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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Post [Story]Megalithen

    Megalithen
    Die Wächter des Eiskreises


    Zum Eiskreis


    Das Leben ist facettenreich und voller Verzweigungen, so wie die Struktur eines Schneekristalls.
    Und so wie es überall dort, wo man ein Leben findet, noch weitere Leben gibt,
    wird man auch einen Schneekristall nie allein vorfinden.
    Er entsteht in einer zumeist etwas unförmigen Gestalt, die gemeinhin als Flocke bezeichnet wird.
    Unter der natürlichen Anziehungskraft fällt sie aus den Wolken kalter Lande und schultert die Bürde ihrer Reise.
    Manch ein Kristall braucht auf seinem Weg länger, manch einer überwindet ihn in atemberaubender Geschwindigkeit.
    Wehrlos gegen stürmische Winde werden einige vom Weg abgebracht, schlagen endlose Kapriolen am mitternachtsblauen Himmel,
    trotzen den Naturgewalten und schreiten dennoch unbeirrt voran.
    Und wenn sie ihren Weg hinter sich gebracht haben, dann vereinigen sie sich mit all ihren Artgenossen zu einer geschlossenen Decke, makellos und schön.
    Obwohl das Ende jedes Schneekristalls dasselbe ist, so ist sein Weg dorthin doch bewundernswert einzigartig.




    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Navius
    Person B: Garox
    Person C: Shiva
    Person D: Horetius
    Person E: Cecilia

    Gegenstand A: Waagschalen
    Gegenstand B: Shivas Träne

    Ort A: Der Tempel des Meeres
    Ort B: Al Shedim

    Ereignis A: Adanos' Flut, die das Alte Volk von Varant auslöschte
    Geändert von MiMo (30.08.2018 um 13:24 Uhr)

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    Eine einzelne Schneeflocke fiel aus dem sternenklaren Nachthimmel und landete auf einem Megalith aus Eis. Es zischte nicht einmal, als sie verdampfte und für immer verschwand. Das Eis leuchtete aus seinem Inneren und tauchte seine Umgebung in flackernde Schatten. Es hätte ein großes Feuer sein können, das sich zwischen den Teilen der glimmenden Eisformation erhob, doch es war etwas viel Ungewöhnlicheres. Merdarions Blick ruhte auf dem grellen Licht, obwohl es ihn schon seit Stunden blendete. Anfangs war es noch ein kleiner Stern direkt über der unberührten Schneedecke gewesen, doch mit der Zeit war es größer und größer geworden. Er hatte seinen Blick nicht ein einziges Mal abgewandt, obwohl seine Augäpfel schmerzten und schon lange nicht mehr tränten. Verbissen hielt er seine Position, die Arme vor sich ausgestreckt, um das Licht in Schach zu halten. Die weiten Ärmel seiner blauen Robe flatterten im Wind. Seine Arme schmerzten, die Kälte war ihm schon längst durch Mark und Bein gedrungen. Merdarion hätte mit den Zähnen geklappert, hätte er sie nicht so fest zusammengebissen. Unbeirrt ging sein Blick geradeaus, streckten sich seine Finger nach der Magie, stemmten sich seine Beine in den tiefen Schnee. Und der Wind toste, wehrte sich gegen das dunkle Ritual. Der Schnee selbst schien sich aufbäumen zu wollen. Die Natur heulte jedes Mal, wenn die Lichtkugel wuchs und noch heller wurde. Bald überblendete es das Blau seiner Wassermagierrobe, das fahle Grün der Tannen und selbst das Schwarz der fernen Berge. Die ganze Welt verschwand in dem heiligen Licht.
    „Merdarion!“, donnerte eine zornige Stimme durch das Brausen der Natur. „Was tust du denn da! Hör auf! Du musst…“ Doch das Inferno der Welt schwoll an und übertönte alles. Um Merdarion tobte der Orkan aus Wind und Magie, Schnee und Eis, Licht und Licht.

    Seine nackten Füße glitten über das Eis. Er trug den frisch gebrühten Tee und eine kristalline Tasse zu einem Beistelltischchen und ließ sich in den Lehnstuhl daneben sinken. Er füllte seinen Becher mit dampfender Flüssigkeit.
    Die Teetasse war warm, als er sie mit seinen Händen umschloss und an den Mund führte. Er wusste die Vorzüge von Wärme zu schätzen, auch wenn er nie fror. Ein Lächeln hob seine Mundwinkel, als der frisch aufgesetzte Sud seine Kehle hinunter rann und das Aroma sich in seinem Rachen entfaltete. Grüner Takarigua, das war sein liebster. Während er sich entspannt in seinem Stuhl zurücklehnte und seinen Tee genoss, verlor sich sein Blick in den Sternenhimmel. Es war eine wolkenleere Nacht über Nordmar und Tausende Sterne glitzerten hinter dem Eis, das anstelle von Glas sein Fenster gegen den Nordwind verriegelte.
    Einen kostbaren Moment lang saß er einfach nur da, genoss den Geschmack auf seiner Zunge, die Wärme in seinen Händen, den malerischen Anblick. Dann fuhr ihm ein Schmerz in die Brust, wie er ihn noch nie gefühlt hatte. Die Tasse entglitt seinen Fingern und zerschellte auf dem Boden. Der heiße Tee ätzte sich in das Eis, während Navius sich an die Brust griff und röchelnd nach Luft japste. Was ging da vor? Etwas stimmte nicht. Seit über fünfhundert Jahren kannte er weder Altern noch Krankheit. Schwankend hob er sich auf seine Füße. Machte einen Schritt und trat in den grünen Takarigua. Der Schmerz in seiner Brust verebbte nur langsam. Er hinterließ eine Erschöpfung, die er so nicht von sich kannte.
    „Das kann nicht sein“, murmelte er und sein Blick glitt fahrig über seine zitternden Hände. Er sagte es nicht, um sich etwas einzureden, sich selbst zu bestätigen, dass nicht sein konnte, was er im ersten Moment erwogen hatte. Er sprach es aus als Tatsache. Es konnte nicht sein, dass der Eiskreis seine Kraft verlor. Sie war von göttlicher Qualität und für alle Ewigkeit an den Morgrad gebunden. Er warf einen weiteren Blick aus dem Fenster, verengte die Augen. Er schritt zu seiner Garderobe und warf sich seine schneeweiße Robe über. Es war ein Stern zu viel zu sehen. Er musste dem auf den Grund gehen. Er rannte die Wendeltreppe im Zentrum seines Turms herab. Immer noch spürte er diese ungewohnte Erschöpfung.
    Doch erst als er aus seinem Turm aus Eis hinaus in den unberührten Schnee und den unbarmherzigen Wind Nordmars trat, wurde er sich gewahr, dass ganz sicher etwas nicht stimmte. Riesige Nadeln aus schwarzem Stein steckten zwischen den Tannen. Kaum dass er seinen Turm verlassen hatte, leuchteten sie bedrohlich auf und scharlachrote Barrieren spannten sich knisternd zwischen ihnen auf.

    „Was sollen wir tun?“, brüllte Cronos, beide Arme gegen den tobenden Schneesturm erhoben, der sich vor ihnen entfaltet hatte.
    „Er hört uns einfach nicht“, erwiderte Saturas gereizt. Er hielt seine Hände auf Brusthöhe, bereit für den nächsten Zauber, doch er schien auch nicht mehr zu wissen, was er noch tun sollte. Hiflos sah er zu der Hügelkuppe hinauf, während Hagel ihm erbarmungslos ins Gesicht prasselte. Merdarion stand inmitten des legendären Eiskreises, umgeben von einem Kokon aus Naturgewalten, unerreichbar.
    „Ich habe nie daran geglaubt, dass es ihn wirklich gibt“, sagte Myxir ehrfurchtsvoll. „Das ist doch eine Geschichte für Kinder!“ Sechs Megalithen aus Eis ragten aus dem Schnee und leuchteten hell. Zwei weitere Eismegalithen ergänzten je zwei der senkrechten zu Bögen, doch das letzte Paar war leer. Saturas konnte nur raten, was mit dem neunten Megalith geschehen war.
    „Wir wissen nicht, was für ein Ritual dort oben abgehalten wird. Es könnte lebensgefährlich sein, jetzt dort hochzugehen. Aber es muss getan werden.“ Saturas schloss für einen Moment seine Augen, dann sah er wieder entschlossener zum Eiskreis hinauf. „Gehen wir!“
    Er befreite seine Beine aus dem knietiefen Schnee und stapfte voran, den Oberkörper tief gegen den Orkan geneigt. Ihr Ziel leuchtete so hell, dass es blendete. Nun hob auch Saturas seinen Arm vors Gesicht, um nicht von den magischen Energien geblendet zu werden. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Eiskreis erreicht hatten.
    „Merdarion!“, brüllte Saturas noch einmal. Er war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Der Wind zerrte an ihren Roben. Sie konnten kaum noch weiter in das Zentrum des Sturms vordringen. Das Licht füllte nun fast den gesamten Raum zwischen den Megalithen aus.
    „Hinfort mit euch!“, antwortete Merdarion mit schrecklich verzerrter Stimme. „Ihr müsst fliehen!“ Es schien ihn seine ganze Kraft zu kosten, seine Arme weiter auf das Licht zu richten. Sie zitterten offensichtlich vor Anstrengung.
    Das Licht schoss einer Säule gleich in den Himmel auf. Es gab einen Knall, der alles übertönte, und eine Druckwelle, die Saturas, Myxir und Cronos von den Füßen warf und den Abhang hinunterfegte. Saturas war als erster wieder auf den Beinen, wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. Zuerst glaubte er von dem Knall taub geworden zu sein. Doch dann stellte er fest, dass nicht nur das Tosen des Sturms in Stille gemündet war, sondern auch der Sturm selbst sich mit der Druckwelle gelegt zu haben schien. Im Vergleich zu dem Getöse zuvor wirkte die Ruhe gespenstisch. Nichts regte sich außer den vereinzelten Schneeflocken, die noch durch die Luft tanzten. Die Lichtsäule im Zentrum des Eiskreises verblasste und mit ihr auch das Leuchten der Megalithen. Mit einem Mal war der Hügel nicht nur in Stille sondern auch in Dunkelheit gehüllt.
    „Merdarion!“, schrie Cronos und dieses Mal hörten sie das Echo, das von den hohen Felswänden zurückgeworfen wurde. Cronos hastete auf den Eiskreis zu, doch Saturas hielt ihn zurück. „Warte, Cronos!“ Er gehorchte sofort. Saturas war froh darüber, denn er hatte ein eigentümliches Knacken gehört, auf das er sich noch keinen Reim machen konnte. Gerade als er seinen beiden Gefährten davon erzählen wollte, wiederholte sich das Knacken um ein vielfaches lauter.
    „Der Eiskreis!“, entfuhr es Myxir erschüttert. Die Megalithen waren plötzlich von Rissen durchzogen, die sich wie im Zeitraffer tiefer in das Eis fraßen. Dann zerbrach die eindrucksvolle Eisformation. Die Megalithen zerstoben in Myriaden kleiner, funkelnder Eiskristalle, die einfach in der Luft verpufften. Ein gespenstisches Heulen hob an. Und dieses Mal war Saturas sich tatsächlich sicher, dass es nicht von dieser Welt kam. Schattenhafte Umrisse stiegen aus den Löchern empor, in denen einst die Megalithen gesteckt hatten. Die Seelen stiegen in den Himmel, verdunkelten für einen Augenblick die Sterne, und waren fort. Mit ihnen ihr jammervolles Klagen.
    Jetzt erst bemerkte Saturas, dass die Druckwelle auch den Schnee von der Hügelkuppe gefegt hatte. Kahl und granitschwarz lag der nackte Morgrad da. Merdarion schwankte einsam in der windstillen Nacht, kaum noch zu erkennen vor dem dunklen Wald. Hinter ihm schwebte ein blau funkelnder Fokusstein, der seine Silhouette schwach beleuchtete. Saturas riss sich aus seiner Starre und lief den Hügel hinauf. Cronos und Myxir schlossen sich ihm an, doch noch bevor sie Merdarion erreicht hatten, hielten sie fast zeitgleich inne. Hinter Merdarion stand eine zweite Gestalt, in ihrer schwarzen Robe mit den lilafarbenen Stickereien noch weniger von der Nacht zu unterscheiden. Der Fokus schwebte diesem Mann in die ausgebreiteten Arme und verschwand in einem Ärmel der Schwarzmagierrobe.
    „Wer bist du?“, rief Saturas angriffslustig. „Was hast du mit Merdarion und dem Eiskreis gemacht?“
    Der Schwarzmagier hatte sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen, doch nun hob er sein Kinn, sodass man seine hellen Augen sehen konnte. Sie schienen selbst in seinem bleichen Gesicht zu leuchten. „Belästigt mich nicht. Vergesst euren Freund und verschwindet von hier. Der Merdarion, den ihr gekannt habt, den gibt es nicht mehr. Es gibt nichts, was ihr noch tun könnt. Also lasst mich in Ruhe auf den Mann warten, der die finale Stufe meines Plans einläuten wird.“ Ein dünnes Lächeln kräuselte den lippenlosen Mund. Es war ein gänzlich freudloses, gieriges Lächeln.
    „Merdarion, was ist denn mit dir?“ Myxir ignorierte die Worte des Fremden und trat zu seinem Freund, der merkwürdig teilnahmslos dastand. Selbst als Myxir ihn am Arm packte, regte er sich nicht. Myxir stockte der Atem. „Was hast du ihm angetan? Seine Augen… sind komplett weiß!“
    „Das hat nichts mit meiner Magie zu tun“, antwortete der Fremde gelangweilt. „Das Licht, das bei dem Ritual freigesetzt wurde, zerstörte die Farbpigmente seiner Iris und schmolz seine Linsen. Ich hielt es nicht für nötig das Augenlicht eines Mannes zu bewahren, der ohnehin nichts als sein Ende vor sich sehen könnte.“
    „Es reicht!“, rief Saturas und breitete seine Arme aus. Während in seiner Linken Eiskristalle zu tanzen begannen, wurde die Rechte in ein purpurnes Licht getaucht. „Wir Wassermagier sind ein friedfertiges Volk, doch du wirst uns noch einige Fragen beantworten müssen. Du hast nicht nur einem unserer Brüder übel mitgespielt, sondern auch einen heiligen Ort entweiht!“ Cronos zog seine magische Keule und stellte sich an Saturas‘ Seite. Myxir zerrte Merdarion von dem Schwarzmagier weg. Er folgte ihm nur widerwillig.
    „Ich hatte doch gesagt, dass ihr mich nicht belästigen sollt!“ Die Augen des Schwarzmagiers verengten sich.
    „Du gebietest nicht über uns. Wir sind es, die über dich richten!“, rief Saturas und schlug seine Hände zusammen. Das rote Licht verschmolz mit den Eiskristallen, die Magie knisterte in der Luft. Doch plötzlich verschwand der grimmige Ausdruck aus Saturas Gesicht. Blanke Panik weitete seine Augen. Saturas stieß einen schrillen Schrei aus, zuckte am ganzen Körper. Der Zauber in seinen Händen verpuffte wirkungslos, während sein Körper scheinbar am Genick gepackt in die Höhe gerissen wurde. Seine Augen drehten sich in den Kopf, während seine Schreie sich überschlugen. Genauso plötzlich wie es begonnen hatte, stürzte Saturas zurück auf den Hügel. Wie ein nasser Sack klatschte er auf den schwarzen Stein.
    „Saturas! Was ist mit dir?“, Cronos fiel neben Saturas auf die Knie, doch der oberste Wassermagier antwortete ihm nicht. Die Augen drehten sich in ihren Höhlen in die bizarrsten Richtungen. Noch ehe Cronos einen klaren Gedanken fassen konnte, ließ ihn ein ersticktes Gurgeln auffahren. Ein Schaudern überlief seinen Körper: Merdarion kniete auf Myxir und drückte ihm mit beiden Händen den Hals zu. Myxir röchelte und strampelte, schlug mit seinen Händen auf die Arme des erblindeten Bruders ein, doch Merdarion zeigte abermals nicht die leiseste Regung. Als Cronos aufgesprungen war und die beiden erreicht hatte, wurden Myxirs Bewegungen schon beängstigend schwach. Cronos dachte nicht mehr lange nach, er holte einfach aus und schlug Merdarion seine Keule in die ungeschützte Seite. Merdarion wurde zur Seite gerissen und überschlug sich mehrmals, ehe er auf dem Rücken liegen blieb, alle Gliedmaßen von sich gestreckt. Cronos wartete noch kurz ab, ob er sich noch einmal regen würde, erst dann wandte er sich Myxir zu, der krächzend nach Luft schnappte.
    „Was seid ihr doch für ein lästiges Völkchen“, flüsterte der Schwarzmagier und hob langsam eine Hand. „Es wird Zeit, euch endlich zu zerquetschen. Ihr stört hier.“
    Cronos bemerkte die Bewegung des Schwarzmagiers aus dem Augenwinkel und sah auf. Synchron mit dem Arm des Fremden hoben sich viele weitere Arme. Dünne und dicke, angeknabberte und verstümmelte. Der Boden brach auf, soweit das Auge reichte. Überall zogen sich schleimige, verweste Körper aus dem gefrorenen Boden und dem harten Stein. Cronos versuchte noch sie zu zählen, gab sich dann aber mit der Erkenntnis ab, dass es eine mindestens dreistellige Anzahl Zombies war, die den Hügel umzingelt hatte. Und der ihm nächste stand nicht einmal eine Manneslänge von ihm entfernt. Seine Knie wollten ihn nicht tragen, doch er erhob sich, die Keule in der Hand. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wie er so viele Zombies erschlagen sollte. Er hatte sich schon immer besser auf die Verzauberung von Artefakten verstanden als auf die mächtigere Magie. Saturas hätte die Armee der Untoten wahrscheinlich mit nur einem Zauber zu Beliar zurückgejagt, gestand er sich verzweifelt ein. Doch Saturas schien immer noch bewusstlos. Der erste Zombie griff nach einem Bein des Hochmagiers und leckte sich mit einer grünen Zunge die zerfetzten Lippen. Hunderte krochen, taumelten und sprangen auf die Hügelkuppe zu. Cronos stand wie angewurzelt da und wartete auf das Ende.
    Doch da kam der Schneesturm zurück. Das Tosen des Windes erfüllte die Luft und begrub das Röcheln der Zombies unter sich. Die Bewegungen der Untoten wurden langsamer. Eisflechten sprossen auf ihrer schmutzigen Haut. Als der Wind sich legte, stand Cronos in einem Eisfigurenkabinett. Und direkt neben ihm ein Mann in einer weißen Robe, den er noch nie zuvor gesehen hatte, aber sofort erkannte: Der Schneemagier.

    Als Navius auf der so vertrauten und entstellten Hügelkuppe gelandet war, gab er sich für einen kurzen Moment seinen Gefühlen hin. Er war kaum noch imstande, welche zu empfinden. Die Jahrhunderte in der Einsamkeit hatten bei ihrer Verkümmerung gewiss eine ebenso tragende Rolle gespielt wie das Zurücklassen seiner Menschlichkeit, an dem Tag, an dem er die Verbindung mit dem Eiskreis eingegangen war. Doch in diesem Moment spürte er längst nicht nur den scharfen Schmerz in seiner Brust, wo die fünfhundert Jahre alte Verbindung gekappt worden war. Er fühlte sich auch unsicher. Zum ersten Mal seit fünfhundert Jahren war er wieder sterblich, dessen war er sich inzwischen sicher. Und zugleich sah er sich mit einer unbekannten Gefahr konfrontiert. Der Eiskreis war restlos zerstört. Es war nicht nur die Bande zu ihm gekappt worden, die Megalithen waren verschwunden, die heilige Kraft aus dem Stein gesogen. Dieser Hügel war nur noch eine beliebige Felsformation, wie es sie in Nordmar in unzählbarer Menge gab. Das Gefühl der Angst, das fast vergessen gewesen war, nagte an seinem Bewusstsein, hatte sich unwesentlich gelegt, seit er die hunderten Zombies eingefroren hatte. Offenbar war ein Teil von Adanos‘ Kraft in ihm verblieben. Doch er schärfte sich ein, dass er sie gut einteilen musste, denn unerschöpflich war sie nun gewiss nicht mehr. Während Schmerz und Angst zu Begleiterscheinungen seiner Wahrnehmung verebbt waren, hatte sich ein ganz anderes Gefühl in den Vordergrund gespielt. Ebenso lange vergessen wie die Angst. Zornfunkelnd fasste er den Schwarzmagier ins Auge, den er sofort wiedererkannt hatte. „Garox!“, schrie er den Schwarzmagier an. „Du bist endgültig zu weit gegangen!“
    „Ich freue mich, dich wiederzusehen“, erwiderte Garox und wieder umspielte dieses freudlose Lächeln seinen Mund.
    „Spar dir deine hämischen Floskeln!“, donnerte Navius. „Du händigst mir sofort den Fokus aus! Ich spüre, wie der Eiskreis nach mir ruft!“
    „Der Eiskreis bleibt fürs erste in meinem Besitz“, entgegnete Garox gelassen. „Ich bin nicht hier geblieben, um mit dir zu verhandeln, oder gar wie in alten Zeiten zu kämpfen. Auch wenn meine Chancen dieses Mal besser stünden denn je, nicht wahr?“ Triumphal hatte er seine Stimme erhoben.
    „Ob es zu einem Kampf kommt oder nicht, hast du nicht zu entscheiden!“, rief Navius und breitete seine Arme aus. Speere aus Eis materialisierten sich mitten in der Luft, die Spitzen zitternd auf den Schwarzmagier gerichtet. „Du bist heute Nacht zum größten Ketzer geworden. Dafür werde ich dich persönlich zur Rechenschaft ziehen!“ Die Eisspeere sirrten durch die Luft. Einen Lidschlag später zerbrachen sie in Myriaden kleiner Eissplitter. Um Garox waren fünf der schwarzen Steinsäulen erschienen, die Navius schon bei seinem Turm eingesperrt hatten. Auch hier spannten sich rot flirrende Barrieren zwischen ihnen. Wieder kochte in Navius das hilflose Gefühl der Unsicherheit hoch. Er hatte gegen die roten Barrieren nichts ausrichten können. Irgendwann waren sie einfach verschwunden, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte er in der Falle gesessen.
    „Hör mir zu, Navius“, sagte Garox, dieses Mal ganz ohne hämisches Gehabe. „Ich möchte dir nur etwas mitteilen, dann verschwinde ich auch.“
    „Lass den Fokus hier zurück. Dann werde ich dich nicht verfolgen!“ Selbst in seinen eigenen Ohren klang die Drohung erbärmlich, doch Garox ließ sich nicht zu einer Antwort herab.
    „Shiva wartet am Tempel der Meere auf dich.“
    Navius hatte in dieser Nacht schon viele verloren geglaubte Gefühle gespürt. Doch noch nie war ein Warmes dabei gewesen. Erinnerungen an längst vergangene Tage flackerten vor seinem geistigen Auge auf. Er hatte das Gefühl von einem Albtraum eingeholt zu werden, den er vor vielen Jahren regelmäßig geträumt hatte. Es war so surreal und trotzdem vertraut. „Shiva?“, flüsterte er und hasste sich selbst für den sehnsüchtigen Klang seiner Stimme. „Der neunte Megalith? Hat Rhademes etwas damit zu tun?“
    Garox schien von seiner Reaktion entzückt. „Guuut, du hast also nichts vergessen.“
    „Wie kann es sein, dass du von Rhademes weißt? Er muss seit über vierhundert Jahren tot sein.“
    „Wer weiß das schon. Vielleicht ist er ja sogar noch viel älter als wir beide zusammen?“
    „Was ist mit den Waagschalen? Hat Shiva sie noch?“
    „Hat sie. Und sie wartet sehnsüchtig darauf, dich wiederzusehen. Aber das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht.“ Garox‘ Lippen kräuselten sich. „Ich bin mir sicher, sie möchte deine Sünden in ihren zarten Händen wiegen.“
    „Woher weißt du das alles?“, entfuhr es Navius verzweifelt. Es ergab einfach keinen Sinn. Nichts davon.
    „Genug der Worte“, beschied Garox. „Lass das arme Ding nicht noch länger warten, hörst du? Ihr Groll ist so schon groß genug.“ Runen leuchteten in den schwarzen Steinsäulen auf. „Und falls du noch eine andere Motivation brauchst: Ich werde dort auf dich warten. Mitsamt dem Fokus.“ Es blitzte, dann war Garox mitsamt seiner Barriere verschwunden.
    „Merdarion! Er hat ihn mitgenommen!“, schrie einer der Wassermagier.
    Navius scherte sich nicht um die Blauroben. In ruhigeren Zeiten hätte er innegehalten und ihnen seine Hilfe angeboten. Die Tage hier oben wurden lang, wenn gerade kein Ritual anstand. Doch in dieser Nacht hatte er Wichtigeres zu tun. Er beschwor einen handtellergroßen Eiskristall und warf ihn in die Luft. Wie erwartet flog er nach Osten und verschwand. Wenn er sich beeilte, konnte er bereits am Mittag das Meer erreicht haben.
    Eine Hand krallte sich in seinen Ärmel und zog ihn herum. „Wag es nicht zu verschwinden, bevor du uns das alles erklärt hast! Unser Bruder wurde von diesem Wahnsinnigen entführt!“
    „Ich bin euch nichts schuldig“, entgegnete Navius und riss sich los.
    „Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen!“, schrie Cronos. „Myxir bekommt kaum Luft und ich hab keinen Schimmer, ob Saturas überhaupt noch lebt! Ich verstehe nichts von Medizin und Heilung!“
    „Aber ich?“, fragte Navius geringschätzig, doch er war stehen geblieben.
    „Zumindest gibt es Geschichten, in denen du schwer kranke Leute heilst“, antwortete Cronos kleinlaut geworden.
    Navius ließ seinen Blick lange auf dem verzweifelten Mann ruhen. Alles in ihm sehnte sich danach, sofort aufzubrechen. Shiva zu suchen. Klarheit in das Durcheinander dieser chaotischen Nacht zu bringen. Was kümmerten ihn schon diese Männer. Er seufzte. Adanos erwählte nur wenige für seine Dienste. Etwas an ihnen musste dem Gott imponiert haben. Und noch viel wichtiger: Sie waren Garox scheinbar bis hierher gefolgt. Vielleicht hatten sie Informationen.
    „Ich seh mir die beiden kurz an. Währenddessen erzählst du mir alles, was du über diesen Mann weißt.“
    Geändert von MiMo (30.08.2018 um 14:27 Uhr)

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    „Oh, und Owen kam letzte Nacht hackenstramm in unsere Kajüte. Ich hab Samuel bestimmt schon hundertmal sagen wollen, dass er Owen nicht mehr so viel Fusel geben soll. Seit der Sache mit Malcom weiß er einfach nicht mehr, wann Schluss ist. Aber ich denke dann immer, dass mich das ja eigentlich gar nichts angeht. Dann lass ich es bleiben und das nächste Mal, wenn ich Owen wieder so besoffen sehe, bereu ichs. Aber so schlimm wie letzte Nacht war es echt noch nie. Der ist also bei mir und Garett in die Kajüte rein – Garett hat einfach weitergeschnarcht, der hat davon gar nichts mitbekommen – und dachte, ich würd in seiner Hängematte liegen. Ich hab dem natürlich erklärt, dass er sich in der Tür geirrt hat und nebenan pennt, aber da hat der nur angefangen rumzugrölen. Kannst du dir das vorstellen? Der war so dicht, dass er mir gar nicht mehr richtig zugehört hat. Und dann ist der einfach zu mir in die Hängematte gekraxelt. Ich wär fast rausgepurzelt, so doll hat Owen an der Matte herumgerissen. War dann aber ganz schön beeindruckt, dass er es tatsächlich geschafft hat, zu mir hoch zu klettern. Und dann hat der einfach seinen Kopf auf meine Schulter gelegt und hat noch lauter geschnarcht als ich es eh schon immer wegen Garett aushalten muss. Aber weißt du, was das merkwürdigste war, Bones? Weißt du das?“
    Bones seufzte vernehmlich. „Noch nicht, aber gleich.“
    Bill gluckste. „Da hast du wohl recht! Jedenfalls… Das merkwürdigste an der ganzen Sache war, dass ich es irgendwie schön fand. Owen wäscht sich zwar nicht mehr so oft seit der Sache mit Malcom und sein Atem roch schlimmer als der von Skip, aber es war schön warm und irgendwie so… Ja, ich weiß auch nicht.“ Verträumt ließ Bill den Blick schweifen.
    Bones musterte sein Gegenüber mit mahlendem Kiefer. Zum mindestens vierten Mal fragte er sich, warum ausgerechnet er mit Bill diese ungemütliche Aufgabe übernehmen musste. Bill war der Neue, seine Beteiligung war selbstverständlich. Bill war nicht ganz neu, schließlich war er schon ein paar Jahre dabei, aber er war immer noch der neueste. Darum musste er die Drecksarbeit erledigen. Solange er sich nicht beklagte, und das tat er nie, war das für alle die angenehmste Lösung. Aber warum Greg immer gleich mit so einem schiefen Grinsen auf ihn kam, wenn noch jemand zweites gebraucht wurde, das war ihm ein Rätsel. Diese kleine Paddeltour mit Bill erinnerte ihn unangenehm an die Ehre, die ihm damals zuteilwerden sollte, als er die Banditenrüstung bekam, um sich in das Lager im Sumpf einzuschleichen. Greg hatte ihm zumindest versichert, dass es eine Ehre sein sollte. Ihm war es immer wie ein Selbstmordkommando vorgekommen. Ob es wirklich eines geworden wäre, das fragte er sich noch heute immer dann, wenn ihn solch trübsinnige Gedanken überkamen wie in diesem Moment. Aber immerhin hielt Bill gerade ausnahmsweise mal seine Klappe.
    Bones mochte es nicht zugeben, Männer mussten sich nun mal hart geben, aber er fror bitterlich. Noch nie hatten sie sich so dicht an Nordmar herangewagt. Und während die anderen sich auf dem Schiff um die Feuerschalen drängten, ruderte er mit Bill das Beiboot an Land, um ihre Gäste abzuholen. Die feuchte Kälte war längst durch seine Kleider gedrungen und der Schweiß, der sich langsam zwischen seinen Schulterblättern bemerkbar machte, schien das Hemd an seiner Haut festzufrieren. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, weiterhin gleichmäßige Armzüge zu machen, doch ihm war nicht entgangen, dass die von Bill immer kraftloser wurden. Bill starrte immer noch mit diesem versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht in die Ferne. Bones verkniff sich einen Kommentar und warf einen Blick über die Schulter. Die Bucht zwischen den hohen Klippen war nicht mehr weit und er glaubte auch schon ihre Auftraggeber erkennen zu können. Es machte ihn jedoch stutzig, dass sie nur zu zweit waren. Hatten sie ihren Teil der Abmachung etwa nicht eingehalten?
    „Bill“, zischte er halblaut, weil er sich nicht sicher war, wie weit seine Stimme in dieser Bucht trug. Der Angesprochene schüttelte sich, als hätte er ihn aus einem tiefen Schlaf gerissen.
    „Was denn?“
    „Sei auf der Hut. Greg meinte, der Typ sei nicht zwangsläufig vertrauenswürdig. Wenn er den Magier nicht mitbringt, sollten wir nicht anlegen. Der Typ dreht uns das Genick um, noch bevor wir unsere Säbel in der Hand haben. Und ich hab mein Genick lieber richtig herum.“
    „Ich meins auch“, klapperte Bill mit den Zähnen.
    Doch als Bones sich das zweite Mal umwandte, erkannte er deutlich, dass einer der beiden Männer in Blau gekleidet war.
    „Sollten wir nicht drei Männer übersetzen?“, fragte Bill.
    „Für uns ist nur wichtig, dass der Wassermagier dabei ist“, antwortete Bones angespannt. Danach redete keiner von ihnen mehr ein Wort. Bones wandte sich erst wieder um, als er die Wellen an dem Kiesstrand auflaufen hörte. Er und Bill sprangen in das seichte Wasser und zogen das kleine Boot die letzten Meter zum Strand.
    Ihr Handelspartner und der vermeintliche Wassermagier traten zu ihnen.
    „Garox, richtig?“, eröffnete Bones das Gespräch und stemmte seine Arme in die Seiten. Er versuchte, nicht zu zittern und seine Muskeln möglichst eindrucksvoll erscheinen zu lassen. Auch wenn es den Schwarzmagier wohl auch nicht gekümmert hätte, wenn er Arme wie ein Troll gehabt hätte.
    „Richtig.“ Die hellen Augen des Mannes bohrten sich in die des Piraten. Bones erschauderte und duckte sich unwillkürlich.
    „Wir wurden angeordnet, drei Personen abzuholen“, bemerkte Bones butterig. Innerlich schalt er sich, sein Unbehagen nicht so offen zu zeigen, doch er konnte einfach nicht verhindern, dass er einen Schritt zurücktrat. Klatschend trat er mit der Ferse in das kalte Wasser.
    „Ich bin vollauf zufrieden, wenn ihr mich und den Wassermagier auf euer Schiff bringt“, antwortete Garox. „Und ich wäre dankbar, wenn wir hier nicht noch länger nutzlos herumstehen würden.“
    „Natürlich. Steigt in die Nussschale. Dann geht es sofort los.“ Bones und Bill hielten das Boot fest, während erst der verstört wirkende Wassermagier, und dann ihr Auftraggeber über den Rand kletterten. Als Bones das Boot gerade loslassen wollte, schaukelte es noch einmal stärker.
    Mit einem leeren Platz auf einer der beiden mittleren Bänke stachen sie wieder in See. Der unheimliche Auftraggeber schien genauso wenig sagen zu wollen wie sein Gefangener. Garox zog sich seine Kapuze tief ins Gesicht, vergrub seine bleichen Hände in den Ärmeln seiner Kutte und verharrte regungslos. Der Wassermagier sah mit trüben Augen in die Ferne und schwankte mit jeder Welle, die den kleinen Bug traf. Selbst Bill schien kein Redebedürfnis mehr zu haben. Bones fragte sich, was ihr Klient mit dem alten Mann in Blau angestellt hatte. Er war definitiv noch am Leben. Aber er wirkte eher wie ein seelenloser Zombie als wie ein Mensch.
    Es dauerte wiederum eine ganze Weile bis sie die Distanz überwunden hatten und das stolze Schiff dräuend über ihnen aufragte. Der goldene Schriftzug Esmeralda glänzte im Sonnenlicht. Zwei Strickleitern wurden über die Reling geworfen, als sie nah genug herangekommen waren. Sie ließen den beiden Magiern höflich den Vortritt, verhakten das Beiboot wieder an den dafür vorgesehenen Seilen und erklommen dann selbst die Sprossen. Als sie sich über die Reling schwangen, hatte Greg seinen Gast offenbar schon auf seine ruppige Art begrüßt. Die anderen Piraten waren dicht an den Feuerschalen geblieben, beobachteten aber allesamt mehr oder weniger verhohlen, wie ihr Kapitän mit dem Fremden sprach.
    „Dachte, du würdest noch jemanden mitbringen“, rief Greg gerade in gezwungenem Plauderton. „Aber das Meer ist nicht jedermanns Sache, was? Da braucht sich dein Kumpel nicht grämen, wenn ihm die Lust auf eine Reise über den kleinen Teich vergangen ist. Ich hatte schon viele Landratten angeheuert, die sich schon übergeben haben, bevor der Hafen außer Sicht war. Wir haben sie natürlich ihrem Frühstück hinterher ins Meer befördert. Mit Gästen ist das natürlich was anderes. Erleichter dich nur so viel du willst, meine Jungs werden sich schon zu benehmen wissen. Echte Männer, allesamt, die werden das Kind schon schaukeln.“ Greg wirkte recht zufrieden mit seiner kleinen Ansprache.
    Garox zeigte nicht einmal den Anflug höflicher Erheiterung. „Ich habe euch den Wassermagier gebracht. Damit ist mein Teil der Abmachung erfüllt. Bringt mich zu der verabredeten Stelle. Solange würde ich mich gerne zurückziehen. Ihr habt doch eine Kammer für mich?“ Die Frage kam mit leise drohendem Unterton.
    „Das nennen wir hier Kajüte, was du meinst“, klärte Greg seinen Gast mit gewichtigem Nicken auf. „Und wie verabredet haben wir eine Kajüte für zwei Mann für dich räumen lassen. Aber dein Magier hier…“ Er wedelte mit einer Hand nach Merdarion. „Der wirkt ziemlich… dull, wenn ich das mal so sagen darf. Für gewöhnlich haben Magier doch ein bisschen mehr im Hirn, der hier scheint mir aber nicht so helle. Wie kann ich mir sicher sein, dass du den armen Kerl nicht einfach aus dem Seuchenhaus geholt und in ein blaues Nachthemd gesteckt hast?“
    „Mein Wort wird dir reichen. Da bin ich mir sicher“, entschied Garox.
    Greg brachte ein schiefes Grinsen zustande, widersprach aber nicht. „Na gut, Jungs. Dann zeigt ihm mal seine Kajüte.“

    Kein Wind neigte die hohen Tannen. Keine Schneeflocke rieselte herab. Ganz Nordmar schien erstarrt, seit der Eiskreis aus seiner Mitte gerissen worden war.
    Navius nahm seine Hand von Saturas‘ Stirn. „Er wird gleich aufwachen. Ich bin mir aber nicht sicher, in welcher Verfassung er ist“, sagte er geistesabwesend. Cronos‘ Erzählung hatte ihn erschüttert. Er zwang sich zur Ruhe, um einen klaren Kopf zu bewahren. Er fürchtete, sich mit der Heilung übernommen zu haben. Das Stechen in seiner Brust wollte einfach nicht verebben und ein unangenehmes Pochen in den Schläfen hatte sich inzwischen dazugesellt. Er war ganz froh, im Moment einfach auf dem nackten Fels zu sitzen. Obwohl er seine Verbindung zu Adanos‘ Macht verloren hatte, war sein Kälteempfinden noch nicht zurückgekehrt. „Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es noch vier weitere dieser Fokussteine. Und zwei von ihnen sind in eurem Besitz?“
    Cronos nickte stumm. Er hatte während der Heilung seiner Ordensbrüder still daneben gestanden und traurig in das schlaffe Gesicht Saturas‘ gesehen. Nun holte er ein mattblaues Prisma hervor. „Saturas hat den anderen.“
    „Und die letzten beiden?“
    „Sind bei Riordian und Vatras. Wir beschlossen, die fünf Steine auf uns sieben aufzuteilen, darum gingen Myxir und der letzte in unserem Bund, Nefarius, leer aus.“
    „Nur Merdarion war es möglich, über die Foki zu kommunizieren?“
    „Er hat am intensivsten mit ihnen geforscht. Er hat eine Rune entwickelt, mit ihrer Hilfe konnte er seine Stimme an alle Fokussteine schicken.“
    „Und ihr habt die Existenz dieser mächtigen Energiespeicher geheim gehalten?“, erinnerte Navius sich an ein weiteres Detail des eben Gehörten.
    Cronos nickte abermals. „Nachdem wir herausfanden, zu was diese Steine in der Lage sind, teleportierten wir uns mit ihnen über Tausende Kilometer hinweg nach Varant. Vatras vertrat die Ansicht, dass sie vereint und in den falschen Händen gefährlich sein könnten, darum beschlossen wir sie aufzuteilen und allen die nach ihnen fragen, zu erzählen, dass wir sie im alten Jharkendar zurücklassen mussten.“
    „Garox kann es also nicht auf den Fokus abgesehen haben, als er Merdarion…“ Myxirs raues Krächzen erstarb.
    „Du musst dich ruhig verhalten“, ermahnte Navius ihn. „Du solltest deine Stimmbänder einige Tage nicht benutzen. Es braucht Zeit, bis die Verletzungen geheilt sind. Mit Magie kommt man da nur bis zu einem gewissen Punkt.“ Was er gesagt hatte, war jedoch zweifellos richtig. Garox schien nicht den Fokusstein sondern den Magier gebraucht zu haben, obwohl er offensichtlich beide benutzt hatte. Dass es ihm möglich gewesen war, den entführten Magier seinen eigenen Freund würgen zu lassen, war höchst beunruhigend. Von so einer starken Gedankenkontrolle hatte er noch nicht gehört. „War außer Garox und diesem Merdarion noch jemand am Eiskreis, während das Ritual durchgeführt wurde. Ein Feuermagier vielleicht?“
    „Ich habe sonst niemanden gesehen“, berichtete Cronos und Myxir nickte zustimmend.
    „Der Eiskreis war eines der kraftvollsten magischen Monumente unserer Zeit. Man kann ihn nicht so leicht zerstören“, überlegte Navius laut. „Mit einem Umkehrritual wäre es vielleicht möglich gewesen, aber dazu hätte Garox ein Feuermagier gefehlt. Er war zwar selbst einst ein Mitglied im Kreis des Feuers, aber für das Ritual ist es unabdinglich, dass die drei Götter von drei Magiern verkörpert werden. Es ist einfach unmöglich, zu zweit ein Umkehrritual durchzuführen.“
    „Es ist doch völlig gleich, wie es gelang, den Eiskreis zu zerstören“, bemerkte Cronos. „Im Gegensatz zu dem Kreis kann unser Ordensbruder noch gerettet werden. Darauf sollten wir unsere Kräfte jetzt konzentrieren!“
    „Wir?“ Navius schien aus seinen Gedanken aufzutauchen wie aus einem tiefen See. „Es gibt kein Wir. Ich bin euch dankbar für die Informationen, aber nun sind wir quitt. Wir sind einander nicht verpflichtet. Ich werde mich nun unverzüglich zum Tempel des Meeres aufmachen.“
    „Wir wollen da auch hin!“, krächzte Myxir erbost.
    „Garox hat deutlich gesagt, dass er dort auf dich wartet. Und wo auch immer der Schwarzmagier ist, wird auch Merdarion sein!“, erklärte Cronos.
    „Merdarion ist mir gleich. Ich muss Shiva retten. Und den Fokus in meinen Besitz bringen. Selbst wenn ihr alle auf dem Damm wärt, wärt ihr nur ein Klotz an meinem Bein. Allein kann ich viel schneller am Tempel sein.“ Das Stechen in seiner Brust wurde wieder schlimmer.
    „Aber im Kampf gegen ihn können wir dir eine große Hilfe sein“, wandte Cronos ein. „Garox sagte doch, dass du schwächer bist als jemals zuvor. Ohne den Eiskreis ist deine Macht eingeschränkt, nicht wahr?“
    „Und gerade darum muss ich mich beeilen, bevor mich meine Kraft noch gänzlich verlassen hat“, fuhr Navius auf und es war das letzte Wort, das er in dieser Sache zu sprechen bereit war. Cronos und Myxir tauschten einen ratlosen Blick. „Seht zu, dass ihr Nordmar verlasst oder eine Höhle findet. Sonst werdet ihr hier noch erfrieren.“
    Navius wandte sich ab. Eine Böe fuhr durch den Nadelwald. Das leise Rascheln erinnerte an Meeresrauschen. Die Gestalt des Schneemagiers zerbröselte zu feinstem Pulverschnee, der von dem Wind davon getragen wurde.

