Zwei Arten von Toten

Für Jüdex

Sogar jetzt, wo er tot ist, kommt er jede Nacht zurück, um mich zu besuchen. Ich sehe ihn durch das Küchenfenster. Wenn Zeit noch irgendeine Rolle spielen würde in dieser Welt, könnte man die Uhr nach Lobarts Ankunft stellen. Wenn der glühende Ball der Sonne im Meer versinkt und es erst orange, dann blutrot färbt, und der Mond wie eine Silbermünze am Himmel steht, kommt er den langen, gewundenen Weg zu unserem Hof hinauf. Sein zerschmettertes Bein zieht er wie einen unwilligen Hund hinter sich her. Ich frage mich oft, wie er damit überhaupt noch gehen kann. Ein Stück des Knochens ragt unterhalb des Knies aus seinem Bein, und das umliegende Fleisch glänzt purpurn. Nicht, dass er noch Schmerzen spüren könnte, aber ich warte darauf, dass der übrige Knochen splittert und er einfach umfällt. Seine Brust ist eingefallen, ebenso seine Wangen und Augen. Sein Hemd hängt in Fetzen an seinem Gerippe, eines meiner Lieblingshemden. Es ist - oder war - hellblau, durchwirkt mit feinen, dunklen Streifen, schlicht und klar, so wie Lobart selbst. Jetzt ist es das natürlich nicht mehr, es klebt von Schmutz und Laub und trockenen Spritzern einer braunen Substanz, die Schlamm sein könnte, aber es vermutlich nicht ist. Sein Haar ist stumpf und voller Kletten, und obwohl ich es in der Dunkelheit nicht richtig erkennen kann, glaube ich, dass es von Maden und Käfern in einer stetigen, sanften Bewegung gehalten wird.
Sein Körper mag sich verändert haben, aber er ist immer noch der Mann, in den ich mich verliebt habe, immer noch der anziehendste Mann, den ich je kennengelernt habe, immer noch mein Ehemann. Und immer noch bin ich von Liebe zu ihm erfüllt. Das hat sich durch den Tod nicht geändert, im Gegenteil. Der Körper zerfällt, aber die Erinnerungen bleiben unberührt. Warum sollte er sonst jede Nacht zurückkehren und das Haus anstarren, in dem wir fünfzehn glückliche Jahre verbracht haben? Wenn er nur auf der Suche nach Nahrung wäre, hätte er längst aufgegeben und sich auf den Weg zu einem der anderen Höfe oder nach Khorinis selbst gemacht. Dort haben sich bestimmt noch einige Menschen in ihren Häusern und Gehöften verschanzt und sind zu verängstigt oder zu dumm, sich ruhig zu verhalten. Leichte Beute.
Was Lobart tagsüber macht, weiß ich nicht. Sicherlich schläft er nicht, denn Tote schlafen nie. Vielleicht wandert er auf der Insel herum, auf der Suche nach Beute. Warum aber kehrt er jede Nacht zurück? Ich bin mir sicher, dass er nicht weiß, dass ich noch im Haus bin. Ganz gleich, wie lange er auf die vernagelten Fenster starrt oder die mit Eichenbohlen verriegelte Tür, er kann nicht ins Haus hineinsehen. Er kann mich weder sehen noch hören. Warum kommt Lobart trotzdem immer wieder zurück?
Er erinnert sich, vielleicht anders, als Lebende sich erinnern, aber irgendwo in der verfaulenden Ruine seines Gehirns gibt es eine Erinnerung an diesen Ort, an dem er einmal lebte. Vielleicht auch an mich.
Bei unserem ersten Zusammentreffen fand ich Lobart furchtbar. Er war ein betrunkener junger Mann in einer Hafenkneipe, der mit seinesgleichen entsetzlich dumme Reden auf den König und den Krieg schwang, und ich war ein junges Mädchen, das die Brotlaibe aus der Backstube meiner Mutter auslieferte. Als ich den Schankraum betrat, hoben ihm gerade zwei junge Frauen - eine blonde und eine dunkelhaarige, beide auf eine Art gekleidet, die meine Mutter bestimmt nicht gebilligt hätte - abwechselnd einen Bierkrug an den Mund. Ich blickte einen Moment lang in seine Richtung und wandte mich sofort wieder ab.
Vom alten Orwil, der damals der Wirt der Hafenkneipe war, hatte Lobart meinen Namen erfahren, und nachdem er mich zwei Monate lang immer wieder um eine Verabredung gebeten hatte, gab ich nach. Wir sahen uns die Vorstellung einer fahrenden Truppe an - er fand es großartig, ich fand es schrecklich -, danach gingen wir in einem Gasthof essen - er bestellte sich Scavengerbraten, ich Salat - und schließlich fanden wir uns auf einer sanften Anhöhe vor den Toren von Khorinis wieder, betrachteten das silbrige, zitternde Bild des Mondes auf dem schwarzen, ruhigen Wasser, lauschten den Geräuschen des Meeres und der Nacht und redeten. Wir waren berauscht vom Duft der Erde und der Frühlingsblätter, von unserer Jugend und voneinander, wir redeten die ganze Nacht, und es war wundervoll. Als die Sonne aufging, bat er mich um eine weitere Verabredung, und ich sagte ja. Wir trafen uns jahrelang und trennten uns ein Dutzend Mal, ehe er schließlich um meine Hand anhielt. Es war nicht so, dass wir ständig stritten, wir waren nur sehr verschieden. Wir hatten einige wenige oberflächliche Gemeinsamkeiten, aber im Kern waren wir völlig verschieden. Es gibt - oder gab - zwei Arten von Menschen, Lobart und mich. Aber wir schafften es trotzdem. Wir waren glücklich.
