Hanna hatte die Nachricht wieder und wieder gelesen. Nachdem Craig die Wohnung verlassen hatte, hatte sich die Blondine endlich der Nachricht zugewandt, die sie schon seit einer Weile mit optischen Reizen belästigte. Hanna hatte vieles erwartet, nur keine Mail von C-Sicherheit; oder zumindest nicht so eine. Die Mail kam direkt aus dem Präsidiumsrevier, enthielt keine Vorladung sondern war ein Befehl zu einem Gespräch mit Commander Verox. Hanna wäre skeptisch gewesen, wäre die Mail nicht im Auftrag von Verox und Special Agent William Hunter abgeschickt worden. „Das muss doch alles ein schlechter Scherz sein“, murmelte Hanna leise. Sie war allein, dämpfte die Stimme aber dennoch. Dann ging sie zum Couchtisch, fischte sich eine Zigarette aus der Schachtel, kehrte rauchend zurück und las die Mail ein viertes Mal. Sie war versucht, Will anzurufen, argwöhnte aber, dass der Special Agent nicht rangehen würde. Nicht nach dieser Nachricht. Das Treffen war für morgen Früh angesetzt, sehr früh. „
Ach was soll’s. Hab ja ohnehin nichts zu verlieren“, dachte sich Hanna, rauchte auf und schaltete das Terminal auf Standby.
Hanna schlief für ihre Verhältnisse ungewöhnlich unruhig. Albträume waren für sie keine Seltenheit, eher eine traurige Dauerbelastung. Vermutlich hingen sie mit ihrem Alice-im-Wunderland-Syndrom zusammen, ausgelöst aus starker Migräne. Möglicherweise aber auch, weil sie so alles verarbeitete, was sie gesehen hatte. Albträume störten sie nicht. Sie schmeckten zwar nach dem Aufstehen bitter, verschwanden aber in dem Moment, in dem sie die Füße aus dem Bett streckte und aufstand. In dieser Nacht aber wachte sie mehrfach auf, drehte sich in ihren Decken. Ein merkwürdig drückendes Gefühl, keinesfalls physisch, belastete ihren unteren Rücken und zwang sie zu immer neuen Haltungen. Die Entspannung des Schlafes aber blieb aus. Irgendwann, vielleicht zwei Stunden bevor die automatische Zeitanzeige sie weckte, dämmerte sie weg. Entsprechend schlecht gelaunt schlurfte sie zum Badezimmer, die Haare chaotisch, die Augen nur halb geöffnet. „
Autsch!“ Hanna sprang zur Seite, wie von einer Tarantel gestochen. Statt der Spinne war es jedoch eine der Rosen, die Craig ihr am Vorabend geschenkt hatte. Die Blume war vom Tisch gefallen, ihre fiesen Dornen hatten in Hannas Augen nur auf ihre achtlosen Füße gewartet. Die Blondine fluchte, hob die Rose auf und zerbrach den Stängel in kleine Einzelteile, zerdrückte die Blüten und feuerte die Überreste auf den Tisch. Dann packte sie die restlichen Rosen, durchmaß den Raum gen Küche und klappte den Mülleimer auf. Die Technologie der Wohnung würde die Blumen in Sekunden eindampfen und als kleine Partikel dem Hausmüll zufügen. Der schwarze Schlund des Mülls gähnte Hanna entgegen, die die Hände mit den Blumen ausstreckte und in der Bewegung verharrte. Sie schaute auf die Rosen. Sie waren so schön wie am gestrigen Abend, sonderten einen süßlich-zarten Duft einer Welt ab, die Hanna viel zu selten besucht hatte. Ihre Augen huschten überlegend und ohne Ziel von links nach rechts, dann klappte sie den Müll zu und griff sich in Ermangelung einer Vase eine Glaskaraffe. Vorsichtig, als wolle sie sich für die Härte ihrer vorangegangenen Aktion entschuldigen, drapierte sie die Blumen, gab ihnen Wasser und stellte den kleinen Strauß auf eine Ablage beim Panoramafenster. Die Feinheit und Natur der Rosen bildete einen krassen Kontrast zu der grellen und sich rasch wandelnden Welt hinter dem Fensterglas.
*
„Sie haben auch überhaupt keinen Anstand, oder?“ Commander Verox knurrte Hanna über seinen Schreibtisch hinweg an, die stahlgrauen Augen in die der Blondine geschraubt. Gemeint war Hannas Aufzug. Das Treffen war als offizieller C-Sicherheits-Termin angegeben, Uniform obligatorisch. Hanna hingegen hatte es vorgezogen ein olivgrünes T-Shirt mit der Aufschrift „Navy“ anzuziehen, dazu eine Jeans die reichlich mitgenommen wirkte und schon dünne Stellen und Risse auf Oberschenkel und Knie aufwies. Ihre nach kaltem Zigarettenrauch riechende Bikerjacke unter den Arm geklemmt schaute sie zum Commander. „
Wieso? Ich bin doch Zivilistin“, giftete sie und steckte demonstrativ die Linke in die Hosentasche. „Ist das Ihr Ernst?“, fauchte Verox an Hanna gewandt. „Ist das ihr Ernst?“, stellte er die Frage dann an Will Hunter, der vor Scham das Gesicht in den Händen begrub. „Sie sind einzig und allein wegen des guten Rufs und der Fürsprache dieses Mannes hier!“, sagte Verox und deutete auf Hunter.
