Kapitel I

Es sah nach Regen aus. Aber es fiel kein einziger Tropfen. Seb schaute hinauf in den Himmel und verfluchte ihn. Die letzten Tage hatte es fast ständig geregnet. Tag und Nacht. Und ausgerechnet an diesem Abend musste es aufhören. Er senkte seinen Blick und sah seine dreckigen Fingernägel. Sie hatten nicht genug Schaufeln, damit auch er mitgraben konnte. Aber er wollte es unbedingt, er musste. Also hatte er seine Hände benutzt. Der Boden war kalt und feucht, die Arbeit eine Tortur, die für Seb nicht zu lange dauern konnte. Es schien so, als ob er sich für den Tod von Zahra bestrafen wollte. Aber alle wussten, dass er ihn nicht verhindern hätte können. Er grub, bis er seine Hände nicht mehr hochheben konnte. Dann keuchte er laut und sah, wie die anderen aufgehört hatten zu graben, weil es nichts mehr zu graben gab. Sie schauten ihn mit traurigen Blicken an.

Zu fünft standen sie nun um das Grab herum. Keiner traute sich, etwas zu sagen. Der junge Viktorus stand genau gegenüber Seb. Nein, du darfst keine Schwäche zeigen, dachte sich dieser. Du darfst jetzt keine einzige Träne vergießen! Viktorus brauchte einen, zu dem er aufschauen konnte und Seb hatte sich freiwillig dazu bereit erklärt, eben diese Person zu sein. Der Junge war zwar erst elf Jahre alt, hatte aber schon viel erlebt. Zu viel. Und jetzt auch noch das. Seb konnte sich kaum vorstellen, was in seinem Schützling vorging. Allein darüber nachzudenken, löste in ihm ein Gefühl der Kapitulation aus. Aber er durfte nicht aufgeben. Er musste jetzt stark sein, für Viktorus, für Iotar, für Marta und alle anderen. Sie brauchten ihn mindestens genauso sehr, wie er sie brauchte. Das Leben in der Gemeinschaft war in letzter Zeit schon hart genug gewesen. Vor allem, nachdem die Paladine angefangen hatten, härter gegen Seb und die anderen vorzugehen. Aber ohne die Mutter, wie Zahra von allen liebevoll genannt wurde, stand das Überleben der ganzen Gruppe auf der Kippe. Zumal Mart, Arthag, Wilfied und Jusko nach ihrem Aufbruch zu ihrer sinnlosen „Expedition“ vor über einer Woche noch nicht zurückgekehrt waren. Seb wollte nicht darüber nachdenken, was mit ihnen geschehen sein konnte. Er war der festen Überzeugung, dass seine vier Kameraden heil wieder heimkommen würden. Wie sie wohl auf die Nachricht von Zahras Tod reagieren werden? Sie hatten sie alle geliebt, vor allem Arthag, der von der Mutter aufgenommen und aufgezogen worden war. Sie hatte sich um das verstoßene Ork-Kind gekümmert, als ob es ihr eigenes wäre.

Seb wurde es zu viel. Er hielt es nicht mehr aus, drehte sich um und ging Richtung Höhle des Adels, wie er sie scherzhaft nannte. Er war schon fast am Höhleneingang angelangt, als er einen lähmenden Schmerz in der Kniekehle spürte. Er musste sich ziemlich zusammenreißen, um nicht auf dem harten Boden zu landen. Dann drehte er sich um und sah, dass Viktorus hinter ihm war. Er dürfte Seb in die Kniekehle getreten haben. Der Junge hatte schon immer kräftige Beine, dachte sich Seb und setzte sich ein falsches Lächeln auf. Viktorus aber ließ sich nicht beirren. Sein Gesicht war mit Tränen übergossen, trotzdem schien er wütender zu sein als er traurig war. Er atmete laut, seine Brust hob und sank sich. Seb hatte das Gefühl, dass dieser Augenblick Jahrzehnte dauerte. Sein Lächeln war längst vergangen. Viktorus schrie ihn an: „Du Feigling!“, machte wieder kehrt und ging zu den anderen. Ohne einen einzigen Grund zu haben, weiterhin zu stehen, sank Seb auf den Boden und ließ den Kopf hängen. Seine dunklen Haare waren platschnass durch den Schweiß. Er wusste nicht, was er tun sollte.