„Das Ende ist nah!“, schrie der verrückte Prophet seinen bekannten Satz.
Dras blickte ihn an, wie er wieder mal auf einem kleinen Podest – oder was auch immer das war – stand, direkt an der Weggablung.
„Bereut!“, schrie der Prophet weiter, „Nur wenn ihr bereut, werdet ihr verschont wenn die Teufel kommen und den Himmel verdunkeln!“
„Auf der Citadel gibt es keinen richtigen Himmel!“, entgegnete ihm ein turianischer Teenager frech und mit amüsierter Stimme, während er mit seinen Freunden an ihm vorbeiging. Im Großen und Ganzen ignorierten die meisten Passanten den Propheten oder warfen ihm nur abschätzige Blicke zu.
Man konnte Dras kaum sehen, denn er versteckte sich im Halbschatten. Im Grunde war der Prophet für ihn eh nur Ablenkung, denn das eigentliche Ziel seines Interesses lag hinter ihm: eine verschlossene Tür, ebenfalls teils in Schatten gehüllt. Der Batarianer befand sich an dem Punkt der Devil’s Tips der am weitesten entfernt von natürlichen Licht lag: genau in der Mitte des Tayseri-Arms. Nur künstliches Licht erhellte diesen Bereich, da aber einige der Lampen ausgefallen waren, erinnerte der Ort den Batarianer an Omega.
„Selbst die Keeper scheinen diesen Ort zu meiden…“, murmelte er und aktivierte sein Omni-Tool – nach ein paar Klicks war die Holo-Vorrichtung um seinen Körper verschwunden, weswegen sein oberes Augenpaar wieder sein charakteristisches blau-violettes Glühen wiedergab. Und schon bin ich ein zahnloser Varren… dachte sich der Batarianer, während er seinen Platz in Richtung der Tür verließ.
„Verschwindet ihr Bälger!“, schrie der verrückte Prophet den Teenagern zu, während Dras sich dem Tempel näherte. Er blickte den älteren Propheten nicht einmal an, aber dieser versuchte es trotzdem: „Das Ende ist nah! Bereue jetzt!“
„Verschwinde von hier!“, schrie ihn nun eine Stimme an, die hinter ihm aufgetaucht war. Die verschlossene Tür war geöffnet worden und ein älterer, batarianischer Mönch war erschienen.
Sein Alter erkannte man daran, dass seine normalerweise grüne Haut verblasst war und die kleinen Häärchen um seinen Mund einen eher gräulichen Schatten entwickelt hatten, wodurch es so aussah, als hätte er einen Bart.
Dass er ein Mönch war, erkannte man daran, dass er nur ein blaues Laken über seinen Körper geschlungen hatte. Sei Kopf wurde ebenfalls davon bedeckt, wobei es aussah als wäre es eine Kapuze und über seinen vier Augen war ein weiteres Auge aufgemalt worden, mit blauer Tinte. Zusätzlich dazu lief er offenkundig barfuß, wie man an den rausstechenden vier Zehen unter dem Lacken erkennen konnte. „Belästige die Gläubigen nicht!“, rief er dem verrückten Propheten zu, keineswegs wütend oder streng klingend, eher ermüdet.
„Jeder muss die Wahrheit erfahren, du großer Leugner!“, schrie der Prophet ihm entgegen, offenkundig nicht bereit den Platz zu räumen.
„Geh jetzt oder geh, nachdem ich Groto Bescheid gegeben habe.“, erwiderte der Mönch, noch müder klingend.
Dieser Name hatte offenkundig Wirkung, denn der Prophet verließ auf der Stelle seinen Platz. „Du wirst im Feuer der Teufel brennen!“, schrie er noch, bevor er schnellstmöglich das Weite suchte.
Groto dachte sich Dras Ein Name den ich mir merken muss, und zeitgleich kam er dem Mönch näher. Der alte Mann hatte seine Hände verschränkt und wartete bereits auf den anderen Batarianer.
