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    Deus Avatar von John Irenicus
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    [Battle]Laidoridas vs. MiMo




    Als Arzu einen Schrei von unten hörte, musste sie sich eingestehen, dass sie falsch gelegen hatte. Schreie hatte sie in ihrem Leben schon genug gehört, und es bedurfte keines Wissenschaftlers, um diesen einen speziellen Schrei richtig zu deuten. Der Magier hatte recht gehabt – und gleichzeitig unrecht.

    „Dann musst du Anna sein.“
    Die Angesprochene lächelte bejahend. In ihrer Dienstmädchenkleidung, mit der schwarzen Bluse und der weißen Schürze, unterschied sie sich kaum von den anderen Frauen, aber immerhin unterschied sie sich. Sie war etwas höher gewachsen, auch ein bisschen stämmiger, bewegte sich mit der nicht ganz so grazilen, aber natürlichen Anmut einer Frau aus dem Norden. Das Anführen schien ihr auf den Leib geschneidert zu sein, selbst, wenn es ums Haushalten und Kellnern ging. Gleichzeitig machte sie den Eindruck, dass sie auch kurzerhand eine Armee führen könnte, wenn es die Kriegswirren denn auf einmal notwendig machen sollten. Das konnte man von den anderen Frauen – oder Mädchen – weniger behaupten, befand Arzu: Sie alle waren in den kurzen Gesprächen nett, aufgeweckt, und durchaus tatkräftig erschienen, aber Arzu hatte in ihren scheuen Blicken gesehen, dass sie zum Wegducken erzogen waren.
    Von den gut sechs Namen – mit Anna sieben – hatte sich Arzu nur einen weiteren Namen merken können, welcher der zierlichen, blonden und für ihre Tätigkeit etwas zu stark geschminkten Frau mit den blassblauen Augen gehörte: Milena. Arzu war sie nicht nur durch ihre besonders höfliche Art aufgefallen, sondern auch durch ihren Mann, Pavel, der mit ihr immer mal wieder halb liebliche, halb zankende Flüstereien durchexerzierte, wenn Milena mal kurz Zeit bei der Vorbereitung hatte. Manchmal auch, wenn sie gerade beschäftigt war. Und auch jetzt, als sie alle um Anna versammelt waren, schlich sich Pavel, der hier im Königspalast wohl als so etwas wie ein Hausmeister bedienstet war, an Milena heran, um ihr etwas ins Ohr zu wispern. Sie winkte energisch ab, woraufhin Pavel davonzog. Das imponierte Arzu: Milena hatte ihn offenbar ganz gut im Griff.
    „Bevor es dann gleich richtig ernst wird, will ich euch nochmal einschwören“, sagte Anna. Sie hatte ihre dunkelblonden Haare zu einem schmucklosen Dutt zusammengebunden. Ihre kräftigen Wangenknochen ließen sie, wenn sie nicht gerade lächelte, sehr ernst aussehen.
    „Erst einmal vielen Dank und ein herzliches Willkommen an unseren Neuzugang. Ihr habt euch ja schon bekannt gemacht, wenn ich das richtig mitbekommen habe, aber trotzdem noch einmal für alle: Das ist Arzu, und sie wird uns heute unterstützen.“
    Arzu hatte das Gefühl, das von ihr nun etwas Bestimmtes erwartet wurde, eine Verbeugung, ein nicht ganz so forsches Hallo oder dergleichen, aber sie tat einfach nichts und hielt ihren Blick weiter auf Anna gerichtet.
    „Ich danke dir wirklich“, fuhr Anna etwas weniger förmlich fort. „Nachdem Madeleine auf einmal ausgefallen ist, dachte ich echt, die ganze Organisation steht auf der Kippe. Zu acht ist es schon auf Kante genäht, aber zu siebt wäre das unrettbar in Chaos ausgeartet. Danke, dass du so kurzfristig einspringen konntest, Arzu. Dich schickt der Himmel.“
    Arzu nickte Anna stumm zu und verzog keine Miene. Innerlich wünschte sie der Frau, die den Namen Madeleine trug, alles Gute. Mustafa schien offenbar ganze Arbeit geleistet zu haben. Und vielleicht war sie, Arzu, tatsächlich vom Himmel geschickt worden – auch wenn Ibrahim diesen Ausdruck strikt vermieden hätte, um nicht für einer von denen gehalten zu werden. Wie auch immer: Bis jetzt lief alles nach Plan.
    „Und dann passt du auch noch so perfekt in Madeleines Dienstmädchenkostüm! Mehr Glück im Unglück kann man sich nicht wünschen. Es macht auch wirklich nichts, wenn du die Abläufe nicht so kennst. Aber du hast auf jeden Fall schonmal gekellnert, sagtest du?“
    „Kellnern, putzen, die Gesellschaftsdame machen … ihr würdet euch wundern, wie lang ich die Liste noch fortsetzen könnte. Und ich glaube, einiges davon wollt ihr auch lieber nicht hören.“
    Verhaltenes Lachen aus der Runde, durchaus ein bisschen mehr als bloße Höflichkeit. Arzu fühlte sich in ihrem Eindruck bestätigt: Sie mochte die Frauen. Es war ein komisches Gefühl, unter diesen Umständen.
    „Der Punkt mit der Gesellschaftsdame wird dir nicht zum Nachteil gereichen, schätze ich … oder fürchte ich fast.“ Anna sah nun wieder sehr ernst aus. „Die anderen kennen die Leitlinien ja schon. Seid bitte freundlich, wenn ihr Essen und Getränke serviert, und seid nicht abweisend, wenn ihr von den männlichen Gästen angesprochen werdet. Dafür werden wir bezahlt. Aber: Mehr müsst ihr nicht mit euch machen lassen! Falls irgendjemand auf die Idee kommen sollte, mehr zu wollen als bloß ein unverbindliches Gespräch, dann weist ihn bitte in der Form in die Schranken, die ihr für angemessen haltet.“
    „Und was ist, wenn dieser irgendjemand der König selbst sein sollte?“
    Annas Blick ruhte eine ganze Weile lang auf Arzu, bevor sie antwortete.
    „Nun“, sagte sie dann, „hoffen wir mal, dass es nicht der König selbst sein wird.“

    Der Saal war gut gefüllt. Anna hatte mit ihren Anweisungen – wer holt was aus der Küche, wann wird welcher Tisch wie gedeckt, wer trägt die Getränketabletts, wer sind die besonders wichtigen Gäste und so weiter und so fort – gerade geendet, da waren die Gäste auch schon eingetroffen, und der Zustrom war seitdem nicht versiegt. Erst jetzt kam er so langsam zum Erliegen, glaubte Arzu – sicher sein konnte sie da allerdings nicht. Denn ebenso wie es innerhalb des Saales ein stetiges Hin und Her gab, gab es auch eines von draußen nach drinnen und umgekehrt, sodass Arzu gar nicht mehr wusste, wen sie schon gesehen und bedient hatte, wer neu dazugekommen war oder wer längst im wahrsten Sinne des Wortes endgültig bedient war. Getrunken wurde nämlich reichlich.
    Die meisten der Gäste waren dem Anschein nach Adelige und hochrangige Militärs sowie deren Anhang. Ein paar besonders schrille Vögel unter ihnen – meist waren es die Männer, die sich in den Vordergrund spielten – erweckten den Eindruck, Künstler oder Gelehrte zu sein. Arzu hatte jedoch Grund zur Annahme, dass es bei den meisten von ihnen wirklich nur der Eindruck war, den sie erwecken wollten, und weiter nichts dahinter war.
    Zwischen Lärm und Leuten hatte sich Arzu gerade wieder einen Weg über das klebrige Parkett in die Küche und wieder zurück gebahnt, um ihr Tablett mit leeren Kristallphiolen gegen eines mit undefinierbaren Häppchen einzutauschen, das ihr der Küchenchef – Angelo, den Namen hatte sie sich gemerkt – herüberreichte. Arzu zweifelte daran, ob statt der Gaumenfreuden nun nicht der allgemeine Sinn nach Sauferei stand, aber tatsächlich wurde ihr Tablett, kaum war sie wieder auf dem Parkett unterwegs, innerhalb weniger Minuten geleert – was aber vor allem an einem jüngeren Herrn lag, der gar nicht mal so beleibt, dafür aber umso betrunkener gut die Hälfte der eingebackenen vermeintlichen Köstlichkeiten für sich beanspruchte. Alles lief gut – und Arzu war froh, dass sie nicht wirklich, nicht eigentlich als Kellnerin arbeitete, sondern nur so tat, mochte es für den Augenblick auch aufs Gleiche hinauslaufen.
    Als sie sich in eine Ecke stahl, um dort von einem Stehtisch leere Karaffen und Gläser einzusammeln, wurde sie von einem älteren Herrn angesprochen, dessen weibliche Begleitung das Grauen über diesen Besuch und vielleicht auch über ihren Mann geradezu ins faltige Gesicht gemeißelt war. Der Herr sprach etwas über Varant und Zweckbündnisse, aber mehr war aus dem Gelalle nicht herauszuhören. Anna hatte ihr diesen Mann vorher, als dieser noch halbwegs nüchtern gewesen war, gezeigt: Es war Generalfeldmarschall Erich von Treden oder Troden – so genau hatte Arzu es sich nicht gemerkt –, ein zwar nicht gern, aber dafür oft gesehener, da aufgrund seiner Stellung unverzichtbarer Gast bei solchen Anlässen, zumal wenn der König zum Ball lud. Anna hatte ihnen, den Frauen, mehr pflichtgemäß denn inbrünstig eingebläut, diesen Herrn äußerst zuvorkommend zu behandeln, weil einige weitere wichtige Personen von seiner Gunst abhängig waren. Arzu beließ es ihm gegenüber bei einem freundlichen Nicken, da angesichts des Generals glasiger Augen und seiner von dauerhaftem Alkoholkonsum rot-weiß-grau gepunkteter Gesichtshaut kein weiterführendes Gespräch zu erwarten war.
    Beim Abwenden vom Herrn General war Arzu so sehr darauf bedacht, diesem keine weitere Möglichkeit zur Kommunikation mit ihr zu geben, dass sie gar nicht richtig aufpasste, wer ihren Weg kreuzte. Als sich auf einmal ein anderer Herr in den Weg schob, konnte sie beim abrupten Abstoppen das Tablett in ihrer Hand nur durch bloßes Glück noch festhalten. Mit nicht mehr nur gespielter Dienstmädchennervosität blickte sie auf und sah in das schneeweiße Gesicht eines grauhaarigen Herren in unauffälliger, gleichwohl teuer aussehenden Abendgarderobe. Er bedachte sie mit einem interessierten, gleichwohl blasierten Blick und schritt dann davon. Erst einige Zeit nach dieser Begegnung, Arzu war gerade wieder in der Küche, da erinnerte sie sich daran, was Anna ihr über diesen Mann erzählt hatte. Gustaf hieß er, mit irgendeinem typischen Adelsnamen von Myrtana, von und zu irgendwas, ein hohes Tier mit viel Landbesitz. Sollte Arzu ihn nun verärgert haben, so dachte sie, konnte es ihr aber eigentlich auch egal sein.
