon sich abgewandt, schritt er auch schon davon. Entfernt nahm Ferun wahr, wie er die anderen Novizen anblaffte fortzufahren. Doch in Feruns Ohren rauschte es. Er musste Kaja jetzt zu der Magierin bringen, das war ihm unmissverständlich klar gemacht worden. Nur wie sollte er sie denn alleine tragen, ohne… Doch kaum hatte er sich zu ihr hinab gebückt, um einen ihrer Arme über seine Schultern zu legen, ergriff eine andere Hand ihren anderen Arm. Er blickte auf und sah Kamilla, die braunhaarige Freundin Kajas mit dem runden Gesicht. „Ich helf dir dabei, sie zu tragen. Allein würdest du Grobian sie doch nur herum schubsen“, erklärte sie grimmig und ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Als sie sich wieder aufgerichtet hatten, waren ringsum die Kämpfe neu entfacht. Und trotzdem spürte Ferun immer noch viele Blick auf sich. Sie lugten alle verstohlen zu ihm, Kaja und Kamilla hinüber, wann auch immer ihr Kampf die Gelegenheit dazu ließ.
    Langsam legten sie den Weg über den Rasen zurück. Als sie den gepflasterten und überdachten Rundgang erreichten, fiel Ferun ein, dass er gar nicht wusste, wo sie hinmussten. „Wo ist diese Alexia eigentlich?“
    „In ihrem Gemach natürlich“, erwiderte seine gereizte Begleiterin, „Außerdem solltest du dir mal einen anderen Ton angewöhnen. Das ist nicht diese Alexia, sondern Meisterin Alexia, klar?“
    Dumpf überlegte Ferun, dass Alexia, als erst zweite weibliche Magierin der Insel, vielleicht sogar der Welt, eine Art Symbolfigur für alle weiblichen Novizinnen sein musste.
    Kamilla blieb vor einer der Türen stehen und klopfte an, dann duckte sie sich unter Kajas Arm weg, sodass Ferun sie nun alleine trug. „Den Rest schaffst du jawohl auch alleine“, verabschiedete sie sich frostig. „Dein Freund wartet schließlich darauf, noch einen überragenden Sieg zu erringen“, fügte sie mit den Augen rollend hinzu.
    Ein schiefes Lächeln fuhr über Feruns Gesicht, während er ihr nachsah. Wurden auch noch Isaaks Verfehlungen zu seinen Lasten gelegt? Das Grinsen verschwand jedoch sofort, als das Knarzen der Tür das Heraustreten der Feuermagierin ankündigte.
    Für eine Frau war sie ungewöhnlich groß, ein paar Handbreit größer als er selbst, und ihr feuerrotes Haar, das ihm schon am gestrigen Abend sofort aufgefallen war, stach auch jetzt sofort ins Auge.
    Ferun stand einfach ein wenig zerknirscht da, nicht fähig zu erklären, was passiert war. Alexia jedoch schien sich selbst zusammen reimen zu können, was passiert war. „Herrje, es war wohl mal wieder an der Zeit“, murmelte sie, eher resignierend als verärgert. „Kommt rein.“
    Bei diesem gnädigen Empfang fiel ihm ein Stein vom Herzen. Milde überrascht folgte er ihr in das Innere des Gemachs. Es war viel größer als ihre Novizenschlafkammer und hatte zwei Fenster zur Bergseite hin.
    Um einen runden Eichentisch waren einige Sessel drapiert worden. Aus einem von ihnen sprang ein zweiter Magier auf, als er sah, wie Ferun unbeholfen mit Kaja über die Schwelle humpelte.
    „Warte, ich helf dir“, sagte der junge Magier, nahm den noch freien Arm Kajas und schlang ihn sich um die Schultern. Mit seiner Hilfe war das Zimmer rasch durchquert. An der Wand, die der Tür gegenüber lag, gab es nicht nur ein schlichtes Himmelbett zwischen den Fenstern, sondern auch eine Liege in der Ecke. Der unbekannte Magier und Ferun legten die bewusstlose Kaja vorsichtig auf die Liege.
    Ferun streckte seinen Rücken durch, als die Last des Körpers endlich verschwunden war. Sein Herz schlug endlich wieder einen normalen Takt. Er widmete den beiden Magiern nun einen genaueren Blick. Sie wirkten beide recht jung für Magier, vielleicht waren sie sogar im gleichen Alter. Alexias Stupsnase gab ihrem schmalen Gesicht etwas niedliches. Der Gürtel ihrer Magierrobe war viel enger geschnallt als üblich, so dass die Robe ihre weibliche Figur betonte. Der Magier neben ihr hatte kurzes braunes Haar und ein irgendwie jungenhaftes Gesicht. Er lächelte Ferun aufmunternd an, als wolle er sagen, dass keiner ihm einen Vorwurf machen würde.
    Ferun, der sich schon auf eine weitere Standpauke wie der von Talamon gefasst hatte, nahm dies erleichtert zur Kenntnis. „Vielen Dank, dass Ihr mir geholfen habt, Kaja hereinzubringen“, sagte Ferun ein wenig steif, aber aufrichtig dankbar.
    „Keine Ursache“, winkte der Magier ab.
    Wie verschieden Magier sein konnten. Dieser hier behandelte ihn geradezu wie jemanden vom gleichen Rang, mit Talamon und Daron hatte er da ganz andere Erfahrungen gemacht.
    „Was ist geschehen?“, fragte Alexia neugierig.
    „Ich hab ihr meinen Stab gegen den Kopf geschlagen“, antwortete er und betrachtete den Saum ihrer Robe. Er hatte eigentlich noch aus Versehen sagen wollen, doch im letzten Moment hatte er sich umentschieden. Er wollte seine Tat nicht beschönigen.
    „Ich sage immer wieder, dass Talamons Methoden nicht ganz richtig sind“, ließ Alexia ihrem Unmut freien Lauf, während sie sich der Bewusstlosen zuwandte, „Zu einem Trainingskampf gehören strenge Regeln, auch wenn man ohne Klingen kämpft. Und wir haben mehr als genug Wolle, um die Enden der Stäbe zu polstern. Aber Talamon besteht darauf, dass nur die echte Gefahr aus Novizen erfahrene Kämpfer macht.“
    „Wie recht du hast“, pflichtete der Magier ihr bei und wandte sich Ferun zu. „Wir kennen uns noch nicht, stimmt’s? Ich bin Milten.“
    Ferun lächelte ertappt. Dann standen sie schweigend beieinander, während Alexia den Kopf ihrer Patienten auf ähnliche Weise abtastete wie es zuvor schon Talamon getan hatte und das Blut von ihrer Stirn wischte.
    „Es ist zwar nichts Ernstes, aber ich werde trotzdem einen Heilzauber auf die Wunde sprechen, dann ist sie im Nu wieder vollkommen gesund – Huch!“ Bei dem plötzlichen Ausruf war Ferun zusammen gezuckt.
    „Was machst du denn noch hier?“, fragte Alexia ihn perplex, „Du brauchst doch nicht die ganze Zeit zuzusehen. Geh nur, die Zeit lässt sich viel besser nutzen!“
    „Okay“, sagte Ferun verwundert. „Danke, dass Ihr Kaja helft. Ich werde mich bemühen, dass das nicht wieder vorkommt.“
    „Das wissen wir“, Milten zwinkerte sogar leicht, als er das sagte.
    „Okay“, wiederholte er, durchmaß den Raum mit wenigen Schritten, warf noch einen verstohlenen Blick zurück auf die beiden Magier und öffnete die Tür.

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    Die Weinkelterei

    Als die Sonne allmählich zu sinken begann, beendete Talamon den Unterricht und entließ die Novizen. Verschwitzt und ausgelaugt schulterten sie ihre Kampfstäbe und verstreuten sich miteinander schwatzend über das Kloster. Ferun hatte auf der Stufe gehockt, die zu dem Säulengang hinaufführte, und stumm die Novizen beobachtet, die nicht vom Unterricht ausgeschlossen worden waren. Zunächst hatte er versucht, ihre Griffe und Schlagfolgen zu analysieren. Auf keinen Fall wollte er Talamon beim nächsten Mal ein ähnlich schlechtes Bild bieten. Doch seine Gedanken waren ihm schnell entglitten, und so war er einfach froh, dass es vorbei war.
    Zyrus steuerte auf ihn zu. Er fragte sich, ob er ihn auf Kaja ansprechen würde. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn auch so schon genug. „Komm mit, wir müssen in die Weinkelterei“, sagte Zyrus jedoch schlicht, als er ihn erreicht hatte. Erleichtert stieß Ferun sich von der Stufe ab und schloss sich seinem Kammergenossen an, auf dem Weg an der hoch aufragenden Kathedrale vorbei.
    „Gehörst du auch zu den Kelterern?“, fragte Ferun. Über die Arbeit hatten sie noch gar nicht gesprochen.
    „Jepp“, antwortete Zyrus. „Gerade am Anfang ist es ziemlich anstrengend, aber eigentlich ist es kein schlechter Job. Mit dir sind wir zu acht, das macht uns zu einer recht geselligen Runde. Denk nur an Pedro, der die ganze Zeit allein vor dem Tor stehen muss.“
    „Und Isaak? Ist er auch bei uns?“
    „Nein. Ihn haben sie zu Lysander und den anderen in die Buchvervielfältigung geschickt. Den ganzen Abend lang Bücher fein säuberlich und leserlich abschreiben… Das wär nichts für mich. Dabei hatten sie erst überlegt, mich dort einzusetzen. Aber als ich probeweise eine Seite schreiben sollte, haben sie sofort gesehen, was für eine Sauklaue ich habe. Die sind da zwar auch zu acht, aber ihre Arbeit erfordert so viel Konzentration, dass bei ihnen kaum geredet wird. Viel geselliger als Pedros Job am Tor ist das also auch nicht. Zusammen mit uns ist die Buchvervielfältigung übrigens der größte Arbeitsposten für uns Novizen. Dort sind sie nun nämlich auch zu acht.“
    Sie verließen nun den Rasen zwischen Kathedrale und Säulengang und traten auf den in Abendsonne getauchten, vorderen Innenhof hinaus. Ferun sah Opolos bei den Schafen stehen und Babo stand mit drei anderen Novizen zwischen den Kräuterbeeten. Caio lief einen Besen hinter sich her schleifend den Rundgang entlang. Es schien tatsächlich so, dass jeder im Kloster eine Aufgabe hatte, der er in den Abendstunden pflichtbewusst nachging. Zumindest, was die Novizen anbelangte.
    Zyrus lotste ihn quer über den Hof zu dem linken Vorderturm des Klosters und öffnete die Holztür. Auch hier gab es Fenster aus buntem Glas, durch die man sogar die Brücke und den See erahnen konnte. Sechs Tischreihen standen hintereinander, auf ein kleines Rednerpult an der gegenüberliegenden Wand ausgerichtet.
    „Hier findet der meiste Unterricht statt“, erklärte Zyrus ihm knapp, „Morgen wirst du hier bei Meister Karras Geschichtsunterricht haben.“
    „Du nicht?“, fragte Ferun verdutzt, während sie auf eine hölzerne Wendeltreppe in einer Ecke des Raumes zusteuerten.
