The Life We Could Have Had - Pim Stones
Sie kam sich vor wie ein dreckiger Voyeur. Als wäre sie dagewesen um das Spektakel, dass sich vor ihren Augen geboten hatte, zu analysieren und zu bewerten, ob es gut genug war es gelegentlich zu wiederholen. Ohnehin schon relativ tief hatte sie in diesem Sessel gesessen und gewartet, hatte Pläne, nach dem abfallenden Kegel an Menschen Leif wieder aufzusuchen und hatte sich bereits die Frage gestellt, ob sie ihm von der Begegnung mit Ward erzählen würde oder nicht. Ob sie ihn darauf ansprechen würde, dass er durchaus wusste, welchen Hintergrund Ward hatte. Ihre grünen Augen hatten seine Gestalt durch die Personenmenge hindurch verfolgt. Lauernd und ruhig. Hatte ihm jedes Wort von den Lippen gelesen, jedes beschwichtigende Lächeln mit ihren Blicken nachgezogen und jeden Zweifel herausgelesen, den er hatte. Und dann war alles so schnell vorbei.
Noch während sie sich im Anblick ihres Freundes verlor herrschte auf der anderen Seite des Raumes ein Tumult den sie nicht wahrnahm. Der zwei Wachmännern schnell das Leben kostete, ehe diese Kreatur hereinkroch wie die Mischung aus Tier und Mensch, irgendwie humanoid aber längst nicht mehr menschlich. Auch jetzt hatte sie zu spät reagiert. Sie hatte auch diese 'Person' nur beobachtet. Sie hatte gesehen, wie es das Feuer eröffnete und schützte in erster Linie sich selbst, als sie die Beine zu sich nach oben auf den Sessel zog und sie mit den Armen festhielt, als bestände durch die Schießerei der Boden aus Lava. Zwar schützte sie ihr Gesicht, aber neben den tausenden Projektilen, die abgeschabt von einem Metallblock im entsprechenden Magazin wahllos in die Menge entlassen wurden, trafen einige davon dennoch in den Sessel. Der Schock und das dazugehörige Adrenalin, dass sich in ihre Venen pumpte wie die beste, natürliche Droge die sie finden konnte, verhinderte, dass sie spürte, wie eines der abgeschabten Metallteilchen in gerader Linie den oberen Teil ihres rechten Unterschenkels streifte, sich weiter an der Seite des Oberschenkels entlangschoss und letztlich auch noch ihre Hüfte streifte und in der Position in der sie saß eine gerade, blutige Furche hinterließ, bevor es sich durch den Stoff des Sitzmöbels bohrte.
Von hieraus hatte sie alles gesehen, als sei die der Dirigent einer blutigen Rache. Sie hatte gesehen wie mehrere Pfleger in den Kopf oder den Hals getroffen wurden, hatte bemerkt, dass auch unter den Ärzten Opfer waren, die in diesem Zustand weder sich noch anderen helfen konnten und hatte auch das Ableben einiger Sicherheitsmänner verfolgt, die die Kreatur zwar letztlich zur Strecke brachten, aber insgesamt den Vorfall viel zu spät beendet hatten.
Die Halbitalienerin hatte einen beschleunigten Puls. Einen schweren Atem. Vor allem aber, war sie fertig mit dieser Welt. Nebst all den Toten und Verwundeten, die sie aus scheinbar sicherer Entfernung betrachtete, als seien sie nur hier um ihr ein morbides Theaterstück aufzuführen, fiel ihr Blick nun auf ihn, den Protagonisten, der am anderen Ende des Flurs stand, taumelte, und in ihre Richtung sah obwohl sie wusste, dass er sie nicht erkannte. Er war blutverschmierter als in jedem anderen Moment, in dem sie ihn wahrgenommen hatte. Bleich. Und wie sie sah, als er die Hand von seinem Körper nahm und sich ein Blutfleck schnell auf seinem Pullover ausbreitete, auch verwundet.
Luceija zitterte. Sie konnte sich nicht bewegen, auch, wenn sie es wollte. Wenn sie dorthin wollte, wenn sie den leblosen Körper ihres Freundes auffangen wollte und doch - gelang es ihr im ersten Moment nicht. Stattdessen beobachtete sie weiter, in einer Kammer ihres eigenen, viel zu lauten Herzschlags und Atems, wie er taumelte und fiel. Ein Teil des Gesamtbildes des Massakers wurde, nachdem sie sah, dass er etwas formte, was sie nicht verstand. Laut fiel sein Körper in sich zusammen. Sie hörte ein verstörendes Röcheln. Und ihre Finger verkrampften sich schmerzlich in das Polster ihres Sitzmöbels.
Jetzt war es zu Ende. Es war ruhig. Zeit, zu klatschen und sich bei den Veranstaltern für die Abendunterhaltung zu bedanken. Zu warten, bis der Vorhang sich schloss, alles verhüllte, jeder Einzelne wieder aufstand und zurück an seine Arbeit ging, nachdem Tonnen von Kunstblut von den Wänden gekratzt wurde.