    Als Arzu wieder aus der Küche heraustrat, natürlich mit einem Tablett voll edler Liköre und Brände, hatte sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Menschentraube gebildet, um eine freigelassene Mitte herum, begleitet von Räuspern und Zischlauten. Arzu stellte ihr Tablett rasch auf dem nächsten Stehtisch ab, überlegte es sich dann aber noch einmal anders, nahm es wieder auf und eilte dann zu der Menschentraube hin.
    „Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte um einen kurzen Moment ihrer wertvollen Aufmerksamkeit!“
    Arzu kam näher und sah, wer in der Mitte stand und sprach. Es war ein Bediensteter des Königshauses, gekleidet wie ein Herold, der das Wort an die Gästeschaft richtete. Neben ihm stand ein unscheinbarer Mann in einer etwas zu großen Robe. Sie war rot, allerdings frei von den Abzeichen und Insignien, mit denen sich Innosdiener zu schmücken pflegten. Das musste er sein.
    „Wie bereits im Vorhinein einige von Euch erfahren haben, kommen wir nun zu einer ganz besonderen Veranstaltung an diesem Abend. Der König höchstselbst hat bereits im Thronraum der unteren Etage Platz genommen, um dem Spektakel aus nächster Nähe beizuwohnen.“
    Ein Raunen ging durch die Menge, aber Arzu hatte das Gefühl, dass es eher pflichtschuldig denn ernst gemeint war.
    „Geleitet wird die Vorführung einer vollkommen neuen Technologie durch den Mann neben mir, einem Mann, der wie wohl kaum ein Zweiter die althergebrachten Erkenntnisse der Magie mit denen der modernen Wissenschaft verbindet. Sein Name ist Fornix, und der königliche Hof ist froh, dass er unserer Einladung gefolgt ist.“
    Es folgte eine kleine Pause, die vom Sprecher wohl für einen Applaus oder sonstige Formen der Anerkennung vorgesehen war, aber dahingehend keine Ergebnisse lieferte. Es war zum Fremdschämen.
    „Wer interessiert ist, der möge uns nun ins erste Untergeschoss folgen. Die Treppe ist gleich hier. Ich bitte nur um Beeilung, denn der König ist bereits sehr gespannt, und wir wollen ihn nicht länger warten lassen!“
    Von der Menschentraube, die selbst nur einen Teil der Menschenmenge im Saal ausmachte, löste sich wiederum nur ein Teil, um dem Bediensteten und Fornix die Treppe herunter zu folgen. Arzu schätzte die Anzahl der Personen ab, sie würde sicherlich auffallen. Deshalb beschloss sie, zur Sicherheit das Tablett mitzunehmen. Für Bewirtung musste ja bestimmt auch bei so einer Vorführung gesorgt werden. Und da Anna gerade außer Sichtweite war, folgte Arzu den anderen Gästen nach unten.
    Es dauerte ein wenig, bis sich die Leute im eher schlicht gehaltenen Thronraum verteilt hatten, sodass jeder einen guten Blick auf die Mitte des Raumes hatte, wo ein simpler Tisch und ein nicht ganz so simpler Stuhl bereitstanden. Ein weiterer nicht ganz so simpler Stuhl stand auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, und dieser war sogar besetzt: Dort saß er, der König, und er trug sogar seine Krone. Flankiert wurde er von zwei Gardesoldaten, die angestrengt herumstanden. Von ihrer Position aus konnte Arzu nicht genau erkennen, wie gespannt der König wirklich war, aber seine Körperhaltung war auf eine Art und Weise entspannt, die nicht gerade großes Interesse nahelegte. Arzu fragte sich, ob die Gäste das auch so wahrnahmen oder vollkommen durch die vermeintlich königliche Aura dieses Mannes geblendet waren.
    Der Mann namens Fornix hatte in der freigelassenen Mitte des Raumes Stellung bezogen, direkt hinter dem Tisch. Arzu spürte, wie jemand beiläufig eines der Gläser von ihrem Tablett nahm, ließ sich aber nicht weiter davon ablenken.
    „Meine Herrschaften, ich bedanke mich herzlichst für Ihr Kommen“, begann Fornix mit eher dünnem Stimmchen. Ein Raunen ging durch die Runde. Arzu war zunächst verwundert, dass die Gäste anscheinend schon jetzt beeindruckt waren, obwohl noch gar nichts passiert war. Dann verstand sie aber, worum es ihnen wirklich ging: Fornix hatte den König nicht gesondert begrüßt. Das musste schon ein ziemlicher Frevel sein, den der Mann in der Robe nun wohl auch bemerkte, aber offenbar versuchte, zu überspielen.
    „Kommen wir gleich zum Punkt. Wie Sie bereits gehört haben, bin – war – ich einerseits Magier, bin aber auch Wissenschaftler. Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten meiner technologisch-magischen Studien langweilen. Stattdessen will ich das Ergebnis präsentieren. Das Ergebnis aus jahrelanger Forschung an Blitz und Donner, seien sie magischen, seien sie natürlichen Ursprungs. Meine Experimente haben mir gezeigt: Es gibt eine übergeordnete, abstrakte Form dieser Phänomene, die in nicht allzu vielen Jahren auch vom ganz normalen Bürgertum, ja selbst vom Lumpenproletariat, bei ihrem wahren Namen geführt werden wird: Elektrizität. Wir kennen sie als Magie. Wir kennen sie als Blitze am Horizont. Und schon bald werden wir sie, jederzeit frei verfügbar, als künstlich hergestellte Energiemasse kennen. Sie dürfen sich unter den Ersten zählen, die Zeuge dieses Phänomens werden!“
    Eine erneute Pause entstand. Der Raum zum Raunen blieb ungefüllt. Fornix setzte erneut an.
    „Wenn ich dann um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf! Hier vorne auf diesem Tisch sehen Sie das Modell einer Kutsche, in einem sehr kleinen Maßstab, sehr wohl aber originalgetreu nachgebildet. Bis auf einen Unterschied: Sie hat keine Pferde! So kleine Pferde kann man wohl auch nirgendwo finden, davon mal ganz abgesehen!“
    Niemand lachte. Arzu drängelte sich ein wenig weiter nach vorne, streckte dabei das Tablett aus, von dem dann und wann ein Glas entfernt wurde. Als Kellnerin hatte sie durchaus ihre Berechtigung, hier zu sein, das war gut.
    Sie sah nun das von Fornix angesprochene Kutschenmodell. Eins musste man diesem Magier, Wissenschaftler oder wie auch immer lassen: Das Modell, in etwa doppelt so groß wie ein Ziegelstein, war durchaus kunstvoll gefertigt. Aber das hatte der Magier sicher nicht selbst gemacht.
    „Lasst mich Euch versichern: In diesem Modell ist kein versteckter Mechanismus verbaut, kein kleines Helferlein sitzt in seinem Innern und keine unsichtbare Hand wird es hin und her schieben. Dieses kleine Kutschenmodell wird allein mittels der in ihm gefangenen Elektrizität, der Essenz von Blitz und Donner, fahren.“
    Pause. Luftholen. Dann weiter.
    „Natürlich sollt Ihr dies nicht einfach glauben. Deshalb habe ich vorher mit einem hochrangigen Beamten des Königs dieses Experiment vorbereitet, sodass er sich versichern konnte, dass dies kein bloßer Zaubertrick ist, keine Augenwischerei!“
    Fornix wandte sich nun zum ersten Mal zum König um. Er hoffte wohl auf Bestätigung. Der Blick des Königs schien aber beinahe durch ihn hindurch zu gehen. Arzu glaubte auch kaum, dass sich der König überhaupt Bericht hatte erstatten lassen, was dieser Fornix so getrieben hatte. Der angesprochene Beamte war auch nirgends zu sehen. Arzu bekam so langsam das Gefühl, dass sie gar nicht hier sein brauchte. Vielleicht hatten Ibrahims Informanten einfach falsch gelegen, vielleicht war hier doch nichts Großes im Gange.
    „Sehen Sie her, ich lege nur diesen Schalter um, um die in der Kutsche gefangene Elektrizität freizusetzen, und …“
    Es gab einen kleinen Klick. Fast lautlos setzte sich die kleine Kutsche in Bewegung, fuhr eine nicht ganz so gerade Linie über den Tisch, bis sie drohte von der Kante herunterzufallen und kurz davor von Fornix mit der Hand gestoppt wurde. Den kleinen Schalter an der Seite legte er wieder um, die Kutsche kam zum Stehen.
    Nun gab es tatsächlich ein Raunen im Publikum. Arzu war zwar nicht besonders beeindruckt, bekam nun aber wieder Interesse an dem ganzen Geschehen.
    „Sie staunen zu Recht!“, kommentierte Fornix, der sich jetzt offenbar im Aufwind sah.
    Aber dann ertönte ein Räuspern.
    „Eure Vorführung in allen Ehren, Herr … Fornix. Aber darf man Zweifel anmelden? Mir steht es nicht zu und es ist auch gar nicht meine Absicht, Euch als Lügner zu bezichtigen, doch ich kenne mich nun am Rande mit wissenschaftlichen Standards aus, und weiß deshalb, kritisch zu sein. Deshalb meine Frage: Wer beweist uns, dass hinter dem Ganzen nicht lediglich ein Telekinese-Zauber steckt? Für einen Mann Eurer Fähigkeiten dürfte eine simple Telekinese ja nun kein Problem darstellen, nicht wahr?“
    Zahllose Blicke richteten sich auf einen Punkt im Raum, irgendwo im Publikum. Die Stimme hatte Arzu nie zuvor gehört, und trotzdem konnte sie den Tonfall einem ganz bestimmten, ihr bekannten Aussehen zuordnen. Und tatsächlich, nach kurzem Suchen erblickte sie den Mann dieses Aussehens in der zweiten Reihe, und hatte damit ihre Bestätigung: Es war Gustaf, der Adelsherr, in den sie vorhin noch beinahe hineingerannt wäre. Seine ansonsten steife Miene hatte er nur ein wenig verzogen, aber das genügte, um ein spöttisches Lächeln zu formen.
    „Nun“, durchbrach Fornix nach einer Weile die Stille. „Wenn dem Herrn dieses Experiment nicht beliebt … ich glaube, auf die Schnelle kann ich an dieser Stelle nicht genügend Überzeugungsarbeit leisten, um auch die kritischsten aller Geister dafür zu begeistern. Indes: Für diesen Fall habe ich natürlich noch ein weiteres Experiment vorbereitet, welches noch viel unmittelbarer nachvollziehbar ist!“
    Fornix eilte vom Tisch weg und wandte sich dem Stuhl zu. Auf dem anderen Stuhl, dem Thron, hatte der König gerade seine Ellenbogen auf den Lehnen aufgestützt und den Kopf auf gefalteten Händen abgelegt. Bestimmt auch ein kritischer Geist, der nicht so einfach zu begeistern ist, dachte Arzu belustigt.