„Willkommen im Schoße der Götter, mein Junge.“, begrüßte er Dras mit einem freundlichen Lächeln, „Bist du hier, weil du um Erlösung von deinen…Fluch beten möchtest?“
Zunächst war sich Dras nicht bewusst, worauf der alte Batarianer anspielte, aber als sein Blick nach oben ging – in Richtung von Dras‘ oberen Augenpaar – erkannte er es. „Du weißt…“, fing er unsicher an und zeigte mit den Fingern auf sein oberes Augenpaar, „…was das ist?“
Der Mönch fing an zu lächeln. „Glaub mir, wir treffen hier mehr…verlorene Seelen, als selbst Omega jemals beherbergen kann.“, versicherte er Dras.
Das glaub ich weniger… dachte sich der jüngere Batarianer und kam dem Mönch näher. Dieser verstand dies als Akzeptanz des vorher gesagten und führte ihn nun durch die Tür.
Es war ein Tempel. Oder ein Schrein. Jedenfalls eine religiöse Einrichtung. Es gab Säulen, die keinem anderen Zweck dienten als den langgezogenen Raum in Bereiche zu unterteilen. Dras blickte nach rechts und links und sah dort, auf einem erhellten und erhöhten Platz, Masken. Sie erinnerten an Theatermasken und sahen eher religiös aus, als dass sie einem praktischen Zweck dienen könnten. Die vier Augen waren übergroß, genauso wie die Nasenlöcher und der Mund. Jede der Masken zeigte eine andere emotionale Regung: Zur linken von Dras war eine rote Maske, offenkundig aus Rubin gemeißelt, und die Maske sah wütend aus; zur Rechten von Dras war eine blaue Maske, aus Saphirstein, und sie sah traurig aus.
Zusätzlich zu dem älteren Batarianer, der vor ihm war, sah Dras Gläubige vor den Masken niederknien, leise betend, während ein Mönch ihnen zur Seite stand. Die Mönche hielten eine Art Glocke in ihrer Hand, alle in der Farbe der jeweiligen Maske, und ihre Oberfläche war mit diversen Zeichen der batarianischen Schrift verziert worden. Jedes Mal, wenn die Betenden ein bestimmtes Wort sagten, dass Dras nicht verstand, schlugen die Mönche diese Glocke.
Als der junge Batarianer weiterging, erkannte er zu den vielen Luftschächten an der Decke, sogar Fackeln, die an den Säulen hingen. „Feuer?“, wunderte er sich laut, „Hier auf der Citadel?“
Einer der Mönche grüßte den alten Batarianer mit dem Wort ‚Weiser‘, was vermutlich dessen Titel war, bevor er auf Dras‘ Frage antworten konnte: „Wir haben eine Genehmigung.“, erklärte er, während die beiden weitergingen, an den ersten Masken vorbei, „Auch wenn sich C-Sec wohl niemals so tief in das Herz von Pernicies hineintrauen wird.“
„Pernicies?“, hakte Dras neugierig nach, „Ich dachte wir wären in den Devil’s Tips.“
Der Weise blieb plötzlich stehen, wodurch Dras einen Blick auf eine smaragdgrüne Maske und eine violette Maske aus Amethyst werfen konnte. Der alte Batarianer blickte ihn unglücklich an: „Nur Männer wie Groto benutzen diesen abfälligen Namen. Dieser Ort, diese Sektion des Tayseri-Arms, heißt Pernicies. Wenn dir dieser Name nicht gefällt, mein Sohn, würde ich dir empfehlen den Namen ‚Finger der Götter‘ zu benutzen.“
„Finger der Götter?“, fragte Dras neugierig, ein Grinsen zurückhaltend.