    Riordian schlug die Zeltplane hoch und trat einen Schritt zur Seite, um Licht hereinzulassen. Eine zerwühlte Schlafstatt und ein paar leere Feldflaschen waren alles, was er im Inneren erkennen konnte. Er verschloss den Eingang wieder und stapfte zurück ins Zentrum des Tals. Der Wind wirbelte ihm Sand entgegen, sodass er sein Gesicht mit einem Ärmel verdecken musste. Die Augen zu Schlitzen verengt ließ er seinen Blick über das Tal gleiten. Für die Verhältnisse Varants war es ungewöhnlich grün. Trockene Gräser bedeckten die Flächen am Rand, wo im Verlaufe des Abends Schatten sein würde. Ein wenig Gestrüpp wiegte sich im Wind. Der rotbraune Fels, der zu beiden Seiten aufragte, war hingegen vollkommen unbewachsen. Nefarius hatte ihm die Flora des Tals beschrieben, aber da er noch nicht selbst hier gewesen war, beeindruckte es ihn trotzdem. Doch er war nicht hier, um sich das Tal anzusehen, sondern um Nefarius zu finden. Und wenn der nicht in seinem Zelt war, war er vermutlich im Grab von Haran Ho, das ihn seit ihrer Rückkehr aus Khorinis so anhaltend zu faszinieren schien. Unmut machte sich in Riordian breit, als er sah, dass der Stein hier viele Felsspalten aufwies, und diese nur wenige Anzeichen aufwiesen, die auf die Größe der dahinter liegenden Höhlen schließen ließen. Ihm blieb nur das Zelt seines Ordensbruders als Hinweis. Das allerdings war an einer windgeschützten Stelle aufgeschlagen worden, wie es sie an der Talsohle kein zweites Mal gab. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als sich die Felsspalten eine nach der anderen zu beschauen. Um den Überblick zu behalten, welche Höhlen er schon inspiziert hatte, wollte er bei der Felsspalte beginnen, die ganz am Ende des Tals lag, wo sich die beiden Felsmassive vereinigten, und sich dann zum Ausgang des Tales vorarbeiten. Doch erleichtert konnte er feststellen, dass wer auch immer Haran Ho zu Grabe getragen hatte, es genau in dieser hintersten Felsspalte des Tals getan hatte. Es brannte Licht in der Höhle und als er sich durch den schmalen Eingang zwängte, erblickte er auch schon den gesuchten Freund. Nefarius stand über einen Sarkophag gebeugt, dessen Deckel heruntergeschoben worden war, und fuhr sich mit den Fingern durch seinen kurzen Bart.
    „Nefarius! Endlich hab ich dich gefunden!“
    Nefarius zuckte zusammen, freute sich aber, als er seinen Gast erkannte. „Riordian. Welch überraschender Besuch. Ich hatte nicht erwartet, dass einer von euch hier auftaucht. Ich muss dir unbedingt zeigen, was ich gestern…“
    „Nicht jetzt, Nefarius“, fiel Riordian ihm ins Wort. „Merdarion wurde von irgendeinem Schwarzmagier entführt. Gestern hat er über die Foki um Hilfe gerufen.“
    Nefarius starrte ihn einen Moment verständnislos an. Dann erhellten sich seine Gesichtszüge. „Das ergibt Sinn!“, rief er aus und schlug sich die flache Hand vor den Kopf. „Dass ich da noch nicht eher drauf gekommen bin!“
    Nun war es an Riordian, seinen Kollegen perplex anzustarren. „Hast du etwa von der Entführung gewusst?!“
    „Nein, nein!“, wischte Nefarius die Vermutung mit einer Geste seiner Hand beiseite. „Ich habe gestern plötzlich Geräusche aus dem Boden des Sarkophags von Haran Ho vernommen! Ich erforsche seine Grabstätte zwar schon eine ganze Weile, aber mir war noch nicht die Idee gekommen, dass es in seinem Sarkophag einen doppelten Boden geben könnte. Jedenfalls hab ich die ganze letzte Nacht damit verbracht, nach einem Mechanismus zu suchen und in den frühen Morgenstunden fand ich tatsächlich einen.“ Ungeduldig winkte Nefarius Riordian, näher zu kommen.
    „Nefarius, wir müssen los! Merdarion wurde entführt!", weigerte Riordian sich.
    „Ich weiß, ich weiß. Aber das hier dauert ja nicht lang und es ist eine wirklich bahnbrechende Entdeckung!", drängte Nefarius.
    Als Riordian widerwillig einen Schritt näher trat, konnte er das Innere des Sarkophags einsehen. Ein menschliches Skelett lag darin. Zwei dicke schwarze Käfer krabbelten über das Gerippe und erklärten wohl, warum die Knochen so sauber abgenagt waren.
    Es klickte, als Nefarius eine Rune auf der Seitenwand drückte und eine Klappe zwischen den Knien des Gebeins sprang auf. Darunter ein leeres Fach. „Und was hast du darin nun so Tolles gefunden?“, fragte Riordian genervt, als ihn plötzlich eine ungeheuerliche Vermutung beschlich. Entgeistert suchte er Nefarius‘ Blick, der ein schalkhaftes, ziemlich selbstzufriedenes Grinsen zeigte. Aus dem Ärmel seiner Robe holte er einen blau schimmernden Fokusstein hervor.
    „Es gibt mehr als fünf?“, rief Riordian verblüfft. „Das ist ja wahrhaft eine Sensation!“
    „Nicht wahr?“, frohlockte Nefarius. „Wahrscheinlich hat auch dieser Fokus auf Merdarions Nachricht reagiert. Das dumpfe Geräusch, dass ich aus dem Sarkophagboden hörte, war wahrscheinlich nichts anderes als Merdarions Hilferuf!“
    Riordian fiel sofort wieder ein, warum er eigentlich gekommen war. „Jetzt haben wir aber genug von deiner Entdeckung geschwärmt. Saturas, Myxir und Cronos sind schon nach Nordmar aufgebrochen, um Merdarion zu retten. Wir müssen ihnen nach, wer weiß schon, was sie dort erwartet!“
    Nefarius wirkte ein wenig enttäuscht, dass Riordians Bewunderung des sechsten Fokus nur so kurz angehalten hatte, nickte aber zögernd. „Was ist mit Vatras? Ist Merdarion dem ollen Eigenbrötler etwa gleichgültig?“
    „Nein, nein. Erklär ich dir unterwegs“, drängte Riordian und zog Nefarius zur Felsspalte.

    Die Luft in den schmalen Seitengassen von Ben Erai war stickig und roch zu dieser Jahreszeit nach überreifen Kaktusblüten. Phil war schon öfter in den Minen oberhalb der Stadt gewesen und wusste daher, dass es noch viel stickigere Luft gab als diese hier. Sein Hemd klebte ihm trotzdem vor Schweiß an der Haut. So mulmig wie ihm zumute war, konnte das aber auch noch ganz andere Gründe haben. Er bemühte sich, seine Hände ruhig zu halten und langsame, gleichmäßige Schritte zu machen. Er konnte sich nicht sicher sein, aber er vermutete, dass ihn ein Mitglied der Fangzähne beobachtete, seitdem er das Viertel betreten hatte. Der schwere Beutel an seiner Seite zerrte an seinem Gürtel. Machte er eine unachtsame Bewegung, klimperte er verräterisch laut. So viel Gold besaß in Ben Erai fast niemand. Und nun nicht einmal mehr der freundliche Quacksalber, der neben dem Dorfeingang wohnte, und der einzige in der Minenstadt war, der sich auch um das Wohl der Sklaven kümmerte. Phil versetzte dieser Gedanke einen leichten Stich, obwohl er wusste, dass dem Mann sein Schaden ersetzt wurde. Er zwang sich wieder zur Konzentration, als die unscheinbare Tür in Sicht kam, an die er klopfen sollte. Nachdem er sich umgesehen hatte, ob auch sonst keiner die Gasse entlang kam oder in den Schatten der weggeworfenen Holzkisten ein Mittagsschläfchen hielt, hob er seine Hand und klopfte an das verblichene Holz. Dreimal fest mit den Knöcheln, nach einer Pause zweimal mit der flachen Hand.
    Nervös wartete er darauf, dass ihm aufgetan wurde. Er bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. Er hatte sich schon oft verstellt, aber noch nie war er so nervös gewesen wie in diesem Augenblick. Die Fangzähne hatten in den letzten Wochen einige aufsehenerregende Verbrechen begangen. Sie hatten aufsässigen Sklaven Brechmittel in ihre kargen Mahlzeiten gemischt. Ihre Wärter hatten sie ausgepeitscht, bis man ihre Schreie in der ganzen Stadt hören konnte, als sie bei der Arbeit zusammenbrachen. Die Frau des Gemischtwarenhändlers hatten sie verschleppt, weil dieser Gerüchten zufolge auch mit Nomaden handelte. Ihr zwei Monate alter Säugling hatte bislang keine neue Amme gefunden. Und am allerschlimmsten…
    Quietschend öffnete sich die Tür. Gumbos stecknadelgroße Augen blinzelten ihm entgegen. Er nickte, wie üblich wortkarg, dann stieß er die Tür soweit auf, dass Phil eintreten konnte. Phil stieg der Geruch des massigen Körpers in die Nase, schob sich aber ohne jeden Kommentar in den halbdunklen Raum. Gumbo schloss die Tür. „Geh weiter“, brummte er.
    Phils Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, dann erkannte er, dass er direkt vor einer offenen Falltür stand. Nur ein Schritt weiter und er wäre in den Abgrund gestürzt. An die Wand gerückt standen ein Holztisch und ein aufgerollter Teppich. Zweifellos verdeckten sie die Falltür zu anderen Gelegenheiten.
    Gumbo versetzte ihm einen ungeduldigen Stoß in den Rücken. Hastig kletterte Phil die Strickleiter hinab in den Keller. Er gelangte in einen dunklen Gang, an dessen Ende aber ein hell erleuchteter Raum lag. Die Luft roch nach Sumpfkraut, Leder und Metall. Keine Gerüche, die Behagen in ihm auslösten. Wieder bekam er einen Stoß von Gumbo, der ihm nachgeklettert war. Er musste sich zusammenreißen. Er lief auf das Licht zu und erreichte so einen Raum mit einem großen, kunstvollen Mahagoni-Schreibtisch, hinter dem der vielleicht gefährlichste Mann von Ben Erai saß. Der Tisch war zweifellos einer der Beutegegenstände aus ihrem Raubzug bei dem Minenaufseher, der seinen Sklaven zu lange Pausen gönnte. Ein Stöhnen aus der Ecke bewog ihn seinen Kopf nach links zu wenden. Er zuckte zusammen, als er in die panischen Augen einer Frau sah. Sie war nackt und mit beiden Armen an einen Metallring über ihrem Kopf gekettet. Sein Entsetzen wurde noch größer, als er sah, dass ihr Mund zugenäht war, ihr Gesicht schmutzig vor Staub und Blut. Er kannte die Frau des Gemischtwarenhändlers nicht näher, aber er wollte ihr helfen, sie von ihren Ketten lösen, die Fäden aus ihren blutigen Lippen ziehen und ihr etwas geben, um ihre Blöße zu bedecken. Noch nie schien ihm jemand so leid getan zu haben wie diese Frau. Nur mit aller Willenskraft, die er aufbringen konnte, konnte er sich von ihrem Anblick losreißen. Ihr Anblick hatte ihn noch einmal daran erinnert, dass er seine Rolle gut spielen musste.
    Der Mann hinter dem Schreibtisch war von zwei Männern flankiert, die ihn mit verschränkten Armen anfunkelten. Die ledernen Rüstungen ließen viel Haut frei und brachten ihre Muskeln gut zur Geltung. Doch das mit Abstand furchteinflößendste in dem Raum war der Kopf von Sancho. Auf einem Pfahl steckte er an der Wand hinter dem Anführer der Fangzähne und beobachtete das Geschehen in dem Versteck mit einem glasigen Augen. Eine wochenalte Blutspur zog sich an der Wand entlang vom Kopf bis zum Boden. Er musste noch ganz frisch gewesen sein, als sie ihn hier aufgehängt hatten, doch nun waren seine Wangen eingefallen und seine Lippen aufgesprungen. In seinem linken Auge tummelten sich Käfer.
    Phil war nicht entgangen, dass Gumbo hinter ihm stehen geblieben war und den einzigen Ausgang versperrte. Ändern tat es natürlich nichts. Er war unbewaffnet in die Höhle des Löwen gekommen und hatte keine Chance zu überleben, wenn er nicht in ihr Rudel aufgenommen wurde.
    „Du bist also dieser Phil“, sagte der Mann unter dem abgetrennten Kopf. Seine schwarzen Haare waren kurz geschoren, der Nacken tätowiert. Die Snapperlederweste offenbarte, dass auch er seinen Körper regelmäßig stählte. „Ich bin Sassun Alvarez, gefürchtet als Anführer der Fangzähne, den einzigen noch wahren Assassinen an der Nordküste von Varant. Hast du getan, was Gumbo dir aufgetragen hat?“
    Phil nickte. Er löste den schweren Lederbeutel von seiner Hüfte und klatschte ihn auf den Mahagonitisch. Die Münzen klimperten geräuschvoll. Die linke Wache schnappte nach dem Beutel und löste die Schnüre. Dann schüttete er das Gold auf den Tisch.
    Sassun ließ der Anblick des Goldes kalt. „Das wird dem alten Sack eine Lehre sein.“ Sein Blick huschte von dem Diebesgut zurück zu Phil. „Du willst also bei uns mitmachen?“
    Phil nickte abermals. „Ja, ich möchte mein Leben als Fangzahn in deine Dienste stellen.“
    „Du bist nur eine halbe Portion. Kannst du überhaupt mit einem Schwert umgehen?“
    „Ich habe andere Stärken.“
    „Welche?“
    „Seit ich denken kann, lebe ich auf der Straße. Ich habe mir immer alles besorgt, was ich zum Leben brauchte, obwohl ich nie Geld hatte. Dass ich dir das Gold des Quacksalbers brachte, beweist meine Fähigkeiten als Dieb.“
    „Wir sind zwar keine Bande von Dieben, aber solange wir deine Fähigkeiten benutzen können, um dem verweichlichten Abschaum eins auszuwischen, der es wagt zu dem einzig wahren Gott zu beten, soll es mir recht sein.“
    „Also bin ich dabei?“ Phils Herz klopfte bis zum Hals. Er vermied es, dem Schädel an der Wand, der Frau in der Ecke oder auch nur den breitschultrigen Wachen in die Augen zu sehen.
    „Von mir aus“, stimmte Sassun schon fast gelangweilt zu. „Aber dir ist klar, was passiert, wenn du uns verrätst, nicht wahr?“
    Phil nickte ein drittes Mal. „Ihr werdet mich finden und töten. So wie den Statthalter von Ben Erai.“
    Sassun schüttelte langsam den Kopf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Wie ein Raubtier seine Beute. „Oh nein. Zuerst würde deine Schwester dran glauben. Dann können wir uns endlich dieser verbrauchten Händlerhure entledigen.“
    Phil schluckte. Es war seine größte Angst gewesen, dass Phinea in die Sache hineingezogen wurde, und nun war es so schnell passiert. „Ich habe doch schon jetzt keine andere Wahl mehr, nicht wahr? Ich habe das alles hier schließlich schon gesehen.“
    „Du bist scharfsinnig“, stellte Sassun fest und lächelte gefährlich. „Mal sehen, ob dir das was nützt.“ Dann lehnte er sich in seinem Lehnstuhl zurück. „Du kommst gerade rechtzeitig für unseren nächsten großen Fang. Er wird mir eine größere Beute einbringen als je zuvor. Trotzdem wird zunächst niemand feststellen, dass ich wieder aktiv geworden bin. Und du wirst mir dabei helfen, neuer Phil.“
    Phil bemühte sich, die Angst nicht zu zeigen, die sich seiner bemächtigt hatte. Er musste es heil heraus schaffen, damit er Phinea in Sicherheit bringen konnte.
    „Interessiert dich denn gar nicht, was dieses Mal unser Ziel ist, neuer Phil?“
    „Doch. Natürlich.“
    Sassuns Mund wurde breiter. Sein Lächeln entblößte scharfe Eckzähne. Die Fangzähne einer Viper, schoss es Phil durch den Kopf.
    „Ich werde die Klaue Beliars in meinen Besitz bringen.“

    Die Sonne musste schon vor Stunden aufgegangen sein, doch der Himmel war so wolkenverhangen, dass es keinen Unterschied machte. Wellen türmten sich auf und fielen wieder in sich zusammen, während ein rauer Wind die Gischt in Navius‘ Gesicht wehte. Mühsam stapfte er über das tobende Meer. Überall dort, wo sein nackter Fuß das Wasser berührte, gefror es augenblicklich. So wanderte er über die hohe See. Es war nicht die angenehmste Art zu reisen. Nicht nur, dass der Seegang ihn immer wieder abtrieb, er verbrauchte auch eine große Menge der so kostbar gewordenen göttlichen Energie. Noch aufwändiger wäre es allerdings gewesen, bei den Temperaturen oberhalb des Gefrierpunkts seine Schneegestalt aufrecht zu erhalten. So mühte er sich ab, seinen eisigen Weg mit jedem Schritt um einige Meter zu erweitern, während das Eis nur dicht hinter ihm von den Wellen zerbrochen und verschlungen wurde. Als ein Blitz über den Himmel zuckte, konnte er am Horizont ein Schiff erkennen, das auf den Wellen schaukelte.
    Navius blieb stehen und gab sich einer kurzen Pause hin. Das Atmen fiel ihm ungewöhnlich schwer und er war nicht so naiv zu glauben, dass dies nur von der magischen Anstrengung herrührte. Noch mochte sein Kälteempfinden nicht zurück sein, doch die feuchte Luft und der scharfe Wind schienen seiner Lunge bereits zu schaffen zu machen. Er formte einen handtellergroßen Schneekristall mit seiner Hand und warf ihn in die Luft. Er flog nur ein kleines Stück, dann blieb er mitten in der Luft stehen. Endlich hatte diese verfluchte Reise ein Ende. Gleich würde er Shiva nach Hunderten von Jahren endlich wiedersehen. Und Garox den Fokusstein abknöpfen.
    Er sammelte sich für den nächsten Zauber, dann kniete er sich hin und legte die Hände auf die Eisscholle, die ihn trug. Sie schwoll an, dehnte sich in alle Richtungen aus. Er kanalisierte das Wachstum. Einem im Zeitraffer wachsenden Arm gleich wuchs das Eis in die Tiefe und verschwand in der Dunkelheit, strebte gegen den Punkt, den der schwebende Schneekristall markierte. Dann gab es ein lautes Kracken und das Eis brach auf. Zufrieden erhob Navius sich wieder und sah auf sein Werk herab. Der Tunnel aus Eis würde ihn direkt an sein Ziel führen.
    Stufe um Stufe stieg er tiefer in die Finsternis hinab. Das Rauschen der Wellen klang durch die Wand aus Eis merkwürdig dumpf. Wie das grollende Schnarchen eines ruhenden Seeungeheuers.
    Als er das Licht am Ende des Tunnels erreicht hatte, konnte er nicht anders als beeindruckt innezuhalten, obwohl er vor vielen Jahren schon einmal hier gewesen war. Seine nackten Füße versanken in feinem, weißen Sand. Eine riesige Luftblase hielt alles Wasser von dieser Stelle des Meeresbodens fern. Das Meer war nicht mehr als eine riesige Festungsmauer zum Schutze von Adanos‘ größtem Heiligtum. Der Tempel der Meere wirkte verglichen mit den protzigen Bauten des alten Volkes von Varant geradezu klein. Trotzdem stellten sich Navius‘ Nackenhaare bei dem Anblick der grob behauenen Felsquader auf. Hier lag Magie in der Luft, die er mit nichts auf der Welt vergleichen konnte, nicht einmal mit dem Eiskreis. Das runde Portal am Ende der Treppe war mit vielen kleinen Steinchen verbarrikadiert, die sich zu einem komplizierten Muster zusammensetzten.
    Eine Gestalt erhob sich von den Stufen des Tempels.
    „Garox“, sagte Navius mit aller Feindseligkeit, die er aufbringen konnte. „Wo ist Shiva?“ Selbst aus dieser Entfernung erkannte Navius, dass der Schwarzmagier seinen Mund wieder zu einem schiefen Lächeln verzerrte.
    „Ich muss wohl ehrlich zu dir sein: Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“
    „Du hast mich also nur belogen?“, rief Navius und es zuckte ihm in den Fingern, ein Geschwader Eislanzen den bleichen Körper des Ketzers durchlöchern zu lassen. Doch er mahnte sich zu noch ein wenig mehr Geduld.
    „Aber nicht doch. Dazu hatte ich nun wirklich keinen Grund, da mir die reizende Shiva doch tatsächlich in die Hände gefallen war. Ich beschwor sie an diesen Ort und wie du weißt, sollte sie nicht ohne äußere Einwirkungen dazu in der Lage sein, ihn zu verlassen.“
    „Ich glaube dir kein Wort, Garox.“
    „Anscheinend ist der Tempel der Meere kein so verwaister Ort wie ich annahm. Ich hätte gedacht, dass du Adanos‘ Geheimnisse sorgfältiger hütest.“
    „Niemand weiß von diesem Ort“, spie Navius und ging einige Schritte auf Garox und den Tempel zu. „Du wirst mir jetzt sagen, wie du diesen Ort gefunden hast. Und dann werde ich dich für deine Vergehen zur Rechenschaft ziehen.“
    „Kannst du das denn?“, höhnte Garox. „Und viel wichtiger: Könnte es nicht sein, dass Shiva den Tempel betreten hat? Mir selbst war dies nicht vergönnt. Aber vielleicht akzeptiert die Pforte sie als eine von Adanos auserwählte.“
    Navius‘ Blick glitt zu der Pforte. Wenn Garox ihn nicht anlog und er Shiva an diesem Ort beschworen hatte, konnte es kaum eine andere Möglichkeit geben. Dass noch jemand von dem Tempel erfahren hatte und es ihm obendrein auch noch gelungen war, ihn zu erreichen, Shiva zu bannen und wieder von hier zu verschwinden, das war einfach nicht möglich. Er stutzte, als er sich plötzlich daran erinnerte, wie er dasselbe gedacht hatte, als seine Verbindung zum Eiskreis gekappt worden war. Er musste es wenigstens für möglich halten. Wie vielen hatte Garox von dem Tempel erzählt?
    „Ich möchte nicht ungeduldig erscheinen, aber ohne den Tempel zu betreten, wirst du nicht herausfinden, ob Shiva sich darin befindet.“
    Navius warf dem Schwarzmagier einen vernichtenden Blick zu. Es gefiel ihm nicht, nach der Pfeife dieses Mannes zu tanzen. Dennoch hatte er recht. „Ich brauche nur einen Moment. Ich werde gleich wieder da sein und dir den Fokus abknöpfen. Mit Shiva an meiner Seite hast du keine Chance uns zu entgehen.“
    Garox beobachtete ihn unablässig feixend, wie er über den trockenen Meeresboden schritt, die Stufen empor nahm und vor der Pforte zum Stehen kam. Das steinerne Muster leuchtete auf. Dreimal pulsierte das grüne Licht, dann gab es einen leisen Knall und das Tor zerfiel in die kleinen Steinchen, aus denen es erbaut worden war. Eine Kaskade von ihnen wogte über seine nackten Zehen hinweg. Ein Wind schlug ihm entgegen, doch es roch weder muffig noch abgestanden. Der Tempel duftete wie das Leben selbst. Navius hatte sogar den Eindruck, dass das permanente Stechen in seiner Brust ein wenig nachließ.
    Er trat über die Schwelle in einen unscheinbaren Raum, dessen Wände und Decke nichts als den nackten Stein zeigten, aus dem sie gebaut waren. Der Tempel war nur aus einem Grund errichtet worden: Den Stützpfeiler von Adanos‘ Macht auf dem Morgrad zu behüten. Eine riesige, hell leuchtende Kugel war in den Boden eingelassen. Milchige Schemen flirrten durch das Licht und verschwanden wieder, noch bevor man genauer hinsehen konnte. Navius‘ ergriffenes Gefühl währte nur so lange, bis er erkannte, dass noch jemand im Raum war. Niemand außer den von Adanos persönlich erwählten Menschen sollten Zugang zu diesem Allerheiligsten haben. Navius hätte keinen lebenden Menschen außer ihn selbst nennen können, der diese Würde erlangt hatte. Und doch stand dort ein breitschultriger Mann mit dunkler Haut direkt vor der leuchtenden Kugel. Auf seinem Rücken trug er einen Speer, der an beiden Seiten eine kunstvoll geschwungene Klinge trug. Doch trotz der Waffe und der sehnigen Statur machte dieser Mann nicht den Eindruck eines Kriegers. Er erinnerte Navius eher an einen Veteran, der das Blutvergießen nach all den sinnlosen Schlachten, in denen er gekämpft hatte, leid war.
    „Wer bist du?“, fragte Navius auffordernd. „Ich hatte nicht erwartet, dass außer mir noch jemand Zugang zu dieser Halle hat.“
    Der Mann wandte sich ohne jede Überraschung zu ihm um. Sein ernster Blick fasste ihn sofort ins Auge. „Ich hingegen habe damit gerechnet, dass wir uns wiedersehen. Ob es früher oder später passieren würde, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“
    „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“
    „Sei doch ehrlich. Du hältst mich für unwürdig hier zu sein und siehst darum auf mich herab“, erwiderte der Mann vollkommen ruhig. „Würdest du mir mit Höflichkeit begegnen wollen, würdest du dich zuerst vorstellen.“
    Navius mühte sich ungeduldig um einen freundlicheren Gesichtsausdruck. „Ich bin…“
    „Ich weiß, wer du bist. Im Gegensatz zu dir erinnere ich mich noch sehr gut an unsere erste Begegnung.“ Der enttäuschte Ton war nicht mehr zu überhören. Er hatte es nicht anklagend formuliert und doch fühlte Navius sich deutlich von ihm an den Pranger gestellt. Völlig zu Unrecht, denn er war sich vollkommen sicher, dass er diesen Mann noch nie getroffen hatte. In Silden hatte es nur einen Dunkelhäutigen gegeben und der hatte nicht nur anders ausgesehen sondern war gewiss auch schon seit Unzeiten dahingeschieden. Und unter den wenigen Menschen, die er in Nordmar getroffen hatte, war nie ein Bewohner der Wüste gewesen.
    „Ich bin mir sicher, dass ein Missverständnis vorliegt“, begann Navius, doch der Fremde wandte sich einfach wieder ab und der Lichtkugel zu.
    „Ich bin nicht hier, um über mich zu reden. Ich habe dir meinen Namen damals nicht gesagt, weil er dich nicht interessiert hat. Er lautet Horetius.“
    Dieser Name weckte in der Tat keine Erinnerungen. Was Navius allerdings eher als Punkt für sich geltend machen wollte.
    „Viel wichtiger als mein Name ist meine Mission“, fuhr Horetius fort und hob ein wenig die Stimme. „Ich werde der Welt das absolute Gleichgewicht bringen. Darum hat Adanos mich in seiner Gnade gesegnet, mir sein Tor aufgetan. Dir mag er den Eiskreis anvertraut haben, mir hat er das Schicksal der Welt anvertraut.“ Und er breitete die Arme aus, als wolle er die Lichtkugel umfassen. Einen Moment schien nichts zu geschehen. Was Navius auch nicht gewundert hätte. Wie auch immer der Mann in die heiligste Halle gekommen war, seine Selbstdarstellung konnte unmöglich der Wirklichkeit entsprechen. Doch dann tauchte etwas aus dem Inneren der Lichtkugel auf, das mehr war als nur ein Schemen. Die Konturen wurden immer schärfer, bis etwas durch die Oberfläche brach, das in einem vertrauten Blauton leuchtete. „Der Fokus, der von Aquilian dem Weisen hier verbannt wurde, nachdem sein Volk bei dem Versuch starb, die entfesselten Wächter zu bändigen, auf dass sie nie wieder den Morgrad heimsuchen mögen.“
    „Wovon redest du da?“, fragte Navius. Cronos hatte ihm versichert, dass es nur fünf Fokussteine gab und sie bis vor kurzem alle im Besitz der Wassermagier waren. Wie kam dann dieser Fokusstein in den Stützpfeiler? Garox konnte den Tempel unmöglich betreten haben. Produzierte diese Kugel etwa Foki?
    „Eine Geschichte, die nur unwesentlich länger zurückliegt als die Auslöschung meines Volkes“, sagte Horetius und nahm den Fokus entgegen, sanft, als hätte ihm die magische Energie ein Kind geschenkt. „Wichtig ist nur, dass ich alle Fokussteine vereinen werde und die Wächter wieder auferstehen werden. Sie werden der weise Rat meines absoluten Gleichgewichts sein.“ Mit einem Mal wandte er sich wieder dem Schneemagier zu. Seine Augen funkelten. „Aber du wirst es mir wieder ausreden wollen, stimmts?“
    Navius wusste nicht, wovon er sprach. Seine Brust begann wieder schmerzhafter zu stechen. Der Duft des Lebens wirkte mit einem Mal vergiftet.
    „Als ich zu dir kam und dich darum bat, mein Volk zu retten, verweigertest du mir deine Hilfe. Erinnerst du dich immer noch nicht?“
    „Nein. Ich…“
    „Ich brauchte die Magie des Eiskreises um mein Volk auf den rechten Weg zurückzuführen. Adanos hatte mich dazu auserkoren! Aber du schütteltest nur milde mit dem Kopf und bestandest darauf, dass du dich nicht in die Geschicke der Welt einzumischen hast.“ Horetius‘ Stimme hallte nun laut von den Wänden wieder. „Wegen dir scheiterte ich. Adanos selbst zog die Notbremse und ließ seine allesverschlingende Flut über meine Heimat Al Shedim, ja über mein ganzes Land kommen.“
    Endlich glaubte Navius zu verstehen: „Du bist ein Überlebender des Alten Volkes von Varant?“
    „Jetzt nützt es dir auch nichts mehr, dich daran zu erinnern. Ich spüre die Gegenwart von zwei weiteren Fokussteinen. Ich dachte, du hättest sie bei dir, aber das ist offensichtlich nicht der Fall.“
    „Du spürst die Foki?“
    „Wie sonst sollte ich sie vereinen? Adanos hat mich mit allen Fähigkeiten ausgestattet, die nötig sein werden, um die Welt in das absolute Gleichgewicht zu führen. Mich, der ihn damals enttäuschte. Er muss erkannt haben, dass es nicht meine Schuld war. Dass allein deine Verweigerung mein Volk in den Untergang geführt hat.“
    „Aber ich habe dein Volk nicht in den Untergang geführt!“, rief Navius nun endgültig mit seiner Geduld am Ende. „Das Alte Volk ging lange vor meiner Geburt unter! Du musst…“
    „Versuch nicht, dich herauszureden“, schnitt Horetius ihm das Wort ab. „Ich weiß genau, dass du nicht alterst. Du überdauerst die Jahrhunderte, siehst Völker aufleben und aussterben. Und siehst nur zu, selbst wenn du eines von ihnen retten könntest, weil es ja nicht deine Aufgabe ist, dich ihnen anzunehmen!“
    „Was bildest du dir eigentlich ein?“, fuhr Navius auf. „Die Macht eines Gottes ist nichts, was man leichtfertig einsetzen darf! Solch ein Handeln hat Folgen, deren Verantwortung keiner tragen kann! Auch wenn ich es nicht war, der dich abgewiesen hat. Dieser Mensch hat besonnen gehandelt! Wenn er dich nicht unterstützen wollte, dann war dein Plan eben nicht überzeugend genug.“
    Horetius‘ Blick war hart und kalt wie Stahl geworden. „Du wirst der erste sein, der sich vor meinem weisen Rat verantworten muss. Warte auf den Tag. Er ist nicht mehr weit.“
    Ein freudloses Lachen unterbrach den Streit. „Zwietracht zwischen den sonst so ausgeglichenen Jüngern Adanos‘. Das ist interessant. Es haben wohl auch ehrenhaftere Männer offene Rechnungen mit unserem geschätzten Schneemagier.“
    Navius wirbelte herum. Garox hatte den Tempel des Meeres unbemerkt betreten. Die Pforte schien ihn als seinen Begleiter akzeptiert zu haben. Navius wurde flau im Magen. Er hatte plötzlich das Gefühl, einen Teil des Plans durchschaut zu haben. „Du hast mich hierher gelockt, um in den Tempel zu kommen?“ Wenn das stimmte, hatte er perfekt mitgespielt.
    Garox‘ Augen blitzten frohlockend. „In der Tat.“
    „Willst du immer noch behaupten, dass Shiva hier war?“
    „Aber natürlich. Wir hatten sie hier wie einen zahmen Wüstenhund angekettet, damit du sie dir abholen kannst.“
    „Wer ist wir?“
    „Ich habe kein weiteres Interesse an dir. Du hast deine Aufgabe erfüllt und bist nun nutzlos für mich geworden.“ Sein Blick glitt von Navius zu Horetius. „Und wer bist du?“
    „Dieselbe Frage könnte ich dir stellen“, erwiderte Horetius gelassen. „Ich spüre, dass du einen Fokus bei dir trägst, der mit gewaltiger Macht gefüllt ist. Nur noch ein bisschen mehr und er würde unter dem Druck zerbersten. Bist du dir im Klaren, welch großes Risiko du eingehst?“
    Navius nutzte den Moment der Unachtsamkeit. Wie aus dem Nichts kristallisierte sich die Feuchtigkeit in der Luft zu einer schnell anschwellenden Kugel aus Eis. „Ich habe dir einmal über die Schwelle geholfen, Garox. Jetzt werde ich es ein zweites Mal tun!“ Und er schoss die Kugel auf den Schwarzmagier ab. Sie rammte Garox, der zu perplex für irgendeine Gegenmaßnahme war, und riss ihn mit sich aus der Pforte des Tempels. Navius setzte ihm mit langen Schritten nach. Auf den Stufen, die zu dem Eingang hinauf führten, hielt er inne. Zornig sah er auf den Schwarzmagier herab. „Du hast doch nicht gedacht, dass ich dich einfach gewähren lasse, wenn du es erstmal in den Tempel hinein geschafft hast. Du händigst mir jetzt als erstes den Fokus aus!“
    Garox kam ohne jede Eile wieder auf die Beine. Wie aus dem Nichts erschien Horetius hinter ihm. Navius war sich nicht sicher, ob er ihn wenigstens in der Angelegenheit mit Garox auf seiner Seite hatte. Jedenfalls würde Horetius ihm den Fokus wohl nicht aushändigen, wenn er ihn erstmal in seinem Besitz hatte. Er musste ihn irgendwie vor ihm in die Finger bekommen.
    Das Prasseln von Steinen verkündete, dass die Pforte des Tempels sich wieder schloss. Navius verspürte ein kleines Gefühl des Triumphes, dass er wenigstens Garox‘ Plan vereitelt hatte. Noch einmal würde er das Portal nicht in seiner Gegenwart öffnen. Doch dann sah er den verzückten Ausdruck im Gesicht des Schwarzmagiers.
    „Warum spüre ich immer noch die Präsenz eines Fokus im Tempel der Meere?“, fragte Horetius argwöhnisch. „Als ich ihn betrat, war definitiv nur der darin, den ich an mich genommen habe. Und du trägst deinen auch noch bei dir.“
    Garox lachte irre. „Es ist ganz gleich, ob ich in dem Tempel bin oder nicht. Ich bin in dieser Sache nichts weiter als ein williger Handlanger.“
    „Also ist noch jemand im Tempel?“, entfuhr es Navius nervös.
    „Das ist ausgeschlossen“, entschied Horetius. „Der Tempel besteht nur aus diesem einen Raum und ich habe niemanden gesehen.“
    Navius hielt sich nicht länger mit ihm auf. Er machte auf den Stufen kehrt und schritt zurück zu der Pforte. Willig zerbröselte sie erneut, doch wie aus dem Nichts erschienen schwarze Säulen links und rechts des Eingangs. Als ihre Runen schummrig und rot aufleuchteten, wusste Navius sofort, was kommen würde. Knisternd spannte sich eine rote Barriere vor dem Tor.
    „Verdammt!“, fluchte Navius. Das Stechen in seiner Brust wurde beinahe unerträglich. Wie sollte er jetzt noch in den Tempel der Meere kommen?
    Horetius erschien neben ihm und legte eine Hand an die rote Magie. „Das ist ein mächtiger Zauber des dunklen Gotts. Vielleicht nur durch den Fokus ermöglicht. Dagegen wird kein Magier Adanos‘ etwas ausrichten können“, murmelte er überrascht.
    Navius rannte zurück und stürzte sich auf Garox. Mit beiden Händen riss er ihn zu Boden. „Wer ist in dem Tempel?!“
    Garox lachte aus vollem Halse. „Dein Freund aus Kindertagen natürlich!“
    Navius erbleichte. „Rhademes ist längst tot!“, schrie er. „Längst!“ Doch noch im selben Moment wurde ihm klar, dass es die einzige logische Erklärung für alles war.
    Geändert von MiMo (30.08.2018 um 14:43 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Es gibt im Leben immer diesen einen Freund, ohne den alles aus den Fugen geraten würde. Diesen Freund, dem man alles anvertraut, ohne zu zögern. Den man ganz unbewusst mehr braucht als jeden anderen Menschen. Später, als ich alt und einsam wurde, habe ich viel darüber nachgedacht, wer in meinem Leben dieser eine Freund war. Die Antwort fiel mir nie schwer. Es war keiner von den Kollegen, mit denen ich tagein, tagaus in brutzelnder Sonne oder endlosem Regen schuftete. Es war auch nicht meine Schwester, die mich immer so selbstverständlich behütet hatte, nachdem unsere Mutter früh von uns gegangen war. Es war erst recht nicht mein Vater, der mich immerzu darauf hinwies, dass ich in eine Familie ehrbarer Feldarbeiter mit tadellosem Ruf geboren war und dass ich der Familienehre keine Schande machen durfte. Diese Vorträge hatten an Hartnäckigkeit nur zugenommen, seit ich einmal zu spät auf dem Feld gewesen war, weil mich die Müllerstochter auf den Heuboden gelockt hatte. Es war merkwürdig, wie geschwind sich die Geschichte im ganzen Dorf verbreitet und selbst mein sauertöpfischer Vater davon Wind bekommen hatte, auch wenn er es mir gegenüber nie angesprochen hatte. Ich hatte es jedenfalls nicht gewagt, bei dem Müller um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Zu viel Angst hatte ich vor der Reaktion meines Vaters. Getroffen hatte ich sie dennoch fast täglich. Und doch war auch die Tochter des Müllers nicht der eine Freund in meinem Leben, auf den ich alles setzte.
    Es gab in unserem Dorf einen Mann, der eines Tages völlig entkräftet im Wald gefunden worden war. Die Dorfälteste, beinahe blind und ganz allein in dem großen Haus, das ihr hinterblieben war, nahm ihn bei sich auf und brachte ihn mit ihren Kräutereien wieder auf die Beine. Er erholte sich rasch, doch egal wie viel Zeit auch verstrich: Er arbeitete nicht auf den Feldern, fischte nicht in dem Fluss, trieb kein Vieh, fällte keinen Baum. Er buk kein Brot und mahlte kein Mehl, hobelte keine Möbel, verarbeitete kein Leder. Rhad beteiligte sich in dem Dorf, das ihn so selbstverständlich aufgenommen hatte, an keiner Arbeit. Lange Zeit dachte man, dass er sich einfach nur nicht erhole, denn tagsüber sah man ihn nie. Doch irgendwann hatte sich die Wahrheit auch zu mir herumgesprochen: Der mysteriöse Rhad kam nur dann aus dem Haus, wenn der Mond am Himmel stand. Wenn die Sonne schien oder Wolken den Mond verdunkelten, blieb er zuhaus und schlief wohl den ganzen Tag. Aber wenn der Mond am Himmel erschien, dann schlüpfte er aus dem Haus der Ältesten und verließ das Dorf.
    Als ich bei einer Pause auf dem Feld davon hörte, lachte ich zunächst. So ein Verhalten erschien mir gar zu sonderbar. Danach dachte ich nicht mehr darüber nach. Bis ich mich eines Abends wieder heimlich mit der Tochter des Müllers getroffen hatte und bei Anbruch der Dunkelheit über den Dorfplatz kam, an dem auch das Haus der Dorfältesten lag. Um diese Zeit war der Platz wie leergefegt. Still lag er da und nichts regte sich. Bis mit einem leisen Knarzen die Tür der Ältesten aufging und der geheimnisvolle Rhad aus ihr hervortrat. Er sah sich nicht um, bemerkte mich darum auch nicht, und verließ eilig den Platz in südlicher Richtung. Ich war ganz erstaunt, dass an dem merkwürdigen Gerede tatsächlich etwas dran sein musste. Krank hatte er jedenfalls nicht ausgesehen. Kopfschüttelnd ging ich nachhause und legte mich schlafen. Doch von diesem Abend an konnte ich nicht mehr aufhören darüber nachzugrübeln, was der Fremde wohl des Nachts außerhalb des Dorfes zu erledigen hatte. Meine eigene Fantasie reichte in dieser Hinsicht nicht sehr weit. Und immer, wenn ich anderen gegenüber das Thema vorsichtig anzuschneiden versuchte, wurde nur mit den Achseln gezuckt. Niemand schien sich noch groß für diesen Rhad zu interessieren. Er war halt ein Sonderling. Jeder hatte sich daran gewöhnt. Die Jungs auf den Feldern. Meine Schwester und mein Vater. Die Tochter des Müllers. Niemand verspürte die Neugier, die mir in der Seele brannte.
    Ich fasste einen Entschluss. Wann immer ich bei Einbruch der Nacht durchs Dorf lief, machte ich einen Umweg über den Dorfplatz. Doch dieser Tage regnete es häufig und der Mond war nie zu sehen. Und so verließ auch Rhad das Haus der Ältesten nicht. Es schauderte mich, als ich auch dieses Detail des Geredes bestätigt fand. Ich konnte mir auch nicht im Entferntesten vorstellen, was für einen Grund es dafür geben konnte. Ob die Dorfälteste eine Pflanze brauchte, die nur bei Mondlicht gepflückt werden durfte?
    Es dauerte noch eine Woche, bis mir das Wetter endlich gewogen war. Der Mond stand hoch und voll am Himmel und die ersten Sterne zwinkerten. Ich kam gerade aus der Kneipe, wo heute keiner so recht Lust gehabt hatte, länger zu machen. Morgen musste man ja schließlich wieder früh raus. Mein Herz klopfte einen eigentümlichen Rhythmus, als ich den Dorfplatz betrat. Betont langsam überquerte ich den leeren Platz. Die Tür, die ich so verstohlen beobachtete, bewegte sich nicht. Ich hatte wohl wieder kein Glück. Ich schnürte meine Hose auf und entließ das Bier an einem Ginsterbusch nördlich des Platzes. Eigentlich hatte ich nicht viel getrunken, aber während mein Strahl so im Blattwerk plätscherte, wurde mir klar, dass ich noch nie hier am Dorfplatz Wasser gelassen hatte. Doch genauso rasch wurde mir bewusst, dass Trunkenheit nicht der Grund war. Dass ich es nur tat, um noch ein bisschen länger die Tür im Auge behalten zu können.
    Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als ich das Knarzen der Angeln hörte, gefolgt von den hastigen Schritten. Hastig verschnürte ich meine Hose wieder und nahm die Verfolgung auf. Ich hatte diesen Plan nie bewusst gefasst, ein Zögern hatte es dennoch nicht gegeben. Ich musste mich beeilen, um ihn nicht zu verlieren. Rhad nahm allerdings keine sehr komplizierte Route. Er ging schnurstracks im Süden aus dem Dorf heraus. Als ich den Schutz der Hütten verließ, fragte ich mich, wie lange es wohl dauern würde, bis er mich bemerkte. Die Wiese war flach und es gab nichts, hinter dem ich mich hätte verstecken können. Wie er wohl reagieren würde? Ungehalten?
    Doch Rhad sah nicht ein einziges Mal über die Schulter. Er lief zu der Flussgabelung, wo ein großer Felsen auf der Landspitze thronte, an der sich der Fluss trennte. Mit geübten Handgriffen kletterte er hinauf, setzte sich hin und starrte in den Himmel. Ich blieb stehen und beobachtete, was er als nächstes tun würde. Doch es geschah nichts. Er saß einfach nur da und sah in den Himmel. Es war ein so ungewöhnliches Verhalten, dass ich mich fragte, was für ein Sinn dahinter stand. Wartete er vielleicht auf eine Frau? Wenn ja, dann musste sie direkt an mir vorbei kommen. Unbehaglich warf ich einen Blick über die Schulter, doch die Ebene zwischen mir und dem Dorf war menschenleer. Ich beobachtete wieder den Fremden, der da auf dem Stein saß und reglos zu den Sternen aufsah. Allmählich fragte ich mich, ob er schwachsinnig war. Kein Mensch konnte so lange so ruhig dasitzen. Und niemand der noch alle Tassen im Schrank hatte, verbrachte so viel Zeit damit, die Sterne anzugucken.
    Irgendwann beschloss ich meiner Neugier ein Ende zu setzen. Er regte sich nicht einmal, als ich direkt an seinen Fels trat und zu ihm aufsah. „Hey. Rhad ist dein Name, oder?“
    „Meine Mutter nannte mich Rhademes. Aber den meisten, denen ich bisher begegnet bin, war das zu lang. Du kannst mich also auch gerne Rhad nennen.“
    Er hatte den Blick nicht vom Mond abgewendet. Doch im Gegensatz zu seinem Verhalten war sein Tonfall nicht abweisend, sondern freundlich gewesen. „Darf ich mich zu dir setzen?“
    „Klar. Es ist ein schöner Platz. Den kann ich schlecht für mich allein beanspruchen.“
    Es stellte sich als gar nicht so leicht heraus, auf den Felsen zu klettern. Dass es bei Rhad so leicht ausgesehen hatte, ließ mich ahnen, wie oft er schon hier gewesen war. Als ich direkt neben ihm stand, konnte ich das Licht der Gestirne sehen, dass sich in seinen weit geöffneten Augen spiegelte. Ich setzte mich neben ihn. „Was machst du hier?“
    „Ich beobachte die Sterne.“
    „Und… warum gerade hier? Die Sterne kann man doch von überall sehen. Wenn du nicht gerade in einer Höhle oder einem Wald bist.“
    „Es ist ein schöner Ort. Das Plätschern des Flusses fördert meine Konzentration.“
    „Warum muss man sich denn konzentrieren, wenn man sich die Sterne ansieht?“
    Rhademes antwortete nicht sofort. Doch als er es tat, sah er mich zum ersten Mal direkt an. „Ich meine nicht das Sternegucken, wie es verliebte Pärchen machen, wenn sie sich nachts heimlich treffen. Ich beobachte sie. Merke mir ihre Positionen zueinander, studiere die Konstellationen. Versuche zu ergründen, was sie mir zu sagen versuchen.“
    Ich warf nun selbst einen Blick hinauf. „Ich kann da beim besten Willen nichts lesen.“
    „Ich auch nicht. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ihre Anordnung nicht zufällig ist.“
    „Und deshalb guckst du sie dir heute so genau an?“
    „Nicht nur heute. Ich komme in jeder sternenklaren Nacht hierher.“
    Ich nickte langsam. „Gibt es einen besonderen Grund dafür?“
    „Brauche ich denn einen?“, fragte er eher neugierig als ungehalten.
    „Nun ja… Außer dir kenne ich sonst niemanden, der die Sterne beobachtet.“
    „Ich auch nicht.“
    Für eine Weile war nur das Murmeln des Wassers zu hören. Gedankenversunken musterte ich die Sterne. Ich konnte es Rhad jedenfalls nicht verübeln, dass er von ihnen fasziniert war.
    „Was ist der Sinn deines Lebens?“, fragte er mich plötzlich.
    Ich warf ihm einen überraschten Blick zu, doch seine Aufmerksamkeit galt wieder dem Firmament. „Ich helfe, die Felder zu bestellen. Im Herbst hole ich die Ernte ein. Ohne die Ernte würde es in Silden wohl zu wenig zu essen geben.“
    „Was ist mit dem Fisch im Fluss?“
    „Niemand hat Lust, tagein, tagaus Fisch zu essen.“
    „Das ist nicht der einzige Grund. Würde sich Silden nur von Fisch und Wild ernähren, würden die Bestände bald abnehmen, bis sie ganz verschwinden. Und dann würden auch die Menschen Hunger leiden.“
    „Hm.“ Ich beobachtete die im Mondlicht schimmernde Wasseroberfläche. „So habe ich das noch nie betrachtet.“
    „Meine Frage war aber eher… Was ist der Sinn deines Lebens? Wenn du nicht existieren würdest, müssten die anderen Feldarbeiter vielleicht mehr arbeiten, aber es gäbe ja auch einen Menschen weniger zu versorgen. Außerdem haben viele in Silden diese Aufgabe. Und trotzdem unterscheidest du dich von ihnen. Wenn ich in fernen Ländern von den Menschen aus Silden erzähle, was würde ich wohl über dich sagen? Würde ich sagen, dass du nur einer der Feldarbeiter bist, nur Teil eines Ganzen ohne individuellen Wert? Gibt es nichts, was dich zu etwas Besonderem macht? Etwas, über das auch die Menschen, die nach dir kommen, noch reden können, um dich von all den anderen Vorfahren zu unterscheiden?“
    „Nun ja…“ Plötzlich fühlte ich mich ein wenig unwohl in meiner Haut. „Irgendwann werde ich eine Frau haben und Kinder kriegen. Dann werden die kommenden Generationen mich als den Vater oder Großvater oder Urgroßvater von Menschen in ihrem Alter in Erinnerung behalten.“
    „Das mag sein“, stimmte Rhad zu, klang aber ein wenig enttäuscht.
    „Du hast das Glück, dass sich die Dorfälteste um dich kümmert. Sonst müsstest du auch mit auf die Felder, oder in den Wald. Oder Fischen. Dann wärst du auch nicht mehr so ein unverwechselbarer Sonderling.“
    Wieder war für einen Moment nur der Fluss zu hören und ich fragte mich, ob ich Rhad verletzt hatte.
    „Ich bin nicht zufrieden mit dem Leben, das ich führe“, gab Rhad irgendwann zu.
    Verblüfft sah ich von meinen Fußspitzen auf. Ich wusste, dass es Menschen gab, die mit ihrem eigenen Leben haderten, doch ich hatte noch nie mit einem gesprochen. Und gerade Rhad war mir so selbstbewusst vorgekommen.
    „Wenn ich morgen sterbe, was bleibt denn dann von mir? Nichts würde ich der Welt hinterlassen.“
    „Dann such dir doch eine Frau und bekomme mit ihr ein Kind“, schlug ich vor. Was die Leute im Dorf wohl sagen würden, wenn der merkwürdige Fremde sich plötzlich am Dorfleben beteiligte?
    „Das Kind wäre ebenso gewöhnlich wie ich. Die Welt würde weiterhin unter dem Joch der Götter stehen, die Menschen würden sich in Kriegen dezimieren, nur um sich gleich darauf einer Phase der Reproduktion hinzugeben. Sie bauen auf und zerstören es wieder, in einem ewigen Kreislauf. Und niemand versteht die Sterne. Ich kann den Sinn meines Lebens unmöglich darin sehen, ein Kind in die Welt zu setzen, dass nur zu einem weiteren Teil des Kreislaufs wird.“
    Diese Darstellung erschien mir zwar ziemlich einseitig, doch ich wollte nicht darüber diskutieren. Mir brannte eine andere Frage unter den Nägeln: „Aber was ist dann der Sinn deines Lebens?“
    „Ich möchte die Sterne verstehen. Am Himmel glitzern mehr von ihnen als es Buchstaben in irgendeinem Buch gibt. Ich bin mir sicher, dass das dort oben der größte Wissensschatz ist, den man sich nur vorstellen kann. Und die Sterne sind nicht bloß von Menschen angeordnet worden so wie die Buchstaben. Sie überliefern das Wissen der Götter. Oder von dem, der die Götter erschaffen hat.“
    „Der… die Götter erschaffen hat?“, fragte ich verdutzt. „Ich wusste nicht, dass es so jemanden gibt.“
    „Kommt es dir denn sonst nicht merkwürdig vor? Alles wurde von irgendjemandem geschaffen, nur die Götter nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kette schon dort zu Ende ist. Es muss eine viel schlichtere Quelle für alles geben. Wenn ich die Sterne verstehe, werde ich alles verstehen. Und dann werde ich die Welt verändern. Dann muss niemand mehr arbeiten. Niemand mehr Krieg führen. Dann brauchen wir den Beistand der Götter nicht mehr, denn dann besitzen wir selbst das Wissen der Götter. Oder sogar noch mehr.“
    Im Stillen fragte ich mich, was der alte Priester wohl dazu sagen würde, der jeden Sonntag auf dem Dorfplatz Innos um eine gute Ernte anrief. Er würde Rhad wohl einen Ketzer schimpfen. Doch ich fand seine Sicht der Dinge interessant. Er zeichnete in meinem Kopf eine ganz andere Welt als die, in der ich bislang gelebt hatte. Ich fragte ihn an diesem Abend noch viele Dinge. Und Rhad antwortete mir mit einer unerschöpflichen Geduld, während er reglos dasaß und die Sterne beobachtete.
    Erst als der Morgen graute, bemerkte ich, wie viel Zeit vergangen war. Ich verabschiedete mich rasch von ihm, fand aber keinen Schlaf, bevor ich aufs Feld musste. Zu viele Gedanken schwirrten mir im Kopf herum. Die Arbeit ging an diesem Tag schleppend und schwer voran. Beinahe bereute ich, die Nacht bei Rhad verbracht zu haben. Aber nur beinahe. Und so ging ich am folgenden Abend wieder hin.
    Irgendwann wurde es für mich zur Gewohnheit, vorm Schlafengehen bei dem Felsen an der Flussgabelung vorbeizuschauen und mich zu Rhad zu setzen. Auf eine merkwürdige Art wurde er mein bester Freund. Ein Freund, dem ich ohne zu zögern all meine Gedanken preisgab. Ohne den mein Leben aus den Fugen geraten würde. Es war schon schlimm genug, wenn Wolken den Himmel verdeckten und Rhad nicht rauskam.
    So vergingen nicht nur Tage, sondern auch Wochen und Monate. Und schließlich fiel mir auf, dass mein erstes Mal auf dem Fels an der Flussgabelung schon drei Jahre zurück lag. Mit zwei Flaschen Wacholder in der Linken schlenderte ich zu unserem Felsen. Noch nie hatte ich Alkohol mitgebracht. Ich war mir nicht sicher, was Rhad davon halten würde, aber ich wollte heute mit ihm anstoßen. Und ihm endlich einmal sagen, was er doch für ein guter Kerl war. Aber dann passierte etwas, das in den drei Jahren noch nie passiert war.
    Rhad kam mir entgegen, kurz nachdem ich das Dorf verlassen hatte. Verwundert sah ich ihm entgegen. Als Rhad mich erkannte, strahlte er über das ganze Gesicht. „Endlich haben die Sterne mir ein Zeichen gegeben! Ich bin so aufgeregt, darauf habe ich all die Jahre gewartet. Ich mach mich sofort auf den Weg!“
    Er ließ mich einfach am Wegesrand stehen, wo ich auch noch einen Moment verdutzt zurückblieb, bis ich mich umwandte und ihm nachlief. „Was meinst du damit? Wo gehst du denn hin?“
    „In den Norden“, antwortete er mir ganz außer Atem. Seine Schritte wurden immer schneller und seine Kondition war gewiss nicht die beste.
    „In den Norden?“, wiederholte ich noch überraschter. „Aber was willst du denn dort? Du wirst erfrieren!“
    „Ich bitte die Dorfälteste einfach um die warmen Sachen ihres Mannes. Ich weiß, dass sie sie noch in der Kommode in ihrem Schlafzimmer aufbewahrt.“ Und mit diesen Worten riss er die Tür des Hauses am Dorfplatz auf und verschwand darin. Die Tür ließ er offen, aber ich scheute mich trotzdem einzutreten. Noch nie hatte ich dieses Haus betreten. Die Dorfälteste hatte mich noch nie zu sich herein gebeten. Nicht dass ich darauf erpicht gewesen wäre.
    Doch noch ehe ich mich entscheiden konnte, nachhause zu gehen, kam Rhad schon wieder heraus. Er war mit zwei schweren Mänteln und einem Rucksack beladen. Einen der Mäntel hielt er mir hin.
    „Wofür?“, fragte ich, obwohl ich es schon ahnte.
    „Na, du kommst doch mit, oder? Am Himmel ist ein neuer Stern erschienen. Und er wandert ganz langsam nach Norden, da bin ich mir sicher. Die Sterne wollen mir ein Zeichen geben, daran gibt es gar keinen Zweifel!“
    „Aber…“
    Rhad erstarrte und sah mich perplex an. „Du willst nicht mit?“
    Mein Herz schlug plötzlich schneller. Das klang nicht nach einer Reise, von der ich so schnell wiederkommen würde. „Gib mir ein paar Minuten. Ich sag nur meiner Familie Bescheid.“
    Bis heute kann ich nicht sagen, was mich zu dieser Entscheidung bewog. Ich hatte nie ein Urteil darüber gefällt, ob Rhads ewiges Gerede von den Sternen Wahn oder Weisheit war. Vermutlich hatte ich es insgeheim als eine Mischung aus beidem abgetan. Doch ich wollte ihn nicht allein gehen lassen, wo er doch so wenig Erfahrung mit der wirklichen Welt hatte. Wer seine Tage im Bett oder auf einem Felsen sitzend verbrachte, konnte nicht wissen, wie man ein Feuer machte, Hasen fing oder auch nur einen Fisch angelte. Dass ich ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen konnte, war offensichtlich. Und so brachte ich es wahrscheinlich einfach nicht übers Herz meinen liebgewonnen Freund allein in das lebensfeindliche Nordmar ziehen zu lassen.
    Ich musste in den darauffolgenden Wochen allerdings feststellen, dass Rhad nicht einmal ansatzweise so hilflos war wie ich ihn eingeschätzt hatte. In einem kleinen Bach nahe der Schneegrenze fing er einen ausgewachsenen Barsch mit bloßen Händen. Mit Leichtigkeit machte er abends das Lagerfeuer. Und egal wie dicht die Bäume auch standen oder wie wolkenverhangen der Himmel auch war, er schien nie die Orientierung zu verlieren. Bald hatten wir die riesigen Schluchten im eisigen Herz Nordmars erreicht, in denen der Wind lauter heulte als man zu rufen vermochte. Wo jeder Schrei eine Lawine auslösen konnte. Und der Atem tags wie nachts direkt vor dem Gesicht gefror und als ein Schauer kleiner Eiskristalle niederging.
    Seit einer Woche irrten wir durch diese Schluchten, hatten nichts gegessen als ein bisschen dünnes Moos, das hie und da an den nackten Felswänden wuchs. Meine Beine zitterten von der Anstrengung, durch den tiefen Schnee zu waten. Rhad ging voraus. Obwohl er nie körperlich gearbeitet hatte, schien er frei von jeglicher Erschöpfung. Vielleicht hatten die Sterne ihn wirklich zu Größerem bestimmt, dachte ich zähneklappernd. Doch dass es mit mir langsam zu Ende ging, das spürte ich deutlich. Jeder Schritt wurde zu einem Kampf, eine einzige Willensanstrengung, die sich endlos wiederholte. Mein Sichtfeld schrumpfte immer mehr zu einem kleinen Tunnel, an dessen Ende ich nichts als Rhads Rücken sah. Am Ende des nächsten Tages war ich mir sicher, dass ich am Morgen nicht mehr aufwachen würde. Mein Magen brannte. Der Rest meine Körpers war taub. Mein Blickfeld verschwamm mit jedem rasselnden Atemzug.
    „Wir sind da!“, rief Rhad ehrfürchtig. „Wir haben es geschafft. Wir sind wirklich da!“
    Mit Mühe schaffte ich es, meinen Blick zu schärfen. Ich wusste nicht so recht, was Rhad meinte, aber er verschwand in einer Felsspalte direkt vor mir. Er wartete nicht auf mich, sah sich nicht mal nach mir um. Ich wollte endlich raus aus dem eisigen Wind, mich in einer Ecke einrollen und auf den Tod warten. Ich konnte Rhad nicht einmal die Schuld an all dem geben, ich war ja freiwillig mit ihm gegangen. Es war mir auch egal. Solange ich keinen Schritt mehr gehen musste, nicht mehr diese kalte Luft zu atmen hatte. Ich schob mich in die schmale Höhle. Die Luft war wärmer als draußen. Mein Blick schärfte sich wieder. Meine Lebensgeister schienen neu zu erwachen.
    Plötzlich stand ich neben Rhad in einem kreisrunden Teil der Höhle. An der Wand entlang standen bläulich schimmernde Wesen. Die meisten dieser Wesen machten auf mich einen beinahe menschlichen Eindruck. Ich konnte durch sie hindurch die behauenen Felswände sehen. Der Blick ihrer pupillenlosen Augen ruhte auf uns.
    „Sind das Geister?“, fragte ich Rhad.
    „Ich glaube, das ist noch etwas viel Selteneres“, hauchte mein Freund.
    Die Gestalt einer gänzlich nackten Frau trat vor. Ihre Augen waren tiefblau und pupillenlos, ihr Gesicht und ihr Körper von makelloser Schönheit. „Habt keine Angst“, sagte sie mit einer wohltuenden, warmen Stimme. „Ihr habt das Ende eurer Reise erreicht, Wanderer auf dem Pfad des Gleichgewichts.“
    „Ich wusste es!“, jauchzte Rhad und sprang in die Luft. „Die Sterne haben mich hierher geführt, nicht wahr?“
    Die Frau lächelte geheimnisvoll.
    Ein ebenso unbekleideter, alter Mann mit einem riesigen Rauschebart trat vor. „Nur einem kann die Macht von Adanos zuteilwerden. Ich frage mich, wer von euch der Auserwählte ist.“
    „Vielleicht ist es keiner von ihnen“, murmelte eine vermummte Gestalt undeutlich.
    „Ich bin es!“, rief Rhad. „Ich habe Jahre damit verbracht, die Bewegungen der Sterne zu studieren. Die Götter gaben der Welt ein Zeichen, das nur ich lesen konnte!“
    Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen kicherten hinter ihrem Rücken. „Der Mensch glaubt den Plan der Götter zu kennen“, gluckste das Mädchen. „Ein Sternengucker ist er, nicht mehr und nicht weniger“, fügte der Junge hinzu. „Nicht der Magier erschafft den ewigen Kreis. Der Kreis erschafft den Magier“, sangen beide im Chor.
    „So ist es schon immer gewesen“, stimmte eine alte Frau zu und klopfte dreimal mit ihrem Gehstock auf den gefrorenen Untergrund.
    „Der wievielte ist er?“, fragte der Greis mit dem Rauschebart.
    „Er ist der siebte Magier“, antwortete die schöne Frau mit ihrer melodiösen Stimme.
    „Danke, Shiva. Just in diesem Moment ist es mir auch wieder eingefallen.“
    „Shiva heißt du?“, fragte Rhad die Erscheinung vor ihnen. Die Frau nickte. „Dann sag mir bitte, Shiva, auf was für einen Auserwählten wartet ihr?“
    Zur Antwort hob Shiva ihre Arme. Ich zuckte zusammen, als es überall um uns herum klimperte. Kleine runde Schälchen hoben vom Höhlenboden ab und umzingelten Rhad. Ich sah wie mein Freund den Atem anhielt. Auch ich spürte, dass in diesem Moment etwas Besonderes passierte. Langsam ließ Shiva ihre Arme wieder sinken. Und auch eine der Scheiben senkte sich um eine Armeslänge. In diesem Moment erkannte ich, dass es Waagschalen waren. Ganz ähnlich denen, die man beim Nussverkäufer am Markttag sehen konnte.
    „Ist es nur eine, die sich senkt?“, fragte das Mädchen ungläubig. „Ich wusste, dass es mindestens diese sein wird“, fügte der Junge hinzu. „Hochmut kommt vor dem Fall“, sangen beide im Chor.
    „Dennoch ein fast perfekter Kandidat“, vibrierte ein blau leuchtendes Irrlicht.
    „Wir werden mit ihm vorlieb nehmen müssen, wenn der andere Junge nichts taugt oder der Kreis ihn abweist“, tönte die alte Frau und klopfte wiederum dreimal mit ihrem blau schimmernden Gehstock aufs Eis.
    Auf einen Schwenk Shivas hin gruppierten sich die Waagschalen neu. Dieses Mal kreisten sie mich ein. Die Frau ließ ihren grazilen Arm sinken. Doch nichts regte sich. Rhad und ich waren ohnehin wie zur Salzsäule erstarrt, doch auch die neun Geister waren wie gelähmt. Dann plapperten sie alle auf einmal los. „Das hat es noch nie gegeben“, polterte der Greis und fuhr sich durch seinen Bart. Das Irrlicht brummte wohltuend. „Sind es die Waagschalen, die sich nicht senken?“, fragte das Mädchen ungläubig. „Oder ist es gar die Höhle, die versinkt?“, fügte der Junge hinzu.
    „Wie ist dein Name, junger Wanderer?“, fragte Shiva. Ihre warme Stimme war selbst durch den Lärm der anderen gut zu verstehen.
    Ich schluckte. „Navius.“
    „Nun denn, Navius. Bist du bereit, dich in den Dienst von Adanos zu stellen, dem gerechten Gott und Wahrer des Gleichgewichts?“
    Mein Mund wurde trocken. Ich wollte einen Blick mit Rhad tauschen, aber die blauen Augen Shivas ließen mich nicht los.
    „Wozu sonst hast du den schweren Weg auf dich genommen?“, polterte der Greis. Die alte Frau klopfte mit ihrem Gehstock auf den Boden.
    „Ich denke schon, ja“, sagte ich. Und die neun Geister hoben ihre Hände. Mir wurde warm. Von überall her kam Licht. Die Schmerzen aus meinen Gliedern, die Schwäche. Alles schien aus mir herausgesogen zu werden. Ich schrie, ohne es zu wollen. Die Eindrücke prasselten auf mich ein. Mein Vater, meine Schwester, die Tochter des Müllers. Sie alle verblassten vor meinem inneren Auge, wurden hinfortgeweht wie welke Blätter im Herbst. Denn der Winter kam. Und mit ihm ein Gefühl, wie ich es noch nie erfahren hatte.
    Alle Viere von mir gestreckt lag ich auf dem Boden und atmete heftig. Mein Mantel lag neben mir, aber ich war nicht nackt. Ich war in einen schneeweißen Umhang gekleidet. Dies war der Moment, in dem ich aufhörte zu existieren. Und Navius der Schneemagier geboren wurde.
    „Der Kreis hat dich akzeptiert. Nun ist es an dir, ihn neu zu errichten“, sagte Shiva.
    Navius fühlte sich komisch. Er wollte sie fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Doch dann verschwanden die Geister und Dunkelheit brach über die Höhle herein.
    Momente der absoluten Stille und Finsternis. Hatte er alles nur geträumt? War er gestorben, so wie er es vorausgesehen hatte?
    „Das hatte ich nicht erwartet“, flüsterte eine Stimme neben ihm. Es dauerte, bis er sie als Rhads erkannte. So matt und brüchig hatte er sie noch nie zuvor gehört. Ihm fiel nicht ein, was er zu seinem Trost hätte sagen können. Aber Rhad war schon immer derjenige von ihnen gewesen, der die Stille durchbrach. „Aber es ist okay. Dein Leben hat jetzt einen Sinn. Und ich werde dir folgen, so wie du mir gefolgt bist. Mit dir zusammen werde ich meinen Frieden finden.“ Der feierliche Schwur hallte von den Wänden der Höhle wider. Navius sagte nichts.
    Danach setzten sie ihre Wanderung durch das unwirtliche Nordmar fort. Wie zuvor schweigend. Nur dass dieses Mal Navius vorging. Seit diesem sonderbaren Ritual in der Höhle spürte Navius weder Schwäche noch Müdigkeit. Er wanderte den ganzen Tag ohne Unterbrechung, bis er eine Hügelkuppe erreichte. Er versiegelte die Energie im Morgrad, die Adanos ihm schickte, und um sie herum erschienen die neun Geister aus der Höhle. Megalithen, wie er plötzlich wusste. Sie nickten ihm dankbar zu, dann verschwammen ihre Gestalten zu kleinen Lichtlein, die über dem Eiskreis schwebten. Und als er sie das nächste Mal sah, waren ihre Auren gefroren. Wie Säulen gleich ragte das Eis aus dem Schnee. Die neun Körper hatten sich zu drei Bögen aus Eis vereinigt.
    Navius zog in die Berge und errichtete sich einen Turm aus Eis. Er wollte eigentlich nur testen, wozu er fähig war. Doch der Turm gefiel ihm so gut, dass er entschied, dort wohnen zu bleiben.
    „Was wirst du heute tun?“, fragte Rhad ihn jeden Morgen.
    „Nichts. Adanos braucht meine Hilfe noch nicht“, antwortete Navius stets.
    Rhad pilgerte jeden Tag allein zum Eiskreis. Navius hatte den Verdacht, dass er versuchte, mit den Megalithen zu sprechen. Vielleicht antworteten sie ihm sogar. Navius wusste nicht, ob er es gutheißen sollte. Doch er entschied sich, nichts dagegen zu unternehmen. Er wusste, dass Rhad sich in dem kalten Turm einsam fühlte, obwohl er schon in Silden zurückgezogen gelebt hatte. Navius hatte ihm mehrmals versichert, dass er gehen konnte, wohin er wollte. Doch davon wollte Rhad nichts hören. Navius glaubte zu wissen, warum. Auch wenn er nicht mehr so fühlte wie damals. Die Worte seines Freundes hatte er nicht vergessen.
    Eines Abends kehrte Rhad nicht zurück. Zunächst ließ es ihn eigentümlich kalt. Doch dann beschloss er ihn suchen zu gehen. Vielleicht hatte die Kälte ihn doch einmal übermannt. Als Navius den Eiskreis erreichte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Einer der Megalithen fehlte. Shiva war fort.
    „Rhad, du…“ Ihm fehlten die Worte. Dass ausgerechnet der Sonderling den Reizen der schönen Frau erlegen war, erschien ihm ungeheuerlich. Er fühlte sich merkwürdig betrogen. Entschlossen seinen Freund zu finden, machte er sich auf die Suche. Doch diese Suche sollte viele Jahre dauern und zu keinem Ergebnis führen.