    „Sie sehen hier einen Stuhl“, sprach Fornix das Offensichtliche aus. „Aber es ist kein gewöhnlicher Stuhl. Sie sehen hier an den Armlehnen kleine Metallbahnen, wie schmale Becken, die jeweils in einem – noch – halboffenen Eisenring münden. Ferner sehen Sie am Kopfende eine kleine Haube. Alles darauf abgestimmt, um einem Menschen angelegt zu werden. Aber haben Sie keine Angst, es geht nicht darum, sie gefangen zu nehmen – allerhöchstens im übertragenen Sinne! Dieser Stuhl überträgt Energie, gespeist aus Elektrizität. So, wie die Kutsche von ihr angetrieben werden kann – mag dies auch vom ein oder anderen bezweifelt werden – kann sie auch den Menschen erfüllen und ihm zu neuen Kräften verhelfen. Nicht nur die Maschine, auch der Mensch wird von Elektrizität profitieren können. Und Sie, verehrte Herrschaften, können dies nun als Erste ausprobieren! Nun, wer möchte denn mal Platz nehmen? Vielleicht Sie, der so kritische Herr?“
    Gustaf ließ ein spöttisches Schnauben ertönen und schüttelte den Kopf. „Ich glaube“, sagte er, während er sich zum Gehen wandte, „ich bin hier fehl am Platze. Vielleicht hätte ich meine Enkel mitnehmen sollen. Für Schabernack und Budenzauber wären die sicher zu begeistern gewesen. Danke für das Angebot, aber mir steht der Sinn gerade nicht nach Sitzen. Eher nach Gehen. In diesem Sinne …“
    Gustaf schob sich durch die Menschenmenge, die bereitwillig einen Pfad für ihn schuf, und war bald über die Treppe nach oben verschwunden. Arzu konnte ihn gut verstehen, aber sie selbst wollte noch bleiben. Nicht, weil sie Fornix eine Chance geben wollte, sondern eher, weil sie es sich nicht leisten konnte, etwas Wichtiges zu verpassen – mochte es auch noch so unwahrscheinlich sein, dass hier noch etwas Wichtiges passierte.
    „Nun, da kann man wohl nichts machen“, erkannte dann auch Fornix. „Vielleicht wäre das ja die Gelegenheit für den ehrenwerten König höchstselbst, mal einen anderen Stuhl auszuprobieren?“
    Fornix drehte sich zum König um. Dieser blieb ungerührt auf seinem Thron sitzen. Arzu glaubte, ein angedeutetes Kopfschütteln bei ihm zu sehen, aber sie konnte sich auch täuschen. Sicher war: Ein „Ja“ sah anders aus.
    „Tja … bei so einem bequemen Stuhl würde ich wohl auch nicht weg wollen. Aber Sie verpassen was, Majestät! Aber gut, dann gibt es vielleicht einen anderen Freiwilligen?“
    Fornix blickte sich, den Kopf demonstrativ schwenkend, um. Niemand sagte etwas. Unterdrücktes Husten war zu hören.
    „Vielleicht … einen anderen Freiwilligen?“, wiederholte Fornix.
    Dann, nach einer weiteren unangenehmen Pause, ertönte ein eher zartes Stimmchen. Arzu brauchte nicht lange, um sie zuzuordnen – und dann sah sie Milena auch schon, wie sie langsam in die Mitte zu Fornix kam. Sie trug kein Tablett, aber ihr Mann, Pavel, war dabei, in der ersten Reihe, und sah sehr zufrieden, fast stolz aus. Arzu überlegte, ob er es war, der Milena zum Mitmachen gedrängt hatte. So wie Arzu Milena nämlich einschätzte, und so zögerlich, wie sie vorwärts trippelte, schien sie selber nicht einmal halb so große Freude an der Sache zu haben wie ihr Mann.
    „Ah, eine Bedienstete des Hauses, wie ich sehe!“, kommentierte Fornix. „Wenn das mal keine Loyalität ist, was? Wie ist Ihr Name, junge Frau?“
    „Milena“, sagte das Dienstmädchen heiser, weshalb sie sich erst einmal räuspern musste. „Milena“, sagte sie dann nochmal.
    „Ah, Milena“, wiederholte Fornix. „Kennen Sie das Gefühl, vom Alltag ganz ausgelaugt zu sein? Ich bin mir sicher, das bleibt bei so einem Beruf nicht aus! Deshalb sind Sie sicherlich auch die ideale Testperson. Nehmen Sie doch bitte einfach schon einmal auf dem Stuhl Platz, haben Sie keine Scheu!“
    Milena tat, wie ihr geheißen. Der Stuhl war ihr deutlich zu groß. Er hatte zwar keine Polster, aber trotzdem versank Milena darin. Sein Holz wirkte fast stämmiger als ihr Körper, und das Kopfende der Rückenlehne ragte ein gutes Stück über sie hinaus.
    „Sitzen Sie aufrecht, legen Sie Ihren Hinterkopf an die Rückenlehne, und platzieren Sie Ihre Arme auf den Armlehnen … ja, genau. Die Hände bitte durch die Eisenringe durchstecken … jawohl!“
    Fornix schloss nun die offenstehenden Eisenringe mit sanftem Druck um Milenas Handgelenke. Man hörte durch den ganzen Raum hallen, wie die metallene Vorrichtung einrastete. Das Unwohlsein war Milena ins Gesicht geschrieben, aber das schien Fornix nicht weiter zu stören.
    „Entspannen Sie sich … ich justiere jetzt die Haube an Ihrem Kopf. Erschrecken Sie nicht, wenn das Metall etwas kühl sein sollte.“
    Fornix griff an die am oberen Ende der Kopfstütze mit einem Draht befestigte Metallhaube, die an eine Käseglocke erinnerte, und zog kräftig daran. Es knirschte und der Draht bog sich, bis die Haube direkt auf Milenas Kopf auflag. Von Arzus Position sah es so aus, als würden Milenas Augen entweder gerade noch oder gerade nicht mehr herausschauen können.
    „Milena, was gleich passieren wird, wird Ihnen im ersten Moment etwas fremd, bald aber sehr angenehm vorkommen. Die elektrische Energie wird in sanften Impulsen durch Ihre Arme und Ihren Kopf geleitet werden und Sie mit neuer Kraft erfüllen. Aber keine Angst: Sie werden nicht nach vorne getrieben werden wie vorhin die Kutsche. Stattdessen werden Ihre Lebensgeister wachgerufen, Ihre Glieder gestärkt und Ihre Sinne geschärft. Sie werden sich erholt und voller Energie fühlen. Sind Sie dazu bereit?“
    „Ich denke … ja.“
    „Sehr gut! Wenn Sie wollen, können Sie Ihre Augen schließen, dann spüren Sie es besser. Aber Sie müssen nicht. Ich werde nun an die Rückseite des Stuhls gehen, wo Sie vielleicht – Sie bestimmt, Eure Majestät – diese gar nicht mal so mysteriöse Box festgemacht sehen. In ihr ist die Energie gespeichert, und wenn ich diese Schalterabfolge betätige, kann ich die Elektrizität durch die Haube und die Armlehnen fließen lassen … Schalter eins, Schalter zwei, Schalter drei – Energie!“
    Es gab ein leises Klacken. Mehr passierte nicht. Fornix hatte die Hände in die berobte Hüfte gestemmt und wartete gespannt. Irgendwann auch angespannt. Milena hielt die Augen geschlossen und rührte sich, abgesehen von regelmäßiger Atmung, nicht.
    „Und?“, fragte Fornix dann nach einer Weile. „Spüren Sie schon etwas?“
    „Nein.“
    Arzu hatte genug gesehen. Sie nahm das letzte Glas von ihrem Tablett und reichte es einem verdutzten Herren, beobachtete noch, wie Fornix hilflos murmelnd und gestikulierend am nutzlosen Stuhl mit der armen Milena darauf herumnestelte und wandte sich dann endgültig ab, um das Untergeschoss über die Treppen wieder zu verlassen. Sie hatte hier nichts mehr verloren. Das würde ein sehr kurzer Bericht werden.

    Der Schrei hatte Milena gehört. Das konnte Arzu bereits zuordnen, während sie die Treppen eilig wieder herunterhastete. Kaum war sie auf der letzten Stufe angekommen, ertönte ein weiterer Schrei, diesmal der eines Mannes. Vereinzelt kamen ihr nun Gäste entgegen, die Mienen vor Schrecken geweitet. Arzu löste sich von der Treppe und blickte durch den Raum. Der Thron am anderen Ende war leer, der König nicht mehr da – aber das interessierte Arzu gar nicht. Denn der Stuhl in der Mitte des Raumes war immer noch von Milena besetzt, einer zusammengesunkenen, irgendwie verbrannt aussehenden Milena. Die beiden Wächter, die zuvor noch den Thron flankiert hatten, flankierten nun sie. Oder das, was von ihr übrig war: Arzu musste nicht allzu nah heran gehen, um zu wissen, dass Milena tot war. Sie durfte es überdies auch gar nicht.
    „Halt – nähert Euch nicht dem Leichnam!“
    „Was ist passiert?“, fragte Arzu. Sie erkannte, dass Teile der Metallhaube mit Milenas Haupt verschmolzen waren. Arzu versuchte, nicht hinzusehen. Und nicht zu riechen.
    „Das wissen wir noch nicht genau“, antwortete der zweite Wachmann. „Deshalb schützen wir die Beweismittel, damit der Fall ordentlich untersucht werden kann und keine Spuren verwischt werden!“
    „Die Beweismittel?“, entgegnete Arzu, unsicher, wie empört sie wirklich war oder sein musste. „Das hier ist ein Mensch! Meine … Kollegin! Sie ist tot!“
    „Das sehen wir auch“, ergriff der erste Wachmann nun wieder das Wort. „Umso dringlicher müssen wir den Tatort vor jeglicher unbefugter Einflussnahme schützen. Wir haben die Gäste bereits angewiesen, sich zurück in den Ballsaal zu begeben. Das solltet Ihr auch tun. Kollegin hin oder her.“
    Arzu blickte sich noch einmal um, der Raum hatte sich tatsächlich fast vollständig geleert, die letzten Gäste nahmen gerade die Treppenstufen herauf. Nur in einer Ecke des Raumes sah Arzu noch einen Mann sitzen, starr an die Wand gelehnt, leichenblass und mit unbewegtem Blick. Es war Pavel. Arzu erwog kurzzeitig, zu ihm hin zu gehen und ihm irgendwie Beistand zu leisten. Sie nahm von dieser Idee aber rasch wieder Abstand.
    „Wo ist Fornix?“, fragte sie, wieder an die Wachleute gewandt.
    „Schluss jetzt mit der Fragerei!“, blaffte der erste Wachmann. Hätte er einen Speer zur Hand gehabt, er hätte dessen Stumpf nun sicher energisch auf den Steinboden gestampft. „Bitte begebt Euch zurück ins Erdgeschoss – oder wir müssen Euch notfalls mit Gewalt dorthin verbringen!“
    „Schon gut, schon gut …“
    Arzu tat wie geheißen. Es war zwar nicht so, dass es hier nichts mehr zu sehen gab – ganz im Gegenteil. Aber auch und gerade deshalb, weil sie den Anblick Milenas nicht länger ertragen konnte, machte sie sich zurück auf den Weg nach oben.