Der Alte drehte sich wieder um und führte ihn weiter, bevor er antwortete: „Einstmals haben die Völker der Citadel diesen Bereich dazu genutzt um ihren Göttern zu huldigen. Deswegen bauten sie hier ihre Tempel.“
„Ach deswegen bin ich vor kurzem viel zu lange an der übergroßen, nackten Statue der Asari-Göttin stehengeblieben.“, erwiderte Dras grinsend, sich an seine letzte Ablenkung erinnernd. Was er sonst mit dieser Statue angestellt hatte, verriet er aber nicht.
Der Weise grinste nicht, geschweige denn, dass er lächeln würde, aber auch er schien den Witz dahinter zu verstehen. Er erklärte, leicht amüsiert klingend: „Ich verstehe bis heute nicht warum die Götter eine Rasse voller Frauen erschaffen mussten. Wo ist da der Sinn?“
„Jeder mag Möpse.“, antwortete Dras das erste was ihm in den Sinn kam und er grinste noch breiter. Die beiden passierten jetzt eine Maske aus Diamant und eine aus Bernstein und hatten fast das Ende des Tempels erreicht.
„Wir sollten uns nicht über die Schöpfung der Götter lustig machen.“, erwiderte der alte Batarianer dieses Mal mit strenger Stimme.
„Ach die wissen schon wie sie mich geschaffen haben.“, erwiderte der junge Batarianer immer noch grinsend. Die beiden erreichten nun das Ende des Tempels, dass genauso karg ausgestattet war wie der Rest. Neben den Masken hatte der Tempel nämlich nur diverse Banner mit dem Bild von fünf Augen vorzuweisen – nicht einmal Möbel waren irgendwo zu sehen. Hier am Ende erwarteten die beiden Batarianer wieder zwei Masken, eine aus Silber und eine aus Gold, wobei Dras auch zwei weitere Türen sehen konnte, die ein bisschen Abseits waren.
Der Weise drehte sich zu ihm um. „Nun mein Junge, sag mir welcher Gott dein Schutzpatron ist, dann werde ich dich zu seiner Maske führen.“, erklärte er ganz freundlich.
„Welcher Gott?“, fragte Dras nur, desinteressiert klingend.
Der Weise interpretierte das als nicht selbstverschuldetes Unwissen. „Sag mir zu welcher Kaste du gehörst, dann weiß ich welche Götter du anbetest musst.“, half er Dras.
Dras ergriff sein Kinn. „Zu welcher Kaste ich gehöre? Mal überlegen…“, sagte er ganz laut und seine Mimik und Gestik sah auch sehr überlegend aus.
„Lass dir Zeit.“, erwiderte der Weise geduldig, „Ich habe gelernt, dass der Gebrauch solcher…Mittel das Gedächtnisvermögen negativ beeinflussen kann.“
Dras, der für einen Moment noch unschlüssig aussah, nahm nun eine deutlich sichere Mimik an. „Oh mein Gedächtnis funktioniert wie ein Uhrwerk, alter Mann.“, erklärte er und überraschte den Weisen und einen vorbeigehenden Mönch mit seiner aggressiven Tonlage, „Ich weiß zu welcher Kaste ich gehöre: Ich bin ein Befreiter.“
Die Augen des alten Batarianers weiteten sich vor Überraschung und auch leichter Missmut war auf der Stelle zu erkennen. Auch der vorbeigehende Mönch reagierte mit einem verärgerten Gesichtsausdruck, statt aber irgendetwas zu sagen, ging er einfach weiter um seine Aufgabe zu erfüllen: er trug eine frische Fackel in seiner Hand.
„Du hast mich gehört, nicht wahr alter Mann?“, fragte Dras aus Neugierde, aber vermutlich auch um in der Wunde zu bohren. Er grinste schief.