    Aus dem Nichts erschien eine Silhouette, die sich scharf gegen den grell leuchtenden Stützpfeiler abzeichnete. Die hoch gewachsene Gestalt breitete stumm die Arme aus, als wolle sie einen alten Freund willkommen heißen. Dann wandte sie sich der Lichtkugel zu.
    „Nein!“, brüllte Horetius mit einem Mal außer sich. Mit beiden Fäusten schlug er gegen die zornrote Barriere. „Was erlaubst du dir? Das darfst du nicht!“
    Doch er hätte ebenso stumm bleiben können wie Navius, der mit leicht geöffnetem Mund das Schauspiel verfolgte, ohne die Puzzleteile zu einem überzeugenden Ganzen zusammensetzen zu können. Der Mann im Tempel betrat die Kugel aus Licht. Augenblicklich begann der Meeresboden zu beben.
    „Was denkt der Mann, wer er ist? Er wird das Gleichgewicht der ganzen Welt auf den Kopf stellen!“
    Navius‘ hörte die Worte wie aus weiter Ferne. Er hatte nur die Umrisse sehen können, und doch glaubte er ihn erkannt zu haben. Den Freund, den er seit fast fünfhundert Jahren verloren glaubte.
    Horetius packte ihn am Kragen und riss ihn grob zu sich herum. „Erklär mir das! Wer ist dieser Kerl?“
    „Ich bin mir nicht sicher“, begann Navius langsam. Das Beben um sie herum wurde stärker. Staub krümelte von dem Vordach des Tempels auf sie herab. Die Barriere neben ihnen gab ein durchdringendes Sirren von sich. „Wahrscheinlich ist er ein alter Freund von mir. Rhademes.“
    Der Rhademes? Ich dachte, der wär lange tot!“ Horetius ließ wieder von ihm ab. Navius wurde erst später klar, welchen Rhademes er meinte. Zu spät, um ihn über seinen Irrtum aufzuklären.
    Horetius knöpfte sich stattdessen Garox vor, der selbstzufrieden lächelnd auf dem Tempelvorplatz verharrt war. Auch ihn packte er am Kragen und schüttelte ihn durch. Garox wehrte sich nicht. Navius wandte sich wieder dem Treiben im Tempel zu. Rote Lichtblitze schossen nun aus Adanos‘ Stützpfeiler. Von Rhademes war nichts mehr zu sehen. Das Licht hatte seine Silhouette verschlungen, so wie Shiva es einst mit seinem Herz getan hatte. Was hatte er nur vor? War er gekommen, um ihm gegen Horetius zur Seite zu stehen? Hatte er den Eiskreis nur zerstört, um ihn in Sicherheit zu bringen?
    „Was hat dieser vermessene Diener Beliars vor?“ Horetius schüttelte Garox unsanft, der nur spöttisch lachte.
    „Er wird der neue Schneemagier. Und mit seiner Macht wird er den Kreis des Feuers vernichten.“
    Das Beben endete abrupt. Rhademes war aus der Lichtkugel hervorgetreten, unversehrt und merkwürdig leuchtend. Ohne jede Hast schritt er auf den Ausgang des Tempels zu. Die rote Barriere verschwand.
    Navius verschlug es die Sprache. Rhad war ebenso wenig gealtert wie er selbst. Die hohe Stirn, das markante Kinn, das Leuchten der Augen. Navius hatte beinahe das Gefühl, weit entfernt auf jenem Felsen an der Flussgabelung zu sitzen und zu den Sternen empor zu sehen.
    Horetius trat ihm in den Weg und breitete seine Arme aus. „Du hattest nicht das Recht, dir die göttliche Kraft Adanos‘ einzuverleiben“, urteilte er schneidend. Aus seinen weiten Ärmeln flogen sieben runde Gegenstände. Navius hielt sie zunächst für Untertassen. Erst als sie Rhademes vollständig eingekreist hatten, erkannte er die Waagschalen. „Wie bist du in ihren Besitz gekommen?“, rief Navius. „Wo ist Shiva?!“
    Horetius und Rhademes taxierten sich mit ihren unergründlichen Mienen. Rhademes wehrte sich nicht gegen die Waagschalen, obwohl auch er sie zweifellos wiedererkannt hatte. Horetius ließ seine Arme sinken und mit ihnen senkten sich auch drei der Waagschalen. Vier jedoch verharrten auf ihren Ausgangspositionen. „Hochmut… Neid… Zorn… Du bist kein Mensch, dem göttliche Macht anvertraut werden kann.“
    „Es ist unmöglich, Hochmut und Neid über Jahrhunderte hinweg zu erdulden, ohne dem Zorn nachzugeben“, antwortete Rhademes. „Wenn ich habe, was mir zusteht, wird meine Seele rein sein. Dann wird es nichts mehr geben, worauf ich neidisch sein kann, denn ich werde alles besitzen. Dann wird es nichts mehr geben, was meinen Zorn erregt, denn ich werde alles eliminiert haben. Dann ist mein Hochmut bedeutungslos, denn meine Überlegenheit wird eine unleugbare Tatsache sein. Eine Notwendigkeit, um als Richter von allen Geschöpfen des Morgrads anerkannt zu werden.“
    Navius‘ Magen verkrampfte sich. Er wusste, der Schmerz traf ihn nicht nur so hart, weil er so lange keinen verspürt hatte. Es schmerzte, weil es Rhademes war, der solche Worte sprach.
    „Diese Antwort kann ich nicht hinnehmen.“ Die Waagschalen flogen zurück zu Horetius und verschwanden eine nach der anderen in den Ärmeln seiner Robe. „Ein einzelnes Lebewesen kann nie Sündenfreiheit erreichen. Ich habe die Ewigkeit damit verbracht über eine Lösung nachzudenken und es gibt nur eine: Einen Rat, der frei ist von irdischen Einflüssen. Ich werde Adanos‘ Diener über alle Gremien der Welt stellen und ihre Entscheidungen werden Gesetz sein.“
    Navius sah unsicher zwischen den beiden hin und her. Hatte Rhad sich all die Jahre vor ihm versteckt und seinen Groll in sich hineingefressen? Hatte Shiva ihm letztendlich nicht gereicht, um glücklich zu werden?
    „Früher oder später wird einer von uns den anderen übertreffen müssen“, stellte Rhademes nüchtern fest. „Wir wollen beide die Welt verändern, doch auf gänzlich unterschiedliche Weise. Du willst die Welt unter Adanos‘ Urteil stellen. Ich jedoch sage dir, dass dieser Gott falsche Entscheidungen trifft. Die Waagschalen lügen nicht. Wenn ich an der Spitze stehe, werde ich der ideale Richter sein.“
    „Du willst die Sache gleich hier und jetzt klären?“, erkannte Horetius. Ein grimmiger Ausdruck trat auf sein Gesicht.
    Rhademes‘ Augen verengten sich kaum merklich. „Ich habe zu lange auf diesen Tag gewartet. Ich werde nicht mehr ruhen, bis ich mein Ziel erreicht habe.“
    „Was hast du vor?“, rief Navius. Die Ungewissheit machte ihn unruhig. Da stand er. Der Freund, der ihm so lange gefehlt hatte. Und doch konnte er nicht zu ihm gehen und sich mit ihm freuen wie in alten Tagen. Die Bedrohung, die von ihm ausging, war zu greifbar.
    Zum ersten Mal wandte Rhademes sich ihm zu und sah ihm direkt in die Augen. „Ich werde den Eiskreis neu errichten. An einem anderen Ort, wo seine Existenz viel mehr Aufsehen erregt. Die ganze Welt wird meine Macht anerkennen müssen.“
    „Du kannst den Eiskreis nicht errichten. Nur von Adanos erwählte…“
    „…tragen die göttliche Macht in sich, um dies zu vollbringen. Willst du das sagen?“ Rhademes leuchtete auf. Und Navius verstand.
    „Darum musstest du den Stützpfeiler betreten.“ Es war Wahnsinn, aber im Moment fiel Navius kein weiterer Grund mehr ein, der dagegen sprach. „Du könntest also wirklich in der Lage sein, den Eiskreis zu errichten.“ Wahn oder Weisheit.
    Horetius zog den Klingenstab schwungvoll von seinem Rücken. „Nicht nur dass du einen Fokus bei dir hast. Du bist auch ein Zünglein, das die Waage der Welt in Schieflage bringt. Hier und jetzt werde ich dir Einhalt gebieten.“
    Rhademes öffnete seinen Mund noch zu einer Erwiderung, doch da war Horetius schon verschwunden – und direkt hinter ihm wieder aufgetaucht. Die Klingen blitzten auf, der Stab wirbelte durch die Luft. Die Spitze bohrte sich in den Rücken des leuchtenden Rhademes.
    „Das war keine gewöhnliche Magie“, knurrte Rhademes, während der Klingenstab tiefer in sein Rückenmark getrieben wurde.
    „Ich musste Adanos‘ Macht nicht rauben, um sie zu erhalten“, antwortete Horetius und drehte die Klinge rücksichtslos im Brustkorb.
    „Teleportation ist eine von Adanos‘ Spezialitäten, nicht wahr?“, erkannte Rhademes und hustete Blut. „Schon im alten Jharkendar erkannten seine Anhänger das.“ Mit einem furchtbaren Schrei stürzte er sich nach vorn, die Klinge riss aus seinem Körper. Blut flog durch die Luft. Und Rhademes verschwand.
    „Das ist unmöglich. Göttliche Macht allein reicht nicht aus, um die Teleportation zu perfektionieren!“, rief Horetius überrascht.
    Rhademes tauchte direkt hinter Garox wieder auf, blutbespritzt, aber unversehrt.
    „Meister, eure Regenerationskräfte sind überwältigend!“, rief Garox begeistert.
    „Ich habe keine Verwendung mehr für dich“, eröffnete Rhademes seinem Diener.
    Garox‘ Strahlen verblasste.
    Rhademes entwand Garox den Fokusstein. „Das ist alles, was ich brauche. Du bist nichts weiter als ein böser Mensch, zerfressen von Neid und Rachsucht. Für dich gibt es in diesem Leben kein Glück.“ Rhademes holte mit seiner freien Hand aus.
    Wie aus dem Nichts erschien Horetius zwischen den beiden. Mit seinem Klingenstab wehrte er die leuchtende Hand von Rhademes ab, die direkt auf Garox‘ Brust gezielt hatte. Gleichgültig sah Rhademes auf die beiden Männer herab. „Ihr zögert das Unvermeidliche nur heraus. Früher oder später wird mein Urteil vollstreckt.“ Und Rhademes löste sich auf.
    Navius sah sich um, wo er als nächstes erscheinen würde. Er hatte noch so viele Fragen. Doch sein Freund blieb verschwunden.
    „Er ist weg“, sagte Horetius und schulterte seinen Klingenstab. „Ich spüre die beiden Foki in Al Shedim. Er will wohl dort den Eiskreis neu errichten.“
    Navius wusste sofort, dass er recht hatte. „Ein Ort, an dem der Eiskreis mehr Aufsehen erregt. Wenn er das tut, wird er Varant in eine Eiswüste verwandeln.“
    Horetius fasste Garox scharf ins Auge. Der Schwarzmagier war wie ausgewechselt. Beinahe ängstlich sah er zu dem selbsternannten Schöpfer des wahren Gleichgewichts auf. „Warum hast du mich gerettet?“
    „Er hatte nicht das Recht, über dich zu richten“, verkündete Horetius knapp. „Du kannst dich mir erkenntlich zeigen, indem du mir mitteilst, was Rhademes als nächstes vorhat.“
    „Ich weiß es nicht. Er sagte nur, dass ich ihm bei einem Umkehrritual behilflich sein müsse. Dann würde er den Kreis des Feuers vernichten.“
    Horetius rümpfte die Nase. „Was für ein abscheulicher Handel. Es ehrt Rhademes, dass er sein Versprechen nicht einlösen will. Du wirst gleich nach dem Schneemagier vor den Rat des wahren Gleichgewichts gestellt werden.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und schloss die Augen, offenbar in höchster Konzentration.
    „Was ist mit Shiva?“, fragte Navius. „Warum hast du ihre Waagschalen?“
    Horetius öffnete die Augen. „Ihr magischer Körper war an die Pforte des Tempels der Meere gebunden. Ich war überrascht, als ich sie hier vorfand. Ich hatte nicht erwartet, dass einer der Megalithen sich vom Eiskreis getrennt hat.“
    „Wo hast du sie hingebracht?“, drängte Navius.
    Horetius sah ihm in die Augen. Schien zu überlegen, ob er antworten sollte. „Sie soll ein Mitglied des Rats werden. Darum brachte ich sie in meine Heimatstadt, wo ich den Rat einberufen will. Man könnte also sagen, dass Rhademes mir einiges an Arbeit erspart hat. Dass in dem Fokus waren doch der Eiskreis mitsamt den magischen Körpern der restlichen Megalithen, nicht wahr?“
    „Wenn du dein Handeln wirklich vor Adanos rechtfertigen möchtest, gehört dieser Fokus mir“, stellte Navius klar. „Und die Waagschalen auch!“
    Horetius schüttelte seinen Ärmel und die Waagschalen flogen heraus. Navius war nicht überrascht, als sie einen Kreis um ihn bildeten. Er hatte sich nie gefragt, was der Test heute bei ihm ergeben würde. Unterbewusst hatte er doch immer angenommen, dass sich das Ergebnis nicht änderte, doch Rhademes hatte das Gegenteil bewiesen. Und so war er nur milde überrascht, als sich tatsächlich eine Waagschale senkte.
    „Trägheit. Das hatte ich nicht anders erwartet.“ Horetius zuckte mit den Achseln. „Was mit dem Eiskreis passiert, ist mir gleich. Das ist allein deine Sorge. Aber die Megalithen gehören mir!“ Und auch er verschwand ins Nichts. Die Waagschalen fielen klappernd zu Boden.
    Ruhe kehrte wieder ein auf dem wundersamen Flecken Meeresboden. Navius ballte die Fäuste. Er hatte nicht nur Shiva verpasst, sondern auch Rhademes den Tempel der Meere geöffnet. Und den Eiskreis hatte er sich auch nicht zurückholen können. Er fühlte sich immer noch so müde und war es leid, dieses Katz- und Mausspiel weiter mitzumachen. Doch er hatte keine Wahl. Er bückte sich nach den Waagschalen. Warum Horetius sie zurückgelassen hatte, war ihm ein Rätsel.
    „Und? Was ist jetzt dein nächster Schritt?“
    Navius hatte Garox beinahe vergessen. „Das brauchst du nicht zu wissen. Dein Dienstherr hat dich von sich gestoßen. Du solltest dich jetzt wieder um deinen eigenen Kram kümmern.“
    „Oh nein, so einfach ist es nicht“, erwiderte der Schwarzmagier. „Ich begleiche meine Rechnungen. Bislang ist es noch jedem schlecht ergangen, der mich hintergangen hat.“
    „Bis auf den Kreis des Feuers.“
    „Du hast es erfasst. Und mit Rhademes werde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“
    „Schön.“ Navius schritt zu dem Tunnel aus Eis, der vielleicht nicht mehr lange halten würde. Zu seiner Verwunderung folgte Garox ihm.
    „Ohne Rhademes habe ich keine Möglichkeit von hier fortzukommen, wenn du verstehst“, erklärte Garox selbstgefällig.
    Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Garox folgte ihm in den Tunnel. Und Navius hatte nicht vergessen, dass auch er auf der Liste des Schwarzmagiers stand. Sobald sie das Festland erreicht hatten, würde er seine Schwäche ausnutzen, da war der Schneemagier sich sicher.

    Vatras seufzte schwer. Der dreibeinige Hocker quietschte, als er sein Gewicht verlagerte, sich näher zu dem Jungen beugte, der ihm auf einem ganz ähnlichen Hocker gegenüber saß. Phil sah nur auf seine Füße. „Warum hast du das getan? Das Brot war das einzige, was der Mann diese Woche für seine Familie aufbringen konnte.“
    Phil sagte nichts. Er fühlte sich elend. Nicht nur, dass sein Magen knurrte, der alte Wassermagier hatte das schlechte Gewissen geweckt, dass er eigentlich zu beherrschen gelernt hatte.
    „Du hattest Hunger, nicht wahr?“
    Überrascht sah Phil auf und in die klugen Augen des Magiers. Rasch sah er wieder zu Boden. „Meine Schwester und ich hatten seit Tagen nichts Richtiges mehr zu essen“, antwortete er brüsk.
    Er hörte die Robe des Fremden rascheln, dann schob sich ein halber Laib Brot in sein Sichtfeld. Phil starrte den Mann an, der ihm das Brot hinhielt. Derselbe Mann, der ihn bei einem Diebstahl erwischt hatte, der ihm die rechte Hand kosten konnte.
    „Nimm es ruhig.“
    Zögerlich nahm Phil es entgegen. Als Vatras es nicht zurückverlangte, biss er gierig hinein. Dass es trocken war, störte ihn überhaupt nicht.
    „Es gibt viele Arme in der Welt“, sagte Vatras mit ruhiger, angenehmer Stimme. „Manche von ihnen haben eine Familie und leben in einem Haus, sind aber trotzdem nicht reicher als du. Sie wissen morgens nicht, wie sie ihre Frau und ihre Kinder ernähren sollen und arbeiten hart, um irgendetwas auf den Tisch zu bringen.“
    Phil ließ den Laib sinken. Langsam schob er das kostbare Brot in seinen Wangen hin und her.
    „Ich kann leider nichts daran ändern, dass es in Varant so wenig Verständnis für Bedürftige gibt. Aber du solltest lernen, darauf zu achten, wenn du dir stiehlst, was du brauchst.“
    „Du willst mir nicht verbieten weiter zu stehlen?“, platzte es aus Phil heraus.
    „Natürlich nicht. Du würdest verhungern.“
    Mühsam schluckte er seinen Bissen hinunter. Der Kloß im Hals blieb.
    „Vorausgesetzt, du nutzt jede Gelegenheit, auf ehrliche Weise zu Essbarem zu kommen. Und nimmst nur so viel, wie du und deine Schwester zum Leben brauchen. Und…“
    „…ich soll darauf achten, wen ich bestehle.“
    Vatras nickte. Der Kummer, den Phil schon in seiner Stimme gehört hatte, spiegelte sich auch in den Augen des merkwürdigen Fremden.
    „Aber die betuchten Bürger haben Wachen. Es ist unmöglich an ihr Brot zu kommen, ohne erwischt zu werden!“ Er biss sich auf die Unterlippe, fürchtete zu viel gesagt zu haben.
    „Ich weiß“, erklärte Vatras. „Dennoch ist es deine Aufgabe zu leben, ohne andere ins Unglück zu stürzen. Du wirst einen Mittelweg finden müssen.“
    Phil schwieg betreten. Bei den wohlhabenderen Bürgern einzubrechen barg ein viel höheres Risiko. Und wenn sie ihn erwischten, würden sie keine Milde zeigen. Milde war etwas, das von Beliar verurteilt wurde. Beliar forderte von Dieben die Hand, mit der sie gestohlen hatten. Das hatte er schon mit eigenen Augen erlebt.
    „Vielleicht finden du und deine Schwester im Norden mehr Glück. Die Assassinen sind ein wenig altruistisches Volk. Bei den Bewohnern des Mittellands hingegen…“
    „Wir sind in Geldern geboren“, unterbrach Phil ihn gereizt. „Wir wissen, wie es in Myrtana zugeht. Dort gibt es jeden Tag mehr Arme, weil der König so hohe Abgaben verlangt. Es ist nicht genug für alle da.“
    „Ich verstehe“, erwiderte Vatras. „Habt ihr es schon bei den Nomaden versucht? Seit die Assassinen sie nicht mehr an die Oasen lassen, sind auch sie recht eigenbrötlerisch geworden, aber sie lehnen nicht alle ab. Wer reinen Herzens ist und sich bemüht, wird gewiss einen Platz in ihrer Gemeinschaft finden.“
    Phil biss die Zähne zusammen. Der Wassermagier schien sich doch alles zu leicht vorzustellen. „Und wie soll das gehen? Wir können schlecht einfach in die Wüste laufen und nach ihnen suchen. Nicht mal die Assassinen finden sie.“
    „Von den Assassinen möchten sie auch nicht gefunden werden“, erinnerte Vatras und zum ersten Mal huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. „Wie der Zufall so will, habe ich recht gute Kontakte zu den meisten Sippen. Das darf natürlich kein Assassine erfahren, obwohl sie die Nomaden allem Anschein nach nicht mehr als ernstzunehmende Bedrohung sehen. Ich werde inzwischen in ihren Städten geduldet, solange ich mich ihnen gegenüber unterwürfig verhalte.“
    „Du könntest uns also bei den Nomaden unterbringen?“ Phils Herz begann zu klopfen. Schlimmer als in Ben Erai konnte es bei ihnen nicht sein. Ähnliches hatte er zwar schon gedacht, als er sich mit Phinea der Karawane von Geldern in die Wüste angeschlossen hatte, aber damals war er noch naiv gewesen.
    „Wenn du der Gesellschaft einen Dienst erweist, der dein reines Herz und deine Bereitschaft deutlich macht, Mühen auf dich zu nehmen, bin ich mir sicher, dass ich etwas machen kann“
    „Was soll ich machen?“ Phil hatte das Brot in seinen Händen fast vergessen. Längst verlorene Hoffnungen auf ein besseres Leben trieben neue Blüten.
    Vatras runzelte besorgt die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich wirklich um diesen Gefallen bitten kann. Es wäre sehr gefährlich für dich.“
    „Es kann unmöglich gefährlicher sein als jeden Tag aufs Neue Brot aus den Prunkhäusern der Assassinen zu stehlen“, entgegnete Phil unwirsch.
    Vatras sah ihm tief in die Augen. Eine Weile verharrten sie so. „Ich werde dir erzählen, was mir vorschwebt. In drei Tagen kommst du zu mir zurück. Das ist genügend Zeit, damit du deine Entscheidung gut überdenken kannst. Niemand verachtet dich, wenn du der Gefahr aus dem Weg gehst.“
    „Wenn ich in deinem Dienst sterbe, versprichst du mir dann, dich um meine Schwester zu kümmern?“
    Diesmal sah Vatras bekümmert zu Boden. „Wenn es soweit kommt, so würde es mir das Herz erleichtern, wenn ich meinen Fehler zumindest zu einem kleinen Teil wieder gut machen könnte.“

    Sassuns Leibwächter trugen die einzigen Fackeln. Der Fels der Höhle war nur in einem kleinen Kreis sichtbar, dahinter wurde er gleich wieder von undurchdringlicher Dunkelheit verschluckt. Phil hielt den Kopf gesenkt, setzte einen Fuß vor den anderen. Er hatte seine Mission bereits erfüllt. Er hatte herausgefunden, wo die Frau des Gemischtwarenhändlers gefangen gehalten wurde und sogar wer zu den Fangzähnen zählte und was sie als nächstes vorhatten. Vatras hatte ihn dazu angehalten, auf keinen Fall ein Risiko einzugehen. Jede Information sei kostbar, niemand könne mehr als dies von ihm verlangen. Es hatte nach einem narrensicheren Plan geklungen. Einen Kontaktmann der Fangzähne ausfindig zu machen, sich bei ihnen einzuschmeicheln, bis sie ihre Geheimnisse mit ihm teilten. Und dann verschwinden. Vatras die nötigen Informationen geben und mit Phinea ein neues Leben bei den Nomaden beginnen, ehe sie hinter den Verrat kamen. Doch alles war so unsagbar schief gelaufen.
    Ein buckliger Junge mit schiefen Zähnen und ein dreiäugiger Krieger mit fünf Schwertern hatten sich lautlos zu ihnen gesellt, als sie im Schutz der Nacht vom Versteck unter der Falltür zu den Minen gegangen waren. Vorher hatten sie ihn nicht gehen lassen und auch jetzt sah es ganz so aus, als läge es nicht mehr in seinen Händen, wo er hingehen wollte.
    Immer tiefer stiegen sie in die Mine hinab. Die Luft war fürchterlich. Der Staub und die Feuchtigkeit verschlugen ihm beinahe den Atem. Sie hatten einen abgesperrten Bereich betreten, der wohl schon länger nicht mehr von Sklaven betreten wurde. Doch wo auch immer sie ihn hinführten, egal was in der Dunkelheit auf sie lauerte: Er vertraute dem Wassermagier. Phinea würde es gut gehen. Sie würde weiterleben und ein besseres Leben führen, als er es ihr je hatte bieten können.
    Plötzlich weitete sich der Höhlengang. Sie betraten ein riesiges Gewölbe. Magisches Licht hing in Wolken unter der Decke und strahlte auf einen Schrein hinab, der uralt wirkte. Schriftzeichen, die Phil nicht verstand, bedeckten Wände und Boden. In frisch glänzendem Rot war ein Kreis mit komplizierten Mustern auf den Boden gemalt worden. An den Spitzen eines siebenzackigen Sterns waren auf der Außenlinie Kerzen aufgestellt worden, die grün brannten. In der Mitte des Kreises meditierte ein glatzköpfiger Mann in der Robe eines Schwarzmagiers.
    „Meister Ningal, wir sind gekommen“, rief Sassun.
    Der Schwarzmagier schlug die Augen auf. Für einen Moment war nur das Weiße der Augäpfel zu sehen, dann rollten die Pupillen an ihren Platz. „Sehr gut, Sassun.“ Ohne mit den Händen den Boden zu berühren erhob er sich aus seinem Schneidersitz.
    Phil kämpfte mit seiner Angst, während der Schwarzmagier langsam näher kam. Die anderen Fangzähne wirkten überhaupt nicht eingeschüchtert. Waren sie wirklich so abgebrüht oder wussten sie mehr über das Kommende als er?
    „Wer ist das Menschenopfer?“, fragte Ningal und seine Augen wanderten über die sieben Männer.
    Plötzlich packten ihn Gumbo und der dreiäugige Krieger an den Armen. Erschrocken versuchte er sich zu wehren, doch der Griff von beiden war so fest, dass er sich nicht losreißen konnte.
    „Er war ganz heiß darauf, uns einen Dienst zu erweisen“, sagte Sassun und grinste verschlagen.
    Die Augen des Schwarzmagiers bohrten sich in die Phils. Und er wusste, er würde sterben.