    Im Ballsaal machte die Nachricht von Milenas Tod wohl schon so langsam die Runde. Aufgeregtes Gerede und verstörte Aufschreie prägten die Menge. Allerdings hatte sich der Todesfall wohl noch nicht bei allen herumgesprochen, denn von hier und da ertönte noch vereinzeltes, deutlich zu unbeschwertes Gelächter. Dieses wurde aber alsbald von neu aufkommender Hektik und Gerufe übertönt. Es kam von der anderen Seite des Raumes, vom Treppengang nahe der Küche, der in die Vorrats- und Weinkammern führte. Arzu wollte der Sache nachgehen, da kam ihr auf halber Strecke schon der Urheber der Rufe entgegen. Weiße Schürze, nachlässig zusammengebunden, aus Bequemlichkeit keine Kochmütze auf dem Haupt: Angelo.
    „Ein Todesfall!“, rief er, als er Arzu erblickte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie gerade wiedererkannte.
    „Wie kannst du da unten so schnell davon erfahren haben?“, fragte sie verblüfft.
    „Was, wieso?“, fragte Angelo ebenso verblüfft zurück. „Er liegt doch da unten!“ Der Koch wandte sich von ihr ab und rannte weiter. „Wachen! Wachen! Ein Toter im Weinkeller! Wachen!“
    Arzu wusste nicht, wie ihr geschah, aber zum Glück flitzten ihre Beine schon von alleine über das Parkett. Die Treppe nach unten hatte sie schnell genommen, und sie erinnerte sich auch noch vom kurzen Rundgang mit Anna, welche Abzweigung sie in diesem feuchten Kellergewölbe nehmen musste, um zum Raum mit dem Wein zu gelangen. Die Tür dort war offen, Arzu blieb abrupt stehen. An einem der riesigen Holzfässer lehnte eine Gestalt, nicht stehend, nicht sitzend, nicht liegend, sondern irgendwas dazwischen. Dunkles Blut quoll aus seinem Mund und über die feine Kleidung. Es dauerte ein wenig, bis Arzu ihn wiedererkannte. Es war der Generalfeldmarschall. Erich von Traden, Treden oder Troden, das war Arzu im Moment noch egaler als ohnehin schon.
    „Bei Innos“, hörte Arzu eine Dame hinter sich flüstern. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr offenbar ein paar Leute gefolgt waren, die ebenfalls von Angelo aufgeschreckt worden sein mussten. Es dauerte nicht lange, da waren auch schon zwei Wachbedienstete am Ort des Geschehens angekommen. Es waren zwar nicht die beiden Wächter aus dem Thronsaal; diese hier unterschieden sich aber nicht groß von ihnen.
    „Fasst nichts an und entfernt Euch unverzüglich vom Tatort!“, rief einer von ihnen, während der andere Arzu und die Schaulustigen mit sanfter Gewalt aus dem Kellerraum herausschob und sich dann demonstrativ in den Türrahmen stellte.
    Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich, es wirkte wie antrainiert und war es vermutlich auch.
    Arzu sah ein, dass sie keine Chance hatte, hier unten noch weitere Informationen einzuholen, zumal nun noch drei weitere Wachmänner die Treppe herunterkamen, offenbar mit dem Plan, auch den Rest des weitläufigen Kellergewölbes zu durchsuchen. In vorauseilendem Gehorsam begab sich Arzu wieder auf den Weg nach oben, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass die drei Herren sie gerne bei ihrer Arbeit dabeigehabt hätten.
    Je näher sie dem Erdgeschoss kam, desto lauter schallten ihr die Stimmen entgegen. Spätestens, als sie oben angekommen war, war ihr klar, dass nun auch der letzte Gast mitbekommen haben musste, was los war. Vielleicht wusste auch je die Hälfte der Gäste von bloß einem Todesfall, aber das war für den Lärmpegel im Prinzip wohl auch egal.
    In der Menge erkannte Arzu Anna, wie sie gerade mit einem weiteren Wachmann und einem der anderen Dienstmädchen redete. Ähnlich wie zuvor bei Pavel spürte sie einen kurzen Impuls, zu ihnen hinzugehen, aber auch hier ließ sie es bleiben. Ihr nächster Impuls war, den Ballsaal nach draußen zu verlassen, aber als sie ihren Blick zu den Toren wandte, konnte sie beobachten, wie einem älteren Pärchen, vermutlich ein Ehepaar, der Ausgang verwehrt wurde. Sie stahl sich unauffällig näher an die Szene heran.
    „Tut uns leid“, sagte der Torwächter, der mit seinem Kollegen die Lanzen kreuzte, wohl um ihrer Anordnung den nötigen Nachdruck zu verleihen. „Wir wurden angewiesen, vorerst niemanden gehen zu lassen. Bitte kehrt in die Mitte des Saales zurück.“
    Das Ehepaar diskutierte noch ein wenig, mittels Argumenten, die sowieso keinen der Wächter überzeugen würden. Arzu wandte sich ab. Zwischen den Wächtern hindurch zu rennen erschien ihr gerade zu riskant. Ihr Treffen mit Selina würde wohl noch ein wenig warten müssen.
    Arzu blickte sich um, drehte sich fast einmal im Kreis. Um sie herum aufgeregte Menschen. Eine totes Dienstmädchen. Ein toter General. Verschwundene Personen. Sie spürte, wie ihr der Tod Milenas auch persönlich nahe ging. Dieser Generalfeldmarschall konnte leben oder sterben, das machte ihr nichts aus. Aber Milena, auf diesem Stuhl … Ibrahim mochte das alles nicht vorhergesehen haben. Aber in einem Punkt hatte er von Anfang an recht behalten: Immer wenn die Myrtaner etwas Neues erfanden, folgte daraus früher oder später der Tod eines Menschen. Mindestens eines Menschen.

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Der Geruch hatte fünf Tage lang über der Stadt gelegen, und er war sehr plötzlich gekommen. Am Morgen noch waren die ersten nässenden Beulen unter dem Federkleid eines stummen Tieres mit stumpfem Blick gefunden worden, am Abend schon hatten drei weitere Höfe im Umland Vengards den Befall gemeldet. Fünfzig Hühner am ersten Tag, zweihundert am zweiten. Am dritten Tag hatte man das Zählen aufgegeben. Man hatte rasch gehandelt, aber fünf Tage lang war die Seuche nicht aufzuhalten gewesen. Fünf Tage lang waren dicke, schwarze Raupen aus Rauch über den Himmel gekrochen. Fünf Tage lang hatte der Wind den beißenden Gestank verbrannten Fleisches durch die Straßen der Stadt getragen. Zander hatte bereits am ersten Morgen geahnt, dass es ein Zeichen sein mochte. Er hatte es geahnt, aber einmal mehr hatte er es nicht zu deuten gewusst. Erst jetzt, da ihm der Geruch ein weiteres Mal in der Nase lag – der gleiche Geruch, aber unmittelbarer und tausendfach bohrender, als hätte ihm jemand ein Büschel Watte aus den Nasenlöchern gezogen – erst jetzt hatte er Gewissheit darüber, was ihm das Zeichen angekündigt hatte. Jetzt, da es zu spät war, um Einfluss zu nehmen. Zander wusste nicht, welcher der Götter es war, der ihm diese Zeichen sandte, aber mittlerweile war er überzeugt davon, dass er sie nicht als Hilfestellung missverstehen durfte. Sie wurden ihm einzig und allein zu dem Zweck vorgesetzt, ihm das Gefühl zu geben, dass er etwas hätte ändern können, wenn er bloß rechtzeitig begriffen hätte. Spott, dachte Zander müde. Nichts als Hohn und Spott.
    „Der König ist verschwunden“, wiederholte er. Ein Satz, der genauso tödlich für ihn sein konnte, wie es der teuflische Stuhl für das Küchenmädchen gewesen war. Die noch immer dampfende Metallkruste ließ die Schädeldecke des schwarz verkohlten Frauenkopfes glänzen wie einen Edelstein, und für einen kurzen, schwerelosen Moment fand sich Zander in ihrer verbrannten Haut wieder, das Wehklagen des jüngst weggeschafften Ehemanns im Ohr.
    „Hauptmann, wir können es uns selbst nicht erklären – die ganze Zeit standen wir gleich neben dem Thron –“
    Henks Stirn glühte unter einer Schicht heißen Schweißes, und dem etwas höher gewachsenen Svensson erging es kaum besser.
    „Er kann nicht einfach so verschwunden sein.“
    „Aber genauso war es!“ Svensson gab sich alle Mühe, Haltung zu bewahren, aber sein Blick sprach Bände. Zander konnte die Todesangst darin sehen. „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was hier los war, als dieses... ganze Zeug am Stuhl plötzlich losgegangen ist! Es hat gezischt und geblitzt, und alles war verqualmt – wir haben vielleicht beide ganz kurz nicht auf den König geachtet, aber höchstens für eine Sekunde –“
    Henk hatte den Bericht seines Kollegen mit nervösem Nicken begleitet und fügte hastig hinzu: „Höchstens ein Augenzwinkern lang. Und dann war’s schon passiert. Der König... weg. Verschwunden.“
    „Leider haben sie wohl recht“, mischte sich eine gedämpfte Stimme in das Gespräch ein. Gary war einer der dienstältesten Männer der Palastwache. Tatsächlich stand er sogar länger in den Diensten des Königs als Zander selbst, und nicht wenige fragten sich, wieso es nicht Gary gewesen war, den man zum Hauptmann befördert hatte, nachdem es mit dem alten so ein unrühmliches Ende genommen hatte. Insgeheim zählte sich auch Zander zu diesen Leuten. Nicht einmal die Ereignisse des Abends hatten Garys eisernen Blick erschüttern können. Dabei mussten ihn die gleichen Ängste plagen wie alle anderen Wachmänner, die das Verschwinden Seiner Majestät König Letis I. tatenlos hatten geschehen lassen.