Bis der "Fluch" über Khorinis kam. Es passierte während des Feuerblütenfestes, und soweit ich weiß, brach unter den Ratten der Kanalisation eine Krankheit aus, die aus toten Ratten hirnlose, verfaulende Geschöpfe machte, die irgendjemand als "Haie zu Lande" bezeichnete. Ich fand das damals lustig, jetzt jedoch nicht mehr. Einige behaupteten, die Magier des Klosters seien auf irgendeine Weise dafür verantwortlich gewesen, dass erst die Ratten, dann die Menschen von Khorinis starben und doch nicht tot waren, sondern, wie von der Hand eines grausamen Puppenspielers geführt, durch die Straßen zogen, todbringend und fressend, während ihr Körper auseinanderfiel wie ein schlecht gefertigtes Spielzeug. Der Fluch überwand die Stadtgrenzen und sprang auf die umliegenden Höfe über, die königliche Miliz war machtlos. Man konnte die Toten zwar außer Gefecht setzen, indem man ihnen das Gehirn durchbohrte, aber die Krankheit konnte man nicht aufhalten. Der Fluch wütete auf der ganzen Insel wie ein schrecklicher König, er unterjochte die Menschen und Tiere, die Lebenden und die Toten. Lobart und ich blieben im Haus und verbarrikadierten uns, Vorräte hatten wir genug und unser Haus besaß einen Tiefbrunnen, und außerdem hatten wir Waffen. Wir würden eine ganze Zeit lang auskommen. Gemeinsam warteten wir darauf, dass der Fluch seinen Griff um Khorinis lockerte. Dass die Krankheit nach einem letzten Aufflackern vorüberging. Dass jemand kam, um uns mitzuteilen, dass die Gefahr vorüber war. Doch es kam nie jemand.
Lobart starb vor einer Woche. Er hatte für einen Moment das Fenster geöffnet, um den Eimer auszuleeren, den wir als Toilette benutzten. Eine tote Krähe mit staubigschwarzem, zerzaustem Gefieder hatte ihn in den Nacken gepickt. Es war nur ein Kratzer, es blutete nicht einmal.
Doch es reichte aus.
Lobart starb noch in derselben Nacht. Ich wusste, was zu tun war. Die einzige Möglichkeit, die Toten von ihrer entsetzlichen Auferstehung abzuhalten, besteht darin, ihren Schädel zu durchbohren. Lobart lag blass und still vor mir, und ich setzte ein langes Messer an die Seite seines Kopfes. Doch mich verließ der Mut, ich konnte es nicht tun, nicht bei Lobart. Nicht bei dem Mann, den ich liebe. Stattdessen brach ich die Tür auf und schleifte seinen Körper ins Freie. Am nächsten Morgen war er verschwunden.
Das war der Moment, in dem ich das Messer ein zweites Mal in die Hand nahm. Das rosa Licht der aufgehenden Sonne spiegelte sich in der Klinge. Diesmal hatte ich den Mut und ich tat, was ich bei meinem Mann hätte tun sollen. Die Klinge drang überraschend leicht durch mein Auge in mein Gehirn ein, und ich war tot, bevor ich auf dem Boden aufschlug. Damit hätte es eigentlich vorbei sein sollen.
Doch irgendwie kam ich zurück. Aber nicht wie Lobart und die anderen armen Seelen, die der Fluch dahingerafft hat. Ich gehöre zu einer anderen Art von Toten. Mein Körper verwest friedlich und reglos auf dem Küchenfußboden, aber ich stecke nicht mehr in ihm. Ich kann ihm nur dabei zusehen, wie er langsam verfault. Nicht einmal die Küche verlassen kann ich. Da ist kein Licht, keine Stimmen aus der Ewigkeit, die mich rufen. Nichts. Da bin nur ich. Und Lobart vor dem Küchenfenster.
Ich kann ihn nicht berühren oder ihm folgen. Natürlich habe ich versucht, mit ihm zu reden, ihm zu sagen, dass ich noch immer da bin, aber meine Stimme ist nur der Wind, und ich glaube, er bemerkt sie nicht. Jede Nacht weine ich für uns, doch ich habe keine Tränen, und mein Schluchzen ist nur eine leichte Brise, die vom Meer hinüberweht.
Es gab einmal zwei Arten von Menschen auf der Welt. Jetzt, nach dem Fluch, gibt es zwei Arten von Toten, meine und Lobarts Art.
Wir haben es schon einmal geschafft.
Ob wir es ein zweites Mal schaffen?