    Knackend brannte das Feuer herunter. Ihr Holzvorrat war schon wieder aufgebraucht. Cronos schlang die Arme noch fester um seinen Oberkörper. Die kleinen Flammen hatten kaum etwas an der Kühle geändert. Die Höhle war nicht sonderlich groß, reichte aber tief in den Berg hinein. Eher willkürlich hatten sie beschlossen an dieser Stelle ihr Lager aufzuschlagen.
    „Malvenfarben, olivgrün, ein Hauch türkis“, murmelte Saturas auf dem harten Boden und drehte sich auf die andere Seite. Myxir schlief stumm an die Höhlenwand gelehnt.
    Cronos hob sich seufzend auf die Beine. Ein taubes Kribbeln breitete sich von seinen Zehenspitzen aus. Er warf einen unruhigen Blick in den dunklen Teil der Höhle. Keiner von ihnen wusste, ob sie ihren Rastplatz mit einem Säbelzahntiger teilten. Er wandte sich dem Ausgang der Höhle zu und begann den steilen Aufstieg. Er wollte lieber zurück sein, bevor das Feuer ganz erloschen war. Und bei der Gelegenheit konnte er auch gleich das magische Licht erneuern, dass sie über dem Höhleneingang an den Himmel beschworen hatten, damit die anderen sie finden konnten.
    Plötzlich schreckte Saturas aus dem Schlaf. „Die Schale einer Banane ist weder zitronen- noch kanariengelb. Ich habs doch gewusst! Der intensive, satte Farbton ist vielmehr der einer Melone. Jedoch ist die Bezeichnung melonengelb eher ungebräuchlich, weshalb sich nun die Frage stellt, welche Farbe eigentlich die Schale von Melonen aufweist.“
    „Bananengelb?“, schlug Cronos entnervt vor.
    „Dann bisse sich die Schlange in den Schwanz. Das kann unmöglich die richtige Antwort sein“, zerriss Saturas die Idee. Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Auf dem östlichen Archipel, Korshaan, gibt es doch eine Schlangenart, die mit gelben Schuppen gesegnet ist. Das könnte der Schlüssel zu allen sein! Es verwundert dann auch nicht mehr groß, dass Melonen und Bananen auf der Nachbarinsel Torgaan beheimatet gewesen sein sollen, ehe sie auch in andere Bereiche exportiert wurden.“ Saturas strahlte begeistert. „Ich werde mich umgehend für eine Reise zu den südlichen Inseln bereit machen. Corristo wird vor Neid erblassen, wenn ich seine Dissertation über die Farbe von Bananenschalen widerlege!“
    Cronos wusste nicht, was er machen sollte. Eifrig wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal eine Fleischwanze gefangen hatte, wühlte Saturas sich aus seiner Decke und versuchte unbeholfen seine Tasche zu packen. Seit den Ereignissen am Eiskreis war ihr spirituelles Oberhaupt nicht mehr dasselbe. Myxir schlug verwirrt die Augen auf, entdeckte den umher wuselnden Saturas und ließ sich ächzend wieder gegen die Höhlenwand sinken.
    „Saturas, ich hab schon ein Schiff vorbereitet, dass dich zu den südlichen Inseln bringt“, überwand Cronos sich einzuschreiten.
    „Sehr vorausschauend von dir, Cronos! Das ist der unerschrockene Entdeckergeist, den ein wahrer Wächter des Erzes aufbringt!“
    „Jeden Moment wird der Kapitän kommen und uns abholen. Ich habe ihm versprochen, dass wir hier auf ihn warten, du solltest dich also wieder hinsetzen.“
    „Aber…“ Mit einem Mal schien Saturas skeptisch. „Wie um alles in der Welt soll denn das Schiff die Barriere passieren?“
    „Ähm…“ Cronos versuchte vergeblich, die Fassung zu bewahren. Es war einfach zu bestürzend, was aus dem klugen Kopf geworden war, den er immer bewundert hatte.
    „Xardas hat die Barriere vergrößert. Sie schließt jetzt auch die südlichen Inseln mit ein“, krächzte Myxir, während er sich die Augen rieb.
    Saturas Miene hellte sich schlagartig auf. „Großartiger Kerl dieser Xardas! Jahrelang haben wir versucht, sie zu zerstören, aber niemand hat darüber nachgedacht, wie praktisch es wäre, sie zu vergrößern. Manchmal sind es eben die einfachen Lösungen, die zu brillianten Ergebnissen führen.“ Freudestrahlend breitete der Hochmagier die Arme aus. „Und herzlich willkommen, Meister Milten! Eine Freude, Euch wiederzusehen!“

    Die See war noch aufgewühlter als bei seiner Ankunft. Das kurze Seebeben hatte gewiss damit zu tun. Die Wellen türmten sich meterhoch, die kleine Insel aus Eis schwankte. Navius wusste, dass Garox immer noch direkt hinter ihm war. Es wurde Zeit, ihn loszuwerden.
    „Ich lasse mich nicht abschütteln, vergiss es!“, erriet der Schwarzmagier seine Gedanken mühelos.
    Navius ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Er wusste, dass es ihn viel von der göttlichen Energie kostete, doch ihm blieb kein anderer Ausweg. Sein Körper zerstob zu Schneeflocken. Der Wind riss ihn mit sich und wirbelte ihn hinaus aufs Meer. Garox tobte unter ihm, doch seine Rufe wurden schon bald vom Wind übertönt.
    Navius verwandelte sich zurück in seine menschliche Gestalt. Hoch oben über den Wellen begann er dem Meer entgegen zu fallen. Der Wind blähte seine Robe und zerrte an den weiten Ärmeln. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass Garox Feuerbälle nach ihm warf. Hastig streckte er seine Hände den Flammengeschossen entgegen, um einen Wall aus Eis zu erschaffen, doch plötzlich segelten die Waagschalen durch sein Sichtfeld. Sein Fluch ging in dem Tosen des dafür verantwortlichen Windes unter. Seine Wand aus Eis trennte ihn von den magischen Artefakten. Die Flammen schlugen in dem Wall ein und Dampf stob über den Himmel.
    Das Meer gefror unter seinen Füßen. Unsanft landete er auf der Eisscholle. Sein Kopf ruckte hoch. Der Dampf des Eises wurde von dem Wind rasch weggeweht. Zurück blieben nur sieben rußgeschwärzte Waagschalen. Noch während er hinsah, zersprang die erste in Tausend kleine Einzelteilchen. Dann die zweite. Hilflos musste er mit ansehen, wie eine nach dem anderen zerstob.
    Zornig fasste er Garox ins Auge, der nun mit einigem Abstand von ihm auf dem Meer trieb.
    „Mit dir werde ich später noch abrechnen“, versprach Navius und wandte sich ab.
    Geändert von MiMo (30.08.2018 um 14:58 Uhr)

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Es hätte keinen passenderen Himmel für die heutige Begegnung geben können. Bones zumindest hatte es immer ein wenig gestört, wenn das Inferno einer Seeschlacht von wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein begleitet wurde. Nicht nur weil die Sonne ihn im Zweifelsfall blendete, auch weil es ihm einfach die Stimmung vermieste. Heute traf sich schließlich niemand zu Tee und Gebäck, um einen netten Plausch im Garten abzuhalten. Eine Seeschlacht war zwar auch noch nicht im Gange, aber was nicht war, würde wohl noch werden. Niemand hätte auf die Teegesellschaft gewettet, wenn er nur zwischen diesen beiden Alternativen zu wählen hatte.
    Alle Piraten hatten sich auf Deck versammelt, waren aber ungewohnt ruhig. Niemand hielt einen Humpen in der Hand. Wer redete, grummelte nur leise was zu seinem Nachbarn. Bill stand im Krähennest und schwenkte mit beiden Händen die weiße Fahne. Nicht weil sie sich ergeben hatten. Vor diesem Mann würde Greg sich niemals ergeben. Sondern weil sie verhandeln wollten.
    Greg stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen an der Reling. Francis hielt neben ihm den Wassermagier am Arm. Es mochte den Anschein machen, dass Francis ihn so an der Flucht hindern wollte, doch die Wahrheit war eine andere. Der alte Mann konnte sich einfach nicht auf den Beinen halten. Und außer einigen unzusammenhängenden Brocken hatte er auch immer noch nicht gesprochen. Er wirkte allerdings nicht mehr so geistesabwesend wie noch zu dem Zeitpunkt, als er ihn mit Bill zur Esmeralda gerudert hatte.
    Endlich war das andere Schiff, die ausgeweidete Jungfrau, nahe genug. Ein paar Möwen kreischten abfällig, während sie über ihnen Kreise zogen. Bones bückte sich und hob eine schwere Holzlatte an. Scheppernd warf er sie über die Reling, sodass sie eine Brücke zwischen den beiden Schiffen bildete. Danach tat er es seinem Kapitän gleich und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. Bei diesen Handelspartnern kam es darauf an, sich furchtlos zu geben. Und als erster den Säbel in der Hand zu haben.
    „Wie oft?“, raunte Samuel seinem Nebenmann zu.
    „Acht oder neun Mal würd ich sagen“, antwortete Skip. „Auf ein Mal mehr oder weniger kommt es jedenfalls auch nicht drauf an.“
    Bones überflog die Piraten auf dem anderen Schiff. Zahlenmäßig war Greg zwei zu eins unterlegen. Blackbeard hatte den weiten Kragen seines Mantels aus schwarzem Snapperleder hochgeschlagen, obwohl kaum ein Wind wehte. Den Dreispitz tief ins Gesicht gezogen funkelte er mit seinem Auge zur Esmeralda hinüber. Das Ende einer Zigarre verschwand in seinem struppigen Bart. Wie immer, wenn er Blackbeard ins Auge sah, überkam Bones ein Schauder. Greg hingegen stieg scheinbar furchtlos auf die Planke. Mit zwei langen Schritten erreichte er das feindliche Schiff, blieb aber hoch über Blackbeards Pack auf der Reling stehen. Blackbeard mochte sein Schiff mit zwielichtigen Beutelschneidern, undurchschaubarem Gesindel und feigen Trickbetrügern bevölkert haben. Doch sie alle waren klug genug, um den über ihnen aufragenden Greg nicht zu provozieren. Bis auf Blackbeard selbst.
    Das verächtliche Grinsen spaltete den buschigen Bart und entblößte beinahe ebenso schwarze Zähne. „Greg, du Arschgeburt eines schwulen Hurensohns. Wie kommst du dazu, mit deinem frisch gewaschenem Höschen winken zu lassen?“
    Gregs Auge traf sich mit dem von Blackbeard. Gerüchten zufolge hatte ihre Jahre andauernde Rivalität damit begonnen, dass sie sich bei einer Kneipenschlägerei gegenseitig das Auge herausgekratzt hatten. Und aufgegessen, wenn es Samuel war, der die Geschichte zum Besten gab. „Glaubst du, ich ruder zu dem Waisenkind der hässlichsten aller Fleischwanzen, nur um Beleidigungen mit dir auszutauschen?“, gab Greg zurück. Vereinzelt gab es Gelächter in Blackbeards Reihen. Auf der Esmeralda waren alle ruhig.
    Blackbeard sog die Luft ein. Der Zigarrenstummel glomm auf. „Sag, Greg, du alte Witwe. Wie oft haben wir uns nun schon eines unserer berüchtigten Scharmützel gegeben? Ich fürchte, in den Häfen spotten sie schon über unsere Namen, weil keiner von uns richtig zum Abschluss kommt.“
    „Jo, über mich spotten sie wahrscheinlich“, stimmte Greg zu. „Aber über schlappschwänzige Wichtigtuer redet niemand, Blackbeard.“
    „Ich hätte deinem Kahn lieber eine verpassen sollen“, entgegnete er und blies dunkelgrauen Rauch aus. „Nicht dass es mich kümmert, ein Schiff abzuknallen, das die weiße Fahne gehisst hat. Aber ich war neugierig, was ausgerechnet dich dazu bringt, vor mir zu kuschen.“
    „Im letzten Hafen haben meine Jungs aufgeschnappt, dass du nach nem Wassermagier suchst…“
    Das Auge im Schatten des Dreispitz weitete sich, bis rund um die Iris das Weiße zu sehen war. Es huschte rasch über die versammelte Mannschaft auf der Esmeralda und blieb dann an der Blaukutte in der ersten Reihe hängen. Zornig verengte sich Blackbeards Auge. „Du verarscht mich doch, Schafsficker. Wie zum Klabautermann sollst du an einen richtigen Wassermagier gekommen sein? Es juckt mir in den Fingern, du alter Haudegen. Lass uns endlich wieder die Säbel kreuzen.“
    „Erst wenn ich habe, weswegen ich gekommen bin“, entgegnete Greg und verschränkte seine Arme vor der Brust. „Der Wassermagier ist echt und nach allem, was man so hört, wirst du das Risiko nicht eingehen, dir diese Chance durch die Lappen gehen zu lassen.“
    Blackbeard ließ ein kurzes, raues Lachen hören. „Nichts hindert mich daran, den Wassermagier mit Gewalt zu holen und dich mit Mann und Maus auf den Meeresgrund zu schicken. Aber wir kennen uns nun schon so lange und ich hasse dich von tiefstem Herzen. Lass mich hören, was du für den Magier haben willst.“
    „Dasselbe wie bei den letzten sieben Malen“, antwortete Greg.
    Die beiden Kapitäne taxierten sich ohne mit der Wimper zu zucken. Dann brach Blackbeard in schallendes Gelächter aus und seine Crew stimmte mit ein. „Dir geht es immer noch um die vermaledeite Schatzkarte?“
    Bones lockerte unruhig die Verschränkung seiner Arme. Die Karte war schon zu oft das Stichwort für den Beginn einer Schlacht gewesen. Seit Blackbeard über Greg hergefallen war, als dieser gerade das berüchtigte Grab eines längst verschiedenen Piraten geplündert hatte, und dabei die Schatzkarte in zwei Hälfte gerissen worden war. Seit diesem Tag, da jeder der beiden Kapitäne mit einer nutzlosen Hälfte auf sein Schiff zurückgekehrt war, gönnten die beiden gefährlichsten Männer dieses Meeres sich nicht einmal mehr das beachtliche Schwarze unter ihren Fingernägeln. Doch nicht heute. Blackbeard schien wirklich so sehnlich nach einem Wassermagier zu suchen, wie man es sich erzählt hatte.
    Greg verzog gereizt den Mundwinkel. „Du hast die Wahl. Entweder dir entgeht dein heiß geliebter Wassermagier. Oder du verlierst endlich jede Chance darauf, den vielleicht gewaltigsten Schatz auf den sieben Weltmeeren zu finden.“
    „Ich nehme den Wassermagier“, antwortete Blackbeard ohne zu zögern.
    Das Leuchten in seinem Auge gefiel Bones gar nicht. Greg schien es ganz ähnlich zu gehen. Ausgiebig betrachtete er seinen Erzfeind von oben herab. Nach einer gefühlten Ewigkeit befahl er: „Francis, hiev den Magier auf die Planke.“ Bones bemühte sich, Francis zu helfen. Es war nicht so leicht, den schwankenden Alten auf das schmale Brett zu heben.
    Blackbeard holte ein vergilbtes Pergament aus der Innentasche seines Mantels. Mit einem breiten Grinsen und dem Aufglimmen seiner Zigarre überreichte er das gefaltete Stück Karte seinem Erzfeind. „Du wirst alt“, sagte der und schnappte sich die so lang umkämpfte Hälfte. Doch der Sieg schmeckte schal. „Du solltest wissen, dass man bei einem Handel zwischen Ehrenmännern wie uns die Waren immer gleichzeitig rüberschieben sollte. Du hast Glück, dass mir nicht der Wind danach steht, den alten Sack noch weiter durchzufüttern.“
    Blackbeards Grinsen wurde noch breiter. Sein Bart schien sich vor Vorfreude zu sträuben. „Dieser Blaukittel da entgeht mir schon nicht. Wenn du verschlagener Hund ihn mir nicht freiwillig gibst, hol ich ihn mir eben. Sieh nur zu, dass du mit deiner Karte glücklich wirst.“ Greg funkelte seinen Feind noch ein letztes Mal an, dann wandte er sich um und sah dem alten Wassermagier in die Augen. Der Blick war leer und das Gesicht merkwürdig eingefallen. Greg packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. „Nu glotz doch nicht so blöd, Mann! Ich hätte auch keinen Bock, bei dem da aufs Schiff zu steigen, aber das hättest du dir halt überlegen sollen, bevor du auf mein Schiff gekommen bist. Und nu aus dem Weg, ich habe einen Schatz zu bergen!“ Und mit einem ungeduldigen Stoß in die Seite stieß er Merdarion in die Schlucht zwischen den beiden Schiffen. Ein wütender Aufschrei von Blackbeards Mannschaft übertönte beinahe das Platschen, als er auf dem Meer aufschlug. Leichtfüßig landete Greg wieder auf der Esmeralda. Bones und Francis holten die Planke ein. „Und nu aber gau Segel setzen, Männer!“
    Blackbeard wies mit einem Kopfrucken seine Leute an, den Magier aus dem Meer zu fischen. Seine Miene war unverändert hochzufrieden. „So verhält sich nur ein schlechter Verlierer, Greg. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann in der Hölle!“ Und er lachte so brüllend, dass ihm die Zigarre aus dem Mund fiel.
    Knatternd blähten sich die Segel der Esmeralda. Langsam entfernten sich Greg und seine Piraten von der ausgeweideten Jungfrau. Und Bones wusste, dass sie sich alle fragten, was in dem Kopf ihres ärgsten Feindes nur vorging.
    „Das war das erste Mal, dass nicht mal ‘n Tropfen Blut vergossen wurd“, bemerkte Skip trocken.

    Rhademes besah sich ein letztes Mal das alte Varant. Das Ruinenfeld Al Shedim, das sich zu seinen Füßen erstreckte und wie Moos auf der unendlichen Dünenlandschaft gewuchert schien. Die Berge aus Sand, die am Horizont mit dem ockerfarbenen Himmel verschmolzen. Heute wehte wieder ein rauer Wind über dem kargen Land. Und es gab keinen Assassinen, keinen Nomaden, nicht einmal einen Sklaven, der daran zweifelte, dass sich ihm auch morgen wieder dieses Panorama bieten würde. Schweiß tropfte von Rhademes‘ Nasenspitze. Es wurde Zeit, alles zu verändern. Die Welt auf seine neugewonnene Macht aufmerksam zu machen. Adanos zu belehren, wer der einzig wahre Schneemagier war.
    Er wandte sich von der Kante ab, an der er die Aussicht genossen hatte, und schritt zur Mitte der flachen Decke des Tempels von Al Shedim. Ein leuchtender Fokus glitt aus dem Ärmel seiner Robe und blieb knapp über dem Tempeldach schweben. Rhademes hob beide Arme zum Himmel. Der Wind toste, Sand prasselte auf den Stein. Die angestaute Energie entlud sich in einem grellen Lichtblitz, schlug direkt in den Tempel ein. Al Shedim erbebte. Kälte brandete über das Dach, weiße Dampfschwaden überfluteten die Ruinen. Das Licht des Fokus musste im ganzen Land zu sehen sein. Und ebenso groß würden seine Folgen sein. Rhademes war entzückt, als er sah, wie sich das neue Zeitalter vor ihm entfaltete. Seine Kleider wurden von dem magischen Sturm davongerissen. Wie von selbst legte sich ein makellos weißer Umhang um seine Schultern. Die Kälte, die ihn eben noch in seine Haut gebissen hatte, war ihm plötzlich wie die Umarmung eines guten Freundes. Das alte Gemäuer unter seinen nackten Füßen knackte protestierend. Rhademes‘ Atem beschlug in der Luft. Nein, der Atem von jedem Lebewesen in Varant beschlug nun. Heute. Morgen. Bis ans Ende der Zeit. Und er würde die Welt wissen lassen, wer die Macht besaß, ein Wüstenreich in eine Schneelandschaft zu verwandeln. Noch sah er den Sand durch die Nebelschwaden, doch schon bald würden die Wanderdünen von Varant in der Kälte erstarren und von dem ersten Schnee verdeckt werden, den das Land seit Jahrtausenden gesehen hatte.
    Acht Schemen stiegen aus dem Himmel herab und ließen sich auf dem Tempeldach nieder. Sie vereinigten sich mit der Kraft des Eiskreises und nahmen ihre hellblau schimmernden Gestalten an. „Dies ist ein anderer Ort“, hörte er den Jungen argwöhnisch flüstern. „Dies ist Varant“, erkannte das Mädchen. „Dies ist der falsche Ort für den Eiskreis“, schlossen beide gemeinsam.
    Ein Hochgefühl ergriff von Rhademes Besitz, wie er es noch nie verspürt hatte. Die beiden Kinder, der vermummte Mann und die vermummte Frau, der Greis, die Greisin, der Mann und das Irrlicht. Er musterte seine neue Robe anerkennend. Das Gewand des Schneemagiers und die Megalithen waren zu ihm gekommen. Dies war der Beweis, dass er erreicht hatte, woraufhin er so lange hingearbeitet hatte.
    „Nun ist endlich Gerechtigkeit eingekehrt“, murmelte er verstohlen. „Jetzt werde ich dir beweisen, dass du die falsche Entscheidung getroffen hast, Adanos.“

    Dunkelheit umhüllte Horetius. Ein monotones Brummen setzte ein, das seinen ganzen Körper erschütterte. Ein Pfeifen ertönte und wurde immer lauter und lauter. Als das Pfeifen seinen Höhepunkt erreichte, verstummte das Brummen und die Welt tauchte wieder aus der Dunkelheit auf. Horetius wurde förmlich auf die gesprungenen Steinfliesen gekippt, landete jedoch leichtfüßig auf seinen Sohlen. Er erinnerte sich noch gut, wie er sich bei seiner ersten Teleportation eine blutige Nase geholt hatte.
    Direkt vor ihm glitzerte die durchscheinende Gestalt einer nackten Frau. Sie saß mit angewinkelten Beinen auf dem staubigen Boden und hatte ihren Kopf auf die Knie gebettet. Zu seiner Beunruhigung stellte Horetius fest, dass die Mauern leicht bebten. Rhademes schien keine Zeit zu verlieren, so wie er gesagt hatte.
    „Shiva“, sprach er die Frau an und ging vor ihr auf ein Knie.
    Die Frau hob ihren Kopf und sah ihn mit großen blauen Augen an.
    „Es tut mir leid, dass ich dich eben ohne weitere Erklärungen vom Tempel des Meeres entführt habe. Ich war in Sorge, weil ich einen so machtgetränkten Fokus nahen spürte.“
    „Ich bin es gewohnt, nicht selbst zu entscheiden, wo ich bin“, antwortete Shiva gleichmütig. „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“
    Horetius nickte vage. Die Antwort schien ihm merkwürdig unterwürfig für ein so mächtiges Geschöpf. „Ich muss allerdings zugeben, dass es hier auch nicht mehr sicher ist.“
    „Wo wirst du mich dieses Mal hinbringen?“, fragte die Megalithin arglos.
    „Ich habe nicht vor, dich wieder fortzubringen. Außer, du bittest mich darum.“
    Sie sah ihn unverwandt an. Nichts gab ihm einen Hinweis darauf, ob seine Worte sie freuten oder ärgerten.
    „Ich weiß nun, um welche Macht es sich in dem Fokus handelte, den ich gespürt habe. Ein Mann namens Rhademes hat den Eiskreis mitsamt den magischen Körpern der anderen acht Megalithen auf den Fokus übertragen.“
    „Ich spüre, dass mich der Eiskreis ruft“, flüsterte Shiva. „Ich habe seinen Ruf all die Jahre gehört. Bis er letzte Nacht verstummte. Aber jetzt ist er wieder da. Näher als ich ihm in den letzten Jahrhunderten je war.“
    „Und ich spüre, dass sich der Fokus entlädt“, fügte Horetius nervös hinzu. „Shiva. Ich weiß, ich bin nicht würdig, dich auch nur um den kleinsten Gefallen zu bitten. Aber ich muss dich sogar um viel mehr bitten. Zum Wohle des absoluten Gleichgewichts. Rhademes muss aufgehalten werden.“
    „Haben die anderen Megalithen ihm die Kraft des Eiskreises übertragen?“, fragte Shiva. Zum ersten Mal schwang ein Hauch Interesse in ihrer Stimme mit.
    „Nach allem, was ich gehört habe, hat er sich den Eiskreis mit Gewalt geholt. Ich habe gesehen, wie er sich in Adanos‘ heiligem Weltenstützpfeiler ertränkte, um sich mit der göttlichen Macht zu durchwirken. Nun hat er dieselbe Kraft wie ein Erwählter. Ich bin mir sicher: In diesem Moment erschafft er den Eiskreis neu.“
    „Es ist nicht die Bestimmung eines Megalithen, sich der Macht Adanos‘ zu widersetzen“, stellte Shiva nüchtern fest. „Adanos‘ Wege sind unergründlich.“
    Horetius wurde flau im Magen. Allein würde er gegen einen Schneemagier keine Chance haben. Erst recht nicht gegen einen, der mit Beliar im Bunde stand. Das Schimmern der roten Barrieren trat vor sein inneres Auge. „Ich habe ihn mit deinen Waagschalen überprüft. Drei haben angeschlagen.“
    Shivas Augen weiteten sich kaum merklich.
    „Ich habe bereits einmal gesündigt, indem ich versuchte, ihn zu töten. Ich weiß, ich hatte kein Recht, über sein Leben zu richten. Doch mir schien schnelles Handeln vonnöten. Denn in diesem Moment wird er vielleicht zu einer unüberwindbaren Bedrohung für alles Leben des Morgrads. Auch wenn ich allein keine allzu große Chance habe, werde ich jetzt gehen und mein Bestes geben, ihm die geraubte Kraft wieder zu entreißen.“ Er zog seinen Klingenstab und erhob sich. Dann fiel ihm noch etwas ein und er griff in seine Tasche.
    „Adanos hat dich einst mit Leben und einer einzigartigen Fähigkeit gesegnet“, sagte Shiva und klang dabei beinahe melancholisch. „Du wärst heute nicht hier, wenn Adanos nicht gewünscht hätte, dass du ihm in den Weg trittst.“
    „Und der Stützpfeiler hätte mir nicht den Fokus offenbart, den Aquilian einst in ihm versiegelte, wenn er nicht gewollt hätte, dass du wieder deine ganze Kraft erhältst.“ Horetius hielt ihr das Prisma aus blauem Erz hin.
    Sie sah ihm tief in die Augen, ohne sich zu rühren. „Du warst damals nicht dabei. Die Kraft der neun Wächter übersteigt alles, was du dir vorstellen kannst. Der Morgrad wird eine erneute Vereinigung von Megalithen und Foki nicht überstehen.“
    „Nimm ihn und steh mir im Kampf gegen Rhademes bei. Ein Wächter allein ist keine ernsthafte Bedrohung für die Welt. Ich bitte dich, Shiva. Wenn du außer Kontrolle gerätst, werde ich die Verbindung spalten. Ich schwöre es bei Adanos und seinem Gleichgewicht.“
    Shivas unverwandter Blick verriet nichts von ihren Gedanken. Doch dass ihr schimmernder Körper sich nicht regte, sie weiterhin ihre Arme fest um ihre Beine geschlungen hielt, sprach Bände.
    „Früher oder später müsst ihr lernen euer Potenzial auszuschöpfen. Ihr mögt berechtigte Hemmungen haben, aber Innos und Beliar sind anders. Sie gieren nach jeder Macht, die sie in ihre Finger bekommen können. Auch wir müssen stärker werden, wenn wir das Gleichgewicht bis in alle Ewigkeiten bewahren wollen. Ich muss jetzt los und Beliar aufhalten.“ Er stellte den Fokus vorsichtig und in gebührendem Abstand vor Shiva auf den Boden. Die Beben hatten sich beruhigt. Nur noch ein leises Zittern rüttelte an den uralten Ruinen. Es war der Keller seines Elternhauses. Alles, was von ihm übrig geblieben war. „Ich lasse dir deinen Fokus hier. Dann kannst du selbst entscheiden, ob du einschreitest.“ Und Horetius verschwand.

    Unruhig wälzte Vatras sich in seinem schmalen Bett auf die andere Seite. Schon seit Stunden drehte er sich mal auf die eine, mal auf die andere. Doch der Schlaf wollte ihn einfach nicht übermannen. Seine Gedanken drehten sich fortwährend im Kreis und hielten ihn in ihrer erbarmungslosen Geißel. Der Junge hatte sich immer noch nicht bei ihm gemeldet. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ein so unschuldiges Kind mit so einer Aufgabe zu betrauen? Dass die Fangzähne gefährlich waren, hatten sie schon mehr als einmal bewiesen. Darum hatte er ja auch beschlossen, aus Lago nach Ben Erai zu kommen und etwas gegen sie zu unternehmen. Aber was war ihm bloß in den Kopf gefahren, ein wehrloses Kind in die Höhle des Löwen zu schicken? Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Phil jeden Moment unversehrt an seine Tür klopfte. Es wäre ihm auch egal, wenn er nichts herausgefunden hatte. Hauptsache, er kam wohlbehalten zurück. Bei dem Gedanken, das Leben des vom Schicksal gebeutelten Jungen auf dem Gewissen zu haben, wurde ihm so schlecht wie nur selten zuvor in seinem Leben. Wenn er ihn das nächste Mal sah, würde er ihn ohne Wenn und Aber zu Hurits Sippe bringen. Das Leben der entführten Frau würde er nicht mit dem Leben eines Kindes bezahlen. Wieder stemmte er sich halb in die Höhe, um die Seite zu wechseln.
    Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er durch das Rascheln seines Nachthemds und der Decke ein zaghaftes Klopfen an der Tür zu hören glaubte. Er lauschte in die Dunkelheit, ohne dass etwas passierte. Dann klopfte es noch einmal, beherzter als beim ersten Mal.
    Vatras warf seine Decke von sich, tastete nach der Lichtrune neben seinem Bett. Als das magische Licht erschien, sprang er vom Bett und auf die Tür zu. Er schob den Riegel beiseite und öffnete sie nur einen Spalt. Es konnten ja auch Assassinen sein, denen er überdrüssig geworden war. Erwartungsvoll spickte er hinaus. Enttäuscht öffnete er die Tür ein weiteres Stück. Es war nur ein kleines Mädchen. Das Mädchen trat etwas unruhig vom einen Bein auf das andere. Besorgt sah sie zu ihm auf und er fragte sich, ob er ihr Angst einjagte. „Was möchtest du?“, fragte er die Kleine.
    „Me-Mein Bruder hat gesagt, ich soll zu dir gehen, wenn er nicht zurück kommt, und ich Hilfe brauche“, brachte sie mühsam hervor. Ihre Zähne klapperten heftig.
    Erst jetzt bemerkte Vatras den kalten Luftzug. Es war typisch für die Wüste, dass die Temperaturen nachts in den Keller sanken. Aber diese Kälte schien ihm doch ungewöhnlich. Und nun, wo er sich das bibbernde Mädchen genauer besah, wirkten ihre Arme und Beine merkwürdig blau. Sie trug nicht mehr als eine dünne Tunika.
    „Mir ist sooo kalt“, schnatterte sie.
    Vatras schreckte aus seinen Gedanken hoch und öffnete die Tür vollständig. „Komm nur herein, mein Kind.“ Folgsam schlurfte das Mädchen über die Schwelle. Als Vatras die Tür hinter ihr schließen wollte, bemerkte er ein Leuchten am südöstlichen Himmel. „Mora Sul?“, fragte er sich halblaut. „Nein… Al Shedim.“ Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Doch als er noch länger im Türrahmen verharrte, musste er niesen. Rasch schloss er die Tür und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zu. Erst jetzt wurde ihm klar, wer sie sein musste. „Du bist Phinea, nicht wahr?“
    Das Mädchen nickte argwöhnisch. Vatras bot ihr den Hocker vor seiner leeren Feuerstelle an und holte seine Decke vom Bett. Das Mädchen rollte sich darin ein. Zum ersten Mal lächelte sie zaghaft.
    Auch Vatras fror in seinem Nachthemd, doch noch wollte er sich nicht von Phinea abwenden, um seine Robe überzuziehen. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Bei mir bist du in Sicherheit.“
    „Draußen ist es ganz kalt“, sagte das Mädchen. Ihre dunklen Augen waren das einzige, was noch aus der Decke lugte. Ihre Stimme klang dumpf hinter dem Stoff.
    „Du bist also nicht von jemandem verfolgt worden und deshalb zu mir gekommen?“ Er dachte mit schlechtem Gewissen an die Fangzähne.
    Phinea schüttelte den Kopf und die ganze Decke drehte sich mit. „Mir war einfach nur kalt. Von Phil weiß ich, dass einem zu kalt ist, wenn die Zehen blau werden.“
    „Da hat er recht. Es war richtig, zu mir zu kommen.“
    „Er ist heute Abend nicht zu unserem Versteck gekommen“, sagte Phinea. Die darin enthaltene Anklage schmerzte Vatras. Doch er wusste, er hatte es nicht besser verdient. Beklommen fragte er sich, in was für einem ärmlichen Versteck die beiden wohl hausen mochten. Er fasste einen Entschluss.
    „Wenn du dich aufgewärmt hast, bringe ich dich weg von hier. Ich hab Freunde bei den Nomaden. Dort kannst du bleiben, so lange du willst. Sie werden dafür sorgen, dass du immer etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen hast.“
    „Das klingt toll“, sagte Phinea zaghaft. „Ist mein Bruder auch da?“
    „Wenn ich dich bei meinen Freunden abgeliefert habe, gehe ich zurück nach Ben Erai und hole ihn.“ Vatras wandte sich ab. Hob die aufgefaltete Robe von dem wackligen Stuhl an der Wand auf. Mied den unschuldigen Blick des Mädchens.
    Erst als sie Ben Erai schon weit hinter sich gelassen hatten und Phinea vor lauter Schüttelfrost nicht mehr laufen konnte, war er sich sicher, dass die Kälte nicht natürlich sein konnte. Dicke Schneeflocken fielen in Scharen aus einem so dicht wolkenverhangenen Himmel, wie Varant ihn wohl schon seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen hatte. Mit dem Kind auf dem Arm setzte Vatras sich auf den kalten Sand und holte seinen Fokusstein hervor. „Du musst jetzt kurz leise sein“, wies Vatras Phinea an, die ihn aber gar nicht richtig zu hören schien. „Ich muss nur kurz Freunden von mir eine wichtige Nachricht schicken.“

    Erst hatte er sich gewunden, geschrien, versucht dem gruseligen Dreiäugigen seine Zähne in den Unterarm zu schlagen. Die Angst hatte ihn rasend gemacht. Bis Sassun mit drei Worten das Ende seines Widerstands eingeleitet hatte: „Stellt ihn ruhig.“ Und Sassuns Wort war für diese Menschen Gesetz. Phil war schon oft zusammengeschlagen worden. Von zwielichtigem Gesindel in den Gassen, in denen er mit Phinea sein Nachtquartier aufgeschlagen hatte. Von wutschnaubenden Kleinbürgern, die ihn beim Stehlen erwischt hatten. Doch noch nie war es so schlimm gewesen. Sie nahmen sich nicht zurück, als sie ihm in den Magen schlugen. Und sie hörten auch nicht auf, als er nur noch am Boden kauerte und die Arme über den Kopf zu halten versuchte. Ein letzter Tritt von Sassun selbst hatte ihn schließlich auf den Rücken geworfen. Blut lief ihm ins Auge und sein Magen fühlte sich komisch an. Als hätte jemand seine Innereien gut durchgekaut und dann wieder zurückgespuckt. Eine schwielige Hand hatte nach seinem Arm gegriffen und ihn achtlos über den Boden geschleift. Starr vor Schreck war er wimmernd liegen geblieben, wo man ihn losgelassen hatte. Der Schwarzmagier verteilte im scharfen Ton ein paar Anweisungen. Mit einem Auge hatte er gesehen, wie die Anwesenden sich auf die Spitzen des siebenzackigen Sterns niederließen. Mit pochendem Herzen wurde ihm bewusst, dass er direkt in der Mitte des Kreises liegen musste.
    Er hatte sich geirrt. Es reichte ihm nicht, dass es Phinea gut gehen würde. Er hing an seinem Leben. Er wollte nicht sterben. Aber er hatte Angst. Und er hatte keine Chance. Er zitterte und schluchzte, versuchte jedoch sich an beidem zu hindern. Nicht weil es ihm peinlich gewesen wäre, sondern weil er Angst hatte, seine Peiniger noch einmal zu provozieren.
    Worte einer fremden Sprache erfüllten die Luft. Die Linien aus Blut, die sich um ihn herum erstreckten, begannen zu funkeln. Irgendwie beruhigten ihn die kleinen Lichtpunkte direkt vor dem Auge, das er nicht zusammenkniff, weil Blut hineinlief. Sie erinnerten ihn an irgendetwas Schönes aus längst vergangener Zeit. Er flüchtete sich in diese Illusion, versuchte die furchterregende Szenerie auszublenden. Gleichzeitig betete er zu Gott, dass es schnell vorbei sein möge. Dass ihm wenigstens diese eine Gnade zuteilwurde.
    Doch irgendwann verpufften die Lichtpunkte, ohne dass er gestorben war.
    „Was ist los?“, hörte er Sassuns gereizte Stimme. „Hattest du nicht gesagt, die Klaue würde sich über der Mitte des Heptagramms manifestieren und sich durch den Körper des Opfers stoßen?“
    „Etwas behindert das Ritual“, antwortete Ningal, der Schwarzmagier. „Die Klaue wird von irgendeinem machtvollen Schutz vor uns abgeschirmt.“
    „Das heißt, sie ist gar nicht verschollen sondern in dem Besitz eines Magiers?“
    „Möglicherweise.“ Es klang nicht sehr überzeugt. „Das Ritual wurde von einem geheimen Zirkel schwarzer Magier zur Zeit des Alten Volkes entwickelt. Die Klaue war damals fast in Vergessenheit geraten. Darum konnte es ein Feldherr des Alten Volkes nach der Beschwörung offen benutzen, ohne dass ihn jemand mit Beliar in Verbindung brachte. Als die Wahrheit ans Licht kam, hatte dieser Feldherr sich längst einen berüchtigten Namen gemacht. Noch ehe man in Varant entschied, was mit der Klaue passieren sollte, überfielen die Jharkendari die Wüste, plünderten die Tempel und töteten den Feldherrn. Sie nahmen die Klaue mit sich. Kurz darauf ist ihr Volk in der Flut Adanos‘ untergegangen. Seitdem hat niemand mehr die Klaue zu Gesicht bekommen. Es scheint einen Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Situation zu geben. Mir ist allerdings noch nicht klar welcher.“
    „Wie finden wir es heraus?“, fragte Sassun angriffslustiger als ihm vielleicht bewusst war. Phil glaubte nicht, dass der Anführer der Fangzähne schnell die Fassung verlor. Aber dass ihm die Klaue so kurz vorm Ziel versagt blieb, schien ihn an seine Grenzen zu bringen.
    Phil selbst war plötzlich unendlich erleichtert, obwohl sich seine Lage kaum gebessert hatte. Etwas war schief gegangen. Noch würde er nicht sterben. Natürlich konnten sie immer noch beschließen, ihn einfach so umzubringen, weil er zu viel gesehen und gehört hatte. Aber vielleicht war ihnen die Suche nach einem neuen Menschenopfer auch zu lästig und sie behielten ihn, bis die Probleme beseitigt waren. Das verwirrende Gefühl von Hoffnung wirbelte die Angst auf, die sich um seine Seele gelegt hatte, vermischte sich mit ihr und rieselte auf ihn hinab. Zurück blieb ein Gefühl, das er nicht zu beschreiben vermochte.