    „Ich stand hier drüben, als es passiert ist.“ Gary deutete auf eine Stelle an der Wand gleich neben der Treppe, die hinauf zum Ballsaal führte. „Es war eine unübersichtliche Situation. Alle riefen durcheinander, der Blick auf den Thron war vom Qualm versperrt. Als ich gesehen habe, dass der König nicht mehr auf dem Thron sitzt, dachte ich im ersten Moment, einer von uns hätte ihn vielleicht in Sicherheit gebracht. Vermutlich werden die meisten Gäste das noch immer denken. Aber er hätte den Raum nicht verlassen können, ohne dass ich es bemerkt hätte: Den Durchgang zum Ostflügel hatte ich die ganze Zeit im Sichtfeld, und die Treppe natürlich auch.“
    „Ein Glück, dass sich die Sache noch nicht herumgesprochen hat.“ Zanders Blick glitt über die angespannten Gesichter seiner Vertrauten. Im abgesperrten Thronraum waren neben Gary, Henk und Svensson außerdem Bryce und Glenn anwesend, mit denen er bereits zusammen in der Belagerungsschlacht von Trelis gekämpft hatte. „Eine Panik ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Erst recht nicht, solange wir die Leute hier festhalten. Niemand darf davon erfahren, bis wir Genaueres wissen, verstanden?“
    „Henk und ich haben uns alle Mühe gegeben, uns nichts anmerken zu lassen“, sagte Svensson. „Die meisten haben aber nur nach Fornix und der Toten gefragt. Auf den König haben in dem Moment wohl die wenigsten geachtet.“
    „Natürlich nicht, bei so einer Ablenkung“, murmelte Zander. „Das wird kaum ein Zufall gewesen sein. Wo ist dieser Fornix jetzt?“
    „Ich habe ihn unverzüglich in den Kerker bringen lassen“, gab Gary zu Protokoll. „Er behauptet natürlich, dass alles nur ein schrecklicher Unfall war, dass er vom Verschwinden des Königs gar nichts weiß... aber wie Ihr schon sagt, die Sache ist eindeutig. Das ganze Spektakel war wohl nur dafür gemacht, damit alle im entscheidenden Moment nicht richtig hinsehen.“
    „Mag sein“, meldete sich Glenn zu Wort. „Aber selbst, wenn Fornix den König hat verschwinden lassen, dann kann er ja nicht gleichzeitig den Generalfeldmarschall von Tronten ermordet haben, oder?“
    Zander konnte ein kleines, gequältes Stöhnen nicht unterdrücken. Es gab so vieles, das seiner Aufmerksamkeit bedurfte. So viele Dinge, die nicht richtig zusammenpassen wollten. Wenn es Fornix wirklich geschafft haben sollte, den König an einen anderen Ort zu teleportieren, wieso war er selbst dann zurückgeblieben, um sich einkerkern zu lassen?
    „Der Mörder des Marschalls ist in jedem Fall noch irgendwo hier im Palast, und Fornix ist womöglich nicht der einzige, der etwas mit dem Verschwinden des Königs zu tun hat.“ Zander würde sich mit einigen Leuten eingehend unterhalten müssen – allen voran natürlich mit dem Wissenschaftler und den Amtsträgern, die in die Organisation seines verhängnisvollen Auftritts verwickelt gewesen waren. Zunächst aber war es höchste Zeit für ein paar Befehle. „Glenn, ich brauche eine Liste mit den Namen aller, die heute Abend hier sind – Gäste und Bedienstete. Bryce, geh zum Feuertempel und hol Meister Cano her, damit er diesen Raum auf Spuren eines Teleportzaubers untersuchen kann. Aber nur ihn, ja? Je später sich der Orden einmischt, desto besser. Gary, sieh zu, dass die Situation im Ballsaal ruhig bleibt, solange ich mit den Befragungen beschäftigt bin. Und ihr beiden...“
    Beim Blick in die Gesichter Svenssons und Henks dachte er nur kurz darüber nach, welcher Befehl diesen beiden wohl noch zuzumuten war.
    „Geht nach oben und holt euch was Hochprozentiges. Keine Widerrede.“

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Kurz vor seinem Durchbruch hatte er sämtliche Bereiche seines Lebens ausgeblendet, die nichts mit der Erforschung der Elektrizität zu tun hatten. Da es noch nie eine Frau lange mit ihm ausgehalten hatte, war er auch in dieser entscheidenden Phase seines Lebens mal wieder bar jeder Stimme der Vernunft gewesen. Die Folgen hatte er erst bemerkt, als es ihm gelungen war, das erste Modell seiner elektrisch angetriebenen Kutsche quer durch seine Wohnung surren zu lassen. Das Stroh seines Bettes war verschimmelt, genau wie die letzten Überreste seiner Lebensmittel, von denen er sich nicht erinnern konnte, wann er sich ihrer zuletzt bedient hatte. Das Wasser in der Waschschüssel war trüber als das Hafenwasser von Vengard und seine drei Nachttöpfe quollen allesamt über vor Unrat.
    Der einzige Unterschied zu seiner jetzigen Unterbringung schien ihm abgesehen von der mangelhaften Beleuchtung in Form einer einzigen Fackel an der Wand gegenüber, die bittere Kälte zu sein, die vermutlich auch tagsüber nicht milder wurde. Der dritte und vermutlich ärgerlichste Unterschied zu seinem Labor war aber das schmiedeeiserne Gatter, das es ihm unmöglich machte, das Verlies im Untergeschoss irgendeines Eckturms des Landsitzes zu verlassen.
    „Eeeey, Neuer! Was’n da oben überhaupt los? Erzähl mal!“, wurde er abrupt daran erinnert, dass es noch einen vierten Unterschied zu seinem Labor gab, der dem dritten an Unannehmlichkeit ohne Probleme das Wasser reichte: Er war nicht allein. Zwei grobschlächtige Typen von dem Schlag, den er noch nie außerhalb dunkelster Gassen erblickt hatte, saßen direkt hinter ihm und beanspruchten die saubersten Flecken des Verlieses für sich, obwohl es ziemlich sicher ihnen anzulasten war, dass der übrige Platz mit einer undefinierbaren, schmierigen Schicht überzogen war. Sie hatte man mit Ketten an der Wand fixiert. Ihn jedoch schien man ohne seine Runen und Erfindungen für ungefährlich zu halten.
    „Spucks aus!“, brüllte sein zweiter Zimmergenosse los. „Wenn Stiff dich was fragt, dann antwortest du oder ich brech dir jede Rippe einzeln, bis wir die Antworten in deinem aufgeknackten Kopf lesen können!“
    Fornix wusste nicht, wie gebrochene Rippen zu einem Schädelbruch führen sollten, bezweifelte dass einer der beiden lesen konnte, und doch war die Botschaft hinter der albernen Drohung bei ihm angekommen. Ein einsamer Soldat, der vierte und letzte Mensch in diesem Kellergeschoss, stand mit verschränkten Armen neben der Fackel an die Wand gelehnt und starrte triefäugig ins Leere. Ihm war offensichtlich egal, ob der jähzornige Typ seine Drohung in die Tat umsetzte. Fornix tippte auf eine Mischung aus Sumpfkraut und der Resignation, die eine stagnierende Karriere mit sich brachte. Ihm schien jedenfalls nichts weiter übrig zu bleiben, als sich den Wünschen der beiden Halsabschneider zu fügen. „Der König hat zu einem großen Fest auf seinem Landsitz eingeladen.“ Es war eine der vielen Situationen in seinem Leben, in denen er sich wünschte, dass seine Stimme nicht so lächerlich dünn war. „In der großen Halle geben sich gegenwärtig die meisten Adligen und besser Gestellten des Rausches und der Völlerei hin.“
    „Alter, ich rall gar nicht, was der da sagt, Pommo!“, jammerte Stiff. „Wie kann man denn besser stellen als… als normal halt.“
    „Das ist nur’n anderes Wort für, wenn man auf die gleichen Feste geht wie der König“, antwortete Pommo gereizt.
    „Dann ist der da auch besserstellt?“ Stiff wies mit einer fetten Hand auf den Magier vor sich. Die Zelle war so klein, dass der Finger ihn fast berührte. Fornix unterdrückte den Impuls, noch eine Handbreit weiter von ihm abzurücken.
    Pommo runzelte die Stirn und schien komplizierte Überlegungen anzustellen. „Ja… und dann hat der Kerl auch Geld.“
    „Blödsinn. Mir ist natürlich alles abgenommen worden“, widersprach Fornix rasch. Er konnte gut darauf verzichten, dass sie ihm in den Taschen rumwühlten. Er warf der desinteressierten Wache noch einen zweiten Blick zu. Wie lange würde es noch bis zu seiner Ablösung dauern? Er hatte damit gerechnet, dass seine kleine Vorführung ihn direkt in den Kerker bringen würde, doch auf solch rauflustige Zellengenossen hatte er nicht spekuliert.
    Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten. Drei Jahre war seine bahnbrechende Entdeckung nun her. Und noch immer interessierte sie niemanden in Myrtana. Nicht die Adligen. Nicht die Magier. Und auch nicht die Alchemisten oder auch nur das einfache Volk. Er hatte ihnen die Elektrizität immer und immer wieder demonstriert, doch jegliche aufkeimende Bewunderung für ihn war stets von Skepsis im Keim erstickt worden. Doch heute war ihm endlich der Durchbruch gelungen. Heute hatte er bewiesen, dass die Elektrizität der Magie Möglichkeiten eröffnete, die sich noch nie jemand zu erträumen gewagt hatte. Ibrahim hatte gewiss einen Spion eingeschleust, um die Vorführung zu beobachten. Und nun da er, Fornix, seinen Wert für Varant bewiesen hatte, würde Ibrahim alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn hier rausholen. Aber wie lange würde das dauern? Würden seine Leute kommen bevor oder nachdem Stiff und Pommo ihm zu nahe gekommen waren? Wie gut, dass er sich nicht auf ihre Hilfe verlassen hatte.
    Endlich hörte er Schritte auf der steinernen Wendeltreppe. Mit einem Seufzer der Erleichterung stieß sich die triefäugige Wache von der Wand ab und bemühte sich einen aufmerksamen Eindruck zu machen, als seine Ablösung mit einer Fackel den Raum betrat. Die Fackel wechselte den Besitzer und Schritte entfernten sich wieder nach oben. Die neue Wache verschränkte auf ganz ähnliche Weise die Arme wie die vorherige. Ihr Blick traf sich mit dem von Fornix. Und Fornix erkannte, dass er gerettet war. Die Wache wartete noch eine Weile, nachdem die Schritte des anderen nicht mehr zu hören waren, dann trat er an die Zellentür und sperrte auf.
    „Pommo! Was will der von uns? Der hat kein Essen!“, rief Stiff aufgeregt.
    Fornix trat aus der Tür, die die Wache für ihn aufhielt. Es war Kolga. Ein Opfer jener Resignation, die Fornix auch schon seinem Vorgänger diagnostiziert hatte. Und vom Schicksal mit einer schwerkranken Schwester geschlagen. Die Ketten mit denen Stiff und Pommo an die Wand gekettet waren, rasselten als sie aufsprangen. „Wir wollen auch raus! Ich reiß euch allen den Arsch auf, wenn ihr uns nicht…“
    Doch Kolga hatte Fornix ein Bündel Schriftrollen überreicht, das er ihm im Vorfeld zugespielt hatte. Weiße Funken breiteten sich in der Zelle aus, als er seine unliebsamen Bekanntschaften ins Reich der Träume schickte. Lärm konnten sie nun überhaupt nicht gebrauchen.
    Kolga schloss die Zellentür wieder ab. Anschließend nahm er die Fackel aus ihrer Verankerung. „Ihr werdet meiner Schwester doch wie versprochen helfen, nicht wahr?“, fragte er nervös.
    „Bei den Göttern, ich werde alles in meiner Macht stehende tun“, beruhigte Fornix ihn und schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln.
    Alles war nach Plan verlaufen. In Varant würde man ihm endlich den Respekt zollen, den er verdient hatte. Schließlich hatte er ihnen den myrtanischen König direkt in den Schoß gelegt.