    „Ich habe meine Prüfung in Geschichte vor kurzem erfolgreich abgeschlossen“, erwiderte Zyrus mit Stolz in der Stimme. „Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier und hatte endlich das nötige Wissen beisammen, um sie zu bestehen.“
    „Glückwunsch“, sagte Ferun und versuchte sich für seinen Freund zu freuen. Morgen würde Zyrus ihm also nicht zur Seite stehen.
    Die Treppenstufen knarzten laut unter ihren Schritten, doch Zyrus ging so arglos voran, dass auch Ferun sich keine Gedanken dabei machte. Von oben waren Schritte zu hören. Offensichtlich waren sie nicht die ersten. Er fragte sich, ob er schon jemanden von den anderen sechs Novizen kannte, und auch, warum er Zyrus nicht eben danach gefragt hatte, als noch die Gelegenheit dazu gewesen war.
    Sie waren am oberen Ende der Treppe angekommen. Zwei Novizen, die gerade Beeren aus Kisten in große Kessel kippten, hielten überrascht inne, als sie Ferun erblickten. Den einen erkannte Ferun wieder: Es war der große Blonde, der im Stabkampfunterricht mit Babo gekämpft hatte, den anderen hatte er noch nicht bewusst wahrgenommen. Er hatte halblange braune Haare, die unordentlich wirkten und ein schlecht rasiertes Kinn, was ihm ein geradezu verwegenes Aussehen verlieh.
    „Cool, wir haben Verstärkung bekommen!“, sagte er, ließ die Kiste mit den Beeren stehen, kam zu ihm herüber und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schultern. „Bin Roman. Und das da ist Titus, der alte Schwerenöter.“ Er hatte auf den blonden Novizen gewiesen. Doch noch ehe Ferun etwas sagen konnte, fuhr er auch schon fort: „Und das da sind unsere beiden Laufburschen“, er schwenkte Ferun einmal herum, damit er die beiden Novizen sah, die gerade hinter ihnen die Treppe heraufgekommen waren. „Agon und Ulf. Sie bringen jeden Sonntag unseren Wein zur toten Harpyie und in die Stadt, von wo sie auch die Spenden mitbringen, die der alte Daron im Verlauf der Woche gesammelt hat.“
    Ulf war recht klein und nicht so jung wie Ferun und Zyrus. Agon hatte blonde Haare, die er sich alle zu einer Seite gekämmt waren. Beide Novizen waren angesichts dieser stürmischen Vorstellung durch Roman im ersten Moment überrascht. Ulf begrüßte ihn jedoch herzlich, als dieser Moment verflogen war. Agon schenkte ihm nur ein knappes Nicken und wandte sich ab.
    „Jetzt fehlen nur noch die beiden Mädels“, stellte Titus fest.
    „Fangen wir einfach ohne sie an. Wär ja Blödsinn, wenn wir alle auf sie warten“, meinte Ulf schulterzuckend und erntete zustimmendes Gemurmel.
    „Ein Kessel mehr wäre angebracht, oder?“, rief Roman aus der Ecke des Raums herüber, in der die Kessel in einem robusten Regal gelagert wurden.
    „Sonst habe ich immer mit Agon und Ulf an einem gearbeitet, jetzt können wir uns aber wohl getrost einen eigenen nehmen“, erklärte Zyrus an Ferun gewandt. Und so stellten sie vier der schweren, schwarzen Bottiche in der Mitte des Raums auf. Den für die Mädchen hatten sie auch schon mal vorbereitet. Dann holten sie aus einem deutlich wackligerem Regal neben der Treppe kistenweise Beeren. Roman zeigte Ferun, wo sie die frisch geernteten einsortierten und von wo er dementsprechend die schon am längsten eingelagerten nehmen musste.
    Endlich hatte Ferun das Gefühl etwas richtig zu machen, als er mit den anderen die Beeren zu den Kesseln trug und den Inhalt der kleinen Kisten auskippte. Nachdem sie mehrere Male den Weg vom Regal zum Kessel zurückgelegt hatten, waren sie bis fast unter den Rand gefüllt, sodass Zyrus in die Hände klatschte und gut gelaunt meinte: „So, jetzt brauchen wir die Stampfer. Mit ihnen zerstampfen wir die Beeren sorgfältig, bis nur noch eine gleichmäßige Masse übrig bleibt. Anschließend steigen beim Kochen die Schalen und anderen unerwünschten Bestandteile der Beeren nach oben, sodass wir sie abschöpfen können. Den Saft, den wir daraus gewinnen, vermischen wir mit einer gewissen Menge Alkohol und füllen ihn in Flaschen. Das richtige Verkorken ist ein bisschen mühsam, aber das zeigen wir dir dann. Soweit alles klar?“
    Ferun nickte unsicher. Das klang alles ganz einfach, doch irgendwie hatte er den Eindruck, eine Menge falsch machen zu können. Da ertönte das Knarzen der Treppe und zwei weibliche Stimme klangen dumpf zu ihnen hinauf.
    „Endlich sind sie da. Sie müssen sich ranhalten, um den Abstand aufzuholen“, fand Agon und reichte Ulf einen der beiden Stampfer, die er geholt hatte. Die Stampfer waren lange Holzkeulen mit einem ausgebeulten Kopf, sodass man möglichst viele Beeren auf einmal zerdrücken konnte.
    Jetzt waren die beiden Frauen oben angekommen. Ferun hatte sich neugierig zu ihnen umgewandt und starrte die linke von beiden jetzt genauso entsetzt an, wie diese ihn.
    Der ist bei uns?“, rief Kamilla mit einem ungläubigen Entsetzen im Gesicht, „Der richtet hier doch bestimmt mehr Schaden an als er nützt! Wenn man bedenkt, wie er gleich an seinem ersten Tag Kaja mitgespielt hat…“
    „Das war doch keine Absicht“, versuchte die zweite junge Frau sie zu besänftigen. Sie trug eine praktische Kurzhaarfrisur, allerdings standen ihre rostbraunen Haare kreuz und quer von ihrem Kopf ab. Auf ihrem kleinen, runden Gesicht breitete sich ein niedliches Lächeln aus, als sie sich Ferun zuwandte: „Ich bin Christa. Es freut mich dich kennenzulernen.“ Und mit einem Seitenblick auf ihre Begleiterin fügte sie hinzu: „Nimm es Kamilla nicht übel, das wird schon wieder.“
    „Der Kleine sorgt schon am ersten Tag für viel Wirbel in der Damenwelt. Das kann ja noch was werden…“, meinte Ferun Roman in seinem Rücken flüstern zu hören, woraufhin irgendjemand verstohlen kicherte.
    „Ich glaube, ihr solltet euch schleunigst an die Arbeit machen. Ihr seid zu spät und habt demensprechend einen Rückstand aufzuholen!“, erinnerte Ulf sie mit erhobener Stimme.
    „Jaja“, entgegnete Kamilla und wandte sich von ihm ab, dem Beerenregal zu.
    „Danke, dass ihr unseren Kessel schon aufgestellt habt“, wandte Christa sich an die Männer, „Wir waren noch kurz bei Kaja und haben nach ihr gesehen. Sie wird zum Abendessen schon wieder fit sein. Meisterin Alexia ist gerade dabei, ihr einen Verband anzulegen, der die übrige Heilung beschleunigen soll.“ Dann wandte auch sie sich dem Regal zu und half Kamilla dabei, die Kisten zu holen.
    Und so verbrachten sie eine Stunde mit dem Zerstampfen von Beeren. Ferun musste feststellen, dass es schon nach relativ kurzer Zeit wirklich anstrengend wurde. Immer dieselbe schwergängige Bewegung mit dem Stampfer. Bald brannten seine Arme bei jeder Bewegung, doch er wollte Kamilla auf keinen Fall einen Grund zur Klage geben und bemühte sich, mit Zyrus‘ Tempo mitzuhalten. Er war wohl einfach verweichlicht. Die anderen hatten auch noch den ganzen Stabkampfunterricht hinter sich, doch keiner von ihnen wirkte erschöpft. Dazu kam noch, dass sie Ferun mit Fragen löcherten, und so musste er ihnen erzählen, dass er bis vor kurzem bei seiner Mutter im Hafenviertel gelebt hatte, bis sie gestorben war. Und dass er erst nach ihrem Tod erfahren hatte, dass sie stets ein bisschen Gold für ihn zur Seite gelegt hatte.
    Als sie zu der Frage kamen, warum sein Vater die Familie verlassen hatte, wurden sie von einem Aufknarzen der Treppe unterbrochen. Alle horchten auf und wandten sich der Treppe zu. Ferun war froh, über die kurze Pause.
    „Wir sind doch vollzählig, oder?“, fragte Christa und warf einen Blick in die Runde.
    „Vielleicht ist es Wulf, der neuen Alkohol bringt. Oder sie haben Isaak bei den Buchkopierern rausgeworfen“, schlug Zyrus achselzuckend vor.
    Mit beiden Vermutungen lag er daneben. Der Mann, der zu ihnen hochgekommen war, trug die Robe eines Magiers und war so alt, dass sein Haar schlohweiß und seine Augen von runzligen Falten in seiner blassen Haut verziert waren. Der Magier wirkte in der roten und schwarzen Robe so hell, dass Ferun flüchtig den Eindruck hatte, sie würden von einem Geist heimgesucht.
    „Ah, ich sehe ihr kommt zurecht. Das freut mich“, sagte der Greis und nickte wohlwollend, „Ich bin nur gekommen, um zu sehen, ob der Neue klar kommt. Doch wie erwartet scheint es bei der Einarbeitung keine Probleme gegeben zu haben.“
    „Das ist Meister Gorax, der Magier, der für uns Weinkelterer verantwortlich ist“, klärte Zyrus Ferun auf.
    „Sehr erfreut“, sagte Ferun hastig, „Ich bin Ferun.“
    „Ferun also… hm…“, machte Gorax und seine blauen Augen verweilten eine Weile auf ihm. „Nun denn, ich will euch gar nicht länger bei der Arbeit stören. Das sieht schon sehr gut aus. Neoras hat mir vorhin mitgeteilt, dass die nächste Alkohollieferung schon morgen kommt, dabei haben wir doch noch welchen. Stellt ihn einfach zu unseren Vorräten.“
    Und schon wandte er sich wieder um und schritt gemächlich die Treppe herunter. Ein wenig verblüfft sah Ferun ihm nach, bis er die Tür am Fuße des Turmes zuschlagen hörte.