    Wie vom Donner gerührt ließ Cronos sich auf die freundschaftliche Umarmung des immer noch so jungen Feuermagiers ein. „Geht es Euch nicht gut, Meister Cronos?“, fragte Milten aufrichtig besorgt.
    „Nein, nein, es ist nur…“ Cronos wechselte einen Blick mit dem selig lächelnden Saturas, dann mit dem ebenso überrumpelten Myxir. „Ich hatte nicht mit euch gerechnet“, schloss er lahm.
    „Die Barriere ist klein, da laufen wir uns alle Nase lang über den Weg“, belehrte Saturas ihn. „Daran solltest du dich doch allmählich gewöhnt haben.“ Sein Blick fiel auf Miltens Robe. „Diese Farbe… Einen Tick heller, als euresgleichen es früher zu tragen pflegte, nicht wahr? Eher ein karmesin-, denn ein zinnoberrot, würde ich sagen.“
    Nun war es an Milten sprachlos zu sein. Er sah an sich hinunter und zuckte mit den Achseln. „Nun, darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht.“
    „Und das, wo doch euer neunmalkluger Lehrmeister solch blasphemische Schriften in der Farbenlehre publiziert“, schnaubte Saturas ungehalten.
    Es wurde einen Moment still in der Höhle. Zischend verstarb der klägliche Rest ihres Lagerfeuers. Nur noch die Wolke magischen Lichts beleuchtete den dunklen Fels.
    „Wie kommen wir zu der Ehre deines Besuchs, Milten?“, fragte Myxir rau, während er seine Decke auffaltete und sie auf dem Boden platzierte. Er setzte sich darauf und bot dem Feuermagier den verbleibenden Platz an.
    „Ich habe das Licht am Himmel gesehen und war neugierig, wer es wohl zu welchem Zweck heraufbeschworen hat“, antwortete Milten, während er es sich dankbar gemütlich machte.
    „Und was verschlägt dich in diese entlegenen Täler Nordmars?“, beeilte Cronos sich zu fragen, damit Myxir seine Stimmbänder nicht wieder übergebührend beanspruchte.
    „Ich…“ Milten schien mit einem Mal verlegen. „…brauchte ein wenig Zeit für mich. Um nachzudenken.“
    „Über die Farbe eurer Robe aber ja offensichtlich nicht“, warf Saturas missbilligend ein.
    Milten schien inzwischen zu ahnen, dass er nicht ganz auf der Höhe war und schenkte ihm bloß ein entschuldigendes Lächeln. „Um ehrlich zu sein denke ich in letzter Zeit viel darüber nach, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich habe die wichtigsten Bücher der Bibliotheken auf Khorinis und in dem Kloster von Nordmar gelesen. Dadurch habe ich einen Überblick über die Historie der Völker unseres Kontinents und der magischen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte bekommen und so langsam frage ich mich… wozu eigentlich?“
    Myxir runzelte die Stirn, doch Cronos fand diese Frage nicht sonderlich interessant. „Forscht weiter, entwickelt eure eigenen Zauber. Oder Verzauberungen von Gegenständen, damit auch nicht Nichtmagier in den Genuss arkaner Kräfte kommen. Und du könntest das gesammelte Wissen an die Novizen weiter geben.“
    „Das ist ja gerade, was mich so nachdenklich macht“, beharrte Milten. „Wozu erforschen wir die Magie? Wozu entwickeln wir Artefakte, bilden Novizen aus, die in unsere Fußstapfen treten? Irgendetwas muss doch das Ziel des Ganzen sein.“
    „Ich denke“, krächzte Myxir und holte rasselnd Luft. „euer Orden würde sagen, dass ihr Innos‘ Macht auf dem Morgrad mehren wollt, um Beliar eines Tages vernichtend zu schlagen und die Menschheit in ein besseres Zeitalter zu führen.“
    „Noch niemand hat ein umfassendes Werk über alle Farbschattierungen der Welt herausgebracht“, fügte Saturas hinzu. „Und dabei wäre es so praktisch. Man bräuchte nur dieses eine Buch und könnte die Farbe aller Dinge benennen, die einem in die Hände fallen.“
    „Ich glaube nicht, dass darin mein Ziel besteht“, antwortete Milten so, dass nicht klar war, ob er sich auf Merdarion oder doch auf Saturas bezog. „Viele geben den Göttern die Schuld für unsere Probleme, aber ich glaube, genau das ist der Grund, warum sich nichts ändert. Bis auf wenige Ausnahmen haben wir doch alle unseren freien Willen und können unser Leben frei gestalten. Dass es überall Hass, Missgunst und vor allem Kriege gibt, das können nur solche Menschen den Göttern zur alleinigen Last legen, die ihre Augen vor der Wahrheit verschließen. Solche, die nicht bereit sind, die Verantwortung für ihr Handeln zu tragen.“
    „Weise Worte“, stimmte Myxir zu.
    Versonnen sah Milten in die leere Feuerstelle. „Was ich als nächstes mache, soll einem größeren Ziel dienen. Ich möchte noch viel mehr über unsere Welt wissen und lernen, aber das allein reicht mir nicht mehr. Ich werde nicht ewig leben, darum wäre es vermutlich am besten, früh mit der Verwirklichung meiner Träume zu beginnen. Deshalb ziehe ich mich in letzter Zeit häufig zurück und denke für mich allein über meinen nächsten Schritt nach. Im Moment pilgere ich halt durch die Einöde von Nordmar. Nicht nur weil sie dem Kloster am nächsten ist, sondern auch weil ich mich der Wahrheit in der Stille näher fühle. Wenn ich diese riesigen Gletscher sehe, fühle ich mich ganz klein und unbedeutend. Das erinnert mich wieder daran, dass ich nur ein kleiner Teil eines riesigen Ganzen bin.“
    „So wie der Rotstich nur eine kleine Nuance des Miloriblau ist“, nickte Saturas gewichtig.
    Niemand sagte ein Wort. Cronos dachte über Miltens Worte nach. Er meinte nun zu verstehen, dass den Feuermagier keine leichte Frage umhertrieb. Und gleichzeitig hatte er das unangenehme Gefühl, in seinem eigenen Leben etwas falsch gemacht zu haben.
    „Sie sind hier!“, rief plötzlich eine ganz andere, aber ebenso vertraute Stimme. Sie wandten ihre Köpfe in Richtung des Eingangs der Höhle und entdeckten Riordian und Nefarius.
    „Endlich habt ihr uns gefunden!“, rief Cronos erleichtert und erhob sich mit den anderen.
    „Sind die beiden unsere Kapitäne?“, wollte Saturas verwirrt wissen.
    „Kapitäne?“, griff Riordian die Frage verdutzt auf, wurde aber sogleich von Cronos in eine innige Umarmung gezwungen und im Flüsterton über Saturas‘ Zustand aufgeklärt. Riordian setzte ein wenig überzeugendes Grinsen auf und begrüßte danach auch den Hochmagier des Wassers. „Ach, die Kapitäne. Nein, die lassen wohl noch auf sich warten.“
    „Kommen Merdarion und Vatras auch noch?“, erkundigte Milten sich ein wenig aufgeregt, während Cronos auch Nefarius über Saturas ins Bild setzte. „Seit dem Fall der Barriere habe ich euch nicht mehr alle versammelt gesehen. Ich wollte nicht stören!“
    „Du störst nicht“, versicherte Myxir ihm beschwichtigend und hustete geräuschvoll.
    Als sich alle wieder gesetzt hatten, erklärte Cronos mit knappen Worten, wieso sie nach Nordmar gekommen waren und was sich am Eiskreis zugetragen hatte.
    „Es gibt den Schneemagier also wirklich“, ließ Milten sich die wundersame Erkenntnis auf der Zunge zergehen. „Darüber hab ich noch in keiner Bibliothek etwas gelesen.“
    „Ich persönlich kann ihn ja nicht so recht ausstehen“, gab Saturas zum Besten. „Weiß ist eine so wichtigtuerische Farbe. Sie beansprucht für sich eine Vielfältigkeit, die es in meinen Augen gar nicht gibt. Alpinaweiß, Schneeweiß, schlohweiß. Weiß ist Weiß, das sollte sie endlich mal einsehen.“
    Die anderen ignorierten Saturas einfach. „Also haben wir keinen Anhaltspunkt, wohin dieser Schwarzmagier mit Merdarion gegangen ist?“, fragte Riordian zerknirscht. „Er ist einfach… verschwunden?“
    „Er meinte, dass er am Tempel des Meeres auf den Schneemagier warten würde. Aber ich hab noch nie von so einem Tempel gehört“, antwortete Cronos und die anderen pflichteten ihm bei.
    „Bis wir herausgefunden haben, wo dieser Tempel ist, könnten Jahre vergehen“, sagte Riordian missmutig. „Warum ist dieser Schneemagier so egoistisch gewesen? Er hätte uns helfen können.“
    „Ich weiß es auch nicht. Aber wir können wohl nur darauf hoffen, dass er Merdarion für uns rettet.“
    „Wenn wir gerade also zum Abwarten verdonnert sind“, erhob Nefarius beschwörerisch die Stimme. Cronos hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass sein Kollege nur mit Mühe etwas für sich behalten konnte.
    Riordian rollte mit den Augen. „Dann erzähl den anderen schon, dass du einen sechsten Fokus gefunden hast. Aber machs kurz.“ Nefarius warf seinem Reisegefährten einen entrüsteten Blick zu.
    „Du hast was?“, entfuhr es Myxir und Cronos wie aus einem Mund.
    „Aber er hat denselben Farbton wie die anderen?“, fragte selbst Saturas angemessen perplex.
    „Ja. Im Grab eines Geächteten des Alten Volkes von Varant fand ich einen Fokusstein, der denen aufs Haar gleicht, die wir für die Erschaffung der Barriere verwendet haben.“
    „Und dabei war ich immer davon ausgegangen, dass sie ursprünglich für das Teleportersystem in Jharkendar angefertigt worden sind“, warf Riordian ein. „Aber wenn es noch mehr von ihnen gibt, kann das nicht ihr eigentlicher Verwendungszweck gewesen sein. Sonst hätte es keinen Sinn gemacht, mehr Foki herzustellen als es Plattformen gab.“
    „Im alten Minental gab es auch Plattformen und Sockel, die mit den Foki interagiert haben“, erinnerte Cronos.
    „Die Plattformen dort wurden aber nicht wieder aktiviert, wenn man einen Fokus auf den dazugehörigen Sockel gestellt hat“, wandte Nefarius ein. „Für diese Teleporter kann der sechste Fokus also nicht angefertigt worden sein.“
    „Wie kam er überhaupt nach Varant?“, fragte sich Cronos laut.
    „Bei dem Krieg zwischen den alten Jharkendar und dem Alten Volk von Varant?“, mutmaßte Myxir krächzend.
    „Ich habe im Minental auch mal einen Fokusstein gesehen“, mischte sich plötzlich Milten wieder in das Gespräch ein. „Darum war ich sehr überrascht, als ich einen in der Artefaktkammer des Klosters von Nordmar fand.“ Und er holte ein blau schimmerndes Prisma aus Erz mit filigraner goldener Fassung aus einem Beutel an seiner Hüfte. „Er lag ganz hinten in der Ecke und war ziemlich verstaubt. Ich glaubte nicht, dass ihn jemand vermissen würde und habe ihn mitgenommen, um bei der nächsten Gelegenheit einen von euch danach zu fragen.“
    Noch ehe jemand ein weiteres Wort sagen konnte, leuchteten die beiden Foki in Nefarius‘ und Miltens Händen hell auf. Auch aus den Taschen von Saturas, Cronos und Riordian strahlte es blau und warf bizarre Umrisse an die Höhlenwände.
    „Es ist etwas Furchtbares passiert“, drang Vatras‘ verzerrte Stimme aus den magischen Steinen. „Die Temperaturen sind rapide gefallen. Es schneit immer stärker und am Himmel über Al Shedim sind merkwürdige Lichter. Ich hoffe, ihr konntet Merdarion auch ohne mich befreien. Ich mache mich sofort auf dem Weg nach Al Shedim. Kommt bitte so schnell es geht nach. Ich hab ein schreckliches Gefühl bei der Sache.“ Die Stimme verstummte abrupt und schlagartig versiegte das Leuchten wieder. Matt und glanzlos lagen die beiden Foki wieder in den Händen ihrer Finder.
    „In Varant soll es kalt sein?“, entfuhr es Riordian als erstem.
    „Das hat auf jeden Fall etwas mit dem Eiskreis zu tun“, rief Myxir und fasste sich an den schmerzenden Hals.
    „Wir müssen sofort nach Al Shedim“, schloss Nefarius.
    „Saturas hat zwar einen Teleportstein dorthin, aber der reicht nur für einen von uns.“
    „Wartet mal…“ Riordians Blick huschte über die versammelten. „Wir haben fünf Foki. Damit müssten wir das Teleportationsritual wiederholen können, dass uns von Jharkendar nach Al Shedim gebracht hat.“
    „Aber wir können doch Merdarion nicht einfach so im Stich lassen“, krächzte Myxir, der immer weniger auf seine Verletzung Rücksicht zu nehmen schien.
    Alle hielten einen Moment inne. Cronos sprach aus, was alle dachten: „Wir können im Moment nichts für ihn tun.“
    „Und wenn der Eiskreis wirklich mit den Geschehnissen in Al Shedim zusammenhängt. Dann ist er vielleicht sogar dort“, hoffte Nefarius.
    „Ich komme mit“, verkündete Milten entschlossen und erhob sich als erster. „Das heißt, wenn ihr mich mitnehmen könnt…“
    „Wir bitten sogar inständig um deine Hilfe“, antwortete Nefarius. „Wir brauchen mindestens sechs Magier. Einen an jedem Fokus und einen sechsten, der unsere Kräfte bündelt und lenkt.“
    „Wie bei der Barriere“, schloss Myxir.
    „Teleportieren geht auch schneller als mit dem Schiff“, rief Saturas in kindlicher Aufbruchsstimmung. „Auf nach Korshaan!“

    Horetius tauchte auf dem Dach des gewaltigen Tempels von Al Shedim auf. Der so untypisch eisige Wind ließ ihn frösteln. Raureif bedeckte den Stein unter seinen Füßen. Als er das ganze Ausmaß der Katastrophe sah, drohte ihn der Mut zu verlassen. Der Himmel von Varant, an dem sonst die so gnadenlos brennende Sonne stand, war von dicken Wolken verhangen. Schnee rieselte auf die Ruinen seiner Heimatstadt und überdeckte den Sand. Hie und da knackten die Ruinen unter der Last des Temperatursturzes. Und direkt vor ihm, mitten auf dem Heiligtum seines untergegangenen Volkes, standen acht Megalithen, versammelt um ein leuchtendes Symbol im Boden.
    „Ich hatte gedacht, du würdest fliehen.“
    Horetius wandte sich zu der Stimme in seinem Rücken um. Es dauerte einen kurzen Moment, bis er Rhademes in der schneeweißen Robe erkannte. „Du hast dich also tatsächlich selbst mit dem Eiskreis verbinden können.“
    Der neue Schneemagier schien sich über diese Feststellung zu freuen. „Es ist kaum zu übersehen, nicht wahr? Sieh nur zum Himmel. Der erste Schnee, den Varant seit Menschengedenken bekommt.“
    „Die Bewohner dieses Landes sind nicht auf Eis und Kälte vorbereitet“, erwiderte Horetius gereizt. „Was soll aus den Nomaden in der Wüste werden? Und aus den vielen Sklaven, die für die Assassinen in den Ruinen und Minen schuften? Sollen sie etwa alle erfrieren?“
    Rhademes antwortete nicht sofort. Er begutachtete das Muster an seinem Ärmelaufschlag. „Niemand wird gezwungen, im kalten Varant zu leben. Sie können gehen, wohin auch immer sie möchten. Das ist mir gleich.“
    Horetius zog seinen Klingenstab. „Du vertreibst ganze Völker aus ihrer Heimat und richtest unzählige Menschen zugrunde, die ohnehin schon von der Sklaverei unterjocht werden. Wozu tust du das?“
    Rhademes lachte auf. „Wozu ich ewiges Leben und übermenschliche Fähigkeiten möchte? Diese Frage ist lächerlich. Um der oberste Mensch zu sein. Um das Schicksal zu kontrollieren. Um Adanos zu zeigen, wie man es richtig macht!“
    „Das werde ich nicht dulden. Dir steht diese Macht nicht zu und der Missbrauch, den du mit ihr treibst, widersetzt sich allen Geboten Adanos‘. Ich werde dich aufhalten und den Eiskreis dorthin bringen, wo er hingehört!“ Horetius stürzte sich auf den selbsternannten Schneemagier.
    Mit einem gewaltigen Satz war er bei ihm, holte mit seinem Klingenstab aus. Wie aus dem Nichts erschienen zwei schwarze Steinsäulen vor Rhademes und eine rote Barriere spannte sich schützend vor ihm auf. Horetius verschwand, noch bevor seine Klinge die Barriere berührte, und tauchte nur Sekunden später hinter Rhademes wieder auf. Das spitze Ende des Stabs bohrte sich zwischen die Schulterblätter des Schneemagiers und trat aus der Brust wieder hervor. Doch statt Blut spritzte nur Schnee durch die Luft. Von der Wunde ausgehend zerfiel der ganze Körper zu pulverigem Schnee, bis Horetius allein auf dem Dach zurückblieb.
    Der Schnee wurde von den orkanartigen Böen mitgerissen und setzte sich hoch oben über der Ruinenstadt wieder zu einem menschlichen Körper zusammen. Rhademes breitete seine Arme aus und ein Dutzend Lanzen aus Eis erschien vor seinem Körper. Horetius verschwand wieder, um den spitzen Eisgeschossen zu entgehen. Wenige Augenblicke später rissen sie tiefe Kerben in den Tempel von Al Shedim.
    Horetius materialisierte sich neben den Megalithen und maß zornig den Schaden, den Rhademes dem Tempel zugefügt hatte. Wie er befürchtet hatte, hatte er nun kaum noch eine Chance gegen ihn. Er bereute es nun noch mehr, dass er erst einen Fokus geborgen hatte. Ohne ihre Wächterkörper waren die Megalithen, selbst wenn sie ihn überhaupt unterstützen wollten, keine große Hilfe. Im Moment beobachteten sie nur mit stoischen Mienen den Kampf.
    Da bemerkte Horetius die schwache Aura, die er mit seinem sechsten Sinn spürte. Er wandte den Kopf und sah den Fokus im Zentrum des neuen Eiskreises liegen. Rhademes holte zum nächsten Angriff aus. Dieses Mal beschwor er Hunderte kleiner Eiszapfen. Er wollte wohl einen großflächigeren Bereich abdecken, um ihn dieses Mal auch sicher zu erwischen.
    Horetius war klar, dass ihm nicht viel Zeit blieb, als er den Fokus aufhob und sich an den vermummten Mann wandte. „Yhwach. Erkennst du deinen Körper?“
    Der vermummte Mann verschränkte seine Arme und nickte zögernd. Wegen der phosphoreszierenden Bandagen, die seinen ganzen Körper und insbesondere seinen Kopf einhüllten, ließ sich nicht erkennen, was er dachte. Durch seinen Oberkörper sah Horetius, wie die Eiszapfen zitternd die Spitzen auf ihn richteten.
    „Rhademes hat sich gegen den Willen Adanos‘ mit dem Eiskreis verbunden! Er hat ein ganzes Land ins Chaos gestürzt und steht mit Beliar im Bunde. Es ist eure Aufgabe, den Eiskreis zu schützen.“
    „Den Eiskreis zu schützen, bedeutet, Rhademes zu schützen“, sprach der Greis neben ihm.
    Horetius wirbelte herum und sah zornig in das blaue Gesicht des Alten. „Adanos‘ Gleichgewicht ist in Gefahr und ihr weigert euch, gegen diesen Mann zu kämpfen?“
    „Du verstehst Adanos nicht“, sagte der Junge links von ihm. „In Adanos‘ Welt hat jedes Lebewesen seinen Platz“, ergänzte das Mädchen. „Und unser ist dort, wo der Eiskreis ist“, erklärten sie gemeinsam.
    Horetius fühlte sich, als hätte man den Boden unter seinen Füßen weggezogen. Das also waren die Diener Adanos‘, mit denen er den Plan ausgetüftelt hatte, sein eigenes Volk zu retten. Damals war es der Schneemagier gewesen, der ihm ihre Hilfe verweigert hatte. Doch heute waren sie es selbst. Das waren die Wesen, die er in einem Rat über alle Menschen richten lassen wollte.
    Bevor er noch etwas sagen konnte, tippte ihm eine Hand auf die Schulter. Er wandte sich um und sah, dass der Vermummte seine Arme aus der Verschränkung gelöst hatte. Die Hand, mit der er ihm auf die Schulter getippt hatte, hielt er jetzt ausgestreckt vor sich. Wortlos legte Horetius den Fokus in die Hand des stummen Verbündeten. „Yhwach. Ich… danke dir.“
    Ein Sirren erfüllte die Luft. Eisgeschosse spickten den Tempel von Al Shedim. Horetius verschwand und tauchte erst wieder auf, als die Salve vorüber war.
    Der Vermummte stieg in die Höhe. Der Fokus in seiner Hand begann zu leuchten. Das Strahlen war wie ein Stern am wolkenverhangenen Himmel. Dann setzte Yhwach den Fokus auf seine Stirn und presste ihn mit beiden Händen in seinen Kopf.

    Als Navius das Festland erreicht hatte, war das Stechen in seiner Brust beinahe unerträglich geworden. Die flirrende Hitze hatte ihm Wellen des Schweißes über den Rücken gejagt, sein Blick sich abwechselnd getrübt und geschärft. Mechanisch hatte er einen Fuß vor den anderen gesetzt. All sein Denken kreiste um Shiva und Rhademes. Beide hatte er vor so langer Zeit verloren. Er dachte nicht darüber nach, was passieren würde, wenn er Al Shedim erreicht hatte. Es schien einfach alles gut zu werden, wenn er nur Shiva erreichte. Sie würde mit ihren Kräften Rhademes Einhalt gebieten und ihn wieder als den rechtmäßigen Schneemagier einsetzen.
    Als er zum ersten Mal die Kälte bemerkte, die sich plötzlich über die Wüste legte, hielt er sie für eine Sinnestäuschung. Vermutlich war er nun, da die magische Unsterblichkeit ihn verließ, auf dem Weg in die kalten Fänge des Todes. Wolken verdunkelten den Himmel. Ob Rhademes sich immer noch jeden Abend die Sterne ansah? Der Gedanke schien irgendwie absurd, aber die Tatsache, dass er es wahrscheinlich nicht mehr tat, schmerzte ihm auf eine Art und Weise, die er nicht weiter ergründen konnte.
    Als er die Ausläufer der Ruinenstadt erreichte, herrschte bereits klirrende Kälte. Raureif hatte sich über die verfallenen Gebäude gelegt und über dem eindrucksvollen Tempel strahlte ein helles Licht. Ob es wieder ein Stern war, wie der, der Rhademes und ihn zu der Höhle der Megalithen geführt hatte?
    Schritt für Schritt näherte er sich dem Tempel auf der breiten Hauptstraße. Shiva musste hier irgendwo sein. Und sein bester Freund Rhademes. Die Kälte hieß ihn willkommen. Sein Blick schärfte sich und neue Kraft schien durch seine Glieder zu strömen. Der Gedanke, dass Shiva so nah war, ließ sein Herz schneller schlagen. Ich komme…

    Der Fokus versank vollständig in der Stirn des Vermummten. Vom Kopf ausgehend lief der durchsichtige Körper des Megalithen dunkelblau an. Der ganze Körper expandierte, die Bandagen an Brust und Armen rissen. Fingernägel wuchsen zu spitzen Krallen, Muskeln pumpten sich auf und aus einem Punkt zwischen den Schulterblättern sprossen weiß gefiederte Flügel. Yhwach warf den immer noch verhüllten Kopf in den Nacken und stieß einen schrillen Schrei aus.
    Die Druckwelle, die darauf folgte, ging Horetius durch und durch. Er hatte von den Wächtern Adanos‘ bislang nur gehört. In alten Sagen und Legenden, in Büchern aus längst vergangener Zeit, in Zukunftsvisionen übereifriger Sektenspinner. Doch keine dieser Fantastereien hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet. Als Yhwach seine Schwingen ausbreitete, ragten die Spitzen auf beiden Seiten über das Tempeldach hinaus. Der Körper des Megalithen war nun keineswegs mehr durchscheinend. Der Fokus hatte dem Schutzgeist des Eiskreises einen festen Körper gegeben.
    Rhademes stand auf einer schmalen Säule aus Eis, die er mitten in dem Ruinenfeld erschaffen hatte, um das Treiben auf dem Tempeldach im Blick zu behalten. Scheinbar reglos verfolgte er die Transmutation.
    Die anderen Megalithen waren in Ehrfurcht erstarrt. Wie lange mochte es her sein, dass einer von ihnen diese Form angenommen hatte?
    Yhwach stieß sich vom Dach des Tempels ab. Die Bewegung war zu schnell, um sie mit bloßem Auge verfolgen zu können. Urplötzlich hatte er Rhademes erreicht, holte mit seiner klauenbewehrten Rechten aus. Wieder erschienen zwei Steinsäulen mitten in der Luft und schirmten Rhademes mit einer roten Barriere von dem Wächter ab. Yhwachs Hieb traf funkensprühend auf die Barriere. Erst sah es so aus, als würde der Schutzwall dem Angriff standhalten, doch dann wurde die ganze Barriere von der Wucht des Hiebes zu Boden geschleudert. Die Eissäule zerbrach unter dem Druck, Ruinen wurden dem Erdboden gleich gemacht.
    Horetius wirbelte herum, als sich hinter ihm Schneeflocken auf einen Punkt konzentrierten. Rhademes landete auf dem Tempeldach. „Du wirst so langsam lästig“, fuhr Rhademes ihn wütend an. Eine Lanze aus Eis manifestierte sich in seiner Rechten. Horetius hob seinen Klingenstab.
    Yhwach stürzte sich aus heiterem Himmel auf Rhademes. Für einen Augenblick hatte er den Hals des Schwarzmagiers in der Klaue und presste ihn an das Tempeldach. Dann zerstob der Körper des Schneemagiers wieder zu unschuldigen Flocken.

    Als ein blaues Funkeln auf dem Weg erschien, war Navius sich nicht sicher, ob es ein Geist oder das Licht am Ende des Tunnels war. Beides erschien ihm gleichermaßen unwirklich. Sein Sichtfeld kippte zur Seite und plötzlich meinte er wieder in der Höhle der Megalithen zu stehen. Die schöne Frauengestalt Shiva ragte über ihm auf und schenkte ihm ihr vielsagendes Lächeln. Die blauen Augen, die ihm tief in die Seele schauten, kamen ihm immer näher. Bis er durch sie hindurch tauchte. Ihm war, als wäre er durch einen Sturzbach aus Eiswasser gestolpert. Das Gefühl war so unangenehm, dass es ihn wieder in die Wirklichkeit riss.
    Schnee stob durch sein Sichtfeld und sammelte sich auf den Ruinen von Al Shedim. In der Ferne hörte er es knallen und krachen, doch er konnte nicht erkennen, wovon diese Geräusche herrührten. Seine Füße rührten sich nicht mehr. Reglos stand er da. Der Wind riss an seiner weißen Robe. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Schmerz in seiner Brust war nur noch ein undeutliches Pochen. Doch er wusste, dass es nicht der Schmerz war, der verflog. Sondern sein Leben, ohne das er den Schmerz nicht wahrnehmen konnte. Er sah vor sich die breite Straße, die so lang war, dass ihr Ende im Schneegestöber verschwand. Doch die Ränder des Bildes vor seinen Augen wurden nach und nach von Schwärze aufgefressen.
    Erst als Shiva direkt vor ihm stand, wurde ihm klar, dass sie sich umgedreht und auf ihn zu gekommen war. Dass sie das Funkeln am Ende der Straße gewesen war.
    Als ihre Augen die seinen trafen, wusste er, dass sie dieses Mal kein Abbild der Vergangenheit war. Keine Erinnerung, die verblasste, wenn er ihr zu nahe kam.
    „Shi…va“, sagte er mit schwerer Zunge. Eine Wärme breitete sich in seiner Brust aus, die nichts mit seinem Tod zu tun haben konnte. Und wenn doch, dann war sterben wunderschön.
    Der Blick der Megalithin trübte sich, als sie das Leid in seinen Augen las. „Du vergehst“, sagte sie leise und trotzdem setzten sich ihre Worte in seinen Ohren gegen das Tosen des Windes und des merkwürdigen Lärms im Hintergrund durch.
    „Ich weiß“, wollte er sagen. Doch er konnte nicht mehr.
    „Dir steht die Kraft des Eiskreises zu“, sagte Shiva langsam. „Dir steht… ewiges Leben zu.“ Sie sprach es aus, als würde ihr schwer fallen, sich unter dem Begriff etwas vorzustellen. Für ein Wesen, das über Alter und Krankheit, ja sogar über Verletzungen erhaben war, mochte der Wert von ewigem Leben in der Tat schwer zu begreifen sein.
    Navius‘ Knie gaben nach. Er hatte das Gefühl, wie in Zeitlupe zu fallen. Er konnte die Augen nicht von Shiva abwenden, die vor ihm in die Höhe zu schießen schien, während er mit den Knien auf dem Boden aufschlug.
    Shiva schlug die Augen nieder. Noch nie waren ihm ihre langen Wimpern aufgefallen. Und noch nie… hatte er sie weinen gesehen. Während die Schwärze unaufhaltsam auf das Zentrum seines Sichtfelds zu kroch, wischte sie sich mit einem langen, durchsichtigen Zeigefinger die Träne von der Wange und balancierte sie auf ihrer Fingerkuppe. Die Träne war in der eisigen Nachtluft gefroren.
    „Ich vertraue dir, Navius, siebter der ehrwürdigen Schneemagier.“ Shivas Stimme zitterte. Er hatte nicht geglaubt, dass sie so zerbrechlich klingen konnte. „Nimm dies. So Adanos will, wirst du das Gleichgewicht dieser Welt bewahren.“
    Sie senkte ihre Hand mit dem ausgetreckten Zeigefinger bis vor seine Augen. Er konnte die Träne nun deutlicher sehen und erkannte, dass sie nicht gefroren, sondern kristallisiert war. Die winzigen Facetten schimmerten im Sternenlicht, während die Träne sich langsam um ihre eigene Achse drehte.
    Navius hob seinen Arm, wollte die zitternden Finger um das kostbare Kleinod schließen, als seine Robe sich plötzlich vom Saum der Ärmel an aufzulösen begann. Der Schmerz in seiner Brust kehrte kurz und heftig zurück, dann war er komplett verschwunden. Der letzte Rest seiner Robe verschwand. Splitternackt kniete er vor Shiva und sein Herz blieb stehen. Das wars also, war sein letzter Gedanke. Die Kraft, die Adanos mir geschenkt hat, ist aufgebraucht. So wie die Robe erschienen war, als Shiva ihn vor mehr als fünfhundert Jahren gesegnet hatte, so war sie nun auch wieder verschwunden, als das letzte Bisschen der magischen Energie aus seinem Körper gewichen war. Sein Körper war in diesem einen Augenblick dem Alterungsprozess von Jahrhunderten ausgesetzt und sein Herz hatte die einzige, logische Konsequenz daraus gezogen.
    Doch ehe ihn auch noch sein Bewusstsein verließ, versetzte er seinem Körper einen letzten, leichten Stoß. Er kippte vornüber und seine Hand berührte endlich die kristalline Träne. Es kam ihm unendlich langsam vor, wie er zu Boden stürzte. Die Träne in seiner hohlen Hand glitzerte ihn an und er war froh, so etwas Schönes als Letztes zu sehen.
    Als habe die Träne seinen Gedanken gelauscht, wurde sie wieder flüssig. Leuchtend versickerte das Tränenwasser in seinem Körper. Dann wurde Navius schwarz vor Augen und er hauchte seinen letzten Atemzug aus.

    Brennender Schmerz holte ihn zurück. Er wollte nicht, wollte weiterschlafen. Der Schmerz war zu enorm, als dass er ihn aushalten konnte. Er musste husten und prusten, dann endlich war sein Hals frei und er schrie aus Leibeskräften. Er schlug seine Augen auf und sah zunächst alles verschwommen. Er blickte an seiner Brust hinunter, wo er das Zentrum des Schmerzes vermutete, der seinen ganzen Körper peinigte.
    Als er die Tränen in seinen Augen weggeblinzelt hatte und sein Blick sich endlich schärfte, erkannte er einen grell leuchtenden Fokusstein, der von zwei blau schimmernden Händen in seine Brust gedrückt wurde und tatsächlich Stück für Stück in ihr versank.
    Navius folgte den Armen und fand Shivas Gesicht. Sie verfolgte verbissen, wie ihre Hände den Fokus in seinen Körper pressten. „Hör auf!“, schrie Navius und wand sich vor Pein. „Hör auf! Lass das! Ich halt das nicht aus! Du bringst mich um!“
    „Meine Träne enthielt einen Teil meines magischen Körpers“, erklärte sie ruhig. Wieder konnte er ihre Worte hören, obwohl seine Schreie um ein vielfaches lauter waren und es in seinen Ohren piepte und dröhnte. „Der Samen, der auf den Fokus reagiert. Du wirst nicht sterben, Navius.“ Sie wandte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck war ernst. „Ich schenke dir meinen Wächterkörper. Du weißt, was mit seiner Kraft zu tun ist. Wir Megalithen haben nicht die Fähigkeit in einem Streit zwischen Erwählten Adanos‘ die richtige Seite zu erkennen. Du musst für uns entscheiden und den Frieden zurückbringen!“
    Der Fokus verschwand vollständig in seiner Brust. Sein unartikulierter Schrei überschlug sich. Sein nackter Körper lief blau an. Er hörte, wie Ruinen unter seinem Schrei zusammenbrachen. Er spürte eine Kraft, die er noch nie gefühlt hatte. Und die Macht Adanos‘, die er verloren gefürchtet hatte.
    Als er sich erhob, wurde ihm klar, dass er sich all die Jahrhunderte geirrt hatte. Dass ein Schneemagier trotz seiner übermenschlichen Fähigkeiten immer ein Mensch blieb. Erst jetzt bekam er eine Vorstellung davon, was es hieß, nicht menschlich zu sein.
    Geändert von MiMo (30.08.2018 um 15:49 Uhr)

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    Cecilia schlief tief unter den Bergen von Nordmar. Sie war auf mehrere Schichten weißer Wolfsfelle gebettet und mit einer feinen, varantinischen Satindecke zugedeckt. An den Wänden brannten Fackeln mit ewigem Feuer, dessen blauer Schein ihr rundliches Gesicht flackernd beleuchtete. Obwohl ihr Schlaf schon viele Tausend Jahre andauerte, lächelte sie unentwegt. Sie träumte von den schönsten Sommern, weiten Blumenmeeren und langen Tagen mit ihren Geliebten. Noch nicht ein Mal in all den Jahren hatte sie einen Albtraum gehabt, und so schien ihr zufriedener Gesichtsausdruck für die Ewigkeit bestimmt.
    Doch eine Ewigkeit war es auch her, dass ihr Geliebter sie besucht hatte. Obwohl er es ihr fest versprochen hatte, als er sie in den Zauberschlaf versetzt hatte.

    „Was geht in Al Shedim vor sich, Vatras?“ Hurits wettergegerbtes Gesicht sah aus, als sehe er dem Weltuntergang entgegen. Der Schneefall war immer dichter geworden und ein scharfer Wind hatte sich über dem ganzen Land erhoben. Nicht mehr lange, und ein ausgewachsener Schneesturm würde über dem Wüstenland toben.
    „Ich weiß es nicht“, antwortete Vatras ratlos. „Ich habe die anderen Wassermagier bereits informiert. Sie sind auf dem Weg hierher.“
    Hurits Augen verengten sich überrascht. „Warum waren sie nicht in Varant?“
    „Eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir, wenn wir das hier überstanden haben“, lehnte Vatras die Frage ab. „Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr euch um das Mädchen kümmert?“ Phinea stand zitternd neben ihm, obwohl er ihr die Tunika übergestülpt hatte, die er unter seiner Robe zu tragen pflegte.
    „Wenn das Wetter sich weiter verschlechtert, kann ich für nichts garantieren“, murrte Hurit.
    Die Nomaden, die sich hinter ihm in den Schutz einer Düne kauerten sprachen für sich, erkannte Vatras. Sie waren nicht auf solch einen Sturm vorbereitet gewesen. „Ich danke dir“, sagte er. Dann wandte er sich Phinea zu und ging vor ihr auf die Knie. Sie musste mit ihren großen Augen trotzdem ein wenig zu ihm aufblicken. Sie wirkte verängstigt, aber nicht so verängstigt, wie er es eigentlich von ihr erwartet hatte. Wie viel musste ein Kind schon durchgemacht haben, um solch einem Chaos mit Fassung entgegen treten zu können? „Der Mann ist dein Freund. Er heißt Hurit und wird sich von hier an um dich kümmern.“
    „Wo ist Phil?“, verlangte sie zu wissen.
    „Ich gehe ihn jetzt holen“, log Vatras. Er wollte das Kind in dieser Stunde nicht noch mehr belasten. Und er wusste ja auch noch gar nicht, was ihrem Bruder überhaupt zugestoßen war.
    „Dann komme ich mit“, stellte Phinea klar. „Phil und ich gehören zusammen.“
    Vatras schüttelte traurig den Kopf. „Es ist besser für mich und auch für deinen Bruder, wenn wir dich in Sicherheit wissen. Bei Hurit wirst du sicherer sein als du es vielleicht je in deinem Leben gewesen bist.“
    „Das stimmt nicht. Phil ist nicht bei mir.“ Trotzig schob sie ihre Unterlippe vor.
    Vatras kam nicht umhin, ihren Mumm zu bewundern. Wortlos richtete er sich wieder auf, nickte Hurit vielsagend zu. Hurit legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens. „Komm“, sagte er leise, aber bestimmend. Phinea warf Vatras einen letzten vorwurfsvollen Blick zu, dann ließ sie sich abführen.
    Erleichtert wandte Vatras sich ab. Er fasste das unstetige Leuchten am Himmel über Al Shedim ins Auge, dem einzigen Orientierungspunkt in dem Schneechaos, und setzte seinen Weg fort.

    So oft wie sich Yhwachs Klauen auch in Rhademes‘ Körper bohrten, sie richteten keinen bleibenden Schaden an. Und egal wo der neue Schneemagier sich auch wieder zusammensetzte, der erwachte Megalith brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um wieder bei ihm zu sein und ihm den nächsten Schlag zu versetzen.
    Horetius drehte sich auf dem Dach des Tempels um seine eigene Achse, versuchte den Kampf nicht aus den Augen verlieren. Hilflos ballte er seine Hände zu Fäusten. Er hatte nicht Jahrtausende hinter sich gebracht, nur um jetzt tatenlos zuzusehen. Yhwachs Fähigkeiten waren erstaunlich, konnten ihnen aber unmöglich den Sieg bringen. Früher oder später würde Rhademes einen Weg finden, den Wächter aus dem Weg zu räumen. Er durfte die Zeit nicht verschwenden, die Yhwach ihm verschaffte. Er horchte in sich hinein, ortete die Auren der Foki. Fünf spürte er weit im Norden, eine fand er mitten in der Wüste von Varant. Und drei in Al Shedim. Die, die er Shiva überlassen hatte, bewegte sich auf den Tempel zu. Und im Luftraum über dem Tempel… kämpften die beiden anderen Auren. Schon am Tempel des Meeres hatte Rhademes zwei Foki besessen. Einen hatte er achtlos am Eiskreis zurückgelassen, doch den anderen trug er immer noch bei sich. Irgendwie musste Horetius ihn in die Finger bekommen und einen weiteren Wächter aktivieren.

    Er öffnete die Augen und sah nicht nur die Welt, die er kannte, sondern auch noch vielfarbige Dimensionen, für die er sein ganzes Leben blind gewesen war. Langsam kam er wieder auf die Beine. Ein heißes Gefühl stieg in seinem Torso auf, sammelte sich in seiner Brust. Als die Hitze sich durch seinen Rücken einen Weg in die Freiheit bahnte, brachen weiß gefiederte Flügel zwischen seinen Schulterblättern hervor. Die Spitzen der Schwingen erschienen sowohl am linken als auch am rechten Rand seines Gesichtskreises. Mit seinen Augen verfolgte er die purpur- und marinefarbenen Ströme in der Luft, das violette Firmament und den schwarz schimmernden Sand, der von dem goldenen Schnee langsam verdeckt wurde. Plötzlich erkannte er einen menschlichen Umriss in all den Farben. Shiva funkelte so blau wie zuvor. Der tiefe Farbton ihrer Augen war unverändert. Wortlos wiederholte sie ihre Bitte, indem sie ihm tief in die Augen sah.
    Ebenso stumm stieß Navius sich vom Boden ab und schwang sich in die Lüfte. Nicht einen Moment hatte er daran gezweifelt, dass er die Flügel gebrauchen konnte. Es war zweifellos ein erhebendes Gefühl, die Überreste von Al Shedim unter sich dahingleiten zu sehen. Doch wieder einmal fühlte er ganz anders als nur Minuten zuvor. Die Verschmelzung mit dem Fokus hatte nicht nur seine optische Wahrnehmung erweitert, sondern auch seine körperlichen Empfindungen geordnet und dosiert. Alles, was seine Konzentration beeinträchtigen konnte, schien ihm in diesem Moment weit fern. Die Fähigkeit zu fliegen nur ein Mittel zum Zweck. Er wandte seinen Blick gen Himmel. Über dem riesigen Tempel kämpften eine weiße und eine blaue Gestalt. Beide schienen über räumlichen Abstand erhaben, tauchten mal hier, mal dort auf, nur um nach einem kurzen Schlagabtausch wieder zu verschwinden.
    „Rhademes“, grollte er und spürte zum ersten Mal das wahre Ausmaß der Finsternis in seinem alten Freund. Die Aura war so stark, dass ihm das Atmen schwerer fiel, je näher er dem Tempel kam. „Es gab also noch einen Grund, warum Shiva dir diese Kraft nicht geben wollte.“ Im Steilflug nahm er die Wand des Tempels von Al Shedim, schoss über die Kante hinaus und ließ sich unsanft auf das flache Dach fallen. Mit einem Blick erfasste er den Eiskreis, sieben Megalithen und Horetius.
    Der Überlebende des Alten Volkes erstarrte bei seinem Anblick. So hatte Navius Zeit, die Farbenströme zu studieren, die von ihm ausgingen. „Nun bin ich endgültig überzeugt“, sagte er, und seine Stimme hallte merkwürdig nach. „Auch du wurdest von Adanos erwählt.“
    „Ich wusste nicht, dass auch Schneemagier in die Körper der Wächter schlüpfen können“, erwiderte Horetius sichtlich um Fassung bemüht. „Für diese Fähigkeit hätte ich viel gegeben.“ Horetius musterte Navius einen Moment voller Sehnsucht, dann wurde sein Blick wieder ernst und er sah auf zu Rhademes und Yhwach. „Rhademes sollte nicht erfahren, dass er zu einem Wächter mutieren kann. Er trägt immer noch einen Fokus bei sich.“
    „Rhademes kann kein Wächter werden“, erklärte Navius schlicht. „Das kann nur, wer den Segen eines Megalithen empfangen hat.“
    Horetius wandte sich stirnrunzelnd wieder Navius zu. „Den… Segen?“
    „Shiva gab mir den Samen des Wächterkörpers, der jedem Megalithen innewohnt. Er ist es, der auf den jeweiligen Fokusstein reagiert und die Verschmelzung ermöglicht.“ Er wusste nicht genau, warum er Horetius das erklärte. Er wusste nur, dass Horetius auf seiner Seite war. Adanos‘ Kraft umhüllte ihn ohne die kleinste Verunreinigung. Es schien, als würde er einem ureigenen Instinkt der Wächter folgen, indem er Horetius stillschweigend zu seinem Verbündeten nahm.
    „Verstehe“, sagte Horetius langsam. „Das heißt, es ist möglich, die Samen aller Megalithen auf neun andere Lebewesen zu übertragen. Wenn die neun sorgfältig ausgewählt würden, könnte man so vielleicht doch noch einen Rat einberufen, dessen Weisheit und Kraft über alles erhaben ist.“
    „Es ist nicht die richtige Zeit, über deine Pläne nachzudenken.“ Navius breitete seine Schwingen aus. „Ich habe dir mein Geheimnis anvertraut. Jetzt bist du an der Reihe. Wie kann es sein, dass du so lange überlebt hast?“
    „Für mich war es keine lange Zeit“, entgegnete Horetius.
    „Ich verstehe.“ Navius stieß sich vom Boden ab. Die weißen und lilafarbenen Schneeflocken von Rhademes Körper konnte er so klar von den goldenen unterscheiden, dass es ein Leichtes war, sie zu verfolgen. Yhwach überholte ihn mit seinen viel längeren Schwingen und stürzte sich zum vielleicht hundertsten Mal auf Rhademes.
    Navius hatte nicht vor, diesen Kampf noch weiter in die Länge zu ziehen. Er spürte die Wächterkräfte in ihm brodeln, ein unbändiges Verlangen, das nach Freiheit gierte.
    Yhwach stieß beide Klauenhände in Rhademes Leib. Wie Sand zerrann der Körper zwischen seinen Fingern.
    „Yhwach, aus dem Weg!“, rief Navius und ganz Al Shedim erzitterte unter seinem Befehl. Yhwach verschwand augenblicklich aus der Schusslinie. Navius streckte seine blauen Arme vor sich aus, richtete seine flachen Hände auf das Schneegestöber, das sich von dem letzten Zusammenstoß der Kontrahenten entfernte. Navius nahm alle Schneeflocken gleichzeitig ins Visier. Hitze pulsierte durch seine Arme, staute sich an und wurde zu einem Druck, den er keine Sekunde länger halten konnte: Die Energie brach unkontrolliert aus seinen Handflächen. Doch was sich in seinem Inneren so heiß angefühlt hatte, entpuppte sich als pure Kälte. Der Angriff schlug eine Schneise aus Eis in das Ruinenfeld, die sich fächerförmig von seinen Händen aus entfaltete. Riesiges Eis türmte sich in Sekundenschnelle auf, Spitzen aus durchsichtigem Firn wuchsen in den Himmel. Ein Gletscher, der den Tempel um ein Vielfaches überragte, blieb zurück. Vereinzelt flogen noch lilafarbene und weiße Schneeflocken in der Luft, doch den Großteil konnte Navius tief im Inneren des Eisbergs erkennen. Das also war die Kraft eines Wächters. Shivas, um genau zu sein.
    Yhwach landete auf dem Eisblock und sah auf Navius herab. Navius konnte die blau leuchtenden Augen hinter dem Verband sehen. Sie nickten sich knapp zu.

    Horetius ließ den Blick über das veränderte Ruinenfeld schweifen, über dem es plötzlich so ruhig geworden war. Für ihn schien es, als wäre die Stadt gestern noch intakt und voller Leben gewesen. Nun lag vor ihm ein Eisblock, der das Ruinenfeld auf dieser Seite des Tempels in zwei Hälften geteilt hatte. Ausläufer des Eises ragten in alle Richtungen, wie die wild gewucherten Äste eines Baumes. Schnee legte sich langsam über die reflektierenden Oberflächen, die das Licht in allen Facetten brachen. Horetius war erleichtert, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Rhademes sich aus eigener Kraft aus diesem Gefängnis befreien konnte.
    Aber noch viel mehr als diese Erleichterung spürte Horetius ein nagendes Gefühl in sich, das er noch nicht genauer benennen konnte. Er schwankte erst, doch dann gab er sich diesem Gefühl hin, ergründete die Regung seines Innersten.