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Zander war für gewöhnlich gern in den schmalen, spärlich beleuchteten Gängen unterwegs, die sich durch die unterirdischen Geschosse des Ostflügels schlängelten wie vielfach verzweigte Tunnel einer Minecrawlerkolonie. Die angenehme Kühle der Mauern und die fast vollkommene Stille, in der sich lediglich bei genauem Hinhören das brummende Murmeln der tiefen Erde wahrnehmen ließ, machten ihn manchmal vergessen, dass es über seinem Kopf noch immer eine Welt gab, um die er sich zu kümmern und sorgen hatte. An diesem Abend allerdings konnte er nichts weniger ertragen als diese zwei, drei Minuten der Einsamkeit, in denen alles Beängstigende mit Macht auf ihn niederkam. Und über seinem Kopf, das war nicht zu vergessen, saß im obersten Stockwerk des Palastes die Königin, eingeschlossen hinter drei eisernen Riegeln und einem Berg aus Kissen, und wusste von nichts. Insgeheim hoffte Zander, dass jemand anderes es ihr sagen würde, aber er machte sich nichts vor. Niemand würde sich von selbst an ihre Pforte wagen, und er war nicht herzlos genug, um einen entsprechenden Befehl zu erteilen. Er würde es selbst tun müssen, irgendwann in dieser Nacht.
    Als sich Zander dem Kerker näherte, hatte es mit der Ruhe vorerst ein Ende. Ein gutes Dutzend seiner Männer hatte sich im nicht besonders geräumigen Wachzimmer versammelt und redete in aufgeregter Anspannung durcheinander, bis der Erste bemerkte, wer gerade den Raum betreten hatte.
    „Was macht ihr alle hier?“, setzte Zander dem Gespräch ein unwirsches Ende. „Oben wird jeder Mann gebraucht.“
    „Wir bewachen den Gefangenen, Hauptmann“, erklärte Lennart, einer der jüngsten Neuzugänge der Palastwache. Zander hatte häufiger den Eindruck gewonnen, dass er sich gern in den Vordergrund drängelte, aber in diesem Fall schienen seine Kameraden nichts dagegen zu haben.
    „Zwölf... dreizehn Leute für einen einzigen Zauberer? Dem ihr hoffentlich alles abgenommen habt, womit er etwas zaubern könnte?“
    „Klar.“ Lennart deutete auf einen sorgsam zusammengeschnürten Beutel auf einem ansonsten leeren Tisch in einer Ecke des Raumes. „Oberleutnant Gary will uns aber hier haben, damit wir jeden Fluchtversuch verhindern. Er meinte, wir sollen auf alles vorbereitet sein.“
    Zander konnte nicht anders, als Gary im Stillen zuzustimmen. Wenn Fornix tatsächlich den König fortgehext hatte, dann waren ihm auch noch ganz andere Kunststücke zuzutrauen – und nach wie vor behagte es ihm nicht, dass sich der Magier so widerstandslos hatte festnehmen lassen. Es war nicht auszuschließen, dass er etwas plante, und in diesem Fall konnte er gar nicht streng genug bewacht werden.
    „Ist da jemand drin bei ihm?“, erkundigte er sich stirnrunzelnd, als er die dumpfen Laute wahrnahm, die durch eine der fünf massiven Eisentüren des kleinen Palastkerkers drangen.
    „Nee“, erwiderte Lennart mit schiefem Grinsen. „Der Kerl redet die ganze Zeit mit sich selbst. Das hat schon gleich angefangen, nachdem der Oberleutnant ihn da reingesperrt hat. Erzählt was von einem Landsitz daher und irgendeinem Ibrahim, all so wirres Zeug. Frag mich wirklich, wer den an den Hof gelassen hat, nix für ungut.“
    „Ibrahim? Der Ibrahim?“ Der Onkel des Königs galt als einer der größten Feinde des Reiches, seit er sich kurz nach der Vereinigung Myrtanas und Varants von seiner königlich gewordenen Familie losgesagt hatte, um gemeinsam mit ein paar anderen Ewiggestrigen für die verstaubte Vorstellung eines wahren Varant einzutreten.
    Lennart zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?“
    „Wie auch immer. Ich gehe jetzt zu ihm rein.“
    Zander schob den breiten Riegel zurück und bemühte sich weitgehend erfolgreich, ein Ächzen beim Öffnen der schweren Tür zu vermeiden. Der enge Kerkerraum, in den er nun trat, war lediglich von einer einzigen, im entstandenen Luftzug unruhig flackernden Fackelflamme erleuchtet und enthielt ein Arsenal der effektivsten Einschüchterungsinstrumente, die der Königspalast aufzubieten hatte: Gleich neben der Fackel stand eine eiserne Jungfrau in der Gestalt eines gerüsteten Ritters mit drohend verschränkten Armen, nur um einen kleinen Spalt weit geöffnet – gerade weit genug, um die Phantasie ausreichend anzuregen, hatte Gary gemeint. An der gegenüberliegenden Wand lehnten in einem ramponierten Käfig mit klappriger Gittertür zwei gruselig anzusehende menschliche Skelette, die mit rostigen Ketten am Mauerwerk festgemacht waren und die Gefangenen so daran erinnern sollten, was ihnen blühte, falls sie nicht kooperierten. Tatsächlich war dieser Raum in erster Linie für Verhöre vorgesehen, was wohl auch der Grund dafür war, dass Gary den Magier hier untergebracht hatte. Als Zander nun, nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, in die weit aufgerissenen Augen des selbsternannten Wissenschaftlers in der inzwischen arg schmutzigen Robe blickte, da war er sich allerdings nicht so sicher, ob es dieser Mann wirklich noch nötig gehabt hatte, eingeschüchtert zu werden.
    „Kolga, wer ist dieser Mensch?“
    Zander brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Fornix nicht ihn, sondern die eiserne Jungfrau zu seiner Rechten angesprochen hatte.
    „Ich habe dir doch gesagt, du darfst niemanden einweihen!“, flüsterte der Magier mit heiserer Fistelstimme. „Können wir ihm vertrauen?“
    „Ich bin –“
    „Nicht so laut!“, herrschte ihn Fornix an und wandte sich nervös zu den beiden modrigen Skeletten um. „Am Ende wachen Stiff und Pommo wieder auf, und die stören bloß das Ritual, das mich von hier wegbringt – nach Varant, wo sie alle auf mich warten!“
    „Wo wer auf dich wartet?“
    „Die... die Schwester. Die arme verschmorte Schwester. Aber ich werde sie heilen, bisher ist alles nach Plan verlaufen. Nicht wahr, Kolga?“
    Zander hatte genug gehört. Er packte Fornix an beiden Armen und drückte ihn gegen die Wand, gleich neben die brennende Fackel.
    „Hör zu, Magier“, knurrte er, „solche Spielchen sind nichts Neues für mich. Ich hab schon mehr als einen verhört, der meinte, den Wahnsinnigen geben zu müssen. Ein paar von denen waren bessere Schauspieler als du, aber irgendwann haben die alle ihren Verstand wiederentdeckt. Also erspar uns beiden den Klamauk, ja?“
    Unverhohlene Verblüffung hatte die Befehlsgewalt über Fornix’ exaltiertes Mienenspiel errungen, und ein paar kurze Wimpernschläge lang war sich Zander sicher, dass sein Gefangener bereits eingeknickt war.
    „Zum ersten Mal?“, rief Fornix dann plötzlich so laut aus, dass der Hauptmann zusammenzuckte. „Nein, nein – drei Jahre! – ach was, fünf Jahre! – jahrelang, jahrzehntelang schon stelle ich meine Erfindung vor – alle kennen sie, alle hassen sie! – schreckliche Elektrizität sagen sie, grausame Elektrizität, aber ich habe ihnen bewiesen – ich habe ihnen allen bewiesen –“
    Ganz unvermittelt trat eine leere Glasigkeit in Fornix’ Blick, und auf einmal war sich Zander nicht mehr so sicher, dass der Wahnsinn des Magiers gespielt war. Als er seinen Griff lockerte und sein Gegenüber schlaff zu Boden sank, wurde ihm bewusst, dass es letztendlich kaum eine Rolle spielte: Ob Fornix ihn nun sehr gekonnt an der Nase herumführte oder tatsächlich über einen schrecklichen Unfall den Verstand verloren hatte, herausbekommen würde er so bald nichts aus ihm.
    Was er brauchte, war eine echte Spur.
    Und das, so lange er noch in der Lage dazu war, ihr nachzugehen.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Arzu wand sich durch die wogenden Menschenmassen. Sie schob sich zwischen zwei kahlköpfigen Männern in Uniform hindurch, die wild gestikulierten. Wich der korpulenten Gattin des Markgrafen zu Eiffelsgeldern aus, die in Ohnmacht fiel und mindestens drei zu Hilfe eilende Männer mit sich zu Boden riss.
    Ein Jüngling nutzte das Durcheinander und kniff ihr in den Po. Sie wirbelte herum und ehe der Geck sich versah, hatte sie ihm ihr leeres Tablett über den Schädel gezogen. Dann weist ihn bitte in der Form in die Schranken, die ihr für angemessen haltet, schallten Annas Worte in ihren Ohren. Sie verschwand in der Menge und war sich kurz darauf sicher, dass sie den Mann abgeschüttelt hatte. Ein schlechtes Gewissen tastete nach ihr, doch sie schüttelte es ab. Vielleicht hatte sie überreagiert, doch im Moment lagen doch bei allen die Nerven blank. Allerdings musste sie eine Ausnahme bilden. Dass sie sich nicht zurückziehen konnte, sondern auf diesem Ball gefangen war, behagte ihr nicht, doch eigentlich hatte sie gedacht, ihren sonst so kühlen Kopf bewahrt zu haben.
    Endlich tat sich vor ihr eine Lücke auf, durch die sie den Eingang der Küche erspähen konnte. Wenn sie schon hier bleiben musste, dann musste sie ihre Tarnung aufrecht erhalten. Rasch wischte sie ein paar Mal mit der flachen Hand über ihr Tablett, als hätte der Jüngling Dreck auf ihm hinterlassen, und trat durch die Schwingtür in den gefliesten Raum.
    „Arzu, dich schickt der Himmel!“, wurde sie von Anna empfangen. Die Küchenchefin packte sie an beiden Schultern. „Wenigstens eine, die nicht den Kopf verliert und sich an ihre Pflichten erinnert. Die anderen haben sich seit den Vorfällen nicht mehr in der Küche blicken lassen.“ Sie kaute kurz auf ihrer Unterlippe, dann schien sie eine Entscheidung gefällt zu haben. „Ich weiß, dass du sie noch nicht lange kennst, aber kannst du dich um Lara kümmern? Dann geh ich raus und seh zu, dass ich den anderen wieder in Erinnerung rufe, wofür sie hier sind.“
    „Was ist denn mit Lara?“ Arzu wusste gerade noch, dass sie eine von ihren Kolleginnen auf Zeit war.