    „Ich weiß, was du denkst“, sagte Christa plötzlich in die Stille hinein, „Er ist ein bisschen verschroben, aber ansonsten ganz lieb. Ich bin froh, dass er die Kelterei beaufsichtigt.“

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    Das Problem in der Küche

    „So“, sagte Christa zufrieden und tauchte auch den letzten verkorkten Flaschenhals in das flüssige Wachs. „Damit wären wir für heute fertig!“
    Ferun war froh, das zu hören. Er rieb sich die schmerzenden Arme und freute sich darauf, dem stickigen Turmzimmer zu entfliehen. Seit sie unter den Kesseln Feuer gemacht hatten, hatte sich feuchter Dampf unter der niedrigen Decke gesammelt. Die zwei kleinen Seitenfenster, die man öffnen konnte, hatten nur wenig dazu beigetragen, den Raum zu entlüften. Seine Kleidung klebte ihm gefühlt schon seit Stunden am ganzen Körper. In der diesigen Luft war es alles andere als leicht gewesen, die richtige Menge Wein in die bauchigen Flaschen zu füllen. Er war Christa dankbar, dass sie auch seine Flaschen verkorkt hatte, nachdem sie mit ihren schon fertig gewesen war.
    Jetzt kehrten Titus und Ulf mit Eimern voller Wasser zurück. Sie schütteten das Wasser in die Kessel und schrubbten die eingebrannten Reste von den schwarzen Wänden. Als die Kessel blitzblank wieder in ihrem Regal verstaut waren und sie auch das Feuer im Kamin gelöscht hatten, über dem sie das Wachs erhitzt hatten, schienen sie endgültig fertig zu sein.
    „Ganz schön anstrengend, oder?“, fragte Titus ihn mit einem schiefen Grinsen, als er sah, wie er sich mit einem Ächzen streckte. Ferun blieb ihm eine Antwort schuldig.
    Gemeinsam stiegen sie die knirschende Holztreppe wieder hinab in den Raum mit den Tischreihen. „Und hier haben wir morgen Geschichte?“, fragte Ferun, um das Schweigen zu brechen.
    Du hast hier morgen Geschichte“, korrigierte Zyrus ihn. „Ich werde morgen früh schon in der Weinkelterei anfangen.“
    „Umso mehr Unterrichtsfächer man abgeschlossen hat, desto mehr muss man also arbeiten“, kombinierte Ferun resigniert. Er fragte sich, ob die Arbeit in den Kräuterbeeten oder in der Buchvervielfältigung nicht doch angenehmer war.
    „Naja, man spricht sich mit dem Magier ab, der für die Aufsicht der Arbeit zuständig ist. Meister Gorax sagte, dass wir im Moment genügend Wein herstellen. Darum arbeite ich nur am Feuertag zusätzlich in der Weinkelterei, am Holztag habe ich Zeit, um in der Bibliothek zu studieren.“
    „Wozu müssen wir überhaupt etwas über Geschichte lernen?“, wunderte Ferun sich. Er hatte sich noch nie sehr für die Vergangenheit interessiert und war nicht erpicht darauf, sich mit den Leben irgendwelcher unbekannter Ahnen auseinander zu setzen.
    „Um aus ihr zu lernen“, antwortete Zyrus beflissen, „Man kann viel aus den Fehlern der früheren Herrscher lernen und besser nachvollziehen, wie es zu der heutigen Ordnung kam, wenn man ihren Ursprung kennenlernt. Wusstest du zum Beispiel, dass es schon lange bevor Innos König Rhobar I. zu seinem Diener machte, Feuermagier gab?“
    „Nein“, gab Ferun nicht sonderlich überzeugt zu.
    „Such dir morgen einfach einen Platz aus, der noch frei ist. Meistens sind in der ersten und in den hinteren Reihen noch welche frei“, fuhr Zyrus fort, als sie unter dem dämmernden Abendhimmel zwischen den Gemüsebeeten hindurch zum Speisesaal gingen.
    „Keine Sorge, falls du morgen noch Fragen hast. Ich werde da sein“, lachte Christa.
    „Ulf und ich haben Geschichte auch schon bestanden“, fügte Roman grinsend hinzu.
    „Ach so“, sagte Ferun, weil ihm nichts Besseres einfiel.
    „Wir haben heute länger gebraucht als sonst“, stellte Kamilla plötzlich fest, „Der Speisesaal ist schon fast voll.“
    Ferun hörte die leise Kritik in ihrer Bemerkung. Natürlich war er der Grund für die Verspätung. Er hatte alle aufgehalten, weil ihm noch alles erklärt werden musste. Kamilla schien ihm immer noch nachzutragen, dass er im Stabkampfunterricht Kaja niedergeschlagen hatte. Mit einem leisen Schuldgefühl in der Magengegend betrat Ferun mit den anderen den großen Speisesaal. Im Gegensatz zur Mittagszeit brannten jetzt Fackeln an den Wänden und Kerzen auf den Tischen. Die Luft wirkte ein wenig verrußt, doch hatte der Rauch in dem großen Raum genug Platz sich zu verziehen. Die Kerzen schafften es nicht ganz, die Schatten zu verdrängen. Besonders die Tische, die schon voll besetzt waren mit Novizen lagen im Dunkeln, da die Körper das Licht verdeckten. Wie beim Mittagessen standen Töpfe voll Eintopf auf den Tischen, doch schon im Vorbeigehen hatte Ferun den Eindruck, dass der Eintopf wässriger wirkte als in der Mittagspause.
    Hungrig setzte Ferun sich an den letzten, leeren Tisch und Zyrus, Kamilla und Christa setzten sich zu ihm. Titus, Roman, Ulf und Agon mussten sich auf die verbliebenen freien Plätze im Saal verteilen. Sie waren tatsächlich die letzten gewesen. Nur ein Platz war jetzt noch frei und Ferun ahnte dunkel, dass es der für Kaja war. Zumindest konnte er die Novizin nirgendwo sonst ausfindig machen.
    „Sie haben den Eintopf mit Wasser verdünnt“, stellte Kamilla schneidend fest, als sie sich die Brühe auftat.
    „Jetzt trag ihm das doch nicht auch noch nach“, erwiderte Christa beschwichtigend und tat sich eine große Portion auf ihren Holzteller.
    Ferun verstand nicht ganz. „Wem soll sie das nicht nachtragen?“, fragte er, während er mit seiner Hand nach der Kelle griff.
    Kamilla schien eifrig damit beschäftig, ihre Brühe zu löffeln. Christa warf ihm einen strengen Blick zu, der ihm das Gefühl gab, als müsste er die Antwort auf diese Frage eigentlich wissen. Verunsichert wandte er sich an Zyrus, doch der warf ihm einen ganz ähnlichen Blick zu.
    „Dir“, antwortete Zyrus schließlich, als er immer noch nicht verstehen wollte.
    „Mir?“ Ferun fiel aus allen Wolken.
    „Kaja ist eine der vier Novizen, die sich um die Küche kümmern“, ließ Kamilla zwischen zwei Löffeln verlauten, ohne von ihrem Teller aufzusehen.
    „Deshalb konnten sie nicht so viel Eintopf machen wie sonst und haben ihn mit Wasser verdünnt“, führte Christa den Gedanken zu Ende, allerdings ohne wie Kamilla zuvor einen anklagenden Tonfall zu verwenden.
    „Oh“, machte Ferun und verstand. Er ließ seinen Blick über die anderen Novizen im Saal schweifen, aus Sorge, auch sie würden ihn mit bösen Blicken traktieren. Tatsächlich schienen viele nicht mit so viel Begeisterung zu essen wie am Abend davor. Oder bildete er sich das nur ein? Vorsichtig wandte er seinen Kopf zur anderen Seite und spähte hoch zu der runden Tafel mit dem mehrarmigen Kerzenleuchter, an dem die Feuermagier saßen. Talamon blickte rasch wieder auf seine Suppe, hatte ihn offensichtlich mit finsterem Blick beobachtet. Alexia schenkte ihm jedoch ein Lächeln, als sie seinen Blick bemerkte.
    Hastig wandte er sich wieder seinem Teller zu und schob sich den ersten Löffel Brühe in den Mund. Sie schmeckte fade. Er schien sich mit seinem Ausrutscher im Stabkampfunterricht ein ganz schönes Süppchen eingebrockt zu haben, im wahrsten Sinne des Wortes.
    „Mach dir nichts draus, das wird dir schon keiner übel nehmen“, meinte Zyrus halbherzig.
    „Heute ist mein erster Tag im hier und wegen mir kriegen alle nur eine wässrige Brühe anstatt eines deftigen Eintopfs“, erwiderte Ferun geknickt.
    Christa öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch ihr schien nichts einzufallen, was sie sagen konnte, schloss ihren Mund wieder und wandte sich erneut ihrer Schüssel zu. Schweigend aßen sie weiter, während sich in Ferun ein äußerst mulmiges Gefühl ausbreitete. Alle waren nett und freundlich zu ihm gewesen, hatten ihn ohne jeden Vorbehalt aufgenommen ohne auch nur eine Frage über seine Vergangenheit zu stellen. Und er hatte, wenn auch unabsichtlich, eine der Köchinnen ausgeknockt und damit indirekt allen geschadet. Morgen würde er sich anstrengen müssen, um das wieder gut zu machen.
    Um sie herum erhob sich einer nach dem anderen und verließ den Speisesaal. Ferun unterdrückte den Drang, jedes Mal aufzusehen, wenn jemand an ihm vorbeikam. „Komm, lass uns auch gehen“, schlug Zyrus vor, als ihre Schüsseln leer waren. Ferun nickte, erhob sich und wünschte Christa und Kamilla eine gute Nacht, wobei Letztere so tat, als hätte sie ihn nicht gehört.
    „Kamilla ist immer ein wenig eigen“, versuchte Zyrus seinen Freund aufzuheitern, als sie wieder einmal die im Dunkeln liegenden Wege zwischen den Beeten entlang gingen, „Und Kaja ist ihre beste Freundin. Übler als sie wird es dir keiner nehmen. Sowas passiert nun mal.“
    Er öffnete die Tür zu ihrer Schlafkammer. Die beiden Kerzen in ihren Halterungen flackerten im Luftzug auf. Erst als Ferun die Tür hinter sich schloss, beruhigten sie sich wieder.
    „Da seid ihr ja endlich“, empfing Lysander sie nicht gerade freundlich. Isaak saß auf seinem Bett und sah zu Boden.
    „Ich habe gehört, dass…“, setzte Lysander an, doch er unterbrach sich, als Ferun einfach an ihm vorbei auf sein Bett zuging und sich seinen Novizenrock über den Kopf zog.
    „Hör mir zu, wenn ich mit dir rede, Ferun!“, befahl er dem Neuen aufgebracht.
    „Was willst du mir sagen? Dass ich vorsichtiger sein soll, dass ich Schuld für das wässrige Abendessen bin? Dass ich mich bei Kaja entschuldigen soll?“, Ferun machte einen Schritt auf Lysander zu und auf einmal waren ihre Gesichter einander sehr nah. Er hatte seine Stimme nicht erhoben. Ebenso ruhig fuhr er fort: „Das weiß ich alles. Ich werde mich bei Kaja entschuldigen, sobald ich eine Gelegenheit dazu bekomme. Und ich werde mich künftig noch mehr anstrengen, um mein Vergehen an ihr wieder gut zu machen.“
    Lysander starrte ihn einen Moment fassungslos an, doch dann fiel ihm offensichtlich noch ein Punkt ein, den Ferun noch nicht erwähnt hatte. Belehrend hob er den Zeigefinger seiner rechten Hand und…
    „Nein, Zyrus kann dafür nichts. Ich bin bei ihm in guten Händen, danke.“ Ferun wandte sich ab, zog sich zu Ende aus und legte sich ins Bett. Lysander stand reglos da und wusste offenbar nicht, wie er reagieren sollte. „Nun denn, so sei es“, sagte er nach einer Weile überheblich und wandte sich ebenfalls ab.