    Das Alte Volk von Varant war sesshaft geworden und hatte sich Innos zugewandt. Als er das Mannesalter erreicht hatte, war bereits mit dem Bau eines gigantischen Tors begonnen worden, mit dem Innos selbst auf die Erde herabsteigen sollte. Er hatte sich nichts bei diesem Plan gedacht, hatte sich mit seiner Familie und seinen Freunden auf den Tag der Niederkunft des Gottes gefreut.
    Bis eines Tages ein anderer Gott ihn anrief. Jener, den sein ganzes Volk vergessen zu haben schien. Dieser Tag hatte alles verändert. Adanos hatte ihm erzählt, dass es der Untergang der Welt wäre, wenn dieses Tor vollendet würde. Horetius hatte die Tragweite dieser Worte zuerst nicht glauben können, doch Adanos hatte sich Zeit genommen und all seine Fragen beantwortet. Am Ende hatte Horetius ihm Glauben geschenkt. Und der Gott ihm im Gegenzug einen Teil seiner göttlichen Kraft. „Für dich soll keine Entfernung von Bedeutung sein“, hatte der Gott des Gleichgewichts gesagt. „So soll es dir möglich sein, dein Volk vor dem selbstverschuldeten Unheil zu bewahren.“ Und Horetius hatte festgestellt, dass er sich fortan innerhalb eines Lidschlags an jeden beliebigen Ort bewegen konnte. Er war beeindruckt von dieser Kraft und machte sich mit Feuereifer daran, seinen Auftrag zu erfüllen. Doch von seinem Volk war er fortan nur noch als Ketzer beschimpft worden. Er sprach bei allen Stadträdten und namhaften Glaubensversammlungen vor, er suchte auf Marktplätzen und an Oasen Anhänger für seine Sache, er brachte unerbittlich seine Argumente vor. Doch niemand wollte auf ihn hören.
    „Deine Worte sind Gift in den Ohren des Volkes“, hatte der Hohepriester von Al Shedim gesagt, und ihn aus der Gemeinschaft verstoßen. Horetius hatte es nicht fassen wollen. Wie hatte es so weit kommen können? Er war doch in göttlicher Mission unterwegs! Er hatte nicht daran gedacht, aufzugeben, hatte weiterhin die Abkehr von Innos gepredigt, wo auch immer sich ihm eine Gelegenheit bot. Bis er als Aufrührer und Unruhestifter verurteilt worden war. Von diesem Tag an hatte ihn sein eigenes Volk wie Vieh durch die Wüste gejagt. Wie einen Sandcrawler mit besonders eindrucksvollen Zangen. Nur dank seiner privilegierten Reisemethode war er seinen Verfolgern ein ums andere Mal entkommen.
    Adanos hatte in dieser dunklen Stunde das zweite Mal zu ihm gesprochen. Und Horetius flehte ihn an, noch nicht den Glauben an das Alte Volk aufzugeben. „Ich werde sie noch umstimmen. Ich weiß noch nicht wie, aber ich lasse nicht zu, dass sie ihr Tor fertig bauen“, hatte Horetius den Gott des Gleichgewichts angerufen. „Wenn nötig, werde ich das Tor mit Gewalt niederreißen.“ Adanos hatte ihm seine Worte geglaubt und gleichzeitig sorgenvoll die Feinde nahen gesehen. Doch Horetius war ihnen wieder entkommen. In den folgenden Monaten konnte er nie lange an einem Ort bleiben. Seine Verfolger fanden ihn, wo auch immer er sich verkroch. Bis er beschloss, seinen eigenen Tod vorzutäuschen. Von diesem Tag an hatte er Ruhe, um über einen Plan nachzudenken, mit dem er sein Volk und die ganze Welt retten konnte. Er erkannte schnell, dass es in Varant keine Macht gab, die das Tor zu Fall bringen konnte. Also verließ er das Land und verfolgte seine letzte Hoffnung: Einem Gerücht über mächtige Wächter aus Eis. Er wanderte durch Nordmar, sprang von Bergflanke zu Bergflanke, durchkämmte die Täler ohne Unterlass. Und fand schließlich den Eiskreis. Die neun Megalithen hatten sofort erkannt, dass er den Segen von Adanos trug. Sie zeigten sich ihm und erklärten, dass sie imstande waren zu helfen. Wenn der Schneemagier ihren Plan absegnete.
    Und so begab Horetius sich in den Turm aus Eis und wurde bei dem Schneemagier vorstellig. Der jedoch lehnte es ab, dass die Megalithen sich in die Geschicke von Varant einmischen sollten. Horetius hatte drei Tage und Nächte mit dem sonderbaren Magier gestritten, bis sie eine grauenhafte Botschaft erreicht hatte.
    Eine Flut hatte das ganze Wüstenreich überrollt und alle Bewohner ins offene Meer getrieben. Keiner schien diese Katastrophe überlebt zu haben. Und das große Tor, das das Alte Volk seit Jahrzehnten baute, war unter den Wassermassen einfach zusammengebrochen.
    Horetius begab sich sofort zurück nach Varant, um die Verwüstung mit eigenen Augen zu sehen. Tatsächlich war seine Heimat kaum noch wiederzuerkennen. Nur die Tempel hatten die Flut überlebt. Doch selbst die Priester, die sich in ihre Gotteshäuser geflüchtet hatten, waren dem Tod nicht entkommen. Das Wasser war überall eingedrungen und hatte alles Leben aus dem Land gewaschen. Wutentbrannt schrie Horetius seinen Gott an.
    Und Adanos sprach ein drittes Mal zu ihm. Äußerte seine Betrübnis über die Notwendigkeit dieser Tat. „Doch war es im Vergleich zum Untergang der Welt gewiss der kleinere Preis.“
    „Ich habe jahrelang um mein Volk gekämpft“, hatte Horetius ihn angeschrien. „Und nun war alles umsonst. Hätte es nicht gereicht, das Tor zu zerstören? Musste es gleich das ganze Land sein?“
    „Du hast getan, was du konntest. Das Volk von Varant war unbelehrbar. Sie hätten den Bau immer wieder von Neuem begonnen.“
    „Das rechtfertigt diesen Massenmord nicht!“, hatte Horetius erwidert. Den Zorn, den er auf seinen Gott verspürt hatte, war in diesem Moment grenzenlos gewesen.
    „Die Geschichte wird sich wiederholen. Wenn Varant wieder von Menschen bewohnt wird, werden sie sich erneut von mir abwenden.“
    Horetius hatte der Verlust die Sprache verschlagen. Stumm sah er zu dem trügerisch wolkenlosen Himmel, von dem die Stimme zu ihm herabdonnerte.
    „Und nur du wirst die Kraft haben, eine zweite Flut zu verhindern.“
    „Wie soll ich das machen?“, hatte er gefragt. „Bis Varant wieder besiedelt ist, werden Jahrhunderte vergehen.“
    „Und Jahrhunderte sind für dich nichts weiter als Meilen“, hatte Adanos geantwortet und von da an geschwiegen.
    Es hatte gedauert, bis Horetius begriffen hatte, was der Gott ihm hatte sagen wollen. Er nutzte seine Kraft und teleportierte sich dieses Mal nicht entlang einer Raumachse, sondern entlang der Zeitachse. Er fand sich in einem Zeitalter wieder, das sich nur unwesentlich von dem Unterschied, das er verlassen hatte. Und er machte sich auf die Suche nach den Foki, um die Megalithen aus ihrem Verhältnis zu befreien und sie wieder zu den mächtigen Wächtern zu machen, die sie einst gewesen waren.

    Und als all diese Erinnerungen in Horetius aufstiegen, erkannte er das nagende Gefühl, das ihn bei dem Anblick des geschlagenen Rhademes plagte. Die Macht hätte nicht dem Schneemagier gehören dürfen. Er selbst hätte die Macht von Shiva empfangen sollen und zu einem gottgleichen Wesen werden müssen. Denn er selbst hatte jahrelang für das Volk von Varant gekämpft, während eben dieses Volk dem Schneemagier stets gleichgültig gewesen war. Die Ungerechtigkeit darüber, dass nun er das Volk gerettet hatte, das er einige Tausende Jahre zuvor noch willig untergehen lassen hatte.
    Horetius ballte die Hände zu Fäusten. Er musste in den Besitz dieser Kraft kommen. Nur dann würde er seinen Traum von einem Rat der Wächter Adanos' verwirklichen können.
    Gegen den erwachten Schneemagier hatte er genauso wenig Chancen wie gegen Rhademes, doch er erinnerte sich nur zu gut, dass er damals nicht nur alles über die Megalithen herausgefunden hatte, bevor er sich zu dem Turm aus Eis begeben hatte.
    Ehe Horetius einen Entschluss gefasst hatte, landete der Schneemagier auf dem Dach des Tempels. Zielstrebig schritt er auf den Eiskreis zu, während sich seine neuen Flügel dicht an seinen nackten Rücken schmiegten. Sein blauer Blick fixierte die verbliebenen sieben Megalithen und selbst die sonst so emotionslosen Schutzgeister wirkten eingeschüchtert. „Die Verankerung des Eiskreises muss sofort wieder gelöst werden“, stellte er fest. Es war mehr Befehl als Feststellung.
    „Die Verbindung, die der Eiskreis mit dem Ort und dem Magier eingeht, ist machtvoll“, antwortete die alte Frau und senkte kummervoll ihren Kopf.
    „Der Eiskreis ist unrechtmäßig von seinem angestammten Platz entfernt worden“, fuhr der Mann fort. „Und doch ließ Adanos es zu, dass er an diesem Ort wiedergeboren wird.“
    „Wir können uns nicht sicher sein, welchen seiner Diener er bevorzugt“, gestand der Junge. „Vielleicht war er mit seinem alten Diener unzufrieden“, erwog das Mädchen recht kühn. „Adanos Wege sind unergründlich“, murmelten sie beide im Chor.
    Der Schnee erschwerte die Sicht, doch Horetius war sich sicher, dass die Gesichtszüge des Schneemagiers sich bei diesen Worten verhärteten.
    „Es muss eine andere Möglichkeit als ein Umkehrritual geben, um die Bindungen zu brechen“, beharrte der Schneemagier.
    „Da bin ich mir ebenfalls sicher“, brachte Horetius sich in das Gespräch ein und trat einen Schritt vor.
    Der erwachte Schneemagier warf ihm einen strafenden Blick zu. Die Blicke der Megalithen flackerten unsicher zu ihm herüber.
    „Ich bin der auserwählte Schneemagier und niemand sonst. Ich werde den Eiskreis nach Nordmar zurückbringen und alles wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen.“
    „Der ursprüngliche Zustand kann nicht das Ziel sein“, widersprach Horetius mit einer Härte, die er selbst nicht von sich gewohnt war. Er spürte, dass seine Geduld mit diesem Schneemagier endgültig zur Neige ging. „Die Geschichte wiederholt sich wieder und wieder. So auch genau in diesem Moment. Es fehlt nicht mehr viel und Adanos ruft eine neue Flut, die Varant ein weiteres Mal unter sich begräbt. Ich kann unmöglich zulassen, dass es soweit kommt. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden. Ein neues Zeitalter muss eingeläutet werden, in dem weisere Menschen über das Geschick der Welt entscheiden. Von Adanos selbst auserlesene Menschen.“
    „Du lebst in einer ganz anderen Realität“, warf der Schneemagier ihm verbittert an den Kopf. „Sieh dich doch mal um! Ist es dieses Varant, dass du bewahren willst?“ Der Schneesturm heulte unverändert. Von dem Sand war schon nichts mehr unter den dicker werdenden Schneeschichten zu sehen. „Was dieses Land im Moment am dringendsten braucht, ist sein gewöhnliches Klima. Selbst du solltest einsehen, dass es oberste Priorität hat, den Eiskreis hier wegzuschaffen.“
    „Das ist richtig“, gab Horetius zu. „Ich selbst werde nun wieder das Ruder in die Hand nehmen. Gib mir die Träne Shivas. Mit deinem Körper werde ich einen Weg finden, den Eiskreis zu teleportieren. Schon jetzt fehlt mir zu meinen Kräften nicht mehr viel, um dies bewerkstelligen zu können.“
    Der Schneemagier starrte ihn an und er starrte zurück. Das grimmige Unverständnis stand ihm in sein blaues Gesicht geschrieben, doch Horetius hielt dem Blick stand.
    „Du willst alles an dich reißen und merkst es nicht einmal, oder?“
    „Ich reiße nicht alles an mich. Ich handle im Sinne des absoluten Gleichgewichts, indem ich denjenigen ihre Macht nehme, die sie nicht richtig einzusetzen wissen. Du hast mein Volk schon einmal untergehen lassen. Und ich werde nicht zulassen, dass du Varant ein zweites Mal ins Verderben stürzt.“
    Der Schneemagier warf verzweifelt die Hände in die Luft. „Ich habe nichts mit dem Untergang von...“
    „Als ich nach Nordmar kam“, unterbrach Horetius ihn hitzig, „machte ich mich auf die Suche nach mächtigen Magiern, die mir bei meinem Vorhaben behilflich sein konnten. Und noch bevor ich die Megalithen, noch viel länger bevor ich dich traf, fand ich eine wunderschöne Frau, die in einen mächtigen Zauberschlaf versetzt worden war. Willst du leugnen, dass du dafür verantwortlich bist?“
    Die Haltung des Schneemagiers machte Horetius noch wütender. Selbst jetzt tat er noch ahnungslos und starrte ihn nur weiterhin so verwirrt an mit seinen tiefblauen Augen, die von seiner unverdient erworbenen Macht zeugten.
    „Adanos ist der Gott des Gleichgewichts. Er hält nicht nur die Waage zwischen seinen göttlichen Brüdern, er schuf auch den Himmel und die Erde, den Mann und die Frau, das Licht und die Dunkelheit, auf dass alles in einem Gleichgewicht existiere. Sogar die Megalithen halten sich an dieses Prinzip: Vier Männer und vier Frauen sowie ein Irrlicht, das die Eigenschaften beider Geschlechter in sich vereint. Warum also sollte es nur einen Schneemagier geben? Willst du allen Ernstes leugnen, dass du die Schneemagierin seit Tausend Jahren in einem Zauberschlaf gefangen hältst?“
    Perplex öffnete der Schneemagier seinen Mund und schloss ihn wieder. Ihn so sprachlos zu sehen, gab Horetius Genugtuung.
    „Ich erlöste sie aus ihrem Zauberschlaf und sie erzählte mir einige interessante Dinge.“ Horetius beobachtete das versteinerte Gesicht des Schneemagiers genau. „Die Schneemagierin wird nicht mit dem Eiskreis verbunden. Sie erhält ihre ganz eigenen Fähigkeiten, auf andere Art und Weise. Und im Gegensatz zum Schneemagier altert sie weiterhin. Doch du hast eine Schwäche für sie und ihre Schönheit entwickelt, weshalb du sie in einen Schlaf versetzt hast, der den Alterungsprozess aufhält. Sie wacht nur auf, wenn du sie weckst. Damit sie dir Gesellschaft leisten kann, wann immer du dich nach ihr sehnst. Jedes Mal lässt sie sich danach bereitwillig wieder in ihren komatösen Zustand versetzen, weil auch sie Gefühle für dich hat. Sie flehte mich sogar an, sie weiterschlafen zu lassen, damit sie nicht verstirbt, ehe du sie das nächste Mal aufsuchst. Aber weißt du, was ich glaube? Du hast sie mit der Zeit immer seltener besucht und schließlich einfach vergessen. Wahrscheinlich schläft sie auch heute noch in ihrer Höhle tief unter den Bergen von Nordmar und wartet darauf, von dir geweckt zu werden. Aber du hast das Interesse an ihr verloren. Die Wollust hat nicht ausgeschlagen, weil du ihrer überdrüssig geworden bist. Heute ist sie dir egal, weshalb du sie einfach weiterschlafen lässt. So ist es ja schließlich für alle am einfachsten, nicht wahr?“ Horetius machte einen Schritt auf den Schneemagier zu. Und der wich vor ihm zurück. „Jemand, dem das Schicksal eines einzelnen Menschen so wenig schert. Jemand, der ein ganzes Volk aus Bequemlichkeit untergehen lässt. So jemandem gebührt keine Macht. Und wenn du mir die Träne Shivas nicht hier und jetzt aushändigst, werde ich Cecilia wecken und von all deinen Fehlern berichten. Sie hat lange geschlafen. Sie wird zornig sein. Und als Schneemagierin ist sie auch mächtig. Ich bin mir sicher, sie wird mir mit Freuden dabei helfen, dir den Wächtersamen abzujagen. Und du kennst meine Fähigkeiten inzwischen. Ich werde lange vor dir bei ihr sein.“
    Der Wind brauste auf. Der Schnee wirbelte immer schneller um Horetius und den Schneemagier. Der eine schockiert, der andere triumphierend, sahen sie sich in die Augen. Und die Megalithen beobachteten die beiden Erwählten. Lauerten darauf, dass eine Entscheidung fiel, in diesem für sie so unverständlichen Streit.
    Geändert von MiMo (30.08.2018 um 15:48 Uhr)

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    Navius wusste nicht, was er zu all den Anschuldigungen sagen sollte. Er hatte noch nie etwas von einer Schneemagierin gehört. Doch Horetius schenkte ihm genauso wenig Gehör wie vor dem Tempel des Meeres. Inzwischen glaubte er allerdings zu wissen, welchem Irrtum der Überlebende des Alten Volkes aufgelegen war.
    Horetius streckte fordernd seine Hand aus. Wild entschlossen. „Gib mir den Samen“, wiederholte er. „Damit ich dieses Chaos endlich beseitigen und das absolute Gleichgewicht herbeiführen kann. Damit Varant nie wieder Gefahr läuft, unterzugehen.“
    „Wenn ich dir den Samen gebe, werde ich sterben“, stellte Navius klar.
    „Du wärst längst tot, wenn Shiva dein Leben nicht mit ihrer Träne verlängert hätte. Dir muss doch klar gewesen sein, dass dieser Aufschub nicht für immer ist. Du hast den Samen nicht verdient und das weißt du. Ungezählte Leben lasten auf deinen Schultern.“
    „Ich bin nicht der, für den du mich hältst“, brach es aus Navius hervor. „Ich wurde vor gut fünfhundert Jahren in einem kleinen Dorf im Nordwesten Myrtanas geboren. Die Flut, die dem Alten Volk zum Verhängnis wurde, war damals schon mehrere Tausend Jahre her. Es gab vor meiner Zeit bereits andere Schneemagier. Ich weiß nicht, wie es zum Tod meiner Vorgänger kam, aber vor viertausend Jahren musst du mit einem ganz anderen Schneemagier gesprochen haben.“ Navius meinte zu sehen, wie für einen kurzen Moment Zweifel über Horetius‘ Gesicht flackerten. Doch als er antwortete, war von ihnen nichts mehr zu sehen.
    „Du hast keinen Beweis für deine Geschichte. Und selbst wenn der unwahrscheinliche Fall zutrifft, dass sie doch wahr ist, steht deine jetzige Existenz dem Rat des absoluten Gleichgewichts im Weg. Dein Fokus wird gebraucht, damit die Welt endlich eine Leitung erhält, unter der es nie wieder zu solchen schlimmen Katastrophen kommen muss. Nach dir wird es gewiss einen neuen Schneemagier geben, doch deine Zeit war in dem Moment abgelaufen, indem du auf einen Fokus angewiesen warst, um weiterleben zu können.“ Horetius ließ seinen Blick wieder über das weite Ruinenfeld schweifen. „Manchmal müssen Menschen ihr Leben für ein höheres Ziel lassen. So wie mein Volk unterging, um das Ende der Welt abzuwenden.“
    Plötzlich legte sich eine blau schimmernde Hand auf Horetius‘ Schulter. Selbst Navius war über Shivas Erscheinen verblüfft. Für einen Moment war er so auf das Gespräch fixiert gewesen, dass er seine Wächtersinne gar nicht beachtet hatte.
    „Es tut uns leid, was mit deinem Volk geschehen ist“, sagte Shiva zu Horetius‘ Rücken. Ihre Stimme klang ungewöhnlich warm, obwohl sie wie immer so merkwürdig nachhallte. „Aber dieser Schneemagier hat nichts damit zu tun. Unsere Mutter wurde schon lange vor seiner Geburt unter die Erde verbannt.“
    Horetius‘ Augen weiteten sich. Sein Blick blieb an dem Horizont hinter den Ruinen hängen.
    „Es war der fünfte Schneemagier, mit dem du dich einst strittest. Ihre Gesichtszüge haben eine gewisse Ähnlichkeit, und die traditionelle Robe der Schneemagier hat sich seit Anbeginn aller Ären nicht verändert, aber wenn du genau hinschaust, wirst du den Unterschied bemerken. Obwohl er gegenwärtig in meinem Wächterkörper steckt.“
    Langsam wandte Horetius den Kopf und sah dem Schneemagier in die Augen. „Also ist alles, was er gesagt hat… wahr?“ Er schluckte. „Wie ist dein Name, Schneemagier?“
    „Navius“, antwortete Navius erleichtert, dass Horetius ihn dieses Mal aussprechen ließ. Dankbar lächelte er Shiva zu. Doch das Gesicht der Megalithin blieb unbewegt.
    „Wenn das wahr ist, haben wir uns im Tempel des Meeres wirklich zum ersten Mal gesehen“, sagte Horetius mehr zu sich selbst als zu Navius, Shiva oder einem der anderen Megalithen. Er trat an den Rand des Tempels, den Blick wieder an die Ferne geheftet. Es war still, während der letzte Überlebende des Alten Volkes so dastand und leicht im Wind schwankte. Die Blicke aller Megalithen waren auf ihn gerichtet. „Ich überlasse alles weitere dir, Navius. Ich brauche Zeit, um nachzudenken.“ Und er machte einen Schritt nach vorn, wo sein Fuß keinen Halt mehr fand. Doch noch ehe er in die Tiefe zu stürzen begann, war er verschwunden.
    Zurück blieb nur ein weißer Schimmer in Navius‘ Wahrnehmung. Dankbar nickte er Shiva zu, die seinen Blick gesucht hatte. Ohne sie hätte Horetius seine Geschichte gewiss nicht so leicht geglaubt. Er wandte sich wieder an die versammelten Megalithen. „Wir müssen den Eiskreis von hier fortschaffen. Für ein Umkehrritual fehlen uns allerdings die Magier.“
    „Seit jeher erlosch der Eiskreis nur dann, wenn der mit ihm verwobene Schneemagier verschied“, antwortete die gebückte alte Frau langsam. „Noch nie ist es vorgekommen, dass der Eiskreis seinen Ort änderte, obwohl der Schneemagier noch lebt.“
    „Selbst wir wussten bis vor kurzem nicht, dass ein Umkehrritual sogar so mächtig ist, dass es den Eiskreis entwurzeln kann“, stimmte der Mann zu.
    „Der Eiskreis wird nur dann gehen, wenn der Schneemagier stirbt“, fasste das Mädchen zusammen. „Der Schneemagier befindet sich in unserer Gewalt und hat viel Schuld auf sich geladen“, fügte der Junge hinzu. Beide tauschten vielsagende Blicke, nahmen es Navius aber nicht ab, die einzig bleibende Schlussfolgerung selbst auszusprechen.
    „Also müssen wir Rhademes töten“, murmelte er vor sich hin.
    „Das Land versinkt in Chaos“, sagte Shiva und trat gemessenen Schrittes zu ihren Brüdern und Schwestern. „All seine Bewohner werden helfen wollen, wenn sie sich so von dem Eiskreis befreien können. Es gibt viele Schwarzmagier in diesem Land.“
    „Aber dafür umso weniger Feuermagier“, sagte der alte Mann. „Es wird dauern, bis die nötigen Voraussetzungen für ein Umkehrritual geschaffen wurden. Bis dahin wird es für einige Bewohner dieses Landes zu spät sein. Unschuldige Menschen würden geopfert, nur um einen zweifelhaften Schneemagier zu retten, der mit Beliar im Bunde steht.“
    Navius war überrascht, dass der Megalith sich so gegen Rhademes äußerte. Schließlich hatte er keinen Finger gerührt, als Horetius und Yhwach gegen ihn gekämpft hatten. Allerdings war sein Fokus auch gar nicht zugegen gewesen.
    „Der Rhademes genannte Schneemagier ist ohnehin nicht mehr zu retten, wenn die Verbindung gelöst wird“, flüsterte die Vermummte. „Sein Vorgänger sah dem Tod ins Auge, von dem Moment an, da die Verankerung mit dem Eiskreis gelöst wurde. Bei ihm wird es ähnlich sein.“
    „Ich dachte, das hätte etwas damit zu tun, dass ich zu alt geworden war, um ohne den Eiskreis zu leben? Rhademes ist seit seiner Verbindung weder wesentlich älter geworden noch scheint ihm das Altern etwas auszumachen.“
    „Wenn der aktuelle Schneemagier ohnehin versterben wird, brauchen wir ihn nicht zu schonen“, entschied der Greis.
    Noch ehe die Vermummte etwas erwidern konnte, krachte es ohrenbetäubend. Der Laut verhallte gespenstisch in den Ruinen. Navius und die Megalithen wandten sich zu dem Eisblock um, in dem Rhademes gefangen worden war. Überall um das Eis herum schwebten mit einem Mal schwarze Säulen aus Stein. Die roten Barrieren, die sich zwischen den Säulen spannten, hatten das Eis in Stücke geschnitten. Geschützt in einem Würfel aus rotem Licht, setzten sich die befreiten Schneeflocken wieder zu Rhademes‘ Körper zusammen. Der überhebliche Ausdruck in seinem Gesicht war verschwunden. Mühsam unterdrückter Zorn spiegelte sich in seinen rot glühenden Augen.
    „Du lebst also immer noch?“, fragte er.
    „So etwas in der Art“, antwortete Navius.
    „Nun, lange wird das nicht mehr so bleiben“, entschied Rhademes und verschwand.
    Navius‘ neue Augen erkannten, was vor sich ging. Rhademes verschwand auf eine gänzlich andere Art als Horetius: Er wurde lediglich unsichtbar – für das menschliche Auge unsichtbar. Doch Navius erkannte seine Aura noch genauso deutlich wie zuvor. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Deshalb hatten die Wassermagier Rhademes nicht bei dem Umkehrritual am Eiskreis gesehen. So war es ihm gelungen, sich unbemerkt in den Tempel des Meeres zu schleichen. Navius sammelte Shivas magischen Kräfte für den nächsten Vernichtungsschlag.
    Yhwach stürzte sich wie aus dem Nichts auf die feindliche Aura. Rhademes zerstob in Tausende kleiner Schneeflocken, doch fast augenblicklich setzten sie sich direkt über Shiva wieder zusammen. Eine schemenhafte Hand legte sich auf Shivas Kopf und die Megalithin erschauderte. Ein eigentümliches Zittern lief ihren Körper hinab, ihre Augen weiteten sich, ihre Haltung versteifte sich merklich. Dann war die Hand auch schon wieder verschwunden.
    Navius feuerte seinen Eisstrahl auf Rhademes und Shiva ab, doch wie schon so oft tauchte eine rote Barriere auf und beschützte den Gesandten Beliars. Shiva jedoch wurde von dem Eis eingeschlossen. Navius schwang sich in die Luft, das Eis versperrte ihm den Blick auf Rhademes. Doch plötzlich glitt Shiva aus dem Eis, trat wie ein Geist aus der festen Masse hervor. Sie streckte ihren Arm nach seiner Brust aus und ihre Hand versank in seinem – ihrem – Wächterkörper. Es war eine Berührung, die jegliche Grenzen der Intimität überschritt. Er hatte das Gefühl, ihre Finger direkt auf seiner Seele zu spüren. Und als sie sich um sein Innerstes schlossen und zu ziehen begannen, wurde ihm klar, dass sie den Fokus gepackt hatte. Eine Taubheit, die ihm Angst einjagte, lähmte seine Glieder. Er starrte Shiva ins Gesicht, doch ihr Blick war noch ausdrucksloser als gewöhnlich. Wortlos zog sie fester. Ihm war, als entwurzle sie seine Existenz.
    Doch obwohl er gerade den einzigen Halm verlor, der ihn noch mit dem Leben verband, arbeiteten seine Wächtersinne emsig. Er spürte mit jeder Zelle seines Körpers, dass Rhademes direkt unter ihm war und seinen letzten Fokusstein herausgeholt hatte. Er konnte nichts sehen, wusste aber genau, dass Rhademes seine schemenhafte Hand nun auch auf das Haupt des Greises legte.
    Er übernimmt die Kontrolle über sie, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm fiel der Wassermagier ein, der an dem Umkehrritual am Eiskreis teilgenommen hatte. Seine Kameraden hatten sich sein Verhalten nicht erklären können. Navius konnte sich nun ausmalen, was geschehen war.
    „Ich glaube, dieser Fokus gehört dir, Frost“, sagte Rhademes und schien zu seinem süffisanten Lächeln zurückgefunden zu haben, das so gar nicht zu dem Rhademes passen wollte, den er damals in Silden kennengelernt hatte. Dem greisen Megalithen wurde der Fokus in den Mund gerammt. Ein kurzer, erstickter Schrei. Dann explodierte zum dritten Mal die Energie eines Wächters.
    Und Navius musste hilflos dabei zusehen, während ihm das Leben aus der Brust gezerrt wurde.

    Der blaue Feuerschein ließ das selig lächelnde Gesicht kränklich wirken, obwohl die Wangen so voll und rosig waren wie bei ihrer letzten Begegnung. Ihr ebenholzfarbenes Haar war noch immer zu einem langen Zopf geflochten, der auf der goldenen Satindecke zu ihren gefalteten Händen führte.
    Horetius fragte sich für einen Moment, ob sie zusammen mit dem fünften Schneemagier gestorben war, so still und zeitlos lag sie da. Doch natürlich war ihm klar, dass nach so vielen Jahren höchstens noch ein Skelett auf ihn gewartet hätte, wenn die Magie ihre Wirkung verloren hätte.
    Er war aufgewühlt, wie bei seinem ersten Besuch dieser Höhle. Jahre hatte er mit dem Abscheu auf den Schneemagier gelebt, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass auch ein unsterblicher Magier die Welt verlassen und einem Neuen Platz machen konnte. Doch selbst wenn diese Geschichte der Wahrheit entsprach, war er nicht sicher, ob er Navius verzeihen konnte. Trug er nicht das Erbe des Mannes, der diese Frau zu seinem Vergnügen ihrer Freiheit beraubt hatte und sein Volk untergehen ließ? War es denn nicht gerecht, wenn er für die Sünden des Mannes büßte, der für ihn außer Reichweit war, wo er doch seine Ideale und sein Lebenswerk weiterführte? Im Tempel des Meeres hatte Navius das Werk seines angeblichen Vorgängers schließlich verteidigt. Diese Fragen verlangten in ihm nach einer Antwort, duldeten keinen Aufschub. Doch zunächst musste er sicher gehen, dass Shiva ihn nicht belogen hatte. Vor wenigen Stunden noch hatte er einen Rat der Megalithen, der gottgleichen Geschöpfe Adanos‘, für die fähigsten Regenten des Morgrads gehalten. Heute hatte er mit eigenen Augen erlebt, wie hilflos sie angesichts der gegenwärtigen Krise waren. Sein Vertrauen war erschüttert. Und ganz unabhängig von der Lage in Varant hatte diese Frau schon viel zu lange geschlafen. Adanos hatte ihr eine Rolle zugedacht, der sie in den letzten Jahrtausenden nicht nachgekommen war.
    Er berührte sie sacht an ihrer Hand. Augenblicklich schlug sie die Augen auf. Und das selige Lächeln verschwand. Ihre Augenbrauen rückten über ihrer geraden Nase dicht zusammen, bildeten eine steile Sorgenfalte auf ihrer Stirn. Noch bevor sie auch nur ihren Kopf wandte, fragte sie zögernd: „Juki?“
    „Nein“, antwortete Horetius ihr tonlos. Jetzt, wo sie wach war, wusste er plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte.
    Sie setzte sich auf und Tränen traten ihr in die Augen. „Ich habe… zu lange geschlafen. Viel zu lange.“
    „Ihr habt vielleicht zwei Schneemagier überlebt“, sagte Horetius.
    Sie wandte ihren Kopf und sah ihn unverwandt an. „Ich kenne dich. Wie kann es sein, dass du wieder hier bist?“
    „Das ist eine lange Geschichte. Ich habe von Adanos die Erlaubnis bekommen, in diese Zeit zu reisen. Um die Menschheit vor der Wiederholung eines Fehlers zu bewahren, der in eben diesem Moment im Begriff ist, Realität zu werden.“ Er schluckte und brach den Blickkontakt ab. „Dem Schneemagier ist der Eiskreis entwendet worden. Eben wurde er in Varant neu erschaffen. In der Wüste tobt nun ein Schneesturm.“
    „Das klingt furchtbar“, stellte sie fest, eher mitfühlend als aufgebracht. Sie schlug die teure Satindecke zurück, die sie all die Jahrhunderte verhüllt hatte. Als sie ihre Beine anwinkelte, wirkte es steif und ungelenk. „Was ist mit meinen Kindern?“
    „Euren…“ Horetius wusste für einen Moment nicht, wen sie meinte, doch dann wurde ihm klar, welche Rolle die Schneemagierin in dem Spiel der Götter einnahm. „Sie sind alle in Varant. Einige von ihnen kämpften an der Seite des ehemaligen Schneemagiers gegen den Ketzer, der den Eiskreis entweihte. Er hat sich selbst mit dem Eiskreis verbunden und die Kräfte eines Schneemagiers erlangt.“
    „Ich war eine schlechte Mutter, sie so lange allein zu lassen.“ Tränen liefen ihr ohne ein Schluchzen über die Wange. Mühsam kämpfte sie sich auf die Beine, taumelte zur Seite, fand wieder halt. „Ich muss sofort zu ihnen. Ich spüre, dass sie… aufgebracht sind. Und Yhwach… Niemand wird ihn so aufhalten können, wenn die Kraft sein Bewusstsein verschlingt. Könnt Ihr mich zu ihnen bringen, Horetius?“
    Der entschlossene Ausdruck in ihren Augen überstrahlte die tränennassen Wangen. Horetius sah eine Frau mit starkem Willen vor sich, die zwar noch geschwächt, aber bereit war, die Dinge wieder in die Hand zu nehmen.
    „Schneller als Ihr denkt, werte Cecilia“, antwortete er und bot ihr seinen Arm an.

    Shivas große blauen Augen waren nur eine Handbreit von seinen entfernt. Leer und ausdruckslos wie immer starrten sie ihn an, während seine Pupillen immer kleiner wurden, je weiter sie den Fokus aus seiner Brust zog. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war er sich sicher zu sterben. Von der Hand der Megalithin, die ihn zuvor gerettet hatte.
    Doch plötzlich raste etwas herbei und rammte Shiva von ihm herunter. Ihre filigranen, blau schimmernden Finger wurden von dem Fokus gerissen, der schon halb aus seiner Brust ragte. Augenblicklich verschwand die Lähmung aus seinen Gliedern. Yhwach hatte Shiva mit sich gerissen. Die Megalithin schlug mit ihren Fäusten auf den erwachten Wächter ein, konnte jedoch offensichtlich keinen Schaden anrichten, während der Vermummte sie trotz ihres transzendenten Körpers fest gepackt hielt.
    Doch jetzt breitete auch der Greis seine Schwingen aus und stieg in die Luft. Navius wollte ihm gerade folgen, als sich sirrend rote Barrieren um ihn herum auftaten. Noch bevor er sich in die Luft retten konnte, schwirrten zwei weitere Lanzen herbei, erschufen knisternd eine letzte Barriere und legten sich wie ein Deckel auf die Wände aus Beliars Magie.
    Navius sammelte sofort seine Magie in den Handflächen, der Fokus in seiner Brust leuchtete auf. Die Barrieren mochten unzerstörbar, aber nicht unbeweglich sein, wie Yhwach bewiesen hatte. Er musste sich seinen Weg mit roher Gewalt freisprengen.
    „Hast du vor, dich selbst in einen Eisklotz zu verwandeln?“, höhnte Rhademes und landete neben dem Würfel aus Barrieren, in dem er seinen einstigen Freund gefangen hatte.
    „Wenn es der einzige Weg ist, um dich aufzuhalten!“, erwiderte Navius, hielt jedoch inne. Shivas Wächterangriff hatte in der Tat einen riesigen Bereich der ehemaligen Hauptstadt Al Shedim eingefroren. Wenn die Barriere ihm auch nur einen Moment standhielt, würde er sich vielleicht wirklich selbst treffen.
    Untätig sah er mit an, wie Frost mächtige Lanzen aus Eis aus dem Boden der Wüste hervorbrechen und bis in den Himmel wachsen ließ. Zunächst konnte Yhwach ihnen noch ausweichen, bis eine ganze Wand von ihnen seinen Weg versperrte, er abbremste und sich eine dünne Lanze direkt durch seine Brust bohrte. Shiva befreite sich aus seinem Griff. Navius war überrascht, wie leicht Frost den fokusfarbenen Wächterkörper seines Bruders versehrt hatte, doch an Yhwachs Vitalität schien diese Wunde nichts zu ändern. Der Vermummte brüllte und kreischte, zappelte auf dem Spieß und schlug seine Krallen in das Eis, das Himmel und Erde miteinander verband.
    Shiva kehrte wie selbstverständlich an Rhademes‘ Seite zurück und starrte wieder mit ihren großen Augen auf ihren eigenen Wächterkörper herab.
    „Wer hätte das an jenem Tag in der Höhle gedacht“, genoss Rhademes den Augenblick. „Dass Shiva dir einst auf meinen Befehl hin den Todesstoß versetzen würde.“
    „Hätte ich schon damals diese Augen gehabt, wäre es mir klar gewesen“, rief Navius verbittert. „Es muss einen großen Unterschied zwischen den Augen eines Megalithen und denen eines Wächters geben. Ich kann jetzt endlich klar sehen, dass in dir eine Bosheit schlummert, die von den Waagschalen nicht erfasst werden konnte.“
    Rhademes‘ Grinsen wurde noch breiter. „Nicht der Rhademes. Deine Worte. Heute, am Tempel des Meeres. Erinnerst du dich nicht mehr?“
    „Ich habe mich all die Jahre in dir geirrt“, musste Navius sich voll Reue eingestehen. „Schon damals, als wir Nacht für Nacht an der Flussgabelung die Sterne beobachtet haben, warst du von Beliar erwählt, nicht wahr? Du solltest das Gleichgewicht schwächen, indem du der neue Schneemagier wirst. Beliar wollte, dass ihm dieses wichtige Amt in die Hände fällt, um in dem ewigen Krieg der Götter einen Vorteil zu erringen.“
    „Ich sorgte schon lange bevor wir uns kennenlernten dafür, dass Jharkendar von Adanos‘ Flut unter sich begraben wurde. Ob er heute auch Varant zu meinen Ehren fortspült? Was meinst du?“ Rhademes breitete die Arme aus, als wolle er das ganze Land präsentieren. „Ich imponierte Beliar und so bot er mir seine Gunst und eine Möglichkeit, die Flut seines Bruders in Jharkendar zu überleben. Und heute habe ich mich endlich revanchiert und die Macht des Eiskreises dem Gleichgewicht gestohlen. Lange Zeit sah es nicht so gut für mich aus. Als mir klar wurde, dass ich die Megalithen nicht gegen dich aufbringen kann, verließ ich Nordmar. Shiva war die einzige, die mir verfallen war und sich bereit erklärte, mich zu begleiten. Ich kehrte nach Jharkendar zurück. Unbelebtes, sumpfiges Land bot sich mir. Und der Tempel, in dem die Klaue verwahrt wurde, die ich schon damals begehrte. Doch die Klaue war zu gut gesichert. Obwohl ich mit einem uralten Ritual meinen Geist von meinem Körper trennte und meinen Körper in Shivas Obhut zurückließ, wurde ich in dem Tempel eingesperrt. Äonen vergingen, in denen ich darauf wartete, dass der Zahn der Zeit den Tempel endlich zum Einsturz brachte. Doch mein Volk hatte für die Ewigkeit gebaut und so blieb ich gefangen. Bis eines Tages ein Mann den Tempel öffnete. Zunächst blieb ich, auf eine Gelegenheit lauernd, die Klaue in meinen Besitz zu bringen. Doch sie fiel einem Mann in die Hände, der sie ins Meer werfen ließ. Als ich endlich in meinen Körper zurückgekehrt war, war es bereits zu spät, diesen lächerlichen Kreis des Wassers an ihrem Vorhaben zu hindern. Mir war klar, dass das Meer einen undurchdringlichen Schutz darstellte, den ich nie würde überwinden können. Ich beschloss mich wieder meinem anderen Ziel zuzuwenden: Dir. In so vielen Jahren hätte viel passiert sein können. Welche Enttäuschung es war, dich selbstgefällig in deinem Turm aus Eis hockend vorzufinden. Aber du hattest dir Feinde gemacht. Ich brachte Garox auf meine Seite. Auf Khorinis hatte ich von einem mächtigen Umkehrritual gehört, dass göttliche Artefakte in ihren Ursprungszustand zurückversetzte. Mir fehlte nur noch ein Wassermagier. Und Beliar hatte mich nicht vergessen. Im Gegenteil. Nachdem der untote Drache und Zuben versagt hatten, gierte er nur darauf, seine Macht einem hoffnungsvollen neuen Recken anzuvertrauen. Er belohnte meine Beharrlichkeit mit den Zaubern der Unsichtbarkeit, der Kontrolle und der roten Barrieren, und siehe da, der Plan ging auf. Nahezu ohne Schwierigkeiten. Du öffnetest mir sogar den Tempel des Meeres, damit ich die nötige Energie deines Gottes erhielt, den Eiskreis mit mir zu verbinden. Du warst der schlechteste und letzte aller Schneemagier Adanos‘. Mit dir geht die Ära dieses Gottes zu Ende. Denn von heute an werde ich als Beliars rechte Hand über den Morgrad und die gesamte Sphäre Adanos herrschen!“
    Navius war wie erstarrt. Die Gefühle, die in seiner Seele tobten, wurden von dem Wächterkörper gedämpft. Er stand nur reglos hinter der Barriere und starrte den Menschen an, den er einst seinen wichtigsten Freund genannt hatte.
    Die Barrieren verschwanden. Im selben Augenblick lag Shivas Hand wieder auf seiner Brust und riss an dem Fokus. Wieder war er wie gelähmt. Zentimeter für Zentimeter verließ das Prisma seinen Körper. Yhwach zappelte immer noch an der Eissäule, die ihn durchbohrte. Schwärze kroch vom Rand her in Navius‘ Sichtfeld. Gefühle kehrten in seinen Körper zurück. Der Tod begrüßte ihn mit einer kalten Umarmung.

    Farben wirbelten um sie herum und ein magischer Wind riss an ihren weiten Roben. Milten hatte die Hände wie im Gebet gefaltet. Um ihn herum standen die fünf Wassermagier und hielten jeder einen vibrierenden und gleißenden Fokus vor sich ausgestreckt. Milten hatte noch nie ein Teleportationsritual gelenkt, doch in seiner Wissbegier hatte er sich alles über ihre Theorie angelesen und die Wassermagier halfen ihm, wo sie nur konnten. Ohne ihre Unterstützung hätte der Sog sie wohl auseinandergerissen und wahllos über den Kontinent verstreut. Doch als der Wind sich urplötzlich legte und die Farbenwirbel einer grauen Tristesse wichen, waren sie noch alle beieinander.
    Einer nach dem anderen öffneten sie die Augen und sahen sich um. Schnee wehte ihnen entgegen wie auf der Lichtung, auf der sie das Ritual begonnen hatten.
    „Haben… wir uns im Kreis teleportiert?“, fragte sich Riordian.
    Auch für Milten sah es so aus, als hätten sie Nordmar gar nicht verlassen. Doch dann entdeckte er die Überreste einer halb eingestürzten Mauer, die zwar von einer Schneedecke bedeckt war, aber unverkennbar die Schrift des Alten Volkes von Varant trug. „Seht. Wir sind in Varant.“
    „Und offenbar auch am richtigen Ort“, stimmte Cronos zu und wies in die Ferne. In diesem Moment brachen nicht unweit von ihnen riesige Eislanzen aus dem Boden und durchbohrten schließlich etwas, das an einen blauen, geflügelten Menschen erinnerte.
    „Was geht hier vor?“, rief Saturas. „Das hier ist ganz bestimmt nicht Korshaan! Dort herrscht doch tropisches Klima!“

    Wie aus dem Nichts legte sich eine Hand auf Shivas Schulter und in die Augen der Megalithin trat ein Ausdruck der Wärme, den Navius noch nie bei einem Megalithen gesehen hatte.
    „Shiva, Liebes“, sprach eine Stimme so hell und rein, dass Navius sich für einen Moment bereits im Himmel wähnte. „Dieser Mann ist nicht dein Feind.“
    Shiva änderte ihren Griff um den Fokus. Er fragte sich dumpf, was sie vorhatte. Dann drückte sie den Fokus mit beiden Handballen zurück in seine Brust. In einem einzigen Rutsch versank der Fokus wieder in seinem Körper, das Gefühl kehrte in seine Arme und Beine zurück, der Nebel in seinem Kopf lichtete sich und plötzlich konnte er auch wieder scharf sehen. Shiva wandte sich zu einer ihm vollkommen unbekannten Frau in einer schneeweißen Robe um, die sie in eine innige Umarmung schloss. Ein Lächeln schlich sich auf Shivas sonst so ausdrucksloses Gesicht. „Ich bin jetzt wieder für euch da. Nur für euch“, versprach die Fremde.
    Navius spürte, wie Horetius hinter ihn trat, doch dieses Mal schien er keine feindseligen Absichten zu hegen. „Dies ist die Schneemagierin Cecilia“, erklärte er schlicht.
    „Du hast mich gerettet“, stellte Navius fest. „Ich muss dir wohl danken.“
    „Ich habe keine Zeit für Höflichkeiten“, entschuldigte Cecilia sich an Navius gewandt, während sie sich sanft aus der Umarmung ihrer Tochter löste. „Frost braucht mich!“
    „Die Liebe ihrer Mutter, von der sie so lange getrennt waren, ist stärker als der Kontrollzauber“, stellte Horetius fest. „Rhademes hat nun also keine Macht mehr über die Wächter. Und… sie scheint dich wirklich nicht zu kennen. Ich muss meine Meinung über dich wohl überdenken.“
    „Ich war geschockt, als ich erfuhr, was einer meiner Vorgänger getan haben sollte“, erwiderte Navius ernst. „Ich habe weiterhin Verständnis dafür, dass er sich nicht in den Untergang deines Volkes einmischte, aber er hatte definitiv kein Recht, diese Frau wie seinen Besitz wegzusperren, ob nun mit ihrer Zustimmung oder nicht.“
    „Irgendwann werde ich über dich richten“, beschied Horetius und ballte seine Hände zu Fäusten. „Für diesen Moment jedoch, bin ich bereit mit dir an einem Strang zu ziehen.“
    „Legen wir Rhademes das Handwerk!“, schloss Navius.
    Cecilia hatte nun auch den massigen Wächterkörper von Frost in eine Umarmung geschlossen und das Gesicht des Alten wirkte so kummervoll, dass es Navius selbst in seinem Emotionspanzer berührte.
    Rhademes schwebte über der Szene und beobachtete sichtlich unzufrieden, was sich auf dem Dach abspielte. Cecilia trat an Navius Seite. Schneemagier und Schneemagierin zum ersten Mal seit Generationen vereint.
    Frost rammte seine Faust gegen die Eissäule, die Yhwach aufgespießt hatte. Von der Einschlagstelle ausgehend zogen sich feine Risse von der Erde bis zum Himmel. Dann zersprang das Eis in unzählige kleine Eiskristalle. Yhwach war frei und stürzte sich mit einem Triumphschrei auf Rhademes, der wieder gezwungen war, sich in Schnee aufzulösen.
    Navius folgte den Schneeflocken mit seinen Wächtersinnen und sammelte Energie in seinen Händen, um ihn abermals mit Shivas Eisstrahl kalt zu stellen.