Das stimmte so ganz nicht, aber das wusste Hanna zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Tatsache war, dass C-Sicherheit seit einiger Zeit mit Personalproblemen zu kämpfen hatte. Anscheinend hatte sich die Citadel in den vergangenen Monaten zum Schmelztiegel intergalaktischer Kriminalität entwickelt. Mehrere Beamte waren in der Ausübung ihrer Pflicht verletzt oder gar getötet worden, was es C-Sec in einigen Bezirken erschwerte, die öffentliche Sicherheit zu wahren. Zudem hatte es in jüngster Vergangenheit mehrere Fälle von Korruption gegeben. Das war einer der Gründe, weshalb man gegen Hanna ein internes Verfahren eingeleitet hatte, aus Routine nicht aus Bosheit. Hanna hatte allerdings viele Fürsprecher bei der Behörde, angefangen bei Will. Und auch Verox konnte die Erfolge der Blondine nicht negieren. Also war er zusammen mit dem Special Agent zu einem Entschluss gekommen, denn es mitzuteilen galt.Und das fiel dem Turianer sichtlich schwer. Schließlich aber atmete er tief durch, obwohl sein Kiefer malmte.
„Wir haben beschlossen, dass Sie Ihren Dienst wieder antreten können, wenn Sie die Kündigung offiziell zurückziehen und sich formal entschuldigen.“ Der kurze Moment der Sprachlosigkeit verschwand rasch aus Hannas Leben. „
Das ist doch Bullshit.“ „Wie bitte?“ Will, der spürte, dass die Lage zu eskalieren drohte, schritt ein. „Hanna, es ist doch…“ „
Ich entschuldige mich für garnix. Ich habe nichts Falsches gemacht.“ Der Commander schnaubte. „Sie wollen wohl unbedingt gekreuzigt werden, was? Bei den Geister, Ilias, Sie sind der dümmste Menschen den ich kenne.“ „
Ach ja? Und Sie sind…“ „Hanna!“ Will sprang von seinem Stuhl auf, fuchtelte wild mit den Händen, als könne er die Worte wie Fliegen verscheuchen. Dann packte er die Blondine mit ungeahnter Festigkeit am Arm und zog sie beiseite. „Das ist ein verflucht gutes Angebot. Ich hab mich persönlich um Kopf und Kragen geredet.“ „
Das hättest…“ „Sei still!“ Die ungewöhnliche Härte in Wills Stimme brachte Hanna tatsächlich dazu, nicht weiterzusprechen. „Spring mal über deinen Schatten, meine Güte! Wenn schon nicht für dich selbst, dann für mich. Und für die Behörde. Wir brauchen dich, Hanna. Hier geht es drunter und drüber. Hast du das von diesem Serienkiller gehört?“ „
Dieser Vhan? Ja, stand heute Morgen in der Zeitung.“ „Ja. Seit dem Artikel klingelt auch im Präsidium ständig der Kommunikator. Alle wollen etwas darüber wissen, die Oberschichtler, die Diplomaten und so weiter. Jede betroffene Spezies schlägt plötzlich eine riesen Welle und die aus der obersten Etage wollen Ergebnisse sehen.“ „
Und? Wir – entschuldige, du bist doch vom Präsidium.“ „Aber wir sind das Hauptquartier. Hier laufen letztlich die Fäden zusammen. Und wir – die C-Sicherheit – müssen diesen Killer schnappen. Und zwar bald.“ „
Oh man, Will. Das ist doch bloß eine politische Abwichsnummer“, meinte Hanna und sah ihren ehemaligen Partner verärgert an. „Da gebe ich Ihnen nicht Unrecht“, sagte Verox in Hannas Rücken. Will errötete leicht. Er hatte wohl gehofft, dass der Commander die Unterhaltung nicht mitbekommen würde. Die beiden Menschen wandten sich zu dem Turianer um. „Die Politiker sind mir scheißegal. Ich bin nicht Commander dieser Abteilung geworden, weil ich immer nur tue, was die von mir wollen.“ Hanna hatte Mühe einen boshaften Kommentar herunterzuwürgen. „Aber ungeachtet Ihrer oder meiner Antipathie gegenüber denen von da Oben läuft da ein Killer herum. Und unser Job ist es, solche Typen zu fassen. Herrje, ich hab sogar was von einer Spectre-Untersuchung läuten hören. Können Sie sich das vorstellen, Ilias? Spectre, die in C-Sec Angelegenheiten rumpfuschen? Da können sie die Behörde ja gleich dichtmachen und ein Schild mit ‚Wegen Unfähigkeit geschlossen‘ an die Tür hängen.“ Die Blondine erkannte, dass der turianische Commander die Spectre-Agenten anscheinend noch weniger mochte, als Hanna. Einen kurzen Moment dachte sie nach, dachte an die vergangenen Stunden und Tage. Das Leben als Zivilistin hatte ihr nicht gestanden, nein es hatte sie förmlich runtergezogen. Sie wusste, dass sie diesen Job brauchte. Sie