    Ferun hätte gern einen Blick mit Zyrus getauscht oder Isaaks Reaktion gesehen, aber er lag mit dem Gesicht zur Wand und hielt seine Augen geschlossen. In seinem Kopf arbeitete es noch mühselig.

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    Meister Karras und der Geschichtsunterricht

    „Komm, steh auf! Wir wollen doch nicht schon wieder das Frühstück verpassen!“ Ferun spürte, wie jemand an seiner Schulter rüttelte. „Bin ja schon wach“, murmelte er verschlafen und drehte sich auf die andere Seite. Er hatte verworrene Dinge geträumt. Alberne Dinge. Es fiel ihm schwer, sie sich aus dem Kopf zu schlagen. Er blinzelte vorsichtig, doch das fahle Kerzenlicht war angenehm dämmerig. Als er sich aufsetzte, sah er, dass Lysander und Isaak bereits weg waren.
    „Sind wir schon wieder so spät dran?“, fragte er Zyrus, der sich mit seinem Novizenrock abmühte.
    „Eigentlich nicht, Lysander ist immer der erste im Speisesaal. Das heißt aber nicht, dass du Zeit zum Trödeln hast!“
    Kurze Zeit später hatten Ferun und Zyrus angekleidet den Innenhof überquert und betraten einmal mehr den Speisesaal. Sofort fiel Ferun eine Veränderung auf. Statt Bottichen und Schüsseln lagen heute Bretter auf den Tischen. Jeweils auf einem großen in der Mitte befanden sich ein Laib Brot und ein großes Messer, mit dem man sich eine Scheibe abschneiden konnte. Außerdem standen auf jedem Tisch eine Wurst, ein kleines Stück Käse und eine Schale mit einem stark nach Kräutern riechenden Aufstrich bereit.
    Verblüfft über die große Auswahl folgte Ferun Zyrus zu einem Tisch am Rande des Speisesaals, wo Caio wieder mit viel Appetit zulangte. Neben ihm saß ein Novize mit kurzen braunen Haaren, den Ferun noch nicht kennengelernt hatte.
    „Guten Morgen“, begrüßte Zyrus die beiden und setzte sich Caio gegenüber, dessen Erwiderung man zwischen all dem Schmatzen und Schlucken unmöglich verstehen konnte.
    „Innos sei mit euch“, grüßte der unbekannte Novize zurück und stellte sich sogleich vor, als er Ferun erkannte: „Ich bin Terry. Es freut mich, dich kennenzulernen.“ Dann gab er Caio einen Stoß in die Rippen, offenbar damit er sich auch vorstellte.
    „Ich hatte schon einmal die Freude, mit Caio zu speisen“, sagte Ferun und musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Caio schien den Rippenstoß überhaupt nicht bemerkt zu haben. Terry zuckte mit den Achseln und erstickte sein Lachen mit einem Biss in sein Käsebrot. Ferun schmierte sich etwas von der Wurst auf, während Zyrus seines dick mit der Kräuterpaste bestrich. „Nach einem Geheimrezept von Hilta, schmeckt einfach köstlich!“, kommentierte er Feruns skeptischen Blick, der der Paste galt.
    Ferun zuckte zusammen. Beinahe lautlos hatte sich die Novizin mit den langen, grauen Haaren auf dem fünften Platz an der Stirnseite des Tisches niedergelassen. Sie hatte Feruns Zucken bemerkt und musterte ihn neugierig. „Du bist einer der beiden Neuen, nicht wahr?“, fragte sie ihn ganz ohne Begrüßung.
    „J-Ja“, antwortete Ferun von der plötzlichen Erscheinung völlig verwirrt. Die Novizin musste ungefähr in seinem Alter sein, doch um ihre Augen hatten sich bereits Krähenfüße gebildet und sie trug eine Brille mit den dicksten Gläsern, die Ferun je gesehen hatte. Das auffälligste an ihrer Erscheinung war aber ihr graues Haar, das stumpf und verfilzt in alle Himmelsrichtungen abstand und ihr ein verwirrtes Aussehen verlieh.
    „Nun denn, dann habe ich dich jetzt ja kennengelernt“, stellte sie fest und erhob sich wieder von dem Stuhl. „Mal sehen, wie der andere Neue so ist.“ Mit diesen Worten ging sie lautlos wie sie gekommen war. Ferun starrte ihr nach, bis sie sich gegenüber von Lysander und Isaak an einen anderen Tisch setzte.
    „Bei den Göttern, wer war das denn?“, entfuhr es Ferun, als er sich wieder den anderen zuwandte.
    „Myrthe“, antwortete Zyrus kauend. „Ist ein wenig flatterhaft. Macht oft Gedankensprünge und redet lauter komisches Zeug. Angeblich ist sie schon Novizin, seit sie ein kleines Kind war, macht sich aber nichts aus dem Unterricht oder den Prüfungen. Meister Hyglas meinte mal, dass sie nicht das Zeug zu einer Magierin hätte.“
    „Sie wirkt sehr bizarr, aber eigentlich ist sie ein sehr nettes Mädchen“, warf Terry überraschend ein, „Es schadet nie den Menschen hinter einer Fassade kennenzulernen.“
    „Hm.“ Verunsichert nahm Ferun sein Brot wieder auf und begann Gedanken verloren von ihm abzubeißen.
    Der Rest des Frühstücks verlief ohne größere Zwischenfälle. Der von Myrthe wieder geräumte Platz wurde von Roman eingenommen, dem es gelang, Ferun dazu zu ermuntern, von Hiltas Spezialpaste zu probieren. Sie sah zwar genau wie der Eintopf von seinem ersten Abend ekelerregend aus, schmeckte aber durchaus passabel. Es folgte ein wildes Raten der Zutaten, eine Diskussion, bei der sogar Caio sich beteiligte. Dabei geriet er fast mit Roman aneinander, weil dieser ihm darin widersprach, dass Minze in der Paste enthalten war. Ehe dieser Sachverhalt ausreichend geklärt werden konnte, erklang das Glockenläuten der Kathedrale und sie mussten hastig den Rest ihrer Brote in ihre Münder stopfen, um nicht zu spät zum Morgengebet zu kommen. Ferun stellte fest, dass die Andacht kaum anders verlief als am Vortag. Einzig und allein die Worte des Hohen Rates an die Novizen hatten sich leicht geändert, wenn auch die Kernaussage gleich blieb.
    Nachdem die Großmeister der Flamme sie entlassen hatten, strömten die meisten Novizen mit Ferun zum Turm der Weinkelterei. Sie betraten ihn durch die schwere Holztür und Ferun war wieder in dem Raum mit den Bankreihen, den er gestern nur durchquert hatte. Heute sollte er hier bei dem Feuermagier Karras haben. Zyrus verabschiedete sich von ihm und stieg mit Ulf und Roman die knarzende Holztreppe empor, um im Stockwerk über ihnen weiter Wein zu keltern.
    Die Bankreihen füllten sich zusehends, doch Ferun meinte, dass sich weniger Novizen einfanden als beim Stabkampfunterricht am Vortag. Vielleicht hatten schon mehr Novizen ihre Prüfung in Geschichte abgelegt als im Stabkampf. Isaak war von Lysander ohne viel Federlesen in die erste Reihe gesetzt worden. Die letzten beiden Bankreihen blieben komplett leer, doch auch in den vorderen vier Reihen blieben Plätze unbesetzt. Einer dieser Plätze war zwischen Christa und Kamilla, also steuerte auf sie zu.
    „Das ist Kajas Platz“, wies Kamilla ihn schroff ab, „Sie soll sich heute noch ausruhen, aber nächste Woche ist sie bestimmt wieder da. Such dir also einen anderen Platz.“ Christa zuckte nur entschuldigend mit den Schultern, was wohl heißen sollte, dass sie daran auch nichts ändern konnte.
    Ferun wandte sich genervt ab und fasste den nächsten freien Platz ins Auge, der neben Terry in einer der hinteren Reihen war.
    „Ist der Platz hier noch frei?“, fragte er vorsichtshalber, doch anders als Kamilla nickte Terry und sagte: „Klar, setz dich.“
    Ein wenig aufgeregt setzte er sich auf die Holzbank und musste feststellen, dass sie hart und ihre Lehne unbequem gerade war. Wenn der Geschichtsunterricht genauso lange dauerte wie der Stabkampfunterricht, würde er am Ende des Tages an Rückenschmerzen leiden. Er hatte gerade beschlossen, Terry zu fragen, wie lange der Unterricht dauerte, als die Holztür krachend ins Schloss fiel. Ein Feuermagier war hereingekommen und hatte sie hinter sich geschlossen. Ferun hatte ihn bisher nur bei den Mahlzeiten gesehen, doch musste es wohl Meister Karras sein.
    Er hatte graues, dichtes Haar, das nicht nur auf seinem Kopf, sondern auch an den Rändern seiner Wangen und um seinen Mund ungezähmt wucherte. Seine lange gerade Nase begann zwischen zwei tief liegenden Augen, die dunkel und unnahbar wirkten. Sein Gang war langsam, fand Ferun, und so dauerte es einige Augenblicke, bis er das Pult erreicht hatte, auf das die Bankreihen ausgerichtet waren. Wie die meisten Magier schien er bereits ein hohes Alter erreicht haben. Die Novizen warteten schweigend auf den Beginn des Unterrichts.
    „Innos zum Gruß“, sprach der Magier mit einer starken Stimme, um die ihn einige Männer seines Alters wohl beneideten. „Wie ich höre, gab es zwei Neuaufnahmen, während wir das letzte Mal zusammengekommen sind?“ Sein Blick huschte über die anwesenden Novizen und fand schnell den Isaak in der ersten Reihe und Ferun am Rand der dritten Reihe. Beiden schenkte er ein Lächeln, ehe er fortfuhr: „Nun, vor meinem Unterricht braucht ihr euch keinesfalls zu fürchten. Man kann hier wenig falsch machen und körperliche Betätigung ist auch eher selten auf dem Programm. Die einzige Fähigkeit, die ihr für meinen Unterricht wirklich mitbringen müsst, ist die der Konzentration. Wer genau zuhört, wenn ich die verworrenen Pfade der Geschichte entneble und die Beweggründe berühmter Ahnen erläutere, wird schnell einen umfangreichen Überblick über die Geschichte der Insel Khorinis, des Königreichs Myrtana und der Magie erhalten.“ Seine Ansprache schien beendet, er fuhr nun, vor der Klasse auf und ab schlendernd, in einem geschäftsmäßigeren Ton fort: „Wer kann mir sagen, wo wir in der letzten Stunde stehen geblieben waren?“
    Ein paar Finger gingen nach oben. Terry, der neben Ferun saß, ließ seine Hand unten, der vor ihm sitzende Novize streckte jedoch seinen Arm nach oben und wurde durch ein Nicken von Meister Karras drangenommen: „Ja, Juris.“
    Der Novize mit dem dunkelblonden Haar antwortete beflissen: „Wir waren bei der Ernennung von König Rhobar I. stehen geblieben und hatten festgestellt, dass er einen mehrere Jahre lang währenden Frieden über Myrtana brachte.“
    Die Hand seines rechten Sitznachbarn schoss nach oben. Karras nickte auch ihm zu. „Obwohl die verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Reiches in Einklang lebten, konnte man die ersten Jahre seiner Herrschaft nicht friedlich nennen. Er führte erbitterten Krieg gegen die Orks aus den nordischen Ländern und verbündete sich dazu auch mit den kriegerischen Stämmen Nordmars, denen er entstammte.“
    „Richtig, Luben“, bestätigte Karras schon wieder nickend. Ferun fragte sich, ob dies eine Art Tick des Magiers war.