    „Wir müssen irgendwie auf das Dach des Tempels“, rief Milten, dem der eisige Wind nichts auszumachen schien.
    „Das dürfte nur mit Levitationsmagie möglich sein“, antwortete Myxir, die Arme gegen den Sturm erhoben. „Wir haben schon lange in dem Tempel von Al Shedim geforscht, doch noch nie haben wir einen Weg gefunden, der uns auf das Dach geführt hätte.“
    „Ich könnte euch auf das Dach des Tempels bringen, doch ich bezweifle, dass ihr dort von großem Nutzen währt“, antwortete eine ihnen völlig fremde Stimme. Milten wandte sich um zu einem großen, dunkelhäutigen Krieger, der einen gewaltigen Klingenstab mit sich führte. Milten war sich sicher, dass er eben noch nicht hinter ihnen gestanden hatte. „Dort oben tobt ein Kampf, der die Fähigkeiten gewöhnlicher Magier bei Weitem überschreitet.“
    „Das Land unserer Ahnen wurde in eine Eiswüste verwandelt. Dabei können wir unmöglich tatenlos zusehen!“, ereiferte sich Cronos.
    „Was ich von Weiß halte, habe ich ja bereits erschöpfend diskutiert“, warf Saturas ein.
    „Ich habe nicht gesagt, dass ihr nicht helfen könnt“, erinnerte der Fremde sie, bevor noch weitere Wassermagier ihrem Unmut Luft machen konnten. „Mein Name ist Horetius und ich bitte euch inständig um die Foki, die ihr bei euch tragt. Sie würden unsere Kampfkraft um ein Vielfaches verstärken.“ Er streckte ihnen seine Hand entgegen.
    „Die Foki?“, entfuhr es Nefarius. „Das sind Artefakte von unermesslicher Kraft. Wir haben schon vor langer Zeit beschlossen, sie nicht in fremde Hände zu geben.“
    „Wir kennen dich nicht einmal“, stimmte Riordian zu. „Wieso sollten wir dir vertrauen? Gerade in dieser dunklen Stunde weiß man nicht, wer Freund und wer Feind ist.“
    Horetius war über ihre Widerworte alles andere als erfreut. Er zog seine Hand zurück als hätte er sich an ihnen verbrannt. Miltens Argwohn verstärkte sich, als er die finstre Miene sah, die auf sein Gesicht trat. „Zumindest den Fokus, den ihr aus meinem Grab gestohlen habt, könnt ihr mir nicht verweigern“, sagte er nach kurzem Überlegen und streckte seine Hand erneut aus, dieses Mal explizit in die Richtung von Nefarius.
    „Meinen?“, sagte Nefarius verdutzt. Dann wurden seine Augen groß. „Du bist… Nein, das kann nicht sein. Haran Ho ist seit vielen Jahren tot.“
    „Er macht sich immer unglaubwürdiger“, knarzte Cronos.
    „Haran ist ein altes Wort meines Volkes und bedeutet Verräter. Als ich mich gegen den fanatischen Innoskult wehrte, der sich in meinem Heimatland eingenistet hatte, dauerte es nicht lange, bis man mich überall nur noch Haran Horetius nannte. Ich musste meinen eigenen Tod vortäuschen, um Ruhe von meinen Verfolgern zu haben. Ich hätte nicht gedacht, dass man auch heute noch von mir spricht. Aber wenn man es tut, würde es mich nicht wundern, wenn man es nur noch als Haran Ho tut.“
    „Aber dieser Haran Ho war ein Held“, wandte Nefarius ein. „Obwohl er nur eine Hand voll Unterstützer fand, predigte er ohne Unterlass gegen den fanatischen Orden, der Varant in den Untergang führte. Bis zu seinem Tod entkam er Hunderten Innosanhängern, selbst das einfache Volk verriet ihn, egal wo er sich blicken ließ. Aber sein Glauben war so stark, dass er immer weiter machte. Um die Menschen zu retten, die es auf ihn abgesehen hatten. Sein Weg ist beispiellos.“
    „Und dennoch habe ich auf ganzer Linie versagt“, entgegnete Horetius verbittert. „Nichts als mein eigenes Leben konnte ich retten. Das letzte, was ich wollte. Doch Adanos erzählte mir, dass das neue Volk von Varant dieselben Fehler machen würde. Und er zeigte mir eine Möglichkeit, in diese Zeit zu reisen, um noch einmal zu versuchen, ein ganzes Volk auf den richtigen Weg zurück zu führen.“
    Auf diese Worte folgte eine Stille, die nur von dem Brausen des Winterwindes erfüllt war. Nicht einmal Saturas schien etwas sagen zu wollen. Schließlich legte Nefarius seinen Fokus in Horetius‘ ausgestreckte Hand. „Ich habe dein Leben jahrelang erforscht und mir oft vorgestellt, wie es wäre, dir zu begegnen. Ich glaube dir, dass du der Haran Ho bist. Du wusstest viel über dein Leben und auch von dem Geheimfach in deiner Grabkammer. Ich glaube nicht, dass es in der heutigen Zeit jemanden gibt, der mehr über dich weiß als ich. Das alles lässt für mich nur den Schluss zu, dass du die Wahrheit sagst. Wenn es das ist, was wir in dieser Krise beisteuern können, gebe ich dir gern meinen Fokus.“
    Die anderen zögerten. Dann übergaben auch sie ihre Foki an den Verräter des Alten Volkes von Varant.

    Navius schlug mit seinen Flügeln, um sein Tempo noch weiter zu erhöhen. Er tauchte unter einer Barriere hinweg, wich einer anderen zur Seite aus, sprengte die dritte mit einem Schwall Eis zur Seite. Yhwach überholte ihn mit Leichtigkeit. Der windschnittige Wächterkörper des Vermummten war im Gegensatz zu seinem auf Geschwindigkeit ausgelegt, so viel war Navius inzwischen klar.
    Rhademes erkannte den nahenden Wächter, wurde aber in dem Moment auch schon von einer Eissäule durchbohrt, die Frost heraufbeschworen hatte. Navius nahm die aufstiebenden Schneeflocken alle gleichzeitig ins Visier und ließ einen Schwall Eis aus seinen Handflächen hervorbrechen. Doch abermals erschienen Lanzen aus schwarzem Stein, die Rhademes mit seiner Unsichtbarkeitsmagie getarnt und in Stellung gebracht hatte. Sie konnte Navius auch mit seinen Wächtersinnen nicht wahrnehmen, solange sie unsichtbar waren. Das tote Gestein schien selbst keine Magie zu speichern, sondern lediglich als Empfänger für die Impulse von Rhademes zu fungieren.
    Als Rhademes sich wieder zu seiner menschlichen Gestalt zusammensetzte, ging Frost zu einem Großangriff über. Rund um ihn herum brachen Eissäulen aus der Ruinenstadt hervor, so dicht, dass zwischen ihnen nicht einmal mehr für eine Schneeflocke Platz war. Navius bildete sich aber nicht ein, dass es Rhademes lange aufhalten würde, und schon im nächsten Moment kappte eine waagerechte Barriere direkt über dem Boden die Eissäulen sowie die Mauerreste von Al Shedim. Die Eissäulen neigten sich und stürzten wie riesige, kahle Bäume zu Boden.
    „Danke, dass ihr mir Zeit verschafft habt, meine Kinder, Navius“, sagte Cecilia und sprang mit flatternder Robe vom Dach des Tempels. Unter ihren Füßen gefror die wenige Feuchtigkeit, die die Wüstenluft zu bieten hatte, und mit flinken Schritten rannte sie durch die Luft. Auf ihrer Handfläche leuchtete eine Rune, die sie sich frisch in ihre Haut graviert hatte.
    Navius, Yhwach und Frost umzingelten Rhademes, griffen ihn aber vorerst nicht an, damit er ihnen nicht wieder als Schneegestöber davonflog. Rhademes versuchte sie alle gleichzeitig in Barrierenwürfel einzuschließen, doch der Angriff war halbherzig. Navius hatte schon das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte, bevor Cecilia Rhademes erreicht hatte, und ein triumphierendes Lächeln die Lippen des selbsternannten Schneemagiers kräuselten.
    Es geschah alles in einem Sekundenbruchteil, viel zu schnell, als dass Navius noch hätte eingreifen können. Cecilia legte ihre Hand mit der leuchtenden Rune auf Rhademes Brust. „Einhalt“, befahl sie und die Rune sandte Licht aus, das alles zu überstrahlen vermochte. Sie hatte Navius erklärt, dass diese Magie eigentlich dazu gedacht war, die Wächter zu bändigen, er aber auch ganz allgemein dazu in der Lage war, Magie wieder zu versiegeln und Zauber zu unterbinden. Tatsächlich begann Rhademes‘ Robe auch zu flackern, doch im selben Moment wie Cecilia ihre Hand auf seine Brust gelegt hatte, hatte Rhademes seine Hand auf ihren Kopf gelegt.
    Mit einem Mal verdrehten sich Cecilias Augen, bis man nur noch das Weiße sehen konnte. Sie stieß einen Schrei aus, das Leuchten ihres Siegels versiegte und die Rune blätterte von ihrem Handrücken.
    Navius war sofort klar, dass sie nun noch tiefer in der Klemme steckten als ohnehin schon. Cecilia nahm ihre Hand von Rhademes Brust und wandte sich von ihm ab. Dann rief sie mit ihrer hellen Stimme: „Yhwach, Frost, Shiva. Beendet das Leben dieses Verräters!“ Und ihr Finger deutete auf Navius. Die Megalithen hatten zwischen Horetius und Rhademes nicht entscheiden können, auf die Seite welches Erwählten von Adanos sie sich schlagen sollten. Doch ihrer Mutter standen sie mit einer unerschütterlichen Loyalität zur Seite, die selbst den Kontrollzauber von Rhademes gebrochen hatte. Navius musste nicht erst abwarten, ob sie gehorchten, um zu wissen, dass sie es tun würden.
    Yhwach schoss auf ihn zu, eine Eissäule bohrte sich direkt unter ihm aus dem Boden. Shiva erschien in seinem Augenwinkel, abermals gewillt, ihm ihren Fokus aus der Brust zu reißen. Navius floh mit seinen Wächterschwingen hinaus aufs Ruinenfeld, doch Yhwach hatte ihn schon bald eingeholt und schlug ihn mit einem beinahe beiläufigen Schlag zu Boden. Schnee, Staub und Geröll wirbelten auf, als Navius bei seiner Bruchlandung eine Schneise in die Ruinen zog.
    Horetius erschien wie aus dem Nichts an seiner Seite. „Keine Sorge. Jetzt haben wir endgültig die Oberhand!“, versicherte er ihm.
    Navius fragte sich, wie er sich da so sicher sein konnte. Da sah er fünf weitere geflügelte Wächter am wolkenverhangenen Himmel kreisen.
    „Fenrix, Firn, Wyrdra, Reif und Aztez stehen uns bei. Mit dir sind nun acht der neun Wächter erwacht.“
    „Das ist unser Untergang“, erwiderte Navius und kämpfte sich aus dem Schutt hoch, in dem er gelandet war. „Rhademes hat mit seinem Zauber Cecilia unter Kontrolle gebracht. Und die Wächter folgen ihr bedingungslos.“
    Horetius zuckte bei diesen Worten zusammen. Das Grauen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

    „Es gibt nur einen Schutz auf dieser Welt, der stark genug ist, die Klaue gegen solch ein Beschwörungsritual abzuschirmen“, erklärte Ningal, während die grünen Kerzen hoch aufzüngelten. Er schritt gemessenen Schrittes die unendliche Linie des siebenzackigen Sterns ab.
    Phil wurde wieder von dem dreiäugigen Mann festgehalten. Das Stirnauge ließ ihn nicht eine Sekunde außer Acht. Er war erleichtert, dass das Ritual vorerst gescheitert war, doch sicher fühlte er sich noch lange nicht. Er musste davon ausgehen, dass er getötet wurde, sobald er nicht mehr gebraucht wurde. Und sein Magen, seine Schultern und sein Kopf brannten immer noch vor Schmerz. In seinen Gedanken ging alles durcheinander. War es nun gut, dass der Schwarzmagier die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte und ihn noch brauchte, oder war es schlecht?
    „Welcher Schutz es auch immer sein mag“, rief Sassun und trat vor. „Ich werde ihn finden und zerstören. Mir als Beliars treuestem Diener steht die Klaue zu und niemandem sonst. Es ist meine Bestimmung, sie zu führen, ganz egal, was sich mir in den Weg stellt.“
    Ein Hauch von Spott lag in Ningals Stimme, als er fortfuhr: „Adanos mächtigster Schutzwall auf dem Morgrad ist… das Meer.“
    Phil sah zufrieden wie Sassuns Leibwächter sich ratlose Blicke zuwarfen und sogar Sassun selbst für einen Moment die Schultern hängen ließ. „Was soll das heißen?“
    „Das heißt, dass das Meer Adanos‘ ureigenes Terrain ist. In seinen Tiefen hat er den Stützpfeiler seiner Macht verborgen. Das Meer ist der einzige Wall, der von dem Stützpfeiler selbst gespeist wird und einen göttlichen Schirm über alles legt, was in ihm verborgen liegt.“ Ningal schritt unermüdlich die Zacken des Sterns ab. Das flackernde Licht beleuchtete sein Profil mal von der einen, mal von der anderen Seite. „Der Zirkel, der die Beschwörung der Klaue entwickelte, wusste von diesem Stützpfeiler und machte ihn sogar ausfindig. Sie waren ganz begierig darauf, ihn zu zerstören und so Adanos‘ seine Sphäre zu entreißen, seinen Einfluss für immer zunichte zu machen. Doch gerade noch rechtzeitig erkannten sie, dass sie mit der Zerstörung seines Stützpfeilers auch den Morgrad selbst zerstören würden. Bitter enttäuscht verschonten sie den Stützpfeiler. Fortan forschten sie daran, wie sie den Morgrad ohne Hilfe von Adanos‘ Stützpfeiler stabilisieren könnten, doch Generationen von ihnen bissen sich an dieser Frage die Zähne aus. Die letzten Einträge des Zirkels sprechen dafür, dass es einfach unmöglich ist, man die Forschungen schon längst hätte einstellen und sich wieder anderen Themen hätte zuwenden sollen. Der Zirkel, der so viel erreicht hatte, ging über der unlösbaren Frage ein und gelangte nie zu dem Ruhm, der den brillianten Köpfen zugestanden hätte. Doch sie hinterließen ihrer Nachwelt das Wissen um den Stützpfeiler, und einen Weg, ihn zu erreichen, wenn der Tag seiner Vernichtung gekommen ist.“
    Ningal vollendete die Wanderung über den Stern. Bei seinem letzten Schritt begannen die Linien giftgrün zu leuchten. Das Muster hob sich vom Boden ab und begann langsam um sein Zentrum zu kreisen.
    „Wir brechen nun also auf, den Stützpfeiler zu zerstören?“, stellte Sassun mit grimmiger Entschlossenheit die Frage, die auch Phil unter den Nägeln brannte.
    Ningal schüttelte den Kopf. „Der Stützpfeiler darf unter keinen Umständen zerstört werden. Alles Leben auf dem Morgrad und auch der Morgrad selbst würde vergehen, wenn das geschähe.“
    Der rotierende Stern wurde mit jeder Umdrehung kleiner und kleiner, bis Ningal seine Hand ausstreckte und das grüne Symbol sich auf seinem Handrücken niederließ. Der siebenzackige Stern, der zuvor den Boden geziert hatte, war nun unvermindert leuchtend in Ningals Haut eingebrannt. Ningal ging zu Sassun hinüber und tippte ihm auf die Stirn. Phil an seiner Stelle wäre zurückgewichen, doch der Anführer der Fangzähne erlaubte sich kein Anzeichen von Schwäche. Auch auf Sassuns Stirn erblühte nun der siebenzackige Stern.
    Phil war noch nicht mit dem Staunen fertig, da erkannte er, dass Ningal nun auch zu ihnen herüberkam. Zuerst tippte er Gumbo auf die Stirn. Phil hatte große Angst, doch wenn er sich wehrte, würde man ihn nur wieder zusammentreten. Nach Gumbo erblühte auch auf der Stirn der Leibwächter der siebenzackige Stern. Der bucklige Junge wich tatsächlich einen Schritt zurück, als Ningal zu ihm trat, doch der Schwarzmagier erwischte ihn ohne große Mühe. Der dreiäugige Krieger strich bereitwillig sein Haar zurück, damit Ningal den schmalen Bereich zwischen seinem dritten Auge und seinem Haaransatz berühren konnte.
    „Nein“, entfuhr es Phil wimmernd, als der Schwarzmagier sich über ihn beugte.
    „Keine Sorge“, flüsterte Ningal ihm zu. „Das wird dich nicht umbringen.“
    Als die Fingerspitzen seine Stirn berührten, hätte er am liebsten geschrien, so unangenehm fühlte es sich an. Geblendet versuchte er den fremden Mann zu treten, obwohl er wusste, dass es kindisch war. Selbst wenn er ihn traf, selbst wenn er sich lostrat, er war irgendwo in einer Höhle tief unter Ben Erai. Weder würde ihn hier jemand finden, noch würde er hier herausfinden, bevor seine Peiniger ihn wieder eingefangen hatten.
    Kraftlos sank er auf die Knie. Der erbarmungslose Griff des Dreiäugigen hinderte ihn daran, mit dem Gesicht auf dem staubigen Höhlenboden aufzuschlagen.
    Dann wurde er wohl ohnmächtig. Alles um ihn herum begann sich zu drehen, verschwand in einem Wirbel aus Farben. Der Stern auf seiner Stirn leuchtete so hell, dass es ihn blendete. Er schloss die Augen und fühlte sich so elend wie selten zuvor in seinem Leben. Als würde er durch die Gassen von Geldern taumeln, seit Tagen ohne einen Bissen zu essen. Das Gefühl in seinem Magen und das Schwanken der Welt passten sehr gut zu seinen Erinnerungen an diese Zeit.
    Doch als er wieder festen Boden unter den Knien spürte und die Augen öffnete, blendete ihn kein Licht mehr. Er musste träumen, denn er kniete in feinem, weißem Sand und über ihm spannte sich eine riesige Luftblase die sogar einen kleinen verwitterten Tempel mit einschloss.
    „Sind wir etwa auf dem Meeresboden?“, fragte der bucklige Junge. Bis zu dieser Frage war Phil noch gar nicht aufgefallen, dass auch die Fangzähne an diesem mysteriösen Ort erschienen waren. Die Sterne auf ihren Stirnen waren erloschen. Nur der Stern auf dem Handrücken von Ningal brannte noch gleißend grün.
    Die Leibwächter sahen sich ängstlich um, der bucklige Junge hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Nur der Dreiäugige und Sassun waren vollkommen unbeeindruckt.
    „Das ist doch offensichtlich“, antwortete der Anführer der Fangzähne und verschränkte die Arme vor seiner Brust.
    Ningal streckte die Hand mit dem leuchtenden Stern vor sich aus. Das Symbol löste sich von seiner Haut und begann wieder zu rotieren, nur dass er dieses Mal größer und größer wurde. „In diesem Tempel befindet sich die Quelle von Adanos‘ Macht. Jetzt müssen wir nur noch darauf warten, dass der Stern des Zirkels seine Arbeit tut und das Meer von seiner Energiequelle trennt, damit der Schutz der Klaue in sich zusammen fällt!“
    Der Stern, zu alter Größe angeschwollen, legte sich auf den trockenen Meeresboden. Und genau in dem Moment, da er den Sand berührte, brodelte es in dem Meer über ihren Köpfen.
    Phil fand es durch die Blase schwer zu erkennen, doch das Meer schien in Wallung geraten zu sein. Die Blase wogte in den neu aufkommenden Strömungen, Fischschwärme wurden hinweggetragen. Und dann brach das Meer auf und gab den Blick frei auf eine weit, weit entfernte, sturmgraue Wolkendecke. Phil stand vor Verblüffung der Mund offen. Das Meer war einfach gespalten worden. Um sie herum hatte sich ein kreisrunder Schacht im Meer aufgetan, dessen Durchmesser nur knapp den der Luftblase zu übersteigen schien.
    „Das Meer ist von seinem Tempel getrennt. Jetzt wird sich nichts mehr der Klaue in den Weg stellen“, rief Ningal und ließ sich im Schneidersitz auf einem Zacken des Sterns nieder. Sassun und die Fangzähne setzten sich in Bewegung. Der Dreiäugige zerrte an Phil, den die Erkenntnis mit Wucht traf, dass er nun doch innerhalb weniger Augenblicke sterben würde. Sie machten sich bereit, das Ritual zu wiederholen. Und hier auf dem Meeresgrund würde ihm erst recht niemand zu Hilfe kommen.

    „Dieser Saubraten, wenn ich den in die Finger kriege, stopf ich ihm ein neues Auge in seine leere Höhle, nur damit ich ihm dann beide herauskratzen kann!“, polterte Greg und fuchtelte drohend mit seiner Faust durch die Luft. Die Geste galt der ausgeweideten Jungfrau, deren Verfolgung sie aufgenommen hatten, sobald sie die geheime Botschaft der zusammengesetzten Schatzkarte entschlüsselt hatten. Dank dem stürmischen Wind und der hervorragenden Takelage der Esmeralda waren sie bis auf wenige Schiffslängen an das Schiff ihres Erzrivalen herangerückt.
    „Wer hätte auch ahnen können, dass der olle Blackbeard den Wassermagier dafür braucht“, grummelte Skip und kippte den Rest seines Grogs hinunter. Die ganze Mannschaft war hinter Greg an Deck versammelt.
    „Ich hab das alles immer noch nicht ganz verstanden“, gab Bill kopfschüttelnd zu. „Wieso verfolgen wir schon wieder Blackbeard, wenn unser Käpt’n doch nun die ganze Karte hat?“
    „Du bist auch so blöd, dass die Fische dein Hirn nicht anrühren würd’n“, erwiderte Skip und schleuderte seine leere Flasche auf die aufgewühlte See hinaus.
    „Die Karte hat nicht nur Koordinaten verraten, sondern auch etwas darüber, wie der Schatz der Meere geschützt ist“, erklärte Henry ungeduldig. „Nur ein Diener des Gottes des Gleichgewichts soll in der Lage sein, ihn zu finden. Blackbeard muss sich den Rest des Codes zusammengereimt haben, irgendwie ist er auf die Lösung gekommen, ohne Gregs Hälfte zu kennen. Darum hat er in allen Häfen, die er im vergangenen Jahr angefahren hat, nach einem Wassermagier gesucht.“
    „Ach so. Dann ist dieser benebelte Typ in dem blauen Schlafanzug dazu in der Lage, aber wir nicht?“, wunderte sich Bill. „So intelligent sah der gar nicht aus…“
    „Heilige Mutter!“, stieß Skip aus und stolperte rückwärts gegen Bill und Bones.
    Bill wollte sich gerade in ruppiger Piratenmanier beschweren, als ihn dasselbe Entsetzen packte. Mit einem Gluckern und Brodeln bildete sich direkt neben der ausgeweideten Jungfrau ein Strudel, der rasch größer wurde. Schon erreichten die hohen Wellen den Rumpf der Esmeralda. Doch zu ihrem Schreck blieb es nicht bei einem Strudel: Mitten im Meer tat sich ein riesiges Loch auf. Noch ehe auch nur einer von ihnen dieses erschreckende Bild verdaut hatte, stürzte die Esmeralda auch schon geradewegs in die Tiefe. Der Fallwind knatterte in den Segeln, doch niemand hörte Francis‘ Befehl sie einzuholen. Die Esmeralda kippte langsam nach vorn, weil ein Teil des Ruders noch in der steilen Wand aus Meerwasser schlingerte.
    Unter ihnen erging es der ausgeweideten Jungfrau kaum besser. Ein Teil der Takelage riss sich los und flog ihnen entgegen. Owen zog gerade noch rechtzeitig den Kopf von der Reling zurück, um nicht von einem Eisenhaken geköpft zu werden.
    „Du Ausgeburt einer entzündeten Brustwarze!“, schrie Greg und setzte einen Fuß auf die Reling seines Schiffs. „Was hast du nur wieder angerichtet!“ Und seinen Säbel ziehend sprang Greg von der Esmeralda auf das Achterdeck der Jungfrau. „Ich werde jetzt endlich Luft an deine eitrigen Mandeln lassen, und wenn es das letzte ist, was ich in dieser Welt noch tu!“
    Blackbeards Mannschaft stand da wie angewurzelt, doch ihr Kapitän zog seinerseits seinen Säbel. „Nur zu, dich mach ich auch in dem einen Augenblick noch zu Fischfutter, der uns bleibt, bevor wir auf dem Meeresboden zerschellen!“ Klirrend trafen ihre Klingen aufeinander.
    Da fuhr ein heftiger Ruck erst durch die Jungfrau, dann durch die Esmeralda. Etwas hatte ihren Sturz abgefangen.
    Bill konnte zwischen den Schiffen hindurch sehen, dass sie auf einer Art Seifenblase gelandet waren. Doch da platzte sie auch schon mit einem ohrenbetäubenden Knall und die Schiffe krachten auf den Meeresboden.

    Sieben Wächter umkreisten sie, sahen mit ihren gefühllosen blauen Augen auf sie herab.
    „Gegen so viele Wächter haben wir keine Chance!“, stieß Horetius hervor. „Ich habe uns…“
    „Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren!“, ermahnte Navius ihn, obwohl es ihm selbst schwer fand, die Hoffnung nicht aufzugeben. Die Wächter legten ihre langen Flügel eng an den Körper, neigten sich nach vorn und schossen im Sturzflug auf sie herunter.
    Navius spürte, wie Horetius ihn am Arm packte. Im nächsten Moment befanden sie sich am Rande des Ruinenfelds. Navius hatte gerade verstanden, dass Horetius sie wegteleportiert hatte, als in der Ferne ein Teil des Ruinenfelds unter den Attacken der Wächter explodierte.
    „Sie werden uns sofort finden. Mit den Augen des Wächters kann man vieles sehen, was den Menschen verborgen bleibt“, erklärte er knapp.
    „Wir müssen irgendwie seine Kontrolle über Cecilia brechen. Wenn wir sie wieder auf unsere Seite bekommen, werden auch die Wächter wieder gegen Rhademes kämpfen“, überlegte Horetius.
    „Bisher haben wir aber noch keine Möglichkeit gefunden, diesen Kontrollzauber zu brechen. Nur Cecilia ist es gelungen, Shiva aus der Kontrolle zu befreien“, erinnerte Navius ihn. „Und wir können wohl schlecht Cecilias Mutter herholen.“
    „Ich kann zwar in die Zukunft, nicht aber in die Vergangenheit reisen“, stimmte Horetius zu. „Was passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern.“
    „Wir müssen Cecilia und die Wächter also links liegenlassen und uns Rhademes vorknöpfen.“
    „Das halte ich für nicht durchführbar. Schon als Rhademes allein war, sind wir nicht an ihn herangekommen. Die Fähigkeiten eines Schneemagiers sind wahrlich verblüffend. Jetzt, wo die Wächter ihn schützen, ist es erst recht unmöglich, ihn zu erledigen.“
    Navius seufzte. Die Wächter schienen sie entdeckt zu haben. Langsam glitten sie über den Himmel zu ihnen herüber. „Hast du einen besseren Vorschlag?“
    „Vielleicht bringt es etwas, wenn wir Cecilia in Adanos‘ Stützpfeiler tauchen.“
    „Das kann nicht dein Ernst sein“, entgegnete Navius perplex. „Das ist reine Spekulation. Und der Stützpfeiler darf unter keinen Umständen beschädigt werden! Dass Rhademes und Garox den Tempel des Meeres betreten haben, ist ein Skandal. Wir können ihn unmöglich schon wieder so einer Gefahr aussetzen. Wenn er in Mitleidenschaft gezogen wird, riskieren wir die Existenz der Sphäre Adanos‘ und allem, was sich in ihr befindet! Außerdem hat es bei Rhademes doch auch nicht funktioniert. Er ist nach wie vor von der Macht Beliars durchdrungen, obwohl er in den Stützpfeiler eingetaucht ist und sich mit der Macht von Adanos getränkt hat.“ Horetius packte ihn wieder am Arm und teleportierte sie ans andere Ende von Al Shedim.
    „Ich glaube, Rhademes und Cecilia sind zwei Phänomene, die man nicht miteinander vergleichen kann“, beeilte sich Horetius zu erklären. „Rhademes ist selbst ein Erwählter Beliars und handelt aus freien Stücken. Aber Cecilia ist eine Erwählte Adanos‘ und in ihr muss immer noch etwas von ihrem wahren Ich stecken. Wahrscheinlich kämpft sie ununterbrochen gegen den Kontrollzauber an, kann ihn aber nicht abschütteln. Der Stützpfeiler würde ihr die Macht geben, die sie braucht, um den Bann zu brechen.“ Horetius wich Navius‘ skeptischem Blick aus. „Gewiss, es ist reine Spekulation“, gab er zu. „Aber eine bessere Chance haben wir nicht. Auch wenn wir den Stützpfeiler in Mitleidenschaft ziehen, Rhademes muss aufgehalten…“ Horetius erschauderte und taumelte zur Seite.
    Navius spürte selbst, was in Horetius vorging. Etwas erschütterte sein Innerstes und brachte es aus dem Gleichgewicht. Es war ein Gefühl, das instinktiv Angst in ihm aufsteigen ließ. Zunächst konnte er das Gefühl nicht einordnen, doch als er einen furchtsamen Blick mit Horetius tauschte, war ihm sofort klar, woher diese magische Erschütterung stammte. Das Meer hatte seine Kraft verloren. Und alle Magier in Adanos‘ Diensten spürten es.
    Horetius verschwand ohne eine Erklärung, tauchte aber nur wenige Augenblicke später wieder auf. Abermals näherten sich die Wächter ihrer Position.
    „Der Tempel des Meeres, es ist furchtbar“, keuchte Horetius. „Im Meer hat sich ein Loch aufgetan, die Seifenblase ist geplatzt, alles war voller Menschen. Der Tempel liegt gegenwärtig unter freiem Himmel!“
    Navius hatte mit etwas ähnlichem gerechnet, doch die Worte schockten ihn trotzdem. „Bring mich dorthin. Ich muss das Wasser einfrieren, bevor es über dem Tempel zusammenschlägt. Ohne die Blase würde er von dem Druck zermalmt werden!“ Er packte Horetius am Arm, damit der ihn fortschickte. Doch Horetius sah ihm nur tief in die Augen. Navius verstand, was er ihm sagen wollte. „Und wenn du mich hingebracht hast, bringst du Cecilia hinterher. Wir müssen es versuchen.“

    Navius fand sich unter granitfarbenen Wolken über einer sturmgepeitschten See wieder, in der wie Horetius berichtet hatte, ein riesiges Loch klaffte, an dessen Grund er winzig klein den Tempel des Meeres erkennen konnte. Ohne mit seinen Wächterflügeln zu schlagen ließ er sich einfach in das Loch fallen und konzentrierte sich ganz darauf, Energie in seinen Händen anzustauen. Er tauchte ein in den so ohrenbetäubend rauschenden Tunnel, die feuchte Luft schlug ihm ins Gesicht und Tröpfchen bildeten sich an seinem ganzen Körper.
    Auf halber Höhe des Schachtes breitete er seine Flügel aus und bremste so seinen Fall ab. Dann entfesselte er Shivas Magie und donnerte Eis in alle Richtungen. Das Meerwasser gefror augenblicklich, doch die nicht gefrorenen Teile brachen sich an den Eisbrocken und spritzten in den Tunnel, während die Eisberge langsam in das Loch zu kippen drohten, da sie keinen Halt fand. Er beeilte sich noch mehr einzufrieren, wirbelte um seine eigene Achse, während er Welle um Welle gefror. Seine Arme brannten von der Anstrengung, seine Sinne fixierte er ganz darauf, Wasser auszumachen, dass in den Schacht spritzte.
    Schließlich schlug hoch oben eine letzte Welle über den Rand und er gefror auch sie mit einem letzten Schuss megalithischer Magie. Das Rauschen des Meeres war zu einem dumpfen Dröhnen verkommen. Das Eis knackte von Zeit zu Zeit beunruhigend. Er konnte unmöglich sagen, wie lange es halten würde. Doch er musste sich auch Gedanken darüber machen, was er mit Cecilia anstellen sollte, wenn Horetius mit ihr auftauchte, was jeden Moment so weit sein würde.
    Da erschien etwas Unerwartetes über dem Schacht. Blitzschnell sauste diese für seine Wächteraugen rote Aura den Schacht herunter. In Navius schrillten sämtliche Urinstinkte, die den Wächtern in die Wiege gelegt worden waren. Dieses Ding durfte unter keinen Umständen den Tempel erreichen. Die Aura war von einer so verdichteten Bösartigkeit, dass es nirgendwo auf dem Morgrad existieren durfte.
    Mit den Reflexen eines Wächters fing er die rote Aura mitten im Fall gen Meeresboden. Navius war erstaunt, als er ein Schwert in Händen hielt. Es vibrierte heftig in seiner Hand und ein brennender Schmerz kroch den Arm hinauf, mit dem er die Waffe gepackt hatte. Er wusste sofort, dass es sich hierbei nur um das eine Schwert handeln konnte, dass Rhademes vergeblich erstrebt hatte. Er hatte keine Ahnung, wie die Klaue Beliars hierhergekommen war, doch er wusste, dass er sie auf keinen Fall zum Tempel kommen lassen durfte. Einen Zusammenprall mit diesem Schwert überstand der Stützpfeiler auf gar keinen Fall. Die Klaue rüttelte immer mehr an seinem Griff, Blitze zuckten aus der Schneide und traktierten seinen Körper. Genau wie er wusste, dass er die Klaue nicht passieren lassen durfte, schien die Klaue zu wissen, dass sie nicht in seinen Besitz fallen durfte.
    Navius nahm seine zweite Hand zu Hilfe, versuchte das Schwert still zu halten, doch die Blitze, die aus ihm hervorbrachen, wurden immer stärker, versengten seine blaue Haut und schlugen krachend in das Eis ein, das das Meer stützte.
    Die Klaue lud sich spratzelnd auf, Blitze umzuckten die Klinge auf ganzer Länge. Navius sah den Angriff kommen, konnte aber nichts gegen ihn ausrichten. Die Klaue entlud sich mitten in sein Gesicht und obwohl es in ihm keinen anderen Gedanken gab als den, dass er auf keinen Fall loslassen durfte, lockerte sich sein Griff für einen kurzen Moment. Einen Moment, der der Klaue reichte, sich loszureißen.
    Sie wirbelte davon und wurde direkt von einer anderen Hand aufgefangen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich so schnell vermissen würdest“, frohlockte Garox, direkt unter ihm schwebend, die Klaue in der Hand. Gegen die Hand des Schwarzmagiers schien die Klaue nicht das Geringste einzuwenden zu haben.

    Als Horetius wieder auf dem Tempeldach von Al Shedim landete, spürte er sofort, dass nun auch der letzte Fokus das Ruinenfeld erreicht hatte. Er musste ihn fortschaffen, ehe Rhademes ihn bemerkte und auch noch das Irrlicht erweckte.
    Als er sich zu dem Fokus teleportierte, war er von den Wassermagiern umringt.
    „Horetius, was ist passiert?“, rief Nefarius sofort. „Wir haben eine Erschütterung tief in unserem Inneren gespürt. Ist alles in Ordnung?“
    „Kann man so nicht sagen“, erwiderte Horetius und fasste einen Wassermagier ins Auge, der beim letzten Mal noch nicht da gewesen war. „Du warst eben noch nicht da.“
    „Meine Brüder waren gerade dabei, mich über die Situation ins Bild zu setzen. Mein Name ist Vatras“, antwortete der Magier mit tragender Stimme.
    „Du hast den letzten Fokus bei dir. Das ist nicht gut“, erklärte Horetius knapp.
    „Ich dachte, wir brauchen die Foki?“, fragte der Feuermagier verwundert.
    „Der Feind hat Macht über die Wächter erlangt. Wir müssen den letzten Fokus von dem Irrlicht fernhalten, bevor auch der letzte Megalith noch erwacht!“ Horetius stutzte, als ihm eine Idee kam. „Ihr wolltet doch helfen, oder?“
    „Es wäre uns eine Ehre“, antwortete Nefarius und die anderen nickten.
    Horetius fasste den Feuermagier ins Auge, den Innosmagier. Es ging ihm gegen den Strich, dass er auf die Hilfe solcher Menschen angewiesen war, doch er hatte keine Zeit für Diskussionen. Wenn die Wassermagier ihm vertrauten, musste er wohl ihnen vertrauen. „Ihr kennt die Legende um den Tempel des Meeres?“
    „Natürlich“, antwortete der Feuermagier als erstes, gefolgt von den Wassermagiern.
    „Es gibt ihn. In ihm befindet sich der Stützpfeiler aller Welten, wie es die Legende erzählt.“ Er gab ihnen kurz Zeit, aufgeregt miteinander zu tuscheln. Zufrieden hörte er, dass sie die Tragweite seiner Worte erfassten. „Es sind Menschen zu dem Tempel vorgedrungen. Wir wissen noch nicht, wie sie dort hingekommen sind oder was sie vorhaben, aber ihr müsst den Tempel verteidigen. Der Schneemagier und ich können uns nicht auch noch um dieses Problem kümmern. Ihr dürft nur ihn mit der Schneemagierin in den Tempel lassen.“
    „Bring uns hin“, forderte Nefarius ihn auf.
    „Wir werden den Tempel mit unserem Leben beschützen“, rief der Feuermagier. Horetius fasste ihn geringschätzig ins Auge. Doch er ermahnte sich, keine Zeit mehr zu verlieren. Er wandte sich noch einmal an Vatras: „Denk daran: Auf keinen Fall darfst du den Fokus verlieren!“

    Nachdem er die Magier zum Tempel übergesetzt hatte, landete er wieder auf dem Tempeldach und musste einen Moment verschnaufen. Er hatte noch nie so viele Menschen über so weite Strecken transportiert und er musste sich eingestehen, dass es ihn an den Rand seiner Belastungsgrenze brachte. Es kam ihm sogar so vor, als würden seine Teleportationen inzwischen länger dauern als üblich.
    „Du bist ja doch noch hier.“ Rhademes landete neben ihm. „Wo hast du den ehemaligen Schneemagier gelassen? Shiva sehnt sich nach ihrem Körper.“
    „Das wirst du selbst herausfinden müssen“, erwiderte Horetius und fasste Cecilia ins Auge, die hoch über den Ruinen schwebte und von ihren Kindern umschwirrt wurde. Aus dieser Entfernung wirkte sie wie die Sonne eines kleinen Planetensystems. Nur er war in der Lage, sie aus der Mitte ihrer Kinder zu reißen.
    „Wie kommt es, dass ihr plötzlich gemeinsame Sache macht?“, fragte sich Rhademes laut. „Nutzt du ihn aus, wie ich es damals tat? Um deinen Rat der Wächter und das absolute Gleichgewicht zu erreichen?“
    „Pah“, machte Horetius. „Die Wächter haben mich zutiefst enttäuscht. Sie mögen dem Gleichgewicht treu ergeben sein, sind aber nichts weiter als Diener ihrer Herrn. Ich muss dir dankbar sein, dass du mir die Augen geöffnet hast. Es stimmt, ich strebe immer noch nach dem absoluten Gleichgewicht. Doch inzwischen bin ich eher der Meinung, dass die Wächter zerstört werden sollten. Niemand darf über so eine Macht verfügen. Wozu das führt, sieht man ja.“
    Und mit diesen Worten verschwand er vom Dach und tauchte direkt vor Cecilia wieder auf. Die Schneemagierin war zu überrascht um sich gegen seine Hand zu wehren, die sich fest um ihren linken Arm schloss. Er raubte sie aus der Mitte ihrer Kinder, zog sie mit sich hinein in den Farbenwirbel. Und dieses Mal war er sich ganz sicher: Die Zeit, die sie zwischen den Dimensionen verbrachten, war um einige Sekunden länger. Sekunden, die Cecilia nutzte, um mit ihrer rechten Hand auszuholen, auf der wieder ein Symbol leuchtete. Horetius packte das Grauen.
    Es war ein kaltes Gefühl, als sie ihm ihre Hand mitten in die Brust rammte. Ohne eine Miene zu verziehen zerrte sie sein schlagendes Herz aus ihm heraus, bis die Adern eine nach der anderen rissen. Sie schlugen auf dem Platz vor dem Tempel des Meeres auf. Das letzte, was er sah, war ihre blutüberströmte Hand, mit der sie sein Herz zerquetschte. Er hörte noch den Lärm der Schlacht um sich herum. Dachte verbittert an all die Ziele, die er nicht erreicht hatte. All die Kämpfe, die er umsonst geschlagen hatte. Und bemitleidete sich selbst, wie er allein und von aller Welt ignoriert seinen letzten Atemzug ausstieß.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Sein Leben war lang und entbehrungsreich, letztendlich aber ohne jeden Sinn gewesen. Er hatte sich stets bemüht, die Welt zu einem besseren, zu einem friedlicheren Ort zu machen, den er am Ende seiner Tage mit gutem Gewissen zurücklassen konnte. Doch weder hatte er den Untergang seines eigenen Volkes verhindern können, noch hatte er die Zukunft vor einem noch schlimmeren Schicksal bewahrt. Und zu guter Letzt konnte er sich nicht einmal sicher sein, dass die Welt überhaupt noch wesentlich länger existierte als er selbst es getan hatte. Er hatte gelebt, mit Menschen geredet und gestritten, wenn es sein musste mit seinem Klingenstab getötet, den Selbstsüchtigen dieser Welt erbarmungslos die Stirn geboten und nie mehr als das Gleichgewicht im Sinn gehabt. Seinen Traum von einer Welt im absoluten Gleichgewicht hatte er nicht erreicht. Und niemand würde morgen noch von ihm reden. Die Spuren, die er auf dem Morgrad hinterlassen hatte, waren so flüchtig wie das Leben eines Moleratjungen in der Gegenwart eines ausgehungerten Schattenläufers. Der Kreislauf des Lebens hatte ihn getilgt, ehe er etwas hinterlassen konnte, was dieser Kreislauf nicht zu tilgen vermochte. Und je bitterer ihm dieser Umstand bewusst wurde, desto klarer wurde ihm, dass der Schneemagier, den er für seine Ideale so hasste, zumindest in einem Punkt recht gehabt hatte. Du willst alles an dich reißen und merkst es nicht einmal, oder? Es gab so viele Leben zu bedauern, doch in diesem Moment beschäftigte ihn nur sein eigenes. Musste er dieses Ende wirklich akzeptieren wie jeder andere Mensch, der dem Morgrad nichts hinterließ? Plötzlich wünschte er sich, in seinem Leben einen Baum gepflanzt zu haben, um der Welt wenigstens ihn zu hinterlassen.
    „Dein Leben war alles andere als bedeutungslos.“
    Es war vollkommen bedeutungslos. Ich habe nichts bewirkt.
    „Du hast deine Ideale weitergegeben. Und dafür gesorgt, dass Menschen deinen Platz einnehmen und für deine Sache weiterkämpfen.“
    Niemand strebt das absolute Gleichgewicht an.
    „Hast du es denn angestrebt?“
    Es war alles, was ich in meinem Leben je erreichen wollte. Die Megalithen sind nicht die Lösung. Doch die Welt braucht einen unfehlbaren Rat, der in jeder Angelegenheit richtig entscheidet.
    „Und wer sollte in solch einem Rat sitzen? Die Götter etwa?“
    Den Göttern mangelt es an Harmonie. Innos und Beliar werden nie an einem Strang ziehen. Und Adanos ist zu machtlos, um zwischen ihnen zu vermitteln. Seine Machtlosigkeit auszugleichen ist das Ziel des Rats. Er soll zwischen den Anhängern aller Götter vermitteln und alle sollen seine Entscheidungen respektieren können. Damit die Menschheit nie wieder mit einer Flut für das Vergehen bestraft wird, von einem der mächtigen Götter verführt worden zu sein.
    „Du suchst also Wesen, die noch vollkommener sind als Götter.“
    Es können zumindest keine Menschen sein. Denn sie sind nicht beständig genug. Selbst bei mir hätte mindestens eine Waagschale angeschlagen. Ich musste sogar erst sterben, um dies begreifen zu können.
    „Dann sollten vielleicht die Toten deinen Rat bevölkern?“
    Die Toten haben Fehler gemacht. Mein Volk ist das beste Beispiel dafür. Und nicht alle werden im Tod Weisheit erlangen. Ich fürchte, es wäre eine Last, auch die Fehler der Vergangenheit anzugehen, um die in der Gegenwart um der Zukunft willen zu tilgen.
    „Ist es dann nicht offensichtlich?“
    Es gibt niemanden, der für einen allmächtigen Rat in Frage kommt. Ich bin mein ganzes Leben einer Fantasie hinterhergerannt, die ich nie würde finden können. Selbst wenn ich unsterblich gewesen wäre wie ein Schneemagier, hätte ich beim Verlassen dieser Welt mit denselben leeren Händen dagestanden. Weil ich nie hinterfragt habe, ob mein Ziel überhaupt erreichbar ist. Es gibt also richtige Ziele, die nur deshalb die falschen sind, weil sie nicht realisiert werden können.
    Mein Leben war so sinnlos. Ich habe es verschwendet. Mit einer falschen Idee und fruchtlosen Bemühungen.
    „Ich habe es dir schon einmal gesagt: Du hast deine Ideale an Menschen weitergegeben, die an deiner Stelle weitermachen. Manchmal ist der Weg das Ziel. Du hast in deinem Bestreben das Richtige getan. Und das an deine Nachwelt weitergegeben, was notwendig war.“
    Ich weiß nicht, ob mich das zufrieden stellen kann.
    „Dich zeichnet dein unantastbarer Glaube an deinen Gott aus. Selbst als du glaubtest, er habe dein Volk vernichtet, hast du zu ihm gehalten. So etwas hinterlässt Spuren, auch wenn man sie nicht auf den ersten Blick erkennen kann.“
    Was soll das heißen… als du glaubtest? Adanos ließ die Flut kommen und spülte die Sünder hinfort. So steht es in jeder heiligen Schrift. Ich war dabei. Ich habe das überflutete Varant mit meinen eigenen Augen gesehen!“
    „In der heiligen Schrift steht das, was die Menschen glauben. Du hast erkannt, dass ich nicht frei bin von Fehlern. Und ich log, damit die Menschen sich auf den Wiederaufbau konzentrieren. Es gab eine Zeit, da habe ich mich auch für unfehlbar gehalten. Ich habe gerichtet und gewaltet, wie es mir beliebte, und fand gut, was ich tat. Doch eines Tages wurde mein Zorn geweckt und ich verschlang das altehrwürdige Volk von Jharkendar. Im Affekt. Die Waagschalen… Auch bei mir hätte wenigstens eine der Waagschalen angeschlagen. Ich musste einsehen, dass ich nicht die Macht haben sollte, solche Dinge zu tun. Und traf Vorkehrungen, damit ich nie wieder imstande dazu sein würde.“
    Aber wer war dann für die Flut in Varant verantwortlich?
    „Beliar sah nicht tatenlos zu, wie Innos auf dem Morgrad Fuß fasste, weißt du? Du hast recht, wenn du sagst, dass ihr Menschen unter den Fehlern der Götter zu Leiden habt. So wie Innos in Varant seinen Anhängern befahl, ein Tor für ihn zu bauen, so schuf Beliar für seine Anhänger die vier Beschwörungstempel. Als sie so plötzlich aus dem Meer empor stiegen, lösten sie eine Welle von unvorstellbarer Größe aus. Beliar hatte dies nicht beabsichtigt, aber er frohlockte, als er sah, was er angerichtet hatte.“
    Warum hast du mir das verschwiegen? Ich hätte ein Ziel gehabt, ich hätte mich an ihm rächen können, Vergeltung für mein Volk geübt!
    „Und genau deshalb habe ich gelogen. Es mag egoistisch sein, den Menschen nicht das zu geben, wonach es sie giert, und gleichzeitig mir selbst das zuzugestehen, was ich mir wünsche, aber ich glaubte, auch im Sinne der Menschen zu handeln, wenn ich ihnen kein Feindbild gab, an dem sie sich rächen konnten. Ich nahm die Flut auf meine Kappe, damit sie die Zeit damit verbrachten, die Wüste neu zu besiedeln und sich zu vermehren. Sie sollten nicht auch noch in diesen sinnlosen Krieg meiner Brüder hineingezogen werden. Indem ich log, gab ich ihnen ein friedliches Leben. Frei von Rachefeldzügen, Verlusten und Untergang.“
    Du hättest wenigstens zu mir, deinem treuesten Diener, ehrlich sein müssen.
    „Damit du im Kampf gegen Beliar gefallen wärst? Dann hättest du dein Leben zurecht bedauern können, denn dann hättest du der Welt wirklich nichts hinterlassen.“
    Und so habe ich wenigstens meine Ideale hinterlassen, willst du das sagen? Dann hätte ich lieber die Gelegenheit bekommen, den Krieg der Götter ein für allemal zu beenden.
    „Du vergisst, dass es bei einem guten Ziel auch darauf ankommt, ob es überhaupt erreichbar ist. Außerdem solltest du dein Leben nicht nur auf das reduzieren, was du hinterlassen hast. Deine Ideen werden in den Köpfen derjenigen Menschen weiterleben, denen du deine Sicht dargelegt hast, ja, aber wie sollten sie diese Ideen überhaupt umsetzen, wenn du nicht gewesen wärst? Ich bin wie bereits erwähnt schon seit langer, langer Zeit nicht mehr in der Lage, die Geschicke des Morgrads zu lenken. Du aber hast dafür gesorgt, dass die Zerstörung des Stützpfeilers verhindert werden kann. Es liegt nun in der Hand des Schneemagiers, ob die Welt fortbesteht. Doch ohne deine Hilfe wäre sie untergegangen, so viel ist sicher. Du hast nicht nur getan, worum ich dich bat, indem du dich dem Volk von Varant ein zweites Mal annahmst. Du hast dich einer Bedrohung gestellt, die nicht einmal ich kommen sah. Du hast womöglich alle Völker der Welt gerettet.“
    Als er ihm glaubte, verspürte er wahrhaft Erlösung. Und ging ein in sein Reich.