war dieser Job. Nur ein innerer Stolz hielt sie davon ab, es zuzugeben. Den Kampf mit den eigenen Überzeugungen verlor schließlich Verox. Der Turianer seufzte und faltete würdevoll die Hände auf dem Schreibtisch. „Ich will – wir wollen – dass Sie wieder als Agentin arbeiten. Und wir wollen, dass Sie die Kryptogramm-Killer Sache untersuchen.“ „Mit Will?“ „Nein. Ich will Sie hier nicht mehr sehen, Ilias“, sagte Verox kalt. „Sie werden Captain Yuhki unterstellt.“ „
Dem Typen, der keine vierundzwanzig Stunde hat vergehen lassen um sich an die Presse zu wenden? Der will doch bloß berühmt werden.“ Verox seufzte erneut, diesmal schwerer. „Yuhki ist ein vorbildlicher Polizist. Vorbildlicher als manch anderer.“ Er machte eine Kunstpause um Gesagtes kommentarlos sacken zu lassen. Dann fuhr er fort: „Etwas verbohrt vielleicht, aber ein guter Ermittler.“ „Aber nicht so gut wie ich, was?“, sagte Hanna und setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf. Verox sah aus, als würde er im nächsten Moment über den Schreibtisch setzten, doch die ihm aufgezwungene turianische Disziplin hielt ihn davon ab. Stattdessen öffnete er eine der Schreibtischschubladen und holte etwas hervor, was er dann auf die Tischplatte warf. „Hier ist Ihr Sicherheitsausweis, Ilias. Ihre Pistolen können Sie sich in der Waffenkammer geben lassen. Und das Zurückziehen der Kündigung bekomme ich noch schriftlich, auch wenn Sie die schriftliche Kündigung noch gar nicht eingereicht hatten.“ Hanna klaubte den Ausweis vom Tisch und betrachtete ihn. „
Endlich“, schoss es ihr durch den Kopf. "Gut, scheiß drauf. Ich mach's und rette Ihnen den Arsch", sagte Hanna. Verox zwang sich zu nicken und nichts zu sagen. „Jetzt verschwinden Sie. Sie melden sich noch heute bei Captain Yuhki.“ Hanna sagte nichts mehr, steckte den Ausweis weg und nickte Verox zu. Der reagierte nicht, als verließ Hanna das Büro ohne weitere Umschweife, während Will in seiner Pedanterie salutierte, ehe er ging.
„Willkommen zurück“, sagte der Special Agent, während sie den Korridor von Verox‘ Büro entlanggingen. „
Danke Will. Und… danke, für deinen Einsatz.“ Will errötete leicht. „Sehr gerne. Nur schade, dass wir nicht mehr zusammenarbeiten können.“ „
Naja, vielleicht später mal. Wenn das hier alles vorbei ist.“ „Wäre schön“, sagte Will leise und mit heimlicher Sehnsucht in der Stimme. „Macht du dir Sorgen wegen den Internen?“ „
Nicht wirklich. Ich hab mich ja nicht bestechen lassen, oder so. Weißt du, wer dran ist?“ „Die Detectives Hudson und Nix.“ „
Hmm, sagt mit nichts“, konstatierte Hanna. „
Außer dieser Nix heißt Justin mit Vornamen, da war mal so einer bei den Spezialeinheiten, andere Gruppe.“ „Ist ne Frau“, sagte Will leichthin. „
Dann nicht“, sagte Hanna. Zusammen gingen sie zur Waffenkammer, wo Hanna gegen Vorlage ihres Ausweises ein Lächeln des Quartiermeistes und ihre beiden Phalanxpistolen samt Holster bekam. „Willkommen zurück, Agent. Ich wusste, dass Sie es ohne die hier nicht aushalten würden.“ „
Danke, Stinger“, sagte Hanna und klopfte auf die Ablage zwischen ihnen. Die Agentin schnürte die Holster fest, ließ den Gürtel klicken und steckte sachte die Waffen hinein. „Hanna.“ „
Hmm?“ „Du hast da was im Gesicht.“ „
Was denn?“ „Was böses.“