Aber so surreal wie es schien war es leider nicht. Es gab keinen Vorhang, der alles verdeckte, es gab niemanden, der Luceija aus dieser Schuld nehmen konnte, nur der stille Beobachter gewesen zu sein, als Leif Svensson, ihr Arzt, ihr Freund, ihre Zukunft - einfach zusammenbrach. Starb. Und verschwand. In einer Masse aus Blut. Irgendwo in seiner Anonymität. Irgendwo fernab ihrer eigenen Hände. Sie sah nur zu. Wie immer...sah sie nur zu.
Nach gefühlten Minuten die sie brauchte um mit aufgerissenen, tränenden Augen zu begreifen, was- oder besser wen sie gesehen hatte – dass sie beobachtet hatte, wie Leif starb - kam sie irgendwie auf die Beine und alles ging so schnell, dass sie selbst nicht wusste, woher sie diese Kraft mit einem Mal nahm. Noch immer keinen Schimmer von eigenen Verletzungen – ihr Körper ohnehin zu taub um sie zu registrieren – rannte sie durch den Matsch diverser Individuen. Zertrat Blut in schnellen Furchen, überging Verletzungen, Wimmern, Schock und Trostlosigkeit, bis sie sich vor dem leblosen Körper ihres Freundes in weiteres Blut fallen ließ.
Sie reagierte deutlich zu professionell und zielstrebig, als sie an seiner Seite kniete und mit einer nirgendwo herrührenden Kraft den zwei Meter langen Körper an der Hüfte zu drehen versuchte. Nun keuchte sie selbst. Und wirklich real und greifbar wurde ihr Unglück erst damit, dass sie so direkt in sein Gesicht sehen konnte. Sie bemerkte die Platzwunde die er von seinem Sturz wohl abbekommen hatte und das perfekte Gesicht in eine beängstigende Maske tauchte. Sie würde ihn verlieren. Das spürte sie. Es war doch ohnehin nichts weiter als ihr Schicksal. Abzusehen. Der bekannte, dunkle Strudel, der ihn nun verschlang. Es war ihr gleich, dass sie mit Husks nichts am Hut hatte – für sie gab es nur sie selbst als Schuldige. Wer wusste schon, wer diese Dinger mitgebracht hatte. Wer wusste schon, ob er nicht in Sicherheit geblieben wäre, hätte er sie vor Ravi nicht verteidigen müssen.
„Wag es – ja nicht – zu sterben!“, rief sie ihm zu, als sie sein Gesicht in beiden Händen hielt. Luci weinte schon jetzt obwohl sie es mit allem zu unterdrücken versuchte. Damit, dass sie an ihm heruntersah und die Wunden lokalisierte, half sie ihrem Vorhaben aber nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Diese heftigsten unterdrückten Gefühle entluden sich in Wut und Hilflosigkeit und Panik und überluden ihr Nervensystem so sehr, dass der blaue Schleier latenter Biotik wieder heraufflammte, ohne, dass sie die Kontrolle darüber fand. Es reichte gerade um den Pullover an den ohnehin schon verursachten Löchern irgendwie zu zerreißen, wo der auf den Wunden klebte wie ein unhygienisches Pflaster.
„Du darfst nicht sterben, hörst du? Bleib verdammt nochmal wach!“, sie schrie ihn an und wusste nicht, wie sie sonst irgendeine Art der Kontrolle über die Situation behalten sollte. Es war ihr scheißegal, dass jegliche Tarnung der Beiden nun ohnehin zunichtegemacht war – nein, es war ihr sogar Recht wenn jeder hier erfuhr, wie sehr sie diesen Menschen liebte, der vor ihr ausblutete und dem sie ihre kleinen Hände irgendwie versuchte auf die Wunden zu drücken um die Blutung zu stoppen, es aber einfach nicht gelingen wollte. Nein, gerade jetzt glaubte sie sogar zu wissen, dass die ganze Scharade zum Wohle der Anlage ein Fehler gewesen war. Sie hätte Leif niemals verleugnen dürfen. Sie hätte die unfassbar wenige Zeit die sie zusammen hatten schon viel früher und viel intensiver nutzen müssen. Sie hatte alles verschwendet – als hätte sie nicht genügend wertgeschätzt was er für sie war und wie gut er ihr getan hatte.
„Bitte bleib bei mir Leif!“, rief sie ihn nochmals an. Sein Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Sie hatte das Gefühl darin zu baden.
„Ich kann dich nicht auch noch verlieren - bitte!“ Sie sprach nach wie vor Englisch mit ihm, weil sie hoffte, wenn er sie hörte, würde er sie so sofort verstehen und ihrer Bitte eher Folge leisten. Wie solle er auch etwas tun wenn er sie nicht verstand.
„Hilfe..“, flüsterte sie erst apathisch und richtete den Kopf dann auf. Die Tränen tropften von ihren Wangen.
„HILFE!“, schrie sie nun durch den Raum und fühlte sich einmal mehr furchtbar allein.