    „Da wir die Person Rhobar I. und seine Beziehungen nicht nur zu den myrtanischen sondern auch zu den nordmarischen Völkern letzte Woche schon ausreichend vertieft haben, soll uns diese grobe Zusammenfassung seiner ersten Herrschaftsjahre genügen. Worauf wir heute unser Augenmerk richten wollten, ist das wohl einschneidenste Ereignis seiner Zeit: Die Kreuzzüge.“
    Ferun spürte seine Aufmerksamkeit verebben. Karras war offensichtlich richtig in Fahrt geraten und erzählte ihnen lang und ausschweifend wie die Bedrohung durch die Kreaturen Beliars so groß wurde, dass die Paladine beschlossen, sich ihnen ein für alle Mal zu entledigen. Die darauf folgenden Verhandlungen zwischen der Kirche Innos und dem Königreich Myrtana sowie der beteiligten Alliierten, erschienen ihm so öde, dass Aufpassen unmöglich wurde. Erst als Meister Karras folgenden Satz sprach, horchte Ferun wieder auf: „Und nun, ehe ich euch in die Mittagspause entlasse, eine letzte Frage: Welche drei Magier führten unser Kloster zur Zeit dieses dritten Kreuzzuges?“
    Ein paar Novizen tauschten fragende Blicke, darunter Luben und Juris, auf deren Rücken Ferun die letzten drei Stunden geistesabwesend gestarrt hatte. Vielen der Novizen schien es ähnlich wie ihm ergangen zu sein, waren schlichtweg weggedämmert. Zögerlich wanderte schließlich doch noch ein Finger gen Decke: Der von Kamilla. „Xardas?“, fragte sie zögerlich.
    „Goldrichtig! Das nächste Mal sollte die Antwort mit ein wenig mehr Selbstvertrauen kommen, Kamilla“, ermunterte Karras sie, „Xardas, der kurz darauf zum Hofmagier des Königs berufen wurde und mit sechs weiteren Hochmagiern unseres Ordens in der Barriere des Minentals verschwand, war schon damals Abt unseres Klosters. An seiner Seite waren die ehrwürdigen Magier Oglius, von dem unser heutiger Abt Ulthar der direkte Nachfolger ist, und Fenius, der für seine Literatur auf dem Bereich der Feuermagie weit über das Meer hinaus berühmt war.“ Mit einem breiten Lächeln sah er in die Runde, dann klatschte er in die Hände: „So, und nun ab zum Mittagsessen!“

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    Zu wenig Eintopf

    „Und? Wie fandest du den Geschichtsunterricht?“ Terry löffelte gut gelaunt seinen Eintopf. Er und Caio hatten sich zu Ferun und Zyrus an den Tisch gesetzt.
    „Der Eintopf schmeckt heute besonders gut, du solltest ihn nicht vom Essen abhalten, sonst kriegt er keinen Nachschlag mehr“, tadelte Caio ihn und beförderte sich den nächsten aufgehäuften Löffel in den Mund.
    Ferun sorgte sich nicht um seinen Nachschlag, doch wusste er auch nicht, wie er die Frage beantworten sollte. „Nun ja“, sagte er, um Zeit zu gewinnen, „Es war nicht uninteressant, aber…“
    „Furchtbar trocken?“, versuchte Zyrus ihm auf die Sprünge zu helfen, „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass ich diesen Unterricht hinter mir hab. Ich stampfe viel lieber den ganzen Tag Weintrauben als mir von Meister Karras zum fünften Mal was über die Kreuzzüge erzählen zu lassen.“
    „Hat er sich so auf das Thema versteift?“, hakte Ferun besorgt nach. Wenn das stimmte, würde der Unterricht künftig wohl noch viel langweiliger werden.
    „Ach wo. Zyrus meinte nur, dass sich die Themen nach einer Weile halt wiederholen“, übernahm Terry das Antworten, da Zyrus sich gerade den Mund vollgestopft hatte, um sich noch den letzten Rest Eintopf aus der Schüssel nehmen zu können, ehe auch der noch an Caio verloren ging. „Das mag einerseits langweilig erscheinen, aber auf der anderen Seite ist es die einzige Möglichkeit, das Wissen zu festigen. Oder glaubst du, dass du nach heute Morgen schon alle Fragen zu den ersten beiden Kreuzzügen beantworten kannst, die Gorax dir während deiner Prüfung so stellen könnte?“
    „Karras braucht knapp ein halbes Jahr, um seinen Stoff einmal durchzubringen. Und wenn er fertig ist, fängt er halt wieder von vorne an“, erklärte Zyrus ihm das Dilemma genauer, „Wenn du also erst nach zwei Jahren Klosteraufenthalt deine Prüfung in Geschichte erfolgreich ablegst, hast du jedes Thema mindestens vier Mal von ihm vorgekaut bekommen. Und seine Prüfung ist nicht einfach, er ist sehr auf Details bedacht. Ich kann nur von Glück reden, dass ich schon von Haus aus viel Vorwissen hatte.“
    „Vor allem bei der Geschichtsprüfung ist es hilfreich, sich den Zugang zur Bibliothek schon erarbeitet zu haben“, meinte Terry. „Sonst kannst du kaum lernen, weil er dich im Unterricht nicht mitschreiben lässt. Solch wichtige Dinge müssen wir im Kopf haben, sagt er immer.“
    „Aber wenn man Zugang zur Bibliothek hat, kann man vor der Prüfung noch mal alles nachlesen und sich Notizen machen“, beendete Zyrus den Gedankengang.
    Ferun schwirrte der Kopf. So viele Informationen und hilfreiche Tipps auf einmal. Wenn er also nicht alles doppelt und dreifach hören wollte, sollte er anfangen bei Karras aufzupassen, damit er die Prüfung auch ohne Bibliothek bestand.
    Caio erhob sich und ging an die Nachbartische, um nachzusehen, ob sie dort noch Nachschlag hatten, doch heute schien noch weniger Eintopf auf den Tisch gekommen zu sein als gestern.
    „Was machen die da in der Küche?“, beschwerte Caio sich, als er sich nach seiner erfolglosen Suche wieder auf seinen Platz neben Terry setzte, „Sonst haben sie auch immer mehr gemacht.“
    Als sie alle aufgegessen hatten, machten sie sich wieder auf den Weg zum Klassenraum, wo Zyrus sich wieder nach oben verabschiedete, um weiter Wein zu keltern.
    Karras stand schon am Kopfende des Raums. Bereit, seinen Vortrag über die Kreuzzüge fortzusetzen. Ferun und Terry gehörten zu den ersten, die wieder auf ihren Plätzen saßen. Nachdem die restlichen Novizen herein getröpfelt waren und Opolos als Letzter die Tür hinter sich geschlossen hatte, begann Karras von dem dritten Kreuzzug zu erzählen.
    Ferun hatte sich gerade hingesetzt, die Hände auf dem Tisch gefaltet, und verfolgte den Feuermagier konzentriert mit seinen Augen. So bekam er mit, wie ein paar bedeutende Paladine, deren Namen er kaum ein paar Sekunden in Erinnerung behielt, zwei der Beschwörungstempel Beliars zerstörten. Als sie sich auch die anderen beiden zur Brust knöpfen wollten, seien sie aber wie vom Erdboden verschluckt gewesen und keiner hatte je wieder etwas von ihnen gesehen.
    An dieser Stelle war Christas Finger zögerlich nach oben gewandert. Karras hatte sie daraufhin mit einem wohlwollenden Nicken dran genommen.
    „Aber wurde der östliche Beschwörungstempel nicht kurz vor Beginn der vierten Ära wieder gesehen, Meister Karras? Heißt es nicht, der heutige König von Myrtana habe eine Schar von auserwählten Freunden um sich versammelt und sei mit ihnen nach Irdorath aufgebrochen, wo sie den Tempel fanden und das Übel, das in ihm hauste, vernichteten?“
    „Ja, ganz genau. Da hast du gut aufgepasst“, lobte der Feuermagier sie strahlend. „Heute gibt es nur noch einen Beschwörungstempel Beliars, der vielleicht irgendwo auf dem Morgrad immer noch auf seine Zerstörung wartet. Weißt du denn auch, was für Folgen es hätte, wenn auch dieser zerstört würde?“
    Titus, der drei Plätze links von Ferun saß, meldete sich und wurde drangenommen, als Christa nur ratlos schwieg. „Heißt es nicht, dass Beliar dann nie wieder im Stande sein wird, einen Avatar in der Sphäre Adanos zu erwählen, weil ihm dies nur mittels seiner Beschwörungstempel möglich war?“
    „So sagt es die Überlieferung, richtig“, nickte Karras. „Nun wollen wir uns aber wieder der Zerstörung der ersten beiden Tempel widmen. Für den Rest der heutigen Stunde beschäftigen wir uns mit einzelnen Personen, die eine maßgebliche Rolle bei den Kreuzzügen spielten. Nächste Woche werden wir uns dann ihr genaues Vorgehen ansehen.“
    Während Karras die bereits genannten Paladine einzeln und sehr detailverliebt vorstellte, schwand Feruns Motivation immer weiter. Der Teil über die Beschwörungstempel war ja noch interessant gewesen, aber die Schicksale irgendwelcher längst verstorbener Paladine und ihre Titel lagen genauso in seinem Interessenbereich, wie das Vertrocknen eines an Land gespülten Fisches in Varant.
    Und so zog sich der Nachmittag hin. Die Sonne wanderte dem Horizont entgegen und Ferun sah ihr durch die hohen Fenster dabei zu. Gelegentlich horchte er auf, wenn es um die legendären Waffen ging, die einige der Paladine getragen hatten.
    Als die Sonne den Himmel über den nahen Bergen schon rot färbte, beendete der Feuermagier endlich seinen Unterricht.
    Während alle Novizen sich gähnend streckten oder schwatzend erhoben, je nach dem wie stark sie während des Unterrichts weggedämmert waren, hob Ferun den Kopf von seinen Armen. Terry verabschiedete sich von ihm, weil er ja nicht mit ihm zusammen in der Weinkelterei arbeitete. Sich nachträglich streckend stellte er fest, dass der Raum schon fast leer war. Agon und Titus warteten am Fuße der Holztreppe auf ihn.