    „Hast du es nicht mitbekommen? Sie hat die Leiche des Generalfeldmarschalls entdeckt, als sie einen besonders teuren Wein für eine Gruppe Offiziere holen wollte. Die Ärmste ist vollkommen hinüber. Bau sie wieder auf, ja? Und dann so schnell wie möglich zurück an die Arbeit! Es reicht schon, dass wir ohne Milena auskommen müssen. Innos habe sie gern.“
    Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Anna durch die Schwingtür. Sie hielt es wohl für selbstverständlich, dass man ihren Worten Folge leistete. Doch Arzu hatte tatsächlich nichts dagegen, der aufgeschreckten Gesellschaft für einen Moment zu entkommen.
    Sie sah sich in der Küche um. Ein Topf blubbert geräuschvoll über der Feuerstelle. Überall lagen Zutaten verstreut. Eine erst halb gefüllte Platte mit Häppchen lag direkt neben ihr auf der Arbeitsfläche. Doch niemand, nicht einmal Angelo, war zugegen. Wo mochte Lara sein? Wie eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage hörte sie ein Schluchzen aus der Richtung der Vorratskammer.
    Arzu klaubte zwei Häppchen von der Platte und lief zu der halb aufstehenden Tür. In der Vorratskammer herrschte Finsternis. Nur durch den Türspalt fiel ein Streifen Licht in den Raum und traf den Saum eines Dienstmädchenkostüms. Die aufgelöste Lara schien sie nicht zu bemerken, als sie eintrat und die Tür wieder so weit zu schob, dass das Licht gerade noch zur Orientierung reichte. Vorsichtig näherte sie sich dem Mädchen, das wohl auf einem großen Sack Kartoffeln Platz genommen hatte. Der borstige Stoff piekste bestimmt ganz unangenehm durch ihre Strumpfhose.
    „Hey“, machte Arzu mit sanfter Stimme auf sich aufmerksam.
    Lara schreckte hoch, erkannte ihre Kollegin und begann hastig in ihren Augen zu reiben.
    „Du musst dich nicht vor mir verstellen. Wein ruhig, wenn dir danach ist“, sagte Arzu. Lara nickte zaghaft und jetzt erkannte Arzu auch, welches der unscheinbaren Dienstmädchen sie vor sich hatte. Ein blasses Gesicht mit Sommersprossen und einer kleinen Stupsnase, fransiger Pony kastanienfarbenen Haars. In dem Zwielicht erkannte sie natürlich nur einen Bruchteil davon, doch sie erinnerte sich noch gut an das artige Lächeln, das sie bei der Dienstbesprechung getragen hatte.
    „Anna schickt mich, nach dir zu sehen“, erklärte sie und hielt ihr eine der gefüllten Paprikaschoten hin, die sie aus der Küche mitgenommen hatte. Die andere würde sie lieber selbst essen. Die ganze Aufregung machte hungrig. „Hier, iss. Danach geht es dir bestimmt gleich viel besser.“
    „Wenn du wüsstest“, erwiderte Lara und schniefte. Sie zögerte noch kurz, dann nahm sie das Häppchen an und schob es sich fast komplett in den Mund. Arzu nahm ihrerseits einen Bissen von ihrer Schote. Augenblicklich explodierten Gewürze in ihrem Mund, die sie noch nie zuvor gekostet hatte. Es schmeckte so gut, dass sie kurz vergaß, wer und wo sie war. Wie konnte etwas so Unscheinbares so lecker sein?
    „Arzu…“ Das leise Flüstern von Lara holte sie in die Wirklichkeit zurück. „Kann… Kann ich dir... Nein. Schon gut.“
    Arzu ließ sich neben Lara auf den breiten Kartoffelsack sinken. Wie erwartet piekste der grobe Stoff unangenehm, doch sie ignorierte es. Sie schlang einen Arm um Lara und zog sie an ihre Schulter. „Ich kann verstehen, dass dich der Anblick verstört hat. Das würde jeden aus der Bahn werfen. Mach dir deswegen keinen Kopf.“
    „Das ist es nicht“, beharrte Lara. „Ich hab schon viele tote und blutüberströmte Menschen gesehen. Bevor ich hierher kam, hab ich ein paar Monate im Lazarett gedient. Es ist nur…“
    Arzu musste ihren ersten Eindruck wohl revidieren. Vielleicht war Lara doch nicht ganz so weichgespült wie die anderen Dienstmädchen. „Es ist nur was?“
    „Ich habe Madeleine gesehen.“
    Arzu fiel aus allen Wolken. „Madeleine? Das Dienstmädchen, das ich vertrete?“
    Lara nickte und löste sich von ihrer Schulter, um ihr direkt in die Augen zu sehen. „Versprich mir, dass du es niemandem erzählst, hörst du?“
    Arzu nickte, ohne Zögern. Sie fühlte sich hier niemandem gegenüber verpflichtet, wollte aber auf jeden Fall die ganze Geschichte hören.
    „Als ich in den Keller kam war alles dunkel. Aber als ich mit meiner Fackel um ein Weinregal bog… sah ich die beiden. Madeleine stand mitten im Gang, direkt vor der Leiche des Generalfeldmarschalls. Natürlich hab ich sie zunächst nicht erkannt, aber als sie mich bemerkte, rannte sie los, stieß mich zur Seite und floh. Dabei kam sie meiner Fackel so nahe, dass ich ihr Gesicht sehen konnte.“
    Arzu starrte sie an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Nach allem, was sie wusste, hatte Madeleine gerade die Diarrhö ihres Lebens und hütete gewiss ihr Bett.
    „Ich bin mir ganz sicher!“, bekräftigte Lara noch einmal. „Dabei…“ Wieder traten dicke Tränen in ihre Augen. „…ist sie doch unsere Freundin! Sie war es bestimmt nicht.“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    In der Dunkelheit der Vorratskammer begannen kleine weiße Pünktchen mit einem nervösen Tanz vor Arzus Augen. Einige wehrlose Momente lang ließ sie das Gefühl von Überforderung zu, das sich in der vergangenen Viertelstunde allmählich an sie herangeschlichen und bei Laras Worten endlich zugeschlagen hatte. Sie hatte den ganzen Auftrag bereits abgehakt gehabt, erinnerte sie sich, und nun schien die Situation minütlich komplizierter zu werden. Madeleine hier im Palast? Mustafa hatte noch niemals einen Fehler gemacht, nicht solange ihn Arzu kannte, aber wenn Lara die Wahrheit sagte – und daran konnte sie kaum zweifeln, so sehr ihr auch danach zumute war – dann musste dieses Mal das erste Mal gewesen sein. Dann war zweifellos irgendetwas gründlich schief gelaufen.
    Ob Selina von all dem etwas ahnte? Arzu konnte sich vorstellen, dass ihre Stiefschwester am Treffpunkt langsam ungeduldig wurde, aber die Wartezeit allein würde wohl kaum ausreichen, um sie Verdacht schöpfen zu lassen – schließlich war es im Vorhinein schwer abzuschätzen gewesen, wie lange es dauern würde, bis sich Arzu in ihrer Rolle als Dienstmädchen von der Festlichkeit absetzen konnte, ohne unnötiges Aufsehen zu erregen. Es war also gut möglich, dass Selina noch immer davon ausging, dass alles nach Plan lief. Arzu hätte viel darum gegeben, sie jetzt sprechen zu können, und sei es nur, um sich all den Rätseln, mit denen sie sich auf einmal konfrontiert sah, nicht allein stellen zu müssen. Aber selbst wenn sie einen Weg fand, den Palast heimlich zu verlassen, so würde sie eine solche Flucht doch unweigerlich zur Hauptverdächtigen in einem Mordfall machen – und Arzu war uneitel genug, um keinen großen Gefallen an der Vorstellung zu finden, ihr Konterfei bald an jeder Hauswand Vengards hängen zu sehen. Sie musste bleiben, so sehr all ihre Instinkte auch protestieren mochten.
    Ein leises Schluchzen schreckte Arzu auf, und es wurde ihr unangenehm bewusst, dass sie Lara für einen Moment völlig vergessen hatte. Mit einer Handbewegung, die vielleicht etwas zu plötzlich kam, um beruhigend zu wirken, strich sie ihr über den Arm.
    „Nur die Ruhe“, sagte sie und meinte dabei durchaus auch sich selbst. „Es ist doch gar nicht gesagt, dass deine Freundin was mit dem Tod dieses Marschalls zu tun hat. Vielleicht war sie ja nur zufällig im Keller, genau wie du.“
    „Das… das sage ich mir ja auch.“ Lara wischte sich mit dem Handrücken ein paar feuchte Stellen von den Wangen und blickte Arzu aus verquollenen Augen an. „Aber warum meldet sie sich erst krank und dann…ist sie auf einmal doch hier…? Wenn sie doch nur nicht weggelaufen wäre, dann hätte sich bestimmt alles irgendwie geklärt. Wieso hat sie das bloß gemacht? Das passt überhaupt nicht zu ihr.“
    „Vielleicht war sie erschrocken beim Anblick der Leiche und ist in Panik geraten“, mutmaßte Arzu, ohne selbst besonders überzeugt davon zu sein.
    Lara schüttelte schniefend den Kopf. „So leicht würde Madeleine nicht aus der Fassung geraten. Sie ist die Unerschrockenste von uns allen. Sie hat sich sogar freiwillig gemeldet, um der Königin dreimal am Tag ihr Essen –“
    Arzu zuckte zusammen, als Lara mitten im Satz erschrocken Luft holte, unvermittelt aufsprang und die Tür zur Küche aufstieß.
    „Lara?“, rief ihr Arzu verwundert nach und kniff angesichts der plötzlichen Helligkeit des hereinscheinenden Küchenfeuers die Augen zusammen, bevor sie sich erhob und ihr nachfolgte. „Was ist denn los?“
    „Die Königin“, stammelte Lara. Sie war vor dem offenen Topf stehen geblieben, dessen träge blubbernder Inhalt über einer schwächer werdenden Flamme vor sich hin köchelte. „Es hat ihr heute Abend noch niemand ihr Essen gebracht. Weil Madeleine ja nicht da ist, haben wir heute Morgen ausgelost, und – und für heute Abend war Milena zuständig. Sie hätte es ihr schon vor einer Viertelstunde bringen müssen!“
    Arzu biss sich beim Gedanken an die arme Milena auf die Unterlippe. Sie konnte es gut verstehen, dass es Anna offenbar für keine gute Idee gehalten hatte, der ohnehin schon aufgelösten Lara von dem Schicksal ihrer Kollegin zu berichten.
    „Naja, dann ist es jetzt eben besonders gut durchgekocht“, versuchte Arzu mit halbherzigem Lächeln vom Thema Milena abzulenken. „Die Königin hat bei dem Trubel bestimmt auch ganz andere Sorgen.“
    „Davon bekommt die doch gar nichts mit“, widersprach Lara mit zittriger Stimme. „Sie ist den ganzen Tag oben in ihren Gemächern und lässt niemanden an sich heran. Und freiwillig geht sowieso niemand zu ihr, wenn es nicht unbedingt nötig ist.“
    „Wohl keine so angenehme Person?“, entgegnete Arzu etwas ratlos. Ibrahim hatte die Gemahlin seines Neffen kaum je erwähnt, und sie fragte sich, ob das daran lag, dass er auch kaum etwas über sie wusste. Eine Frau, die sich selbst einsperrte, über die konnte wohl auch nicht allzu viel nach außen dringen.