Der Missmut wich aus dem Gesicht des Weisen und er sah nun entschlossen aus. Er hob seinen Arm und zeigte mit seinem Finger auf die goldene Maske. „Dies ist das Antlitz aus Gold, Symbol des Gottes Arishim, Gott der Gnade und Ordnung.“, erklärte er innbrünstig, „Seine Gnade ist legendär und er nimmt sich auch der Schwachen und Fehlgeleitenden an. Falls du wieder in den Schoß der heiligen Ordnung zurückkehren möchtest, gehe zu ihr, knie dich nieder und bete um deine Erlösung. Wenn du nur innbrünstig genug um sie betest, wird Arishim dir Gnade zu Teil werden lassen und dich einer Kaste zuordnen.“
Dras blickte in Richtung der goldenen Maske. Er grinste breiter. Er ging zu ihr, blickte sie die ganze Zeit über an und ging um sie herum, als würde er sie ganz gründlich inspizieren. Als er die Stelle vor ihr erreichte, blickte er wieder zum Weisen, zeigte auf die Maske und fragte ohne jede Form von Sarkasmus: „Diese Maske?“
„Ja, Arishims Antlitz, golden wie sein Sitz auf Harsa.“, bekräftigte der alte Mann seine Worte und meinte damit Khar’Shans Stern.
Für einen Augenblick schien das Gesicht des jungen Batarianers echtes Interesse zu zeigen, als er sich die Maske anschaute. Aber als sein Blick wieder zurück zum alten Batarianer wechselte, sah er verärgert aus. „Ich soll in den Dreck kriechen um denen zu huldigen, die mich bereits verdammt hatten, bevor ich überhaupt geboren war?“, fragte Dras nun den Alten und ging auf ihn zu, in seiner Stimme schwang die Wut mit, bevor er entschlossen wiederholte, „Ich bin ein Befreiter. Nicht durch Geburt, sondern durch Wahl.“, er zeigte missbilligend auf das Äußere des Weisen, „Ich hab meine Ketten abgestreift und sie bis heute nicht ein einziges Mal vermisst, alter Mann.“, und mit mehr Nachdruck, „Taurosh, der lachende Gott, hat mir dabei geholfen.“
Als Dras diesen Namen gesagt hatte, kniff der Weise seine vier Augen fest zusammen, als hätte er gerade etwas Unappetitliches gehört. Als er sie wieder geöffnet hatte, sah er genauso missmutig aus, wie zuvor, entgegnete leicht verärgert: „Dann kann ich dir nicht helfen.“
„Oh doch du kannst.“, widersprach der jüngere Batarianer, „Denn ich bin hier um das schwarze Antlitz zu sehen.“
Die Augen des alten Batarianers weiteten sich und er sah erschreckt in die vier Augen seines Gegenübers. „Ja, ich weiß davon.“, erklärte Dras zufrieden, dass sein Auftritt funktioniert hatte, „Du solltest deinen Mönchen beibringen sich nicht volllaufen zu lassen, nachdem ihre Schicht hier vorbei ist – sie reden dann nämlich wie aus einem Wasserfall.“
Der Alte blickte in die Richtung des nächstgelegenen Mönches, eindeutig wütend, aber er schluckte seinen Ärger hinunter. „Also führst du mich hin oder muss ich handgreiflich werden?“, fragte Dras nochmal, leicht ungeduldig wirkend.
Der Weise schüttelte seinen Kopf. „Nein.“, antwortete er Zähne knirschend, „Ich zeige es dir – Komm.“
Die beiden gingen zu einer der beiden Türen, die Dras zuvor gesehen hatte. Der Alte aktivierte sein Omni-Tool und tippte dort etwas ein, weswegen sich die Tür öffnete. Die beiden traten in einen verdunkelten Gang, der auch hier wieder von Fackeln erleuchtet wurde. Die Tür schloss sich hinter den beiden, während sie eine Treppe erreichten und dem Weg runter folgten.
„Ziemlich abgeschieden, was?“, fragte Dras in die Finsternis starrend.
„Sein Schrein würde die Gläubigen beim Beten stören.“, erwiderte der Weise, immer noch recht verärgert. Es verging nicht mehr als eine Minute bis die beiden an einer weiteren Tür ankamen. Auch hier tippte der alte Batarianer auf seinem Omni-Tool herum bis die Tür sich öffnete und einen weiteren Raum offenlegte.