    „Ferun, kommst du bitte für einen Moment zu mir?“
    Ungläubig starrte er zu Meister Karras nach vorn. „Ich?“
    „Ja, nun komm schon“, sagte der Magier und winkte energisch mit der Hand.
    Ferun erhob sich langsam von seinem Platz und tauschte einen verwirrten Blick mit Agon und Titus, die ihren Mienen nach zu urteilen aber auch nicht wussten, was der Geschichtslehrer von ihm wollen könnte. Beim Entlanggehen der Bankreihen stellte Ferun fest, dass eine Novizin bei Karras stand und ebenso auf ihn zu warten schien wie Karras selbst.
    „Nun, für den Fall, dass ihr euch noch nicht kennen gelernt habt, in der kurzen Zeit, dies ist Hilta“, stellte der Feuermagier die Novizin vor, die ihn leise begrüßte. Er konnte nicht sagen, ob sie immer so leise sprach, oder ob sie vielleicht nervös war. Ein langer Pony fiel ihr in ein unscheinbares Gesicht und ihr Novizenrock wirkte ein wenig knitterig. Ferun zermarterte sich den Kopf, was er schon über sie gehört hatte. Irgendjemand hatte den Namen Hilta ihm gegenüber doch schon einmal erwähnt. Wenn er doch nur wüsste, wann das noch gleich gewesen war…
    „Sie kam gerade nach dem Unterricht zu mir, weil sie ein Problem hat“, fuhr Karras fort und schien Gefallen daran zu finden, die Informationen nur häppchenweise herauszurücken. Er wurde Ferun immer unsympathischer. „Sie braucht genauer gesagt Unterstützung von einem tatkräftigen Novizen. Nur für heute Abend vermutlich. Doch sie fragte mich, ob ich ihr nicht jemanden zuteilen könnte und da dachte ich mir, es wäre eine gute Gelegenheit dem Neuen einen weiteren Bereich unseres Klosters vorzustellen. Ich werde Meister Gorax die Umstände erläutern.“
    „Entschuldigen Sie, Meister Karras“, meldete sich jetzt Agon von der Treppe her zu Wort. „Ferun wird heute Abend also nicht seinen eigentlichen Job als Weinkelterer wahrnehmen können?“
    „Nein, das wird er nicht“, bestätigte der Feuermagier wieder wohlwollend lächelnd, „Ihr braucht nicht auf ihn zu warten.“
    „Ah, okay“, sagte Agon und wechselte einen verdutzten Blick mit Titus. Sie zuckten die Achseln und gingen die knarzende Treppe hinauf. Daran wie unglaublich langsam sie das taten, erkannte Ferun aber, dass sie eigentlich gern noch mehr von dem Gespräch mithören wollten. Karras tat ihnen den Gefallen jedoch nicht und wartete bis sie nach oben verschwunden waren. Nun war er mit den beiden Novizen allein in dem Unterrichtszimmer.
    „Ich denke, den Rest kannst genauso gut du ihm erklären, Hilta“, bestimmte Karras schließlich und schob die Hände in die Ärmel seiner Robe.
    „Gut“, nahm Hilta das Angebot an. „Kaja liegt immer noch mit starken Kopfschmerzen im Bett. Sie kann deshalb heute ihre Arbeit in der Küche nicht antreten. Deshalb brauchen wir Hilfe, damit es auch genug Essen gibt heute Abend.“
    Feruns Magen verkrampfte sich. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er dafür verantwortlich war, dass es heute Mittag nur so verhältnismäßig wenig Eintopf gegeben hatte. Ging es Kaja denn so schlecht?
    „Und du wirst ihren Job heute Abend übernehmen“, setzte Karras noch hinzu.
    „Ja, das habe ich schon verstanden“, entgegnete Ferun unbedacht. „Meister Karras“, schob er noch schnell nach, um es höflicher klingen zu lassen.
    „Dann solltet ihr nun keine Zeit verlieren. Es ist schon spät und allein sind Finn und Raniel in der Küche doch gewiss aufgeschmissen“, der Feuermagier klatschte beschwingt in die Hände.
    „Ja, Meister Karras. Innos sei mit euch“, verabschiedete Hilta sich und neigte zusätzlich noch leicht den Kopf, um eine Verbeugung anzudeuten. Dann wandte sie sich ab und machte sich daran, den Raum zu verlassen.
    „Äh ja, Innos sei mit euch, Meister Karras“, bemühte Ferun sich und folgte Hilta rasch.

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    Küchendienst

    Dunkle Wolken hatten sich während des Geschichtsunterrichts am Himmel zusammengebraut. Sie unterstrichen nur Feruns nagendes Gefühl, dass diese Küchenarbeit eine Art verspätete Strafe für seinen Kampf mit Kaja war. Schweigend ging er mit Hilta an den Kräuterbeeten vorbei, auf denen Babo mit drei anderen Novizen seine Arbeit begann. Verstohlen sah er zurück zu dem Turm, aus dem sie gerade gekommen waren. Zyrus und die anderen, mit denen er jetzt eigentlich Wein keltern sollte, standen an den Fenster im oberen Stockwerk und beobachteten, wie er abgeführt wurde.
    Hilta führte ihn auch an Opolos und seinen Schafen vorbei, hinein in die Passage zur Linken der Kathedrale. Auch am Speisesaal machte sie nicht halt. Sie steuerte die erste Tür dahinter an, öffnete sie für ihn und Ferun betrat zum ersten Mal die Klosterküche.
    An der rückwärtigen Wand gab es einen breiten Kamin, über dessen munter flackerndem Feuer drei große Kessel Platz hatten. Die an Ketten und Eisenhaken aufgehängten Bottiche schienen noch leer zu sein, dafür häufte sich auf der Insel aus zusammengeschobenen Tischen in der Mitte des Raumes allerlei Essbares. In der Mitte der Tischplatte standen Halterungen für große und kleine Küchenmesser und anderes Werkzeug, das hier nützlich sein konnte. An den Wänden waren schlichte Schränke aufgestellt worden, in denen vermutlich das Geschirr und haltbare Vorräte ihren Platz hatten. In einer der beiden vorderen Ecke des Raumes stand ein Waschzuber, in dem wohl das dreckige Geschirr gewaschen worden war, denn das Wasser war ganz braun und Reste des Eintopfes schwammen träge auf der dunklen Oberfläche dahin. Der hohe Raum besaß auch eine zweite Tür, die, wenn Ferun nicht alles täuschte, direkt in den Speisesaal führte.
    „Da bist du ja endlich“, empfing einer der beiden hier arbeitenden Novizen Hilta in gehetztem Tonfall. Er war damit beschäftigt, Kräuter klein zu schnibbeln. „Hat Karras Ärger gemacht?“
    „Nein, er hat uns gleich einen der beiden Neuen zur Seite gestellt“, erwiderte Hilta und machte sich mit einem Band, das sie aus einer Tasche ihres Novizenrocks hervorgezaubert hatte, einen Zopf, ehe sie sich ein Messer aus einem Ständer von der Mitte des Tisches zog. „Was habt ihr schon alles fertig?“
    „Nicht viel“, antwortete ihr der anderen Novize, der Ferun sehr an das Zerstampfen der Beeren in der Weinkelterei erinnerte. Nur schien er Kartoffeln zu zerstampfen. „Ich hab hier noch mit den letzten Kartoffeln zu tun, Raniel hat schon mit den Kräutern angefangen. Zu den Rüben sind wir noch gar nicht gekommen.“
    „Dann übernehmen wir beide die Rüben. Danke, Finn“, sagte Hilta und überreichte Ferun das Messer, das sie sich gerade genommen hatte. Sie nahm sich ein anderes und zog eine Rübe aus einem schier gigantischen Haufen der Feldfrüchte. Dann zog sie ein Brett zu sich heran. „Du musst dir Kajas Brett nehmen, sie hat es meistens dort drüben im Schrank, wenn sie es gerade nicht braucht“, erklärte sie ihm und deutete auf den Schrank, der der Tür zum Speisesaal gegenüber stand. Ferun nickte und ging auf ihn zu, musste jedoch feststellen, dass er verwirrend viele Türen hatte. Welche sollte er nehmen? Er zog die erstbeste auf und wurde enttäuscht. Statt dem Anblick eines Schneidbrettes empfing ihn ein beißender Geruch von unzähligen Gewürzen.
    „Nicht die, die da drunter“, rief Raniel ihm zu, der im Gegensatz zu Hilta nicht mit dem Rücken zu ihm stand und seine Ratlosigkeit bemerkt hatte.
    Ferun schloss die Tür also wieder und bückte sich. Kurz darauf hatte er sein Brett endlich gefunden und war damit an den Arbeitstisch zurückkehrt. Hilta hatte bereits drei Rüben in kleine Stückchen geschnitten und diese in einer Schüssel gesammelt.
    „Pass auf“, sagte sie ohne ihn anzusehen, griff nach der nächsten Rübe und demonstrierte ihm an ihr, wie er seine zu zerschneiden hatte. „Zuerst muss das Grünzeugs oben abgeschnitten werden. Nicht einfach gerade abschneiden, sonst verschwendest du entweder zu viel von der Rübe oder kriegst nicht alles mit raus. Setz das Messer an und höhl die Rübe einfach ein wenig aus. So.“ Sie machte ihm die Bewegung vor, mit der sie ein kegelförmiges Loch in den Kopf der Rübe schnitt. Sie schien aus dem Handgelenk zu kommen, doch Ferun war sich nicht sicher, ob er sie so einfach nachahmen konnte. „Dann legst du die Rübe auf dein Brett und schneidest sie einfach in kleine Würfel.“ Mit einer beachtlichen Geschwindigkeit zerschnitt sie die Pflanze zuerst in dünne Scheiben und dann in Würfel. „Alles verstanden?“
    Ferun hatte befürchtet, dass diese Frage kam. Aber was konnte er schon groß falsch machen? „Ja, ich denke, ich kanns mal versuchen“, antwortete er wahrheitsgemäß.
    „So schwer ist das nicht. Du kannst dich jedenfalls freuen, keine Kartoffeln stampfen zu müssen“, meinte der Novize aufmunternd, der sich mit seinem ganzen Körper gegen den Kartoffelstampfer stemmte. „Die sind nämlich um einiges härter als eure Beeren da oben in der Weinkelterei. Dich haben sie doch in die Weinkelterei gesteckt, oder?“
    „Ja“, entgegnete Ferun wortkarg, da er gerade damit beschäftigt war, den komplizierten Kegelschnitt von Hilta nachzuahmen. Wenn er nicht stark aufpasste, würde er abrutschen, so viel war ihm klar.
    „Wusst ichs doch. Und dein Name war?“
    „Ferun.“
    „Ach ja. Ich bin Finn. Du bist nicht gerade gesprächig, oder?“
    „Ich versuch mich auf die Rübe zu konzentrieren“, bemühte er sich zu erklären. Viel Grünzeug war bei seinem Schnitt abgefallen, einiges war jedoch auch zurück geblieben, und das Loch im Kopf seiner Rübe war längst nicht so schön ebenmäßig wie das von Hilta.
    „Ach so“, sagte Finn und schwieg.
    Das Schweigen, das nur von dem Matschen der Kartoffeln und den Schneidegeräuschen von Raniel und Hilta gestört wurde, war Ferun noch unangenehmer. Nun schien ihm jeder seiner ungelenken Handgriffe noch auffälliger zu sein.
    Nach ein paar Minuten war er endlich mit seiner ersten Rübe fertig. Sie war zwar nicht so schön gleichmäßig geschnitten wie die von Hilta, doch war sonst nichts an ihr auszusetzen, fand er.
    „Du musst schneller werden“, sagte die Küchenchefin ihm, die die Schüssel im Alleingang schon bis zur Hälfte gefüllt hatte. Ferun brach der Schweiß aus. Hastig griff er sich die nächste Rübe, warf dabei jedoch eine andere runter. Egal, schnell das Grünzeug abschneiden.
    „Die Kartoffeln sind fertig“, verkündete Finn jetzt und wischte sich mit einem schmutzig wirkenden Geschirrtuch die Stirn. Einen Moment lang beobachtete er wie Ferun sich mit seiner zweiten Rübe abkämpfte, dann meinte er in mitleidigem Ton: „Das wird nichts. Komm mal lieber mit Wasser holen, dann kann Raniel in der Zeit weiter schneiden.“
    „Das ist eine gute Idee“, fand auch Hilta und würfelte ihre nächste Rübe.
    „Aber trödelt nicht. Es sind noch genug Rüben für alle da“, mahnte Raniel.
    „Keine Sorge, wir beeilen uns ja schon.“ Finn hatte aus einem Schrank vier hölzerne Eimer herausgeholt, von denen er nun zwei Ferun in die Hand drückte. „Komm mit.“
    Dann verließ er die Küche in Richtung Innenhof und schlug den Weg zum Hinterhof ein. Ferun folgte ihm auf dem Fuße, bemüht wenigstens diesmal einwandfreie Arbeit zu leisten.
    „Wo holt ihr das Wasser eigentlich her?“, erkundigte Ferun sich, als sie an der großen Sonnenuhr vorbeikamen. „Der See ist doch bestimmt nicht sauber genug, oder?“
    „Hat dir noch keiner die Quelle gezeigt? Da kannst du dir auch deinen Trinkschlauch füllen, wenn du mal Durst hast.“
    „Quelle?“ Ferun, der zwischen den Mahlzeiten nur wenig trank war bis jetzt mit der Füllung seiner Trinkschläuche ausgekommen, die er ins Kloster mitgebracht hatte und wusste nichts von einer Quelle.
    „Ich zeigs dir, nur Geduld“, erwiderte Finn und steuerte auf eine Tür zu, die an der Rückseite des Klosters lag. Als er sie aufstieß, erkannte Ferun sofort, dass der dahinter liegende Gang direkt in den Berg gehauen war. Der Boden war hier deutlich unebener als auf dem gepflastertem Säulengang, doch schienen die Schritte von Generationen von Magieranwärtern den Stein glatt gewetzt zu haben, sodass es sich fast genauso gut darauf lief wie auf dem Pflaster draußen. Nach einigen Metern öffnete sich der Tunnel und mündete in eine kleine Höhle, in dessen Mitte ein magischer Kristallleuchter von der Decke baumelte, der sich in einem unter ihm liegenden See spiegelte. Das Wasser dieses kleinen, nicht einmal fünf Meter breiten Sees war so klar, dass man den felsigen Boden des Sees selbst in der Mitte noch scharf erkennen konnte.
    „Los, tauch deine Eimer ein“, wies Finn ihn an. „Wir müssen wieder zurück, keine Zeit, lange zu staunen.“
    Ferun hatte tatsächlich für einen Moment vergessen, warum sie hier waren und hatte Gedanken verloren zu dem Kritallleuchter empor gesehen. Er glitzerte wunderschön.
    „Ferun!“
    „Oh ja.“ Das kristallklare Wasser ließ sich nur zu kleinen Wellen ermuntern, als Ferun seinen Eimer eintauchte. Er hatte noch nie ein solches Wasser gesehen.
    Doch wie Finn ihm schon gesagt hatte, Zeit zum Trödeln blieb ihnen nicht. Langsamer als auf dem Hinweg, weil sie nun mit schweren Eimern voll Wasser beladen waren, machten sie sich auf den Rückweg den kurzen Tunnel entlang. Ferun überlegte, dass er wohl von Magie in den Stein gehauen worden war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Natur einen so perfekten Tunnel hervorgebracht hatte.
    „Du verschüttest zu viel Wasser. Wipp nicht so auf und ab beim Gehen“, nörgelte Finn.
    Ferun mühte sich sofort, gleichmäßiger zu gehen, was jedoch dazu führte, dass er nur noch langsam vorankam. Wieso hatte Karras gerade ihn zum Küchendienst verdonnert? Um dem Neuen einen weiteren Bereich des Klosters vorzustellen. Pah. Isaak war doch auch neu. Warum nicht er? Eine ungebetene Stimme in seinem Unterbewusstsein gab ihm die Antwort: Weil Isaak im Unterricht aufmerksam gelauscht hatte. Dabei hatte er selbst doch auch zugehört, die meiste Zeit zumindest. Kaja konnte jedenfalls froh sein, dass sie dank ihm ein paar freie Tage bekommen hatte.
    „Wah!“, sie hatten die Tür erreicht und Ferun war in Gedanken versunken über die kleine Erhebung gestolpert, die ihn am Übergang vom Gebirgsstein zum Pflaster erwartet hatte. Während der eine seiner beiden Eimer nur zu Boden krachte und ein wenig Wasser verspritzte, fiel der andere knarzend die Stufen zum Innenhof hinunter und verteilte seinen kompletten Inhalt im Gras.
    Ferun fluchte und rappelte sich wieder auf. Finn hätte sich wohl die Hände vorm Kopf zusammen geschlagen, wenn er nicht in jeder einen Wassereimer getragen hätte. „Hol schnell einen Neuen und komm nach. Ich geh schon vor“, sagte er knapp und Ferun glaubte etwas Gereiztes in seinen Augen zu sehen. Der Himmel war zwischen den Wolken blutrot. Es konnte nicht mal mehr eine Stunde bis zum Abendessen sein. Er schnappte sich den umgekippten Eimer, schüttete den kläglichen Rest Wasser, der noch darin war, in seinen anderen Eimer, und rannte dann den Gang in den Berg zurück zu der Quelle. Ungestüm tauchte er den Eimer erneut ein und verschwendete dieses Mal wirklich keinen Augenblick, bevor er seinen Rückweg antrat. Wieso musste er ständig alles vermasseln? Wenn das so weiter ging, würde er bald im ganzen Kloster als unsäglicher Schussel bekannt sein! Dieses Mal trat er umsichtig über den Übergang zum Säulengang hinweg. Als er gestolpert war, war ihm die Erhebung viel höher vorgekommen. Jetzt fragte er sich, wie man darüber überhaupt stolpern konnte. Er hob seinen Blick und was er sah, verschlug ihm die Sprache.
    Wulf, der Novize mit den langen, braunen Haaren, lag der Länge nach auf dem Pflaster. Ein paar Meter vor ihm der umgekippte andere Eimer. Dazwischen ein dunkler Fleck auf dem Stein, der von Wasser kündete. „Scheiße“, entfuhr es Ferun.
    „Das kannst du aber laut sagen! Was lässt du den denn auch hier rumstehen?“, fauchte Wulf ihn an. Stöhnend und eine aufgeschürfte Hand gegen die Stirn gepresst kam er wieder auf die Beine.
    „Tschuldigung, das war wirklich keine Absicht! Aber ich war so in Eile und hab dann das Wasser verschüttet und…“
    „Das interessiert mich nicht“, fuhr Wulf ihn wütend an, „Bete zu Innos um Vergebung für deine Kurzsichtigkeit und lass mich mit deinen dummen Ausflüchten in Frieden! Wenn Meister Neoras fragt, warum ich so lange weg war, werde ich keine andere Wahl haben als ihm davon zu erzählen!“ Dann schritt er erhobenen Hauptes von dannen. Ferun starrte ihm nach. Sowas Unfreundliches.
    Dann fiel ihm siedend heiß seine eigentliche Aufgabe ein. Er stellte seinen vollen Eimer dieses Mal nicht mitten im Weg sondern im Schatten einer Säule ab, schnappte sich den leeren Eimer und rannte zurück zu der Quelle. Als er zum Säulengang zurückkehrte, war der dortige Eimer immer noch mit klarem Wasser gefüllt. Nun wurde es aber wirklich Zeit. Mit den beiden schweren Eimern kam er nur langsam voran, und so verging noch eine Minute, ehe er endlich die Tür zur Küche aufstieß.
    Was er da sah, hätte ihn vor Schreck fast noch einmal einen Eimer fallen lassen. Eine Lache aus pürierten Kartoffeln erstreckte sich fast über den ganzen Küchenboden.
    „Was ist denn hier passiert?“, fragte Ferun völlig entgeistert.
    „Raniel ist mit einem Bottich Kartoffeln auf einer Rübe ausgerutscht“, klärte ein sehr gehetzt wirkender Finn ihn auf, der in Eiltempo Kartoffeln stampfte. Der Schweiß rann ihm über sein vor Anstrengung gerötetes Gesicht. „Wo warst du so lange? Ein Eimer in den rechten Kessel, den anderen teilst du auf alle drei gleichmäßig auf.“ Unwirsch wies er über seine Schulter auf den Kamin, in dem nun aus zwei Kesseln Dampf aufstieg.
    „Rutsch aber bloß nicht auf der Brühe aus“, ermahnte Hilta ihn gehetzt, „Wir haben keine Zeit, es aufzuwischen, ehe die Rüben fertig sind. Du kannst dir gleich wieder dein Messer schnappen und weiter schneiden.“
    „Ja“, sagte er, um zu zeigen, dass er alles gehört hatte. Ein mulmiges Gefühl hatte sich in seiner Magengegend breit gemacht. Nicht nur, dass es nicht gerade einfach war, nicht auf pürierten Kartoffeln auszurutschen, sondern auch weil er ziemlich genau wusste, wer die Rübe fallen gelassen hatte, auf der Raniel ausgerutscht war. Und er schätzte, dass die anderen sich auch denken konnten, wer an dem Schlamassel schuld war.

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    Rübenwirtschaft und Kursangebot nach Wahl

    Die nächste Stunde verging wie im Flug. Ferun hatte so viele Rüben klein geschnitten, wie er nur konnte. Hilta hatte das, was er zu wenig schaffte, mit einer unglaublichen Geschicklichkeit nachgeholt. Raniel war ihnen zur Seite gesprungen, sobald er mit den Kräutern fertig war, und Finn hatte einen weiteren Bottich Kartoffeln zu Brei verarbeitet. So waren zwei der drei Kessel tatsächlich pünktlich mit allen Zutaten befüllt worden, sodass sie zur üblichen Zeit fertig sein würden. An den Rüben für den dritten Kessel schnitten sie gerade noch zu viert. Den würden sie dann einfach ein wenig später und bissfester auftischen.