    Lara ließ die Frage unbeantwortet. „Jetzt hat sie schon eine Viertelstunde – fast zwanzig Minuten auf ihr Essen warten müssen. Und wenn Milena nicht auftaucht, dann… dann muss jemand anderes zu ihr gehen…“
    Arzu warf einen skeptischen Blick auf die brodelnde Masse im Topf. Es wollte ihr nicht ganz in den Kopf gehen, dass ausgerechnet für die Königin das mit Abstand unappetitlichste Gericht des Abends reserviert war, aber wenigstens darüber schien sich Lara keine Sorgen zu machen. Vermutlich hatte die Königin einfach einen ungewöhnlichen Geschmack.
    „Wenn du willst, dann übernehme ich das“, bot Arzu an.
    „W...wirklich?“ Die schier grenzenlose Erleichterung in Laras geröteten Augen verschaffte Arzu ein mulmiges Gefühl. Vielleicht war ihr das Angebot doch ein wenig zu leichtfertig über die Lippen gekommen.
    „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie dennoch. „Ich komme schon zurecht.“
    „Du kennst sie nicht“, murmelte Lara halblaut, schien aber nicht daran interessiert, sie umzustimmen. Tatsächlich galten Arzus Gedanken weniger der Königin als den Möglichkeiten, die ihr die Gelegenheit einbringen konnte, sich für eine Weile allein im Palast zu bewegen. Sie wusste, dass ihre Stiefschwester das Gebäude die ganze Zeit über im Blick behalten würde. Wenn sie ein Fenster fand, das in die südwestliche Richtung wies, dann brauchte sie nur noch eine Lichtquelle, um mit Selina Kontakt aufzunehmen. Zwar würde sie kaum lange genug unbeobachtet sein, um sich in Ruhe mit ihr austauschen zu können, aber vielleicht genügte es für ein paar grobe Informationen. Es war der beste Plan, den sie im Augenblick hatte.
    Die Schwingtür quietschte vernehmlich, als Anna den Raum betrat, gefolgt von einem drahtigen, schwarzhaarigen Mann in der Rüstung der Palastwache.
    „Hier vorne, das ist sie“, sagte Anna an ihn gewandt, bevor sie lauter fortfuhr: „Arzu, dieser Herr von der königlichen Wache hat ein paar Fragen an dich. Er stellt gerade eine Übersicht zusammen über die Leute, die heute im Palast arbeiten, und da du zum ersten Mal da bist, konnte ich ihm über dich nicht so viel sagen. Keine Sorge, ich bin mir sicher, es geht ganz schnell.“

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Flatschend ergoss sich der stückige Eintopf in einen großen Teller. Das Geräusch hatte in dem kurzen Moment der Stille so laut gewirkt, dass alle irritiert zu Lara herübersahen.
    Anna suchte Arzus Blick und deutete ein anerkennendes Nicken an. "Gut, dass du dich um Lara gekümmert hast. Du kannst dich mit Gary am besten in die Vorratskammer zurückziehen. Da seid ihr nicht ganz so im Weg wie hier."
    Der Mann von der Palastwache taxierte Arzu und sie bekam das vage Gefühl, dass sie sich nicht mit diesem Mann unter vier Augen unterhalten wollte. Obwohl sie ihre erfundene Lebensgeschichte über Jahre hinweg perfektioniert und für jede Mission nur geringfügig abgeändert hatte, wollte sie sie ungern an diesem Abend auf die Probe stellen. Wieder flackerte das Bild der steckbriefbewehrten Hauswänden vor ihrem geistigen Auge auf.
    "Ich wollte der Königin gerade ihr Essen bringen. Sie wartet gewiss schon ungeduldig!", wagte Arzu zu entgegnen.
    "Was für ein ausgesprochen glücklicher Zufall, nicht wahr?", bemerkte die Palastwache namens Gary und kniff ein wenig die Augen zusammen. "Ich möchte trotzdem sofort mit dir sprechen."
    Anna warf Lara einen unsicheren Blick zu und Arzu ahnte, was in ihr vorging. Laras Schminke war verlaufen, ihre Augen gerötet. Ihre emotionale Verfassung immer noch labil, das war geradezu offensichtlich. Lara konnte der Königin das Essen nicht bringen.
    "Gary...", sagte Anna und schlug einen beschwichtigenden Tonfall an. "Du weißt, wie die Königin ist. Wenn Arzu ihr das Essen bringen möchte, dann..."
    "Begleite ich sie halt", vollendete Gary den Satz resolut. "Wenn sie nichts zu verbergen hat, bin ich mit ihr fertig, bevor wir das Gemach der Königin erreichen." Er trat einen Schritt zurück und hielt Arzu auffordernd die Schwingtür auf.
    Arzu gefiel das ganz und gar nicht, brachte er sie damit doch obendrein noch um die Gelegenheit, mit Selina in Kontakt zu treten. Doch sie wusste, dass weitere Widerworte sie bloß verdächtig machen würden und so schnappte sie sich das von Lara vorbereitete Tablett mit der Karaffe Orangensaft und dem unter einer Warmhaltehaube verschwundenen Teller Eintopf.
    Im Empfangssaal herrschte immer noch lauter Trubel und am Tor schienen inzwischen einige gegen die Durchgangssperre zu protestieren. Die Stimmung kam ihr angespannter vor als noch vor wenigen Minuten. Gary folgte ihr dicht auf den Fersen.
    Sie verließen die festlich geschmückten Räume durch eine Seitentür und gelangten in einen weniger prunkvoll dekorierten Flur. Hier war es ruhiger.
    "So, du bist also die Arzu", brummelte Gary.
    "Ja", antwortete sie und ging betont langsam. Sie wollte das Gespräch unbedingt hinter sich gebracht haben, bevor sie die Königin erreichten.
    "Ungewöhnlich, dass sich eine junge Frau aus Varant in Myrtana nach Arbeit umsieht", überlegte er laut und beobachtete sie von der Seite. "Wie kam es dazu?"
    "Mich hat Myrtana schon immer fasziniert. Ich wollte Vengard sehen, aber als ich hier ankam, war mein Erspartes schon fast aufgebraucht. Da brauchte ich eben Arbeit, um meinen Aufenthalt finanzieren zu können."
    "Und da dachtest du, bewirbst dich einfach mal im Palast."
    "Ich war entzückt, als ich von der Gelegenheit hörte!", trällerte Arzu.
    Sie hatten eine Gabelung erreicht.
    "Wo hast du davon gehört, dass wir noch dringend ein Dienstmädchen brauchen? Dass Madeleine ausfällt, ist erst heute morgen bekannt geworden. Du musst sehr spontan reagiert haben."
    "Ähm... Wo geht es weiter zur Königin?" Arzu meinte die Frage ernst. Sie wusste zwar, dass sie in diesem Flügel in einem der Türme untergebracht war, aber wo genau und wie sie dort hinkam...
    "Hier entlang", brummelte Gary ungeduldig.
    "Ich habe es auf dem Markt gehört, als ein Bediensteter des Königs eine der Marktfrauen gefragt hat, ob sie nicht aushelfen könne. Er wirkte sehr verzweifelt, aber die Frau lehnte ab."
    Und so ging es weiter. Sie musste ihm eine Frage nach der anderen beantworten und sich an jedes noch so kleine Detail erinnern. So hartnäckig wie dieser Gary nachbohrte, wunderte es sie, dass er überhaupt schon Befragungen abgeschlossen hatte. Oder war er bei ihr etwa extra hartnäckig, weil er sie schon verdächtigte?
    Als sie auf dem letzten Absatz einer schmalen Wendeltreppe ankamen, hielten sie beide plötzlich inne. Der Schrei einer Frau gellte zu ihnen herunter. Arzu warf ihrer unliebsamen Begleitung einen fragenden Blick zu, doch Gary verzog keine Miene. "Warte hier", wies er sie an und sprintete los, für sein Alter überraschend flink. Arzu dachte gar nicht daran, diesem Befehl Folge zu leisten. So schnell es ging, ohne Eintopf und Saft zu verschütten, erklomm sie die letzten Treppenstufen, an deren Ende eine Flügeltür offen stand. Als sie hindurchschlitterte, stand sie in dem halbdunklen Gemach der Königin. Die Schreie wiederholten sich.
    In dem Bett rangen Umrisse miteinander. Bis die Personen endlich bemerkten, dass sie nicht mehr allein waren.
    Eine Mädchenstimme stieß ein hohes Kieksen aus, stolperte nackt aus dem Bett und klaubte ihre Kleider vom Boden auf. In dem Bett zog die Königin die Decke bis an ihr Kinn, doch es war zu spät. Gary und Arzu hatten längst gesehen, dass auch sie nackt war. Das Mädchen, das sich neben dem Bett hastig ankleidete, war noch blasser als die anderen Dienstmädchen, fast sogar grünlich um die Nase. Und ihre Stirn glänzte vor Schweiß.
    Arzu war sich nicht sicher, ob auch der überreife Palastgardist neben ihr die Situation schon durchleuchtet hatte, doch für sie fügten sich die Puzzleteile in diesem Moment nahtlos zusammen. Das kränkliche Mädchen musste Madeleine sein. Darum hatte Madeleine sich stets freiwillig gemeldet, um der Königin das Essen zu bringen. Vielleicht hatte die Königin es auch von ihr verlangt, genau wie sie andere Dienste von ihr verlangte. Auf jeden Fall schien Madeleine es nicht riskieren zu können, die Königin an diesem Abend zu versetzen, selbst wenn sie eigentlich gar nicht arbeitete. Laras Andeutungen in der Küche deuteten ja auch einen gewissen Jähzorn der Königin an. Sogar dass die Königin sich in diesen Turm zurückgezogen hatte, passte ins Bild. Hier hörte sie niemand schreien. Und der König war gewiss zu bequemlich, um ihr hier oben oft Gesellschaft zu leisten.
    Eingeschüchtert wirkte die in flagranti ertappte Königin allerdings nicht, wie sie da mit zornfunkelnden Augen in ihrem Bett saß. "Wachen!", schrie sie. "Schließt die Tür!"
    Krachend fiel die Flügeltür zu. Bei einem Blick über die Schulter bemerkte Arzu, dass hinter der Tür zwei Wachen gestanden hatten, die sie beim Hereinkommen nicht bemerkt hatte. Arzu konnte sich ausmalen, dass sie von der Königin handverlesen waren, um ihre Umtriebigkeiten zu decken.
    "Was habt Ihr nun mit uns vor, werte Königin?", fragte Gary ruhig.
    Das Mädchen, das Arzu für Madeleine hielt, schwankte plötzlich. Sie fiel zu Boden, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hatte, sie aufzufangen. Arzu wunderte das nicht. Wer mit Mustafas Mittelchen im Blut nicht das Bett hütete, riskierte einiges.

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