Das erste was Hanna hörte, nachdem sie aus ihrem dämmernden Delirium erinnern erwachte, war ein Knall. Ein Knall, den sie als Schuss identifizierte. Jahrelang antrainiertes Verhalten ließ sie klarsehen, obwohl sie noch immer den Drang hatte sich zu übergeben. „Scheiße, was zur Hölle läuft hier?“, rief sie, den zusammengebrochenen Turianer betrachtend. Ein weiterer Trick des Killers. Sie hatten gedacht, sie könnten den Killer in die Falle locken doch nun waren sie selbst in der Falle. Van Zan krümmte sich am Boden, Sorax eierte umher wie ein kopfloses Huhn und Vhan verzweifelte an sich selbst und dem, was er angerichtet hatte. Hanna schleuderte die Raptor fort, packte stattdessen Van Zan an seinem Kragen und zog ihn zur nächsten Wand. Seine Schulter packend richtete sie ihn auf. Seine Augen waren so verdreht, dass Hanna nur das Weiß sehen konnte und sein Kinn glänzte noch immer vom unkontrollierten Speichel. „Fuck!“, brüllte Hanna ihrem Gegenüber ins Gesicht. Keiner der anderen schien verletzt zu sein – außer psychisch. „Sorax, helfen Sie Vhan“, befahl Hanna, packte den roten Turianer und zerrte ihn von seinem grausamen Machwerk fort. „Vhan!“ Die Blondine feuerte dem Turianer eine, die sich gewaschen hatte. Der Schmerz schien Beyo zumindest etwas abzulenken. „Kommen Sie zu sich, Vhan. Wir können hier nicht bleiben.“ Sie griff den Turianer und zog ihn weiter fort von der Leiche. „Sorax, herkommen. Sofort! Stützen Sie Vhan. Ich kümmere mich um Van Zan.“ Den Mann in Schwarz nahm Hanna im Gamstragegriff, den schlaffen Leib über die Schultern gelegt. Sie stöhnte, der hagere Mann war schwerer als er aussah. Vermutlich trug er noch einiges bei sich, was auf den ersten Blick nicht erkennbar war. „Los, verschwinden wir von hier.“
*
Anastasia tastete sich durch die Dunkelheit. Je tiefer sie in den Tunnel stieg, dem Gang, den sie gewählt hatte, desto finsterer wurde es. Die Seitenwände waren mehr zu erahnen, als zu sehen. Und ein Ende schien nicht in Sicht. Anfangs noch mit der Pistole im Anschlag und vorsichtig vorrückend, eilte Anastasia nun schnell atmend durch den Korridor, die Augen nach jeder tastenartigen Erhebung absuchend. Ein rhythmisches Klacken tief aus dem Innern der Station begleitete ihren hastigen Weg: *
Klonk* „Ich werde diese Ebenen nie wieder betreten“, murmelte sie leise. Darum mochte sie die interne Ermittlung: In der Regel verließ man das Revier nicht. Und wenn, dann bewegte man sich meist nur von Polizeistation zu Polizeistation. *
Klonk* „Autsch!“ Anastasias tastende Hände hatten etwas Gezacktes gestreift. „Was ist das?“, richtete sie die Frage an sich selbst, die Finger auf die Erhebung legend um sie nicht wieder an die Dunkelheit zu verlieren. Die Vorrichtung lag tief in der Wand. Anastasia betastete sie vorsichtig. *
Klonk* Es war ein Schaltmodul, unbeleuchtet und vermutlich inaktiv. „
Was soll’s. Der Versuch schadet wohl nicht?!“ Ohne zu wissen, welche Konsequenzen es haben würde, drückte die Polizistin auf die Tasten. *Klonk* Etwas im Innern der Wand summte und einen Moment später… Stille. Anastasia hielt den Atem an. Selbst das rhythmische metallene Klopfen war verstummt. Plötzlich zerriss ein knackendes Geräusch die Stille und Lichter begannen der schwarzen Wand einem aufgezeigten Fluchtweg gleich zu leuchten. Anastasia bemerkte, dass das Licht nur in die Richtung aktiv war, in der Nate wartete. Ein gutes Zeichen, wie die Polizistin fand. Auf einmal zuckte direkt neben ihr ein weißes Licht. Die Blondine betrachtete es mit eigentümlichem Interesse. Es vibrierte schwach, als wäre es in der Dunkelheit des Ganges ebenso verloren, wie sie selbst. „Ein Irrlicht“, flüsterte sie. Anastasia hatte bereits zuvor ein ähnliches Licht gesehen, ein so flackerndes, lebendes Licht und sie hatte ihm diesem Namen gegeben. Es war damals gewesen, als Anders und sie in ihre gemeinsame Wohnung gezogen waren. Am Anfang hatten sie noch in einem halbfertigen Zuhause gesessen. Die blickdichten Rollos, die das immerwährende Licht der Citadel aussperrten, waren noch nicht angebracht worden; und da war es: direkt vor ihrem Schlafzimmerfenster pulsierte das weiße Licht. Es war wohl ein defekt in der Beleuchtung der Station gewesen, aber in Zeiten der Nacht stach es klar hervor, aus Dunkelheit und verschwommenem Gleißen. Anastasia hatte Anders darauf aufmerksam gemacht, während sie in dem noch kahlen Schlafzimmer kuschelten. „Wie ein Gespenst“, hatte sie gesagt. „Ein Gespenst aus Licht?“, lachte ihr Verlobter. „Aus Sternenlicht.“ Viele Monate noch schaute Anastasia beinahe täglich nach ihrem Sternenlicht, dem Irrlicht inmitten des Weltalls. Es beruhigte sie. Meistens betrachtete sie es, wenn sie auf Anders wartete, der ihr Frühstück ans Bett brachte. Damals, als die Beziehung noch jung war. Er sang dabei immer gerne Lieder aus einer Zeit, in der Musik noch Musik war. „
Sing for your supper and you get breakfast“, gehörte zu seinen Lieblingen. Dann irgendwann verschwand das Licht und auch die Gesänge. Sicherlich hatten die Keeper den Defekt behoben. Doch noch immer erinnerte sie sich gerne daran, an das Licht und den Beginn des Rests ihres Lebens – zusammen mit Anders.