    Navius blieb nichts anderes übrig, als die Arme schützend über seinen Kopf zu halten, als Garox mit der Klaue ausholte. Das schwarze Schwert prallte von seinem fokusfarbenen Unterarm ab, schlug aber auch eine deutliche Kerbe in den gefühllosen Körper. Blaue Splitter flogen durch die Luft. Navius schlug mit den Flügeln und stieg wieder auf, um Abstand zu dem abtrünnigen Magier aufzubauen, doch Gorax folgte ihm mühelos. Navius‘ Wächteraugen entdeckten einen kleinen Dämon, der sich wie ein Parasit in den Nacken seines Verfolgers gekrallt hatte und offenbar einen Schwebezauber auf seinen Wirt sprach. Diese Erkenntnis ließ ihn einen Moment zu lange innehalten. Garox schwang die Klaue und ein Schauer Blitze schlug prasselnd in seinen Körper ein. Dieser magische Angriff setzte ihm schon deutlich mehr zu als der Hieb zuvor. Die Einschlagspunkte kribbelten und brannten. Doch noch viel besorgniserregender waren die Querschläger, die Löcher in die Eiswand schlugen. Hie und da sprudelte ein Strahl Wasser in den Schacht. Navius ahnte, dass das ohnehin überlastete Eis solchen Angriffen nicht lange standhalten würde.
    „Garox, du ahnst nicht, was du da tust!“, brüllte er und das Echo wiederholte seine Worte vielstimmig. „Wenn das Eis jetzt bricht, wird der Tempel, der Stützpfeiler von dem Meerwasser zerquetscht! Dann wird alles auseinanderfallen!“
    „Du musst dich mir nur kampflos ergeben, damit ich ordentlich zielen kann“, antwortete Garox höhnisch. Etwas Irres war in seinen Blick getreten, seit er die Klaue in Händen hielt. „Wenn ich dich erstmal getötet habe, kann ich den Tempel gerne sich selbst überlassen. Dann habe ich alles erreicht, was ich mir erhofft habe!“
    „So einfach ist es nicht!“, widersprach Navius. „Der Eisschacht wird nicht lange halten. Die magische Blase, die den Tempel seit Urzeiten beschützt, wurde zerstörte. Bevor sie nicht wiederhergestellt wurde, kann ich unmöglich abtreten!“
    „Dann musst du wohl zusammen mit der Welt untergehen!“ Garox schwang die mächtige Waffe erneut. Blitze sausten in alle Richtungen. Navius warf sich im Sturzflug auf die Blitze, wollte so viele von ihnen wie nur möglich abfangen, doch er war nicht so schnell wie Yhwach. Nur zwei Blitze schlugen in ihn ein, ehe die anderen krachend in das Eis fuhren.
    Navius sammelte sich und feuerte einen Schwall Eis auf Garox ab. Wie schon Rhademes vor ihm wurde auch Garox in einen riesigen Eisblock eingefroren, der den ganzen Schacht versperrte. Navius hatte gerade noch Zeit, sich zu fragen, wie er denn jetzt zum Tempel gelangen sollte, als auch schon Blitze aus der Schneide des verfluchten Schwertes und aus dem Eis heraustraten. Krachend barst Garox‘ Gefängnis und mit ihm Teile der Schachtmauer.
    Navius feuerte Shivas Magie auf alle größeren Löcher, die er finden konnte, doch das grollende Knirschen, das den Schacht erfüllte, wollte kein Ende nehmen.
    „Navius, du bist gegangen, ohne mir dazulassen, worum ich dich gebeten habe!“
    Navius‘ Kopf ruckte hoch. Rhademes stieg, von seinen sieben Wächtern und Shiva umschwirrt, den Schacht hinab.
    „Wie konntest du so schnell…!“
    „Die Wächter sind recht flink, das solltest du doch am besten wissen“, erklärte Rhademes und breitete seine Arme aus. „Ach nein… Du warst ja stets zu feige, um die Megalithen zu ihrer wahren Macht zu verhelfen.“
    „Bevor du aufgetaucht bist, gab es für einen Wahrer des Gleichgewichts auch keinen Grund, nach solch einer Macht zu streben!“
    „Mit dir habe ich auch noch eine Rechnung offen!“ Garox stürzte sich mit der Klaue auf Rhademes. Blitze züngelten um das schwarze Schwert. Augenblicklich trat Yhwach vor seinen Herrn und schlug Garox nieder. Mit beachtlicher Geschwindigkeit sauste der Schwarzmagier gen Meeresboden. Noch während Navius ihm nachsah, spürte er einen Stoß zwischen die Schulterblätter.

    „Verlasst auf keinen Fall eure Positionen!“, herrschte Ningal die Fangzähne an. Um den strahlenden Stern herum war das Chaos ausgebrochen. Zwei Piratenschiffe waren direkt neben ihnen aus dem Himmel gefallen. Und kaum dass die Mannschaften den Schock verdaut hatten, waren sie auch schon übereinander hergefallen. Überall spien sich Piraten Flüche an den Kopf und ließen die Klingen tanzen. „Es kann nicht mehr lange dauern. Die Klaue, sie muss jeden Augenblick hier sein!“
    „Das ist leicht gesagt“, klagte Gumbo.
    „Wenn wir uns nicht wehren, werden uns diese Wahnsinnigen früher oder später aufschlitzen“, murrte der Dreiäugige.
    Ningal tropfte der Schweiß ins Auge. Ihr Menschenopfer lag immer noch inmitten des Sterns, starr vor Angst und geschüttelt von Heulkrämpfen, aber ohne Zweifel lebendig. Wo blieb nur die Klinge, die sein lächerliches Leben beenden sollte?
    In diesem Moment entdeckte er den ersten Wassermagier in der Menge, dann einen zweiten. Sie schienen auf den Tempel zuzustreben. Waren auch sie auf den Schiffen gewesen? Wie sonst sollten sie hergekommen sein.
    Wie um das Chaos perfekt zu machen, donnerte eine menschliche Gestalt vom Himmel, die irgendwo in der Menge der kämpfenden Piraten aufschlug, gleich gefolgt von einer zweiten. Nun war er es selbst, der mit einem Sprung nach hinten die Formation verließ – Gerade noch rechtzeitig, um nicht von dem blau schimmernden Koloss zerquetscht zu werden.
    „Was ist jetzt mit der Beschwörung?“, rief Sassun ungehalten. „Das hier entspricht nicht unserer Abmachung!“ Der Anführer der Fangzähne war schon bei ihm, zog ihn am Kragen wieder auf die Beine und hielt sein Gesicht dicht vor sein eigenes. „Wir sind die wahren Assassinen. Mit uns erlaubt man sich keine faulen Tricks, Schwarzmagier!“

    Als die Staubwolke sich legte, versuchte Navius vergeblich, sich einen Überblick zu verschaffen. Eine Unzahl von Menschen bevölkerte den heiligen Platz vor dem Tempel des Meeres. Zwei Schiffe lagen brach in dem weißen Sand. Unter ihm leuchteten grüne Linien. Wassermagier huschten zwischen den Kämpfenden hindurch, offenbar auf dem Weg zum Tempel. Da fiel ihm auf, wie in seinem Augenwinkel eine Farbe verschwand. Und als er seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenkte, wurde er Zeuge einer grotesken Szene.
    Cecilia ragte mitten in dem Gewimmel auf und hob in aller Ruhe ihren rechten Arm, der offenbar rot vor Blut war, und zerquetschte ein Herz. Das Blut, das aus dem Herz gepresst wurde, spritzte über einen reglosen Körper, der ihr zu Füßen lag. Horetius.
    Tief in seinem Inneren schlingerte etwas. Doch sein Wächterinstinkt blieb ruhig, verurteilte die emotionale Anteilnahme an dem Tod eines Menschen, den er gerade erst kennengelernt hatte und der ihm meist feindlich gegenüber gestanden hatte. Dass er seinen letzten Verbündeten verloren hatte, war ein Rückschlag, doch er hatte getan, wozu er ihn gebraucht hatte. Cecilia war hier. Und wenn er Horetius‘ Plan aufgrund von Emotionalitäten gefährdete, war das gewiss nicht in seinem Sinne.
    „Ich bin der Richter der Welt!“, hallte Rhademes’ Stimme von allen Seiten. „Haltet ein in euren Kämpfen, denn sie sind bedeutungslos im Angesicht meiner Autorität.“ Rhademes schwebte langsam zu ihnen herab und Navius musste ihm zugestehen, dass sein Auftritt dem eines Gottes entsprach. Die Wächter und Shiva umschwirrten ihn nicht mehr, sondern hatten sich hinter ihm aufgereiht, die beeindruckenden Flügel gespreizt. Und tatsächlich verstummte das Klirren der Waffen, all das Rufen und Schreien, bis es still wurde über dem Platz. Totenstill. Jeder von ihnen musste die Kraft spüren, die von dem Hybrid aus Beliaravatar und Schneemagier ausging, der da so symbolisch zu ihnen herabstieg. Die Piraten ließen ihre Säbel sinken und wischten sich das Blut aus den Mundwinkeln. Die Männer um den fremden Schwarzmagier stierten Rhademes argwöhnisch entgegen. Garox hatte sich halb erhoben, schwer auf die Klaue gestützt. Die Wassermagier warfen sich alarmierte Blicke zu und bildeten unauffällig einen Halbkreis um den Tempeleingang. Cecilia stand teilnahmslos neben Horetius‘ Leiche, das Blut tropfte immer noch von ihren einst so makellosen Fingerspitzen.
    „Von heute an wird es keine Kriege und keine Streitigkeiten mehr unter den Menschen geben“, fuhr Rhademes fort und alle Anwesenden hingen an seinen Lippen. „Denn ich bin zum Richter der Welt geworden. Jede Angelegenheit wird vor meinen Thron getragen und nach meinen Gesetzen gerichtet. Der einzige, der noch eine Waffe gebrauchen wird, werde ich sein. Der einzige, der noch über richtig und falsch entscheiden muss, werde ich sein. Und der einzige, der Gnade gewähren kann, auch das werde ich sein. So wird die Welt unter ein einheitliches System gestellt, dem sich zu unterwerfen für alle von Nutzen sein wird. Auf dass die Menschheit in Harmonie lebe und gedeihe. Denn ich vereine die Tugenden der Götter in mir, nicht aber ihre Schwächen. Ich bin der Schneemagier von Adanos, in all seiner Weisheit und Unsterblichkeit.“
    „Ich bin doch nicht Pirat geworden, um mir dann doch wieder von irgendwem in meinen Kram reinreden zu lassen!“, dröhnte Blackbeard und spuckte aus. „Meine Kämpfe trag ich selbst aus. Bis dass eine Klinge mich kielholt! Lass mir doch nicht den ganzen Spaß verderben.“
    „Das ist zwar noch nie vorgekommen, aber da bin ich mit meinem Kollegen ganz einer Meinung!“ Greg trat neben seinen ewigen Rivalen. „Wenn die Menschen sich die Köppe einhauen wollen, darf man ihnen das auch nicht verbieten. Insbesondere darf man es nicht mir verbieten, sonst kann ich da ganz ungemütlich werden!“
    „Ich bin Sassun, Anführer der Fangzähne, dazu bestimmt, Beliars Reich zurück zu wahrer Größe zu führen. Wer bist du es schon, dass du es wagen willst, über mich zu richten?“
    „Du hast Adanos‘ Prinzip vom Gleichgewicht doch nicht einmal ansatzweise verstanden!“, rief Milten. „Deine Vorstellung von Gerechtigkeit ist despotisch und soll doch in Wahrheit nur dazu dienen, dich als Herrscher über den ganzen Morgrad zu manifestieren!“
    „Du kannst gar nicht der Schneemagier sein!“, schrie zu Navius‘ Verblüffung ein kleiner Junge hinter ihm, der ihm bislang nicht aufgefallen war. „Ein Schneemagier ist ein gütiger und warmherziger Mann, der denjenigen Adanos‘ Hilfe zuteil werden lässt, die an ihn glauben. Er verwendet die ihm geliehene Macht in Demut vor seinem Gott und…“
    „Das neue System ist perfekt“, widersprach Rhademes und mit einem Wink ließ er eine Eislanze vor seiner Brust erscheinen. „Wer sich ihm widersetzt, gefährdet die Harmonie. Solche Subjekte haben keinen Platz auf dem Morgrad verdient und werden im Sinne der Allgemeinheit ausgelöscht.“ Und indem er seine Hand sinken ließ, feuerte er die Eislanze direkt auf den Jungen ab, der erschrocken einatmete. Der Mut, der ihn zu seiner kleinen Ansprache beflügelt hatte, verließ ihn innerhalb von einem Augenblick. Er sah dem Mordwerkzeug mit weit aufgerissenen Augen und Mund entgegen.
    Doch Navius warf sich dazwischen und schmetterte die Eislanze zur Seite weg. „Da hörst du es, Rhademes. Niemand will deine Vorherrschaft. Dieser Kampf ist nicht vorbei. Er ist erst dann geschlagen, wenn du geschlagen bist!“
    Rhademes ließ den Blick schweifen über die trotzigen und furchtlosen, rebellischen und unerschütterlichen Mienen der Anwesenden, die ihm allesamt ihre Waffen entgegen streckten. „Nun denn. Ihr wollt also mit dieser Ära untergehen und Platz machen, für Menschen, die den Wert von Harmonie zu schätzen wissen. Dann möge der Kampf nun bis zum bitteren Ende ausgefochten werden!“
    Kaum, dass er seinen Mund geschlossen hatte, stürzten sich die Wächter auf ihre Beute.

    Greg wich keinen Schritt zurück, als die vermummte Frau sich auf ihn warf. „Eine Frau?“, höhnte er. „Pah, ein Weibsstück hat keine Chance gegen einen großen Piraten wie mich!“ Die Bandagen, mit denen der ganze Körper der Frau verhüllt war, platzten auf. Für einen Moment flatterten die losen Enden im Wind, dann vereisten sie zu einer Unzahl Eisklingen. Firn breitete die Arme aus, um Greg in eine tödliche Umarmung zu schließen. Greg fing mit seinem Säbel den linken Arm ab, wohlwissend, dass der rechte Arm ihn durchbohren würde. Doch zu seiner Verwunderung drangen keine Eisdolche in seinen Rücken ein. Er stand Rücken an Rücken mit Blackbeard.
    „Von dir will ich nicht gerettet werden, du Genital eines Kraken!“, knirschte Greg, während Firn den Druck gegen seinen Säbel noch verstärkte. Doch indem er sich gegen den Rücken seines Rivalen stemmte, konnte er ihr weiter standhalten.
    „Ich soll zusehen, wie du den Heldentod gegen irgend so ein göttliches Weibsbild stirbst?“, entgegnete Blackbeard und konnte ein Ächzen nicht unterdrücken. „Ich bin derjenige, der dich aufschlitzt, damit das klar ist!“
    Greg musste sich eingestehen, dass er dem bezahnten Arm nicht mehr lange widerstanden hätte. Doch seine und Blackbeards Männer waren endlich aus ihrer Schockstarre erwacht. Nachdem die Säbel an ihr wirkungslos abgeprallt waren, packten sie unerschrocken nach den scharfkantigen Bandagen und zerrten die vermummte Frau weg von ihren Kapitänen.

    Mit der Wucht einer Kanonenkugel landete die Greisin zwischen Sassun und seinen Fangzähnen. Wyrdra schwang ihren knorrigen Gehstock und prompt wuchs ihm eine meterlange Spitze aus Eis. „Greift sie alle gemeinsam an, die wahren Assassinen kneifen nicht!“, rief Sassun und zog seine zwei Schwerter.
    Doch die Greisin wirbelte um die eigene Achse und durchbohrte jeden von ihnen mit ihrer überlangen Waffe, so schnell, dass er ihren Bewegungen nicht folgen konnte. Blut spritzte noch durch die Luft, als die Greisin schon wieder seelenruhig zwischen ihnen stand, ihren Gehstock lässig über die Schulter gelegt. Sassun fiel ein Schwert klappernd aus seiner Linken. Der Gehstock hatte seine Schulter durchbohrt und von der Wunde ausgehend gefror sein Körper. Fasziniert sah er zu, wie das Eis seinen Arm hinunterkroch und sich schließlich über seinen Fingerkuppen schloss. Als er sich sicher war, dass das Eis an seiner Brust nicht weiter wucherte, warf er einen Blick über seine Männer. Die meisten hatten es schlimmer erwischt als ihn. Gumbo war das linke Auge zerstochen worden. Das Eis kroch ihm gerade in den weit aufgerissenen Mund. Er hatte keine andere Wahl als seinen Trumpf jetzt schon auszuspielen. Noch eine Angriffswelle würden sie nicht überstehen. Es wurmte ihn, dass es ihm der Klaue keinen Schritt näher bringen würde. Eigentlich hatte er geplant, so Ningal aus dem Weg zu räumen.
    „Ymri, tu es!“, schnitt seine Stimme durch die Luft.
    Sein dreiäugiger Krieger schleppte ein Bein aus Eis hinter sich her, doch er war der Greisin ohnehin nah genug. Ymri schloss seine beiden normalen Augen und riss das Stirnauge weit auf. Mit einem nahezu banalem Plopp schoss das Auge aus seiner Höhle, die Spitze eines langen, schleimigen Tentakels, der aus Ymris dritter Augenhöhle glitt. Die Greisin verzog keine Miene. Sie hob ihren Gehstock, um noch einmal auszuteilen. Doch der Tentakel mit dem Auge drang ihr in den Mund ein kroch ihre Speiseröhre hinab. Wyrdra würgte und erzitterte am ganzen Leib. Sie ließ ihren Gehstock fallen und schloss ihre fokusfarbenen Hände um den schleimigen Tentakel, doch wie sehr sie auch zudrückte und zog, Ymri pumpte immer mehr seines Körpers in das Innere der Greisin.

    Milten schoss Feuerbälle und Lichter in die Luft, beschwor eine Flammenwelle nach der anderen und verbrannte alles, was er auf dem trockenen Meeresboden finden konnte. Yhwach schoss ein ums andere Mal im Sturzflug auf ihn herab, verfehlte ihn aber jedes einzelne Mal. Milten hatte gleich die Theorie aufgestellt, dass die großen, blauen Augen der Wächter ganz anders wahrnahmen als die der Menschen. Die viele Feuermagie schien den Wächter erfolgreich zu irritieren. Er konnte nur mutmaßen, dass für den Wächter nur die Magie sichtbar war und er nicht zwischen einem Feuermagier und einer magischen Flamme unterscheiden konnte.
    „Wie lange kannst du das durchhalten?“, fragte Merdarion ihn, der dicht hinter ihm in einem Kreis aus Feuer hockte. Milten hatte ihn gefunden, kurz nachdem sie am Tempel angekommen waren. Er hatte einfach zwischen den kämpfenden Piraten gelegen und wirr vor sich hingemurmelt. Milten hatte sich sofort zusammengereimt, dass Merdarion mit den Nachwirkungen des Kontrollzaubers zu kämpfen hatte, von dem Cronos und die anderen Wassermagier ihm erzählt hatten. Sofort hatte er ein paar Heilzauber aus der Bibliothek des Klosters von Nordmar angewendet und die Psyche des Wassermagiers auch tatsächlich wieder hergestellt, doch für die erblindeten Augen des Magiers konnte er nichts tun. Ihm blieb bloß zu hoffen, dass die Flammen Merdarion hinreichend verbargen.
    „Nicht lange, um ehrlich zu sein“, gab Milten zu und beschwor eine weitere Flammenwelle.

    Shiva war bis zu diesem Moment der einzige Megalith gewesen, den Garox kennengelernt hatte. Noch nie hatte er auch nur einen von ihnen als Wächter gesehen, die sengende Aura gespürt, die von ihnen ausging. Doch er wich vor dem herbeifliegenden Mann nicht zurück. Das Schwert in seiner Hand gab ihm ein unbeschreiblich mächtiges Gefühl. Er fürchtete sich nicht vor dem Adonis mit den Engelsflügeln.
    Fenrix hatte offenbar Respekt vor seiner Waffe, denn er bremste ab und landete außerhalb ihrer Reichweite in dem weißen Sand. Garox fühlte sich darin bestärkt, dass er vor dem Wächter keine Angst zu haben brauchte.
    Die Muskeln an Fenrix‘ Oberkörper begannen sich zu schlängeln und zu winden. Dann brachen weitere Arme aus seinem Oberkörper heraus und in jeder Hand erschien ein schimmerndes Schwert aus Eis. Nun warf er sich auf sein Opfer.
    Garox kreuzte mit nur einem der Eisschwerter die Klinge, doch Blitze zuckten aus der Klaue und traktierten die anderen Arme, sodass der Angriff des Wächters verpuffte. Plötzlich spürte Garox, wie er am Bein gepackt wurde. Ein weitere Arm war aus Fenrix‘ Knie gewachsen. Garox wollte den Arm mit einem Hieb der Klaue abtrennen, doch ein Dutzend Hände griff nach der Schneide. Blitze zuckten aus der Klaue, doch der Wächter hielt der Gegenwehr stand. Mit grimmiger Entschlossenheit stieß Fenrix mit einem Eisschwert auf Garox ein, doch sein Dämon sprang von seinem Nacken auf das Schwert und biss es entzwei.
    Garox bildete mit seiner freien Hand einen Feuerball.

    Ningal kniete in der Mitte seines siebenzackigen Sterns und presste eine Hand auf den Boden. Der greise Wächter starrte ihn finster mit seinen blauen Augen an und tat augenscheinlich nichts, doch Ningal spürte die magischen Erschütterungen, die immer härter von unten gegen den Stern hämmerten. Offenbar wollte der Wächter irgendetwas aus dem Boden hervorbrechen lassen. Er verstärkte den Stern so gut er konnte mit seiner eigenen Magie, doch während die Angriffe des Wächters immer stärker und stärker wurden, schwanden seine Magiereserven zusehends. Unweit hatten die Fangzähne auf wirklich gruselige Art eine Wächterin zu Fall gebracht, doch er bildete sich nicht ein, dass sie ihm zu Hilfe kommen würden. Sie brüsteten sich nicht umsonst damit, wahre Assassinen zu sein. Und das bedeutete, wer stark war, überlebte, wer Schwäche zeigte, starb. Ningals Arm krampfte vor Anstrengung, den Stern nicht als Schutz zu verlieren.

    „Sie sind zu fünft, wir nur zu zweit. Aztez, ob sie wohl denken, dass sie im Vorteil sind?“, sang der Junge. „Sie sind erwachsen, wir doch bloß Kinder. Natürlich denken sie das, Reif!“, antwortete ihm das Mädchen. „Heute ist der Tag, an dem die Kinder die Erwachsenen unterrichten!“, lachten sie beide im Chor.
    Cronos verzweifelte allmählich. Er stand Rücken an Rücken mit Myxir, Saturas, Riordian und Nefarius, allesamt mit Zaubern und Stäben bewaffnet, doch keiner von ihnen wagte es anzugreifen. Saturas hatte immerhin den Ernst der Lage erkannt, auch wenn er dachte, dass diese blauen Kinder nur Rebellen gegen rosafarbene Haut waren, denen die Leviten gelesen werden mussten. Die Kinder sprangen so sorglos und munter im Kreis um sie herum, dass man Zweifel daran haben konnte, dass sie überhaupt je vorhatten, anzugreifen.
    „Ich strahl für dich!“, rief der Junge und entsandte einen Strahl hellen Lichts aus seiner Brust. „Und ich reflektiere dich!“, antwortete das Mädchen, fing den Strahl mit ihrer Brust auf und reflektierte ihn in die Luft. „Und zusammen kopieren wir uns!“, riefen sie. Und tatsächlich: In dem reflektierten Strahl erschien ein Junge, eine exakte Kopie des Wächters. Der Doppelgänger schloss sich den Kindern beim im Kreis Hüpfen an, doch nun fingen sie munter an Strahlen aufeinander abzufeuern und sie zu reflektieren. Cronos hatte dieses Prozedere noch nicht ganz verarbeitet, da tanzte schon ein ganzer Haufen Jungen und Mädchen um sie herum.
    „Auf sie!“, brüllte die Horde im Chor und die kleinen Kinderhände zückten Dutzende gezackte Messer.

    „Phil, wie kommst du denn hier her?“ Besorgt beugte Vatras sich über den Jungen. Als er die Blessuren an seinem Körper, das Blut in seinem Auge und die Platzwunde an seinem Kopf entdeckte, verdammte er sich selbst. Doch Phil lebte und dafür dankte er Adanos.
    „Die Fangzähne, sie sind alle hier, auch ihr Anführer!“, berichtete Phil ohne Umschweife. Sein Blick war gehetzt, doch nun, da der Wassermagier bei ihm war, schien er sich in Sicherheit zu wägen. „Sie wollten etwas beschwören, dass sie Klaue Beliars nannten. Sie sollte von Himmel fallen und sich durch mich hindurch bohren. Ich hätte sterben sollen!“ Die letzten Worte stieß er fassungslos hervor, als könne er selbst nicht glauben, was er da sagte.
    Vatras lief es bei der Erwähnung der Klaue kalt den Rücken herunter. Was sollte an diesem unsäglichen Tag noch alles passieren? Doch da der Junge noch lebte, war das Ritual wohl nicht zu Ende gebracht worden.
    „Die Frau von dem Händler, sie ist im Keller von dem Haus in der Gasse, die von den Minen zum Marktplatz führt, dem zweiten auf der rechten Seite!“
    „Du kannst mir später in Ruhe alles erzählen. Jetzt musst du dich erst einmal verstecken, bis das hier vorüber ist!“
    „Dazu ist es zu spät“, schnarrte Rhademes‘ Stimme.
    Vatras und Phil wandten sich um. Der neue Schneemagier kam gemessenen Schrittes auf sie zu, Lanzen aus Eis an seiner Seite. „Dieses Balg soll mein erstes Opfer sein. Niemand weiß besser als ich, wie ein Schneemagier zu sein hat.“
    Vatras stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor Phil auf. „Ich habe diesen Jungen ein Mal in Todesgefahr gebracht, aber das werde ich nie wieder zulassen! Phil steht unter meinem persönlichen Schutz!“
    „Dann stirb noch vor ihm!“, entgegnete Rhademes kalt.
    Zornig brummend schwirrte ein Irrlicht an Vatras‘ Seite. Vatras hatte lange genug mit Irrlichtern zusammengearbeitet, um zu erkennen, dass dieses Irrlicht sehr aufgebracht war.
    „Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst“, sagte Rhademes zu dem Irrlicht. „Hast du den Ruf deiner Mutter denn nicht vernommen? Du sollst an meiner Seite kämpfen. Allerdings nützt du mir ohne deinen Fokus nicht viel, nicht wahr?“
    Vatras betrachtete das Irrlicht eingehend. Das Schwirren der Lichtfunken, das Wirbeln im Inneren. Er beschloss, dem Irrlicht zu vertrauen. Er konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass es ihn nur hereinlegen wollte. Vatras holte den Fokus aus seiner Robe hervor, den er vor so langer Zeit nach ihrer Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren an sich genommen hatte. „Sprichst du von dem hier, Rhademes?“
    Das Irrlicht schnurrte zufrieden und schwebte zu dem Fokus herüber. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als seine Hand mitsamt dem Fokus im Inneren des Irrlichts verschwand. Das weiße Irrlicht färbte sich fokusblau. Auf seiner Rückseite entfalteten sich zwei winzige Flügelchen. Zufrieden beobachtete Vatras, wie Rhademes mit einem Mal verunsichert wirkte. Das Irrlicht schwirrte nun ganz langsam auf den Schneemagier zu. Sein Brummen wurde immer lauter, bis sogar die Luft zu vibrieren schien. Der Schall ging durch Mark und Bein und Rhademes‘ Eislanzen zersprangen zu winzigen Krümeln.
    Doch das Irrlicht war noch nicht fertig. Es verdunkelte sich zu einem Zornrot und sein Brummen wurde zu einem unangenehmen Pfeifen. Dann, als das Pfeifen seinen Höhepunkt erreicht hatte, pulste ein Strahl roten Lichts aus dem Zentrum des Irrlichts und durchbohrte Rhademes‘ Brust. Rhademes‘ Körper zerfiel zu Schnee.

    Um Navius herum tobten die Kämpfe mit den Wächtern. Zunächst war er alarmiert gewesen, wie viele Menschen den Tempel des Meeres erreicht hatten, doch nun verschafften ihm diese Menschen die Zeit, die er so dringend benötigte.
    Shiva kam auf ihn zu, die Hände nach seiner Brust ausgestreckt. Er konnte ihrem nichtstofflichen Körper nichts anhaben, so dass ihm nichts als die Flucht blieb. Er fasste Cecilia ins Auge, die gerade einem ihrer Kinder zu Hilfe kam. Sie erschuf ein neues Siegel auf ihrer Handfläche und drückte sie an den Hinterkopf eines sehr buckligen Mannes, während hinter ihr die Greisin jämmerlich würgte. Erneut keimte in ihm die Frage auf, was das für Leute waren, doch er verschob sie auf später. Er packte Cecilia von hinten bei beiden Handgelenken, damit sie ihn mit ihren Siegeln nicht erreichen konnte. Sie sträubte sich, riss ihren Mund zu einem stummen Schrei auf. Er stieß sich vom Boden ab und stieg mit ihr in die Luft. Keine Sekunde zu spät, wie er feststellte, denn Shiva war dicht hinter ihnen.
    Er orientierte sich und steuerte im Sinkflug auf den Tempeleingang zu, betend, dass Horetius‘ Plan funktionieren würde. Er wurde geblendet, als auf Cecilias Hinterkopf plötzlich ein verschnörkeltes Symbol erschien. Sie warf ihren Kopf nach hinten und traf ihn am Kinn. Die Erschütterung, die durch seinen Körper ging, war rein magischer Natur, störte die Struktur des Wächterkörpers aber gerade darum empfindlich. Schraubstockartig umklammerte er weiter Cecilias Handgelenke. Er durfte sie auf keinen Fall verlieren. Es war ihm unmöglich weiter mit den Flügeln zu schlagen. Im Sturzflug näherten sie sich dem Tempel. Shiva glitzerte in seinem Augenwinkel.
    Der Sand wirbelte auf, als er direkt vor den Stufen des Tempels bruchlandete. Er kämpfte gegen den Bannzauber der Schneemagierin an, die sich immer noch in seinem Griff wand und verdrehte. Mühsam schaffte er es wieder auf die Beine, setzte seinen Fuß auf die erste Stufe der Treppe. Sein Blick verschwamm, er war sich nicht einmal mehr sicher, ob sein Körper überhaupt noch hielt, oder im Begriff war, in sich zusammenzufallen. Der Bann wurde immer mächtiger und seine Bewegungen gerieten zum Stillstand. Ein letztes Mal bäumte er sich mit all seinen Kräften auf, Shiva legte ihm ihren Arm um den Hals, ihre Fingerspitzen wanderten hinunter zu seiner Brust und tauchten in sie ein. Brüllend stieß er Cecilia mit aller Kraft von sich, die er in diesem Moment aufbieten konnte. Die Schneemagierin flog durch die Luft, geradewegs auf die Pforte des Tempels zu, die sie als Wahrerin des Gleichgewichts anerkannte und augenblicklich zerbröselte. Ungehindert überquerte Cecilia die Schwelle zum Allerheiligsten. Das Licht des Stützpfeilers umrahmte ihre Silhouette. Da spürte Navius wieder diesen lähmenden, betäubenden Schmerz. Shiva umarmte ihn von hinten und zog den gleißenden Fokus aus ihm heraus. Die Kraft verließ seine Glieder. Er brach auf den Stufen des Tempels zusammen. Beben erschütterten den Meeresboden.

    Rhademes spürte, wie der Kontrollzauber zu brechen drohte, wusste, dass nun Eile geboten war. Das Irrlicht, den Wassermagier und den Jungen hinter sich lassend stieg er in die Höhe und befahl die Wächter zu sich. Sofort waren sie an seiner Seite, seinen nächsten Befehl erwartend. Und er befahl. Sie gehorchten. Und streckten ihm ihre Hände hin, über jeder eine glitzernde Träne schwebend. Er verleibte sie sich alle ein. In ihm wurde ein Inferno unermesslicher Macht entfesselt.

    „Shiva, Liebes. Lass diesem Mann deinen Körper noch ein wenig länger. Er wird doch nur durch ihn am Leben erhalten.“
    Die Beben waren wieder verstummt. Navius schlug die Augen auf. Er lag auf dem Rücken und sah Cecilia und Shiva, die über ihm aufragten. Die Schneemagierin bot ihm ihre Hand an und half ihm auf.
    „Vielen Dank, Navius. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft, Beliars Kontrolle zu entkommen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was ich dann noch alles getan hätte.“ Cecilia schenkte ihm ein warmes Lächeln.
    „Es ist noch zu früh, um Danke zu sagen“, entgegnete Navius schroff. „Rhademes ist noch nicht besiegt.“
    Cecilia zuckte zusammen. „Meine Kinder…“ Sie wandte sich um, ihr Blick wanderte nach oben. Und als Navius ihrem Blick folgte, sah er es auch. Rhademes schwebte über dem Platz, umringt von Megalithen. Sie hatten ihre Wächterkörper abgelegt und Rhademes‘ Körper pulsierte.
    „Sie haben ihm ihre Samen und Foki übergeben, kurz bevor er die Kontrolle über sie verlor“, sprach Cecilia seine schlimmsten Befürchtungen aus. „Er ist nun nicht nur der Schneemagier, er trägt auch die Kraft von sieben Wächtern in sich.“
    Navius musste daran denken, was für eine Zerstörung die Wächter zur Zeit von Aquilian angerichtet hatten. Diese Zerstörungskraft in einem Wesen gebündelt zu wissen, das unter dem Befehl von Beliar stand, jagte ihm trotz seiner gemilderten Emotionen Angst ein.
    Rhademes schwoll zu einem Riesen an, um ein Vielfaches größer als der Tempel. Seine Haut verdunkelte sich zu einem Blauton, viele Nuancen dunkler als der der Foki. Seine Haut bekam einen kristallenen Glanz. Sieben Paar Flügel brachen aus seinem Rücken heraus, doch sie wirkten viel zu klein, um den riesenhaften Körper auch nur eine Handbreit vom Boden zu heben. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, seine Augen strahlten hell wie die Sonne und blendeten alle Anwesenden.
    „Diese Welt ist von Ketzern bevölkert“, dröhnte die Stimme des Monsters und ließ das Eis klirren. „Ich habe euch ein friedliches Leben angeboten, doch ihr ward zu dumm, um mein Angebot anzunehmen. Es war Gnade, aus der heraus ich mich um solch niedere Kreaturen wie euch kümmern wollte. Aber nun habe ich es satt. Ihr aufsässiges Pack habt es nicht verdient, meine Herrlichkeit zu erfahren. Ich bin ein Wesen von unvorstellbarer Macht. Ich allein werde das Ende der Welt überdauern. Und mir eine neue Welt nach meinen Wünschen erschaffen. Die Zeit der Sphäre Adanos ist vorbei. Sie wird einer neuen Welt Platz machen, deren Schöpfer ich sein werde. Ich werde nicht nur gottgleich sein, ich werde ein Gott. Und alle bisherigen Götter werden mich um meine Welt beneiden!“
    „Er will doch nicht…!“, Cecilia schlug die Hand vor den Mund.
    Navius verschwendete keine Zeit mit einer Antwort. Er packte die Schneemagierin und riss sie mit sich. Nur Sekunden später grub sich Rhademes‘ klauenbewehrte Hand in den Tempel. Der Stein, der seit Anbeginn der Zeit überdauert hatte, barst in alle Himmelsrichtungen. Die Beben setzten wieder ein. Als Rhademes seine Pranke zurückzog, lag der Stützpfeiler offen. Er umschloss ihn mit seiner riesenhaften Hand, riss ihn aus dem Tempel und zerquetschte ihn hoch oben über den Köpfen der Anwesenden. Die Beben erreichten eine bisher ungekannte Stärke. Das Eis bekam tiefe Risse. Der Boden warf Wellen, als bestünde er selbst aus Wasser.
    „Es ist aus“, stellte Cecilia erschüttert fest. „Der Morgrad wird in wenigen Momenten aufhören zu existieren. Er wird einfach auseinanderfallen.“
    Navius war geschockt. Doch er war kein Mensch mehr. Die Gefühle übermannten ihn nicht. In seinem Gehirn rastete eine einzige logische Schlussfolgerung ein. „Für den Morgrad können wir nichts mehr tun. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass Rhademes eine neue Welt erschafft, in der er alles Leben nach Belieben tyrannisieren kann. Wir haben den Kampf um diese Welt verloren. Aber wenn wir ihn aufhalten, können wir wenigstens die zukünftige Welt noch retten. Wir müssen darauf vertrauen, dass Adanos weiter macht. Eine neue Welt erschafft, wenn unsere ausgelöscht wurde. Wir müssen glauben.“
    Cecilia starrte ihn verständnislos an.
    „Hilf mir, wenn du kannst“, sagte er und flog in die Luft, um sich Rhademes ein letztes Mal zu stellen.

    Garox starrte das Monster an, das die Welt auslöschte, und fragte sich, ob er dazu beigetragen hatte. Hatte sein einfacher Wunsch nach Rache an dem Schneemagier dazu geführt, dass nun alles zu Ende ging? Nie hatte er sich träumen lassen, dass überhaupt ein Mensch das Ende der Welt einläuten konnte. Und nun hatte er genau solch einen Menschen auf seinem Weg dorthin unterstützt.
    Plötzlich packte ihn jemand am Arm und versuchte, die Klaue seinem Griff zu entwinden. „Du bist ihrer nicht würdig! Ich bin Sassun, der Anführer der Fangzähne, der einzig wahren Assassinen. Und Beliar hat mich dazu auserkoren, seine Waffe zu tragen.“
    „Hast du denn nicht begriffen, dass jetzt alles vorbei ist?“, schrie Garox ihn an und versuchte ihn abzuschütteln. Blitze zuckten über die Klinge der Klaue, doch noch bevor sie in Sassun fahren konnten, spürte Garox einen schrecklichen Schmerz seinen Arm hinaufzucken.
    „Wer sich mir widersetzt, ist ein Feind Beliars“, rief Sassun, warf die abgetrennte Hand beiseite und wog die Klaue Beliars in der seinen.
    Garox krümmte sich über seinem Armstumpf. Blut pulste aus ihm hervor. „Du hast dich mit dem Falschen angelegt!“ Ein dunkelhäutiger Krieger von beeindruckender Größe sprang an seine Seite und schwang seinen Klingenstab. Den ersten Hieb parierte Sassun überrascht, der zweite trennte auch ihm die Schwerthand ab.
    Mit einem unappetitlichen Flatschen schlug die Hand auf dem Boden auf. Die Klaue grub sich in den feinen weißen Sand.
    Garox kämpfte damit, das Bewusstsein zu verlieren, doch er empfand Befriedigung dabei, wie Sassun vor Schmerzen schrie und seinen sprudelnden Armstumpf mit der Linken umklammert hielt. Seine Überheblichkeit war wie weggewischt. Garox entließ den untoten Horetius aus seinen Diensten. Der einst so stolze Krieger fiel der Länge nach zu Boden.
    Da näherte sich ihnen noch jemand.
    „Keiner von euch beiden sollte diese Waffe tragen. Ihr würdet damit nur immer mehr Unglück über die Menschen bringen“, sprach Phil. „Seht doch nur, wohin euch eure Gier gebracht hat. Ihr könnt wohl froh sein, dass es nur eine abgehackte Hand ist.“ Der Junge nahm die Klaue an sich. Sassun sackte zusammen. Garox schwanden die Sinne.

    Ningal spürte die Beben, das Schlingern des Bodens unter seinen Füßen, die Vibrationen der magisch aufgeladenen Atmosphäre. Selbst dem Zirkel des siebenzackigen Sterns war völlig klar gewesen, dass sie den Stützpfeiler nicht antasten durften. Dabei waren sie einer der finstersten Orden in der Geschichte der Beliaranhänger gewesen. Dieser Rhademes hatte in seinem Größenwahn Grenzen überschritten, die kein klar denkender Mensch auch nur erwog zu missachten. Er hatte sie alle ins Verderben gestürzt.
    Der siebenzackige Stern unter seinen Füßen flackerte und verlosch. Ob die Magie die Welt zuerst verließ oder ob einfach die Energiereserven des Sterns aufgebraucht waren, Ningal konnte es nicht sagen. Er wusste nur, dass die Welt im Begriff stand, zu vergehen. Hinfortgeweht zu werden wie ein zu Staub zerfallenes Gerippe. War es das wirklich? Hatte er all die Jahre in sein Studium der schwarzen Künste investiert, nur um heute Augenzeuge zu sein bei dem Untergang der Welt?
    Ihm sprang etwas Rotes ins Auge. Und als er erkannte, dass es ein Feuermagier war, keimte in ihm eine absurde Idee. Bislang hatte er nur die Wassermagier gesehen, doch dass auch ein Magier Innos‘ zugegen war, veränderte vielleicht alles. Direkt neben ihm stand sogar einer der Wassermagier.
    Er eilte zu den beiden Magiern hinüber, während eine besonders hohe Welle durch den weißen Sand wogte und ihn fast von den Füßen warf. Der Feuermagier sah ihn kommen, seine Hand zuckte zu dem Kampfstab auf seinem Rücken.
    „Halt ein, Feuermagier!“, rief Ningal ihn an und hob beschwichtigend die Hände. „Wenn wir zusammen arbeiten, können wir die Welt vielleicht noch retten!“ Er erklärte ihnen seinen Plan.
    Merdarion stimmte sofort zu. „Ich will wieder gutmachen, was ich ins Rollen gebracht habe, auch wenn es gegen meinen Willen war.“
    „Ich bin so bereit, wie man für so eine Wahnsinntat nur sein kann“, pflichtete Milten ihm bei.

    „Nu löscht dieser Heini also wirklich die ganze Welt aus. Was erlaubt der sich eigentlich?“, tobte Greg und stampfte auf den Boden.
    „Es ist also Zeit, Abschied zu nehmen, alter Haudegen“, sagte Blackbeard und zündete sich eine Zigarre an.
    „Dir ist jawohl klar, dass ich das nicht so stehen lassen kann?“
    „Ich weiß genau, was du meinst.“
    Klirrend schlugen ihre Säbel aneinander.
    „Wenn ich schon sterbe, dann nach dir!“
    „Dich werde ich noch in aller Seelenruhe häuten, und wenn es das letzte ist, was ich tue!“

    Navius feuerte einen Strom Eis auf das Monster ab, das Rhademes geworden war. In Al Shedim hatte er die Ausmaße von Shivas Wächterangriff noch beeindruckend gefunden, jetzt war er enttäuscht, dass er das Monster nicht einmal zur Hälfte eingefroren hatte. Rhademes schlug einfach mit seinem freien Arm auf das Eis, dass seine Seite bedeckte und zerkrümelte das Eis, wie er es zuvor mit dem Tempel getan hatte.
    „Du hast dich also immer noch nicht mit deinem Schicksal abgefunden“, grollte Rhademes und seine riesigen Augen verfolgten den über ihn kreisenden Wächter. „Du willst dir wohl meine Macht schnappen, damit du derjenige bist, der den Weltuntergang überlebt, was? Ich hab doch schon immer gewusst, dass du nichts als machtgierig bist. Schon damals, als du die Kraft von Shiva annahmst, die eigentlich mir zustand, wusste ich, dass du ein rücksichtsloser Egomane bist!“
    Navius hörte gar nicht hin. Er wusste, dass Rhademes schon zu tief in dem Sumpf aus Selbstmitleid und Geltungