Missverständnisse über eine Griechisch-Chthonische Gottheit




Singe, Oh Göttin, die Leiden der Dame Medusa
Der blauäugigen Tochter des Zeus' einstge Freundin,
von selb'ger verflucht und...


„Aufhören, herrje! Aufhören! Das ist ja nicht zum aushalten!“
Alle Blicke wendeten sich der jungen Frau zu, die auf den Dorfplatz getreten war. Der Erzähler, der die Anwesenden mit dem neuesten Schwank über die Skandälchen und Torheiten der Unsterblichen hatte belustigen wollen, verzog das Gesicht.
„Du störst!“, sagte er, „wenn Dir meine Darbietung nicht gefällt, dann verschwinde eben!“
„Es geht doch nicht darum, ob mir die Darbietung gefällt“, entgegnete die Frau, „sondern es geht darum, dass das alles vollkommen falsch ist. Erfunden und erlogen. Oder besser gesagt: In den falschen Hals gekriegt. Da hat sich jemand verhört oder das, was er gehört hat, völlig falsch verstanden.“
„Ach!“
„Ja, allerdings!“
„Und Du... Du weißt es natürlich besser?“
„Weiß ich allerdings!“
Der Erzähler schnaubte.
„Ich war nämlich dabei. Ohja, mein Lieber! Ich war dabei, als das alles passierte und kann sagen, wie das alles wirklich ablief! Und da ich weiß, dass Ihr blöden, alten, sexistischen Griechen mir nicht zuhören würdet, geschweige denn mir glauben, wenn ich Euch über diese chthonische Gottheit, die Ihr Medusa nennt, obwohl sie gar nicht so heißt, und auch keine Gottheit ist, erzählen würde, ich aber auch nicht einfach hinnehmen werde, dass über die besagte Person solcherlei Lügengeschichten verbreitet werden, belege ich Euch jetzt alle erstmal mit einem Zauber. Einem Zauber nämlich, der zu dem Thema, um das es hier geht – die angebliche griechisch-chthonische Göttin Medusa nämlich – überaus gut passt: Ein Lähmungszauber. Den finde ich hier ungemein angebracht, und es macht mir, muss ich sagen, sehr große Freude, Euch damit zu belegen. Nun, höre ich da irgendeinen Widerspruch? Natürlich nicht! Wie denn auch, wo Ihr doch alle gelähmt und also unfähig seid, zu widersprechen, gezwungen seid, zuzuhören, und zuhören also werdet Ihr!
So hört denn also, wie nicht etwa irgendeine Muse, sondern ich, nicht etwa singe, sondern bloß erzähle, in Prosa nämlich, weil ich beim Singen nicht allzu gut bin. Mein Freund Melchior singt manchmal und spielt dabei auch die Laute oder andere Instrumente, zum Beispiel Klavier oder Kontrabass, aber ich habe mich mit derlei Dingen niemals ernstlich befassen mögen. In gewisser Weise finde ich, dass... ach, entschuldigt bitte, ich schweife ab! Das hier soll ja nicht von meinen Befindlichkeiten handeln, sondern von gewissen Ereignissen im Olymp, jenem Skandal nämlich, der da ausgelöst wurde durch eine ganz und gar nicht jugendfreie Betätigung einer gewissen Freundin der Pallas Athene mit dem etwas unliebsamen Onkel derselben. Und bevor hier ein weiteres Missverständnis entsteht: Unliebsam aus Sicht der Athene, nicht aus Sicht von Athenes Freundin, die Ihr Medusa zu nennen pflegt, ein Name übrigens, den diese Dame, die übrigens ungemein schön, klug, und mächtig ist, lediglich zeitweise und zur Wahrung ihres Inkognito trug, während sie dem damals noch weit jüngeren Fräulein Athene bei deren Geschäften im Lande Myrtana half. Wo dieses Myrtana liegt oder was genau Athenes Geschäfte dort waren, das ist hier nicht weiter wichtig, liebe Leute, denn immerhin geht es ja um Medusa hier, und nicht um Athene.