    „Woher habt ihr eigentlich die ganzen Rüben? Die können doch kaum alle aus dem Klosterbeet stammen“, fragte Ferun eine Weile später, als er das Gefühl hatte, nie wieder eine Rübe ansehen zu können, wenn er für heute mit ihnen fertig war.
    „Die kommen von Akils Hof“, antwortete Hilta mit ihrer leisen Stimme. „Seit er angefangen hat, den Wald zu roden, um seine Felder zu erweitern, füllt er die Vorratskammern des Klosters fast allein.“
    „Ich hab aber gehört, dass die anderen Bauern deswegen ziemlich wütend auf ihn sein sollen“, warf Raniel ein. „Der Rübenpreis ist durch das Überangebot ganz schön gesunken. Für das Kloster ist das natürlich vorteilhaft, aber die anderen Bauern, die genauso viele Rüben anbauen wie früher, nehmen nun natürlich weniger ein.“
    „Warum machen sie es dann nicht einfach genauso?“, schlug Ferun vor. Der Blick, den Raniel ihm zuwarf, machte ihm sofort klar, dass er was Dummes gesagt hatte. Seine schmalen, farblosen Augenbrauen hatten sich über der geraden Nase getroffen.
    „Wenn noch mehr Rüben produziert werden, sinken die Rübenpreise noch weiter. Das ist ein Teufelskreis, der damit endet, dass die Bauern Massen an Rüben ernten, aber keine Kupfermünze mehr dafür bekommen. Hast du noch nicht gehört, was auf Argaan passiert ist?“
    „Nein, was denn?“ Ferun kannte gerade einmal den Namen der Insel.
    „Die Bauern dort haben so viel Kohl angebaut, dass ihn niemand mehr haben wollte. Sie mussten die Preise so weit herabsetzen, dass sie ihn quasi verschenkt haben, weil er ihnen sonst in ihren Scheunen weggefault wäre.“
    „Raniels Vater ist Geschäftsmann. Hat seine eigene Handelsgaleere“, erklärte Finn beiläufig.
    „Was hat ein Geschäftsmann davon, seinen Sohn ins Kloster zu schicken“, wunderte Ferun sich. Dann wurde ihm bewusst, was er da gesagt hatte, und sah von seiner Rübe auf, um Raniels Reaktion zu beobachten. Er hatte innegehalten und betrachtete die Würfel, die von der Rübe übrig geblieben waren, die er gerade zerschnitten hatte.
    „Ich habe noch drei ältere Brüder. Mein Vater wusste, dass sein Geschäft nicht reicht, um uns allen eine Zukunft zu bieten. Er steckte mich ins Kloster, weil ich als Kind immer wollte, dass man mir die Geschichten aus der heiligen Schrift vorliest, anstatt der Abenteuer von Paladin Arthur und seinen getreuen Rittern. Er war nie viel zuhause und das war allem Anschein nach alles, was er sich über mich gemerkt hatte.“ Raniel erzählte seine Geschichte brüsk. In einem Tonfall, der klar machte, dass er nicht bereit war, weitere Fragen zu beantworten. „Wie dem auch sei. Ich bin ihm nicht allzu böse. Immerhin hab ich hier ein gutes Leben. Und eines Tages bin ich vielleicht ein mächtiger Magier.“ Er setzte ein überhebliches Grinsen auf, warf sein Messer in die Luft und fing es geschickt wieder auf.
    „Ich hab dann mal die letzten Rüben geschnitten“, bemerkte Hilta eher belustigt als vorwurfsvoll und schob die letzten Würfel in den Sammelbehälter in der Mitte des Tischs.
    Ferun, Raniel und Finn entschuldigten sich sofort bei ihr, dass sie über das Gespräch ganz vergessen hatten, weiterzuarbeiten, doch sie wollte ihre Entschuldigungen gar nicht hören. Sie füllte den letzten Topf und wies sie an, die Küche aufzuräumen.
    „Eigentlich hast du alles richtig gemacht“, sagte Finn, als er mit Ferun wieder Wasser holen musste, dieses Mal für die Waschzuber.
    „Wie meinst du das?“
    „Nun, Hilta wird dich nie wieder als Aushilfe in ihrer Küche sehen wollen!“ Finn lachte, dass es von dem Höhlengang zurückgeworfen wurde. Ferun spürte, dass er rot anlief, war dankbar für das schummrige Kristalllicht und sagte kein Wort mehr.

    Als Ferun endlich mit den anderen im Speisesaal saß, fühlte er sich so müde und erschöpft wie vielleicht noch nie. Die Arbeit in der Weinkelterei war zwar körperlich genauso anstrengend gewesen, doch immerhin weniger stressig. Er ließ seinen Blick heute nicht über die anderen Novizen in der Halle schweifen. Wulf, Kaja, Kamilla, Raniel, Finn, Hilta… Er fürchtete zu sehr, einen geringschätzigen Blick von ihnen aufzufangen.
    Für heute hatte er genug geredet. Er beteiligte sich nicht einmal an dem Gespräch, als Zyrus, Roman und Agon über Wulf herzogen, weil der wohl einen gehässigen Kommentar von sich gegeben hatte, als sie den neuen Alkohol aus der Alchemiestube geholt hatten. Er konzentrierte sich ganz auf den Eintopf. Eigentlich sah er aus wie in den letzten Tagen auch. Eine bräunliche Masse, in der nur hier und da ein Stückchen wiederzuerkennen war, doch heute ertappte er sich dabei, wie er sich gelegentlich etwas von dem Eintopf vor die Augen hielt und nach einem Stück Rübe suchte. Wenn es perfekt würfelförmig war, hatte wohl Hilta es geschnitten. Er selbst jedenfalls ganz bestimmt nicht. Und dann besah er sich eines der Kräuter, wusste genau, dass Raniel es geschnitten hatte. Und wenn er sich den Löffel dann in den Mund schob, ließ er sich den Eintopf auf der Zunge zergehen. Meinte diesen und jenen Bestandteil herauszuschmecken. Irgendwie schmeckte es ihm heute noch besser. Ob der Eintopf wirklich leckerer war oder er ihn einfach nur mehr zu schätzen wusste, das konnte er nicht sagen. Auf jeden Fall breitete sich ein wohliges Gefühl in ihm aus, das er sich nicht so ganz erklären konnte.
    „Hast du dich eigentlich schon entschieden, welchen Unterricht du morgen besuchen möchtest, Ferun?“, riss Roman ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Ferun sah auf und bemerkte, dass Roman und Agon ihn musterten.
    Zyrus ließ vor Schreck seinen Löffel in seinen Teller fallen. „Das hab ich ja ganz vergessen!“
    „Ach, er weiß noch gar nichts davon?“, wunderte sich Agon.
    „Was denn?“ Mit einem Mal fühlte Ferun sich gar nicht mehr wohl in seiner Haut. Welche unangenehme Überraschung erwartete ihn diesmal?
    Zyrus wandte sich ihm zu und begann zu erklären. „Morgen ist Unterricht nach Wahl. Die Magier bieten am Tag des Wassers vier verschiedene Kurse an, in denen man sich Fähigkeiten aneignen soll, die über das hinausgehen, was ein Magier notwendig können muss. Welchen Kurs du als erstes besuchst, ist allein dir überlassen. Sobald du die Prüfung in dem Kurs abgelegt hast, kannst du einen der anderen Kurse besuchen. Aber unterschätze den Unterricht nicht, nur weil du ihn dir selbst ausgesucht hast! Der Inhalt ist mindestens so kompliziert wie im Pflichtunterricht und die Prüfungen nicht weniger anspruchsvoll.“
    Ferun nickte, als Zeichen, dass er die Mahnung verstanden hatte, und gab sich seiner Erleichterung hin. Das war keine schlimme Nachricht gewesen. „Was für Kurse werden denn angeboten?“
    „Agon und ich besuchen den Alchemieunterricht bei Meister Neoras“, antwortete Zyrus. „Einige Tränke sind wirklich kompliziert und Meister Neoras kann ziemlich ungehalten werden, wenn man seine Zutaten verschwendet. Aber Alchemie ist besonders für Magier wirklich nützlich! Du kannst damit deine Verletzungen heilen, deine magische Kraft wieder auffüllen, dich sogar kurzzeitig schneller machen oder dich in Tiere verwandeln! Aber erwarte nicht zu viel. Die beeindruckenden Tränke sind viel zu schwierig für Anfänger wie uns.“
    „Ich bin bei Meister Marduk, direkt im Keller neben den Alchemisten“, übernahm Roman. „Er ist für die Artefakte des Klosters zuständig und erklärt uns alles über ihre Funktionsweisen und ihre Herstellung. Wir haben eine richtige, kleine Goldschmiede dort unten, wo wir Artefakte nicht nur reparieren und ihre Edelsteine wieder aufladen, sondern sogar ganz neue Artefakte herstellen, wenn der Meister mal wieder die nötigen Ingredienzien gesammelt hat. Und lass dir von Zyrus keinen Floh ins Ohr setzen: Unsere Artefakte können mindestens genauso viel wie die Tränke der Alchemisten, nur dass sie nicht weg sind, nachdem wir sie benutzt haben.“
    Zyrus warf ihm einen strafenden Blick zu, verkniff sich aber einen Kommentar. „Im Hinterhof kannst du bei Meisterin Alexia lernen, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht. Ehrlich gesagt hab ich noch nie so richtig verstanden, was einem Magier das bringt. Ein Feuerball ist schließlich viel effektiver als so ein Pfeil und schwerer abzuwehren.“
    „Als Meisterin Alexia an unser Kloster kam, waren alle anderen Lehrstühle halt schon besetzt“, warf Agon ein. „Sie hatte wahrscheinlich auch keine Idee, was sie uns sonst beibringen sollte.“
    „Und das vierte Angebot?“, fragte Ferun, da er Bogenschießen auch nicht besonders interessant fand und nicht über Alexia lästern wollte, wo sie ihm doch so herzlich vorgekommen war, als er Kaja zu ihr gebracht hatte.
    „Böse Zungen nennen es Miltens Allerlei“, sagte Roman und grinste.
    „Meister Milten ist erst seit wenigen Monaten hier. Er kam noch nach Meisterin Alexia“, fügte Agon erklärend hinzu.
    „Angeblich hat er vorher das Festland und sogar die südlichen Inseln bereist“, erzählte Zyrus. „Er bringt einem wohl was über fremde Kulturen, andere Magierzirkel, ihre Architektur und son Zeug bei. Luben ist bisher der einzige, der bei ihm zur Prüfung angetreten ist und er hat prompt bestanden. Das hat das Gerede über das Niveau seines Unterrichts nur noch beschwingt.“
    „Und? Welchen Unterricht möchtest du besuchen?“, hakte Roman gespannt nach, ohne ihm Bedenkzeit einzuräumen.
    Doch Ferun hatte sich tatsächlich schon entschieden.
    Geändert von MiMo (10.11.2017 um 16:46 Uhr)

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