Zwei Fackeln beleuchteten auch diesen, während zwischen ihnen eine weitere Maske zu finden war – eine schwarze Maske. Ihr Mund war zu einem richtigen Sichelmond verformt, weswegen die Maske aussah, als würde sie böse grinsen.
Dras blickte sich im würfelförmigen Raum um, während der Tempelvorsteher bei der Tür verweilte. „Richtig kuschelig hier.“, erklärte der jüngere Batarianer sarkastisch, „Fast wie in einem Folterkeller…hab schon bessere gesehen…Und geführt.“
Der Weise schnaubte. „Wenn du nichts anderes willst, dann…“, fing er an, aber Dras unterbrach ihn auf der Stelle: „Da ist noch etwas.“, er blickte in Richtung des alten Batarianers, „Ich hab mich die ganze Zeit eine Sache gefragt: Der Glaube an Taurosh ist zwar nicht offiziell verboten, aber jeder Priester oder Mönch, den ich von ihm reden hörte, beschrieb ihn ja fast wie ein Monster unvergleichlichen Bösen.“
„Ja und?“, fragte der Alte, obwohl er sich die Frage nun denken konnte.
„Warum dann einen Schrein von ihm hier haben?“, fragte er neugierig und wartete auf die Antwort, „Selbst deine betrunkenen Mönche hatten keine Antwort darauf…“
Der Weise zögerte. Dras blickte ihn mit einem neugierigen Blick an, aber dieser Blick war auch fest und machte klar: Keine Spielchen. Am Ende gab der Alte Zähne knirschend zu: „Am Ende sind auch wir Sterbliche…“
Dras blickte zunächst überrascht, aber dann verzog sich sein Gesicht wieder zu einen Grinsen. „Ja denn am Ende gibt es nur ein universelles Gesetz, dass im Ganzen Universum gilt: Jeder stirbt…irgendwann.“, er kicherte, „Du wolltest also Bonuspunkte bei einem Gott an den du nicht glaubst – sehr fromm von dir.“, der Weise blieb schweigsam, „Und nun geh! Dein Uringestank stört meine Kreise!“, und er trat näher an die Maske.
Der Alte zögerte erneut, dieses Mal aber um noch ein paar Worte zu murmeln: „Vergibt ihm, ihr Götter, denn er weiß nicht was er tut.“
„Verschwinde!“, schrie Dras ihm entgegen und endlich verließ der alte Batarianer ihn.
Dras ging zur Maske und kniete sich vor sie hin. Er atmete die sterile Luft der Station ein, bevor er anfing in seinem Mantel herumzukramen. Er holte ein Tuch heraus, aus dem er den bekannten, schwarzen Kristall hervorholte. Er leuchtete bereits und es passierte das, was Dras erhofft hatte: die schwarze Kristallstruktur der Maske fing auch an zu leuchten.
„Endlich…“, murmelte Dras und leckte sich die Lippen, „Hab lang genug darauf gewartet.“, er führte den Kristall an die Maske, aber es passierte nichts weiteres, „Na komm schon! Schieß mich ab. Schieß mich ab! Schieß mich ab!!“
Und dann hörte er auf zu atmen.
Wo bin ich?
Ich versuchte zu hören.
Ich hörte wie Wasser gegen Fels krachte, wie der Wind wehte, wie die Vögel zwitscherten.
Ich versuchte zu riechen.
Ich roch einen stark benebelten Duft, saugte ihn in mich auf und atmete ihn voller Kraft wieder aus.
Ich versuchte zu sehen.
Das Meer erstreckte sich vor mir. Wohin ich auch blickte, es hörte nicht auf. Es war endlos. Es war offen. Es war frei, das freie Meer, Hoffnungsschimmer vieler verzweifelter Gedanken.
Hier an diesem Ort fühlte ich mich befreit. Zum ersten Mal in meinem bedauernswerten Leben war ich es auch. Richtig frei. Ich war den Tränen nahe.