Anastasias Pupillen weiteten sich leicht. Sie spürte etwas, eine Präsenz in der Dunkelheit des Ganges auf der unbeleuchteten Seite. Direkt in ihrem Rücken. Das Weiß pulsierte mit fast hypnotischer Wirkung, doch Anastasia hob den Kopf. Ihr Nacken kribbelte, als stünden unsichtbare Finger kurz vor einer Berührung. „Instinkt“, nannten es die Polizisten, die länger dienten. Instinkt. Anastasias rechte Hand bewegte sich wenige Zentimeter zum Gürtel. „
Jetzt oder nie!“ Der Gedanke erfasste sie voller Klarheit. In einer raschen Bewegungsabfolge zuckte die Hand zur Waffe, zeitgleich spürte sie biotische Energie ihren Körper fluten während sie sich um einhundertachtzig Grad drehte. Noch bevor sie die Drehung vollendet hatte, dekomprimierte sich die Pistole in ihrem Griff. Dann knallte es laut. Anastasia spürte etwas Schweres auf ihrer Brust. Ihr Körper vollendete die Drehung, doch stoppte er nicht. Wuchtig schleuderte er weiter herum, bis sie eine Millisekunde in den beleuchteten Gang schauen konnte. Dann riss die Wucht sie von den Beinen und Anastasia schlug der Länge nach hin. Ihr blonder Kopf schlug hart auf den stählernen Boden, doch sie spürte es nicht. Rasch bildete sich aus Blutlache, ihr Ursprung: Anastasias durchschlagener Brustkorb. Das Projektil hatte sie glatt durchdrungen, hatte Aorta und Vagusnerv zerfetzt. Anastasia Nix‘ Tod dauerte nur wenige Sekunden. In denen sah sie vor den in Verwunderung aufgerissenen Augen kaum mehr als ein weißes Licht direkt vor ihr, wie es über den stahlgrauen Boden tanzte. Und sie dachte, dass sie
Musik hörte.
*
*
Klonk*
Nathan erhob sich, das Gewehr noch immer im Anschlag. Der Leib dort inmitten des Ganges aber bewegte sich nicht mehr. „Bei Ex-Spezialeinheiten sollte man aber immer vorsichtig sein“, dachte der Killer. Und Hanna Ilias hatte seinen Auftraggebern zufolge schon mehr als nur ein Attentat überstanden, eines sogar ebenfalls von einem Scharfschützen ausgeführt. Die Konsequenz damals war, dass die Agentin stinksauer wurde. Nathan hatte nicht vor, diesen Fehler zu wiederholen. Schritt um Schritt näherte er sich der Toten. Um sie herum hatte sich bereits eine Blutlache gebildet, die einen massiven Verlust versprach. Nathans Shreddermunition hatte Ilias‘ biotische Barriere glatt durchschlagen. Nathan fluchte innerlich. Warum hatte ihm niemand gesagt, dass die Agentin auch noch Biotikerin gewesen war? „
Drauf geschissen“, dachte der Killer angesichts des Leichnams. Die stand nicht mehr auf, soviel war sicher. „
Auftrag ausgeführt.“ Nathan überlegte, ob er sich auch noch um den Partner der Agentin kümmern sollte. Der hatte Nathan erst auf ihre Spur gebracht, indem er wie ein dümmlicher Streifenpolizist „C-Sicherheit“ durch die verlassenen stählernen Gedärme der Station gebrüllt hatte. Andererseits stand der heute nicht auf Nathans Speisekarte also, wieso ein Risiko eingehen? *
Klonk* Der Killer aktivierte seinen Sensor, wandte den Blick ab und machte sich auf, aus diesem Gewirr von Tunneln wieder zu verschwinden.
*
Hanna seufzte erleichtert als sie Van Zan unsanft absetzte. Nach einer gefühlten Ewigkeit war die Agentin, die neben Sorax die einzige mit klarem Verstand gewesen war, an einer verdächtig aussehenden Lucke vorbeigelaufen. Das Ding war wohl ein Wartungsschacht, der vor langer Zeit seinen Dienst versagt hatte. Kühle, frische Sternenluft wehte aus einem Spalt herein und brachte etwas Hoffnung mit sich. Trotz müder Beine hatte Hanna die Tür so lange getreten, bis die Servomotoren der Hydraulik müde aber feindselig zischten und der Behandlung schließlich kleinbeigaben. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen riesigen, lichtdurchfluteten Tunnel frei. Er war groß genug, dass Shuttles hindurchschweben konnten und Hanna war sich sicher, dass sie das auch taten. Draußen befand sich ein Steg und auf dem hatte sie Van Zan nun abgelegt. Sorax und Vhan folgten. Hanna sah sich um, konnte außer ihnen aber niemanden erspähen. Nun kehrte Ruhe ein und in Hanna kochte Wut auf. Den müden Van Zan hinter sich lassend, drängte sich an Sorax vorbei und packte den roten Turianer am Schlafittchen, zog ihn herum und drückte ihn gegen die Außenseite der Wand. „Was zum Teufel läuft hier für eine Scheiße, Sie Arschloch?“, fauchte die Blondine. Als Vhan nicht sofort antwortete, zog sie ihn ein Stück zurück und warf ihn erneut gegen das Metall. „Reden Sie, man!“