Medusa also wurde, natürlich, von Athene auf den Olymp eingeladen, und ihr fielen dabei zweierlei Dinge auf: Zum einen nämlich, dass die Kleidervorschriften auf dem Olymp bei weitem formloser als im Fürstenpalast zu Geldern sind. Und zum andern, dass diese sehr legere und leichte Bekleidungsweise die körperlichen Merkmale eines gewissen Meeresgottes aufs Vorzüglichste zu betonen weiß. Insofern sollte es nicht überraschen, dass eine Dame wie Medusa auf Gedanken kam, die ich in Anbetracht der Kinder hier im Publikum lieber nicht äußere, aber Ihr wisst wohl auch so, was gemeint ist. Dass das alles ausgerechnet in Athenes neuestem Tempel stattfand, den sie Medusa natürlich UNBEDINGT zeigen musste, sowas ficht eine Frau wie Medusa doch nicht an! Und ich finde auch wirklich nicht, was daran besonders schlimm sein sollte.
Wie dem auch sei, ich kann versichern, dass es sich um ein für alle Beteiligten angenehmes und zu einem allseits erfolgreichen Ende gebrachtes Ereignis handelte. Ich sage 'für alle angenehm', und damit meine ich natürlich die Beteiligten, also Poseidon und Medusa. Athene meine ich damit natürlich nicht, die nämlich hat davon ja gar nichts mitbekommen. Die war zu dem Zeitpunkt nämlich schon aus dem Tempel herausgerannt, um ihre Lieblingseule wieder einzufangen, die ihr wieder einmal weggeflogen war. Da standen nun sie also vor dem Altar, Medusa und Poseidon, der es sich natürlich nicht hatte nehmen lassen, seine Nichte und deren Freundin zu begleiten, und amüsierten sich über Athenes Missgeschick und alsdann, nach beredtem Austausch unanständiger Blicke, übrigens dann auch nicht mehr vor, sondern eher auf dem Altar, auch aneinander. Als sie damit nun fertig waren, und Athene noch IMMER nicht zurück war, als sie sich wieder angekleidet hatten, endlich sogar ihre Frisuren einigermaßen wieder hergerichtet hatten (wobei Poseidon vor allem seinen Bart hatte richten müssen, der beim Küssen auf sehr lustige Weise kitzelt – zumal er die Orte, WO er küsst, mit einigem Bedacht zu wählen weiß!), und Athene auch DANN noch nicht wieder aufgetaucht war, beschlossen sie endlich, zu schauen, wo denn die blauäugige Nichte eines der beiden geblieben sei.
Sie fanden die junge Göttin in einigen Meilen Entfernung, im Zwiegespräch nicht etwa mit der Eule, sondern mit einem Rebhuhn. Was genau es damit auf sich hatte, gehört kaum hier hin, es sei aber so viel gesagt: Dass sich Athene leider immer noch allzu leicht ablenken lässt, und man sich manchmal wirklich fragen muss, wo sie ihren Kopf hat. Jedenfalls wurden darauf alle zur Suche nach der Eule verdonnert, was dann auch ziemlich lange dauerte, aber Athene weiß nunmal sehr effektiv zu quengeln, und einige Stunden später hatte man das blöde Mistvieh endlich wieder eingefangen und war zum Olymp zurückgekehrt.

Auf dem Olymp hat Athene natürlich ihr eigenes Häuslein. Eigentlich mag es Zeus ja nicht, dass seine Tochter alleine wohnt, weil er meint, dass eine Tochter entweder bei ihrem Vater oder bei ihrem Ehemann leben müsse. Weil das aber eine Auffassung ist, die etwa ebenso dumm ist, wie Athene klug, hält sie sich nicht daran. Und weil sie nicht nur klug ist, sondern auch ziemlich stark, so stark nämlich, dass sich die Patriarchen vom Olymp eigens einen angeblich noch stärkeren Bruder ausdenken mussten, damit wenigstens irgendein Mann, und sei es auch einer, den es gar nicht gibt, stärker sei als sie, kann ihr Vater daran auch nicht sonderlich viel ändern. In diesem Haus nun war natürlich auch ihre Freundin Medusa einquartiert, und nach dem langen Tag, an dem Athene ihrer Freundin neben besagtem Tempel auch noch eine ganze Reihe ihrer wunderlichen Erfindungen gezeigt hatte, sowie ein paar Städte, die ihr besonders am Herzen lagen, beschlossen die beiden etwas ermüdeten Freundinnen, ein Bad zu nehmen.

Das Baden ist auf dem Olymp ziemlich angenehm, muss man wissen, was übrigens zu einem nicht unerheblichen Teil an Athene liegt, deren Erfindungsreichtum so einige luxuriöse Dinge ermöglicht hat. (Unter uns gesagt: Athenes Erfindungen sind zwar ziemlich genial, oftmals aber nicht allzu pragmatisch, und wenn nicht ihr Bruder Hephaistos wäre, den ich irgendwann mit meinem Freund Melchior bekannt machen muss, weil sich die beiden prima verstehen würden, würde aus den ganzen wirren Ideen wohl kaum je etwas brauchbares entstehen. Es wäre aber nett, wenn ihr das in Athenes Gegenwart nicht allzu laut wiedergeben würdet. Und wohl auch gesünder.) Jedenfalls gibt es auf dem Olymp ein prima Kanalisationssystem, das mit Wasserdruck oder was weiß ich alle Haushalte mit fließendem Wasser versorgt, das zudem auf eine entschieden nichtmagische, obgleich im Endeffekt wie Magie anmutende Weise aufgeheizt werden kann, was letztlich ermöglicht, dass man in Athenes großer Badewanne herrliche, heiße Bäder nehmen kann! Als Seife dient dazu so ein Zeug, das Eure Götter auch essen. Weil das aber vegane Nahrung ist, und man nun wirklich nicht von einer Mahlzeit sprechen kann, wenn kein Fleisch dabei ist, bevorzuge ich doch, mich damit zu baden. Zumindest verstehe ich aber, bei der Ernährungsweise, woher Athenes Vorliebe für Süßigkeiten kommt, denn das Zeug, ich habe es probiert, ist absolut und ekelerregend süß!

Jedenfalls sitzen die gute Athene und die gute Medusa nach dem entspannenden Bade da so beisammen, erzählen sich dies, erzählen sich das, Athene probiert Medusas neuen Lippenstift aus, Medusa überzeugt sich von den Vorzügen von Athenes neuem Nagelset (dieser komische Stein, muss ich Euch sagen, ist einfach grandios, man schrubbt ein paar mal mit der einen Seite über den Nagel, dann ein paar mal mit der anderen Seite, und schon glänzen die Nägel wie frisch lackiert!), Athene bietet Medusa eine neue Frisur an, die ihr eingefallen sei... und ja, als Medusa auf Athenes hartnäckiges Einhaken endlich von dieser Affäre mit Poseidon berichtet (dem klugen Mädchen entgeht nämlich nicht viel, also war ihr natürlich aufgefallen, dass ihre Freundin an ihrem Onkel Gefallen findet), da, mag sein, war Athene vielleicht erstmal wirklich etwas ungehalten. Nicht direkt wütend, aber eben... naja, etwas ärgerlich. Aber das gab sich natürlich schnell, was wohl auch daran lag, dass die beiden über den Abend hinweg ziemlich viel von diesem als Nektar bezeichneten Zeug getrunken haben, das, wenn man es genau nimmt, einfach nur irgendein süßer Likör ist, und wenngleich auch der nicht weniger süß ist als dieses Ambrosia, so macht es zumindest soweit betrunken, dass einen die Süße auch nicht mehr weiter stört. Und ich kann Euch sagen: Trunkenheit macht Athene nicht nur sehr verzeihlich, sondern auch durchaus ziemlich obszön. Ein lustiger Abend war es allemal.

Der eigentliche Skandal also kam dann erst am Folgetag. Da nämlich war Athene dann gar nicht mehr so betrunken, und ebenso gewillt wie fähig, ihrem Onkel sehr deutlich mitzuteilen, dass sie es ganz und gar nicht mag, wenn er sich mit ihren Freundinnen herumtreibt. Was genau daran so schlimm sein soll, wie gesagt, will mir nicht in den Kopf. Ich nehme an, dass Athene die Promiskuität der olympischen Patriarchen ganz im Allgemeinen nicht sonderlich gefällt, was vielleicht ein bisschen hinterwäldlerisch ist. Der Morgen jedenfalls war nicht sehr angenehm für Poseidon, und auch Zeus, der einen Streit in seinem Hause wohl gern vermieden hätte, konnte da nicht viel tun, da seine väterliche Autorität angesichts einer verärgerten Athene sehr schnell dahinschmilzt.
Als Medusa jedenfalls, immer noch etwas verkatert vom Abend und auf der Suche nach der Freundin, in das Gespräch hineinplatzt, kippt der alte Zeus bei ihrem Anblick doch regelrecht vom Stuhl. Was sie denn mit ihren Haaren gemacht habe!, ruft er entsetzensbleich. Na, nichts, erwidert Medusa. Sie hätte eben nur keine Zeit gehabt, sich an dem Morgen zurechtzumachen. Sie will schon anfügen, das es so schlimm nicht sein werde, als ihr der Ausdruck auf Athenes Gesicht auffällt, der ein wenig zwischen Belustigung und Verlegenheit oszilliert, und voll dräuender Vorahnung lässt sich Medusa einen Spiegel reichen.

Nun, was soll ich sagen? So schlimm war es wirklich nicht, und Zeus' Kommentar, dass es so schrecklich aussähe, dass es wohl jeden Mann zu Stein erstarren ließe, kann man getrost als bodenlose Übertreibung ansehen. Der Anblick hat wirklich absolut niemanden zu Stein erstarren lassen. Und dass da mal so ein oller Priester kreischend weggelaufen ist, weil er dachte, dass die Haarsträhnen Schlangen wären, kann bloß seinen wirklich schlechten Augen geschuldet sein. Die Frisur war zwar wirklich etwas gewöhnungsbedürftig, und was Athene geritten hat, mir die Haare so zu verfilzen, das will ich gar nicht wissen. Aber, wie Ihr sehen könnt: Mittlerweile sind die Haare wieder ganz normale Locken, es ist nichts Schlangenhaftes daran. Und nichts, was irgendwen erstarren ließe, außer vielleicht vor Bewunderung vor meiner Schönheit. Oder wenn ich einen Zauber wirke. Was da an Skandal vorhanden war, war wirklich nichts, das auch nur der Rede wert wäre, und ich kann Euch versichern, dass Athene und ich immer noch gute Freundinnen sind.

Aber ach, ich sehe schon, die Sonne steht schon hoch am Himmel, und ich habe hier schon viel zu viel meiner Zeit vergeudet. Zu Fuß schaffe ich das wohl nicht mehr rechtzeitig. Naja, was solls.“
Die junge Frau wandte sich vom Dorfplatz ab, und noch in der Bewegung begann ihre Gestalt sich zu verändern, zu wachsen und sich zu verformen. Die Glieder verwandelten sich in Klauen, aus dem Rücken wuchsen ihr ledrige Flügel, die Haut überzog sich mit rötlichen Schuppen, und immer weiter wuchs die echsenhafte Gestalt, platzte aus der Kleidung, verdrängte schließlich Zäune und Hütten, und erhob sich endlich, unter mächtigem Flügelschlag, in die Lüfte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Dorfbewohner schon lange nicht mehr still und starr, sondern liefen, von dem Zauberbann befreit, in heller Aufregung wirkungslos hin und her.
Als die Gestalt sich entfernt hatte und endlich verschwunden war, kam wieder etwas Ruhe in die Dörfler, und schließlich begann man damit, die hinterlassene Unordnung aufzuräumen. Ein Geschöpf wie dieses hatte man zwar noch nicht gesehen, doch göttlichen Unfug war man gewohnt, und so gingen die Aufräumarbeiten routiniert von statten.
„Irgendwie“, dachte der Geschichtenerzähler, derweil er die Scherbe eines Tontopfes aufsammelte, auf dem irgendeine andere chthonische Gottheit abgebildet war, „sah ihr Kopf am Ende doch ein wenig schlangenhaft aus.“