„Wo sind wir hier?“, fragte eine dunkle, hallende Stimme hinter mir.
„Anhur.“, erklärte ich ohne mich umzudrehen, hatte mich bereits gefragt, wann die Stimme kommen würde, „Meine Heimatwelt.“
„Warum hast du diesen Ort gewählt?“, fragte die Stimme ohne Gefühl.
„Weil ich an diesem Tag frei war.“, antwortete ich und atmete die Luft noch einmal tief ein.
„Aber du wurdest doch hinter geschnappt, oder nicht?“, hakte die Stimme nach, neugierig klingend.
Ich nickte und drehte mich nun zu der Stimme um, dabei antwortend: „Und fürchterlich bestraft dafür. Die Narben trage ich bis heute und doch war jede Einzelne von ihnen es wert um das erste Mal das vollkommene Gefühl der Freiheit zu empfinden.“
Es war das zweite Mal, dass ich dieses Wesen vor mir sah, sofern man es als Wesen bezeichnen konnte: Es hatte die Gestalt eines Humanoiden, zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf. Aber sein schwarzes Äußeres war verwischt. Es erinnerte an einen Geist, ein kaputtes Hologramm oder vielleicht auch Rauch. Keine Einzelheiten konnte man auf seinen Äußeren sehen, mit Ausnahme des schwarzen Kristalls in der Mitte. Er ragte aus der Brust des Wesens, lag vermutlich dort wo wir Sterblichen ein Herz haben müssten.
Ich blickte rauf und erkannte einen Unterschied zum letzen Mal: An der Stelle wo ein Gesicht sein sollte, war nun ein Gesicht. Es sah verzerrt aus und erinnerte mich eher an die Maske aus dem Tempel als an ein natürliches Gesicht eines Sterblichen.
„Du hast deinen Teil des Handels eingehalten.“, erklärte das Wesen, dass sich mir damals als Taurosh vorgestellt hatte, „Mein Gesicht ist wieder da.“
„Ich gab einen heiligen Schwur…“, antwortete ich und meinte es auch so, „Und ich halte heilige Schwüre.“
„Ein Dieb, ein Räuber, ein Lügner?“, fragte das Wesen und selbst wenn seine Stimme unheimlich klang, konnte ich die Belustigung heraushören.
„Ich halte meine heiligen Schwüre.“, wiederholte ich nur.
Das Wesen kam nun näher, aber statt zu mir zu gehen, ging es auf die Klippe zu, von wo es auf das Meer blickte. „Das hast du.“, bestätigte es erneut, „Ein Teil meiner selbst ist zu mir zurückgekehrt.“, es blickte mich mit seinem Grimassen-Gesicht an, „Fehlen nur noch fünf weitere Teile.“
„Wo kann ich sie finden?“, fragte ich und hoffte auf einen besseren Hinweis als beim letzten Mal.
Taurosh dachte für einen Moment nach, schien zu überlegen, als könnte er sich nicht erinnern. „Es ist…dort wo du bist…“, antwortete er schlussendlich zögerlich.
„Im Tempel?“, hakte ich nach.
Das Wesen schüttelte seinen Kopf. „Nein, nicht genau wo du bist…das Gebilde auf dem du stehst.“
„Die Citadel?“, hakte ich nach, nicht wissend was ich sonst fragen sollte.
„Die Citadel?“, fragte Taurosh, das Wort nicht kennend, „Was ist das?“
Ich zögerte einen Moment, bevor ich antwortete: „Die Station auf der ich bin.“
Ich konnte ein Gurgeln aus seinem Rachen hören – sofern er einen Rachen hatte – und es klang zufrieden. „Ja, die Station, die die Ältesten erbaut hatten.“, erklärte er, „Ich habe sie dabei beobachtet – sie waren majestätischer als die Station selbst.“
Für einen Moment wusste ich nicht was ich sagen sollte, als mir klar wurde, was Taurosh da gerade gesagt hatte. „Du hast gesehen wie die Protheaner die Citadel erbaut haben?“, fragte ich und wollte eine weitere Frage über sein Alter stellen, aber er kam mir mit einer anderen Frage zuvor: „Protheaner?“
Ich zögerte erneut, mich daran erinnernd, was ich mal über sie gehört hatte – das war nicht viel. „Diejenigen die die Citadel und die Massenportale erbaut haben.“, antwortete ich schlussendlich, „Die vor tausenden von Jahren gelebt haben…sie waren die Ältesten?“
Taurosh blickte mich direkt an mit seinen übergroßen leeren Augen. „Nein.“, antwortete er schlussendlich, „Die Ältesten hatten keinen Namen. Brauchten keinen Namen. Sie waren endlos…und uralt.“
Diese Antwort verwirrte mich umso mehr, aber bevor ich noch etwas sagen konnte, erklärte er: „Lass das Thema nun ruhen – wichtiger ist der nächste Teil meines Körpers.“, er schwieg, erinnerte sich scheinbar wieder, „Ich sehe…Überreste.“
„Überreste?“, fragte ich.
„Ja, Überreste.“, bestätigte er mir und sagte dann nichts mehr.
Als mir das klar wurde, hakte ich nochmal nach: „Ist das alles? Keine weiteren Informationen wo ich das nächste Teil finden kann?“, er nickte, „Oh man, dass ist schlimmer als der Hinweis mit dem ‚Heiligen Boden‘ beim letzten Mal.“
Er ging nun auf mich zu und streckte seinen Arm aus. „Du wirst sie finden, wie du geschworen hast.“, erklärte er nur und berührte meine Stirn, „Und nun geh und erfülle deine Bestimmung.“
Dras atmete wieder ein. Es war ein tiefes Luftholen, als hätte er den Atem für Stunden angehalten gehabt. Er öffnete seine Augen und sah zuerst nichts. Es dauerte wenige Momente bis er verstand, dass etwas auf seinem Gesicht lag. Er hob es hoch und erkannte die schwarze Maske.
„Was…?“, murmelte er verwirrt, als er bemerkte, dass er lag. Er kam hoch, in eine sitzende Position, und sah Feuer.
Aus der Eingangstür des Tempels drangen die Flammen hervor. Die Platten der Türen lag überall zerstreut, in Einzelteile zerschlagen. Vor der Eingangstür erkannte Dras Schatten von Leuten, sich Dinge zurufend.
„Was zum Teufel…?“, murmelte er erneut und versuchte zu verstehen was gesagt wurde: „Schnell holt Wasser!“
„Oder die Feuerwehr!“
„Irgendwen! Wir müssen das Feuer löschen!“
Und dann hörte er eine vertraute Stimme schreien: „Da habt ihr es!“, schrie der verrückte Prophet, „Die Teufel haben euch für eurer Sakrileg bestraft! Möge dieser Ort brennen wie in den Mägen von Taurosh und Endar! Brenne bis nichts mehr übrig ist!“
Dras konnte weitere Schaulustige erkennen, die sich voller Schrecken dem brennenden Tempel näherten. Einige versuchten zu helfen, andere konnten nur erschreckt zusehen wie das Feuer alles versenkte. Der junge Batarianer erkannte auch weitere Gestalten, die offenkundig nach etwas oder jemanden suchten, angeführt vom Weisen des Tempels, der schrie: „Findet ihn!“
Was auch immer passiert war, Dras wusste er musste verschwinden. Schnell verstaute er die Maske in seinem Mantel, erhob er sich und bemerkte dabei wie ihm seine Muskeln wehtaten. Als er das Gewicht auf seine Beine verlagern wollte, knickte er fast ein, konnte sich aber noch rechtzeitig an die Wand pressen. Beim zweiten Mal gelang ihm das Verlagern des Gewichts auf seine Beine und er humpelte mehr als das er ging – aber er verließ den Ort so schnell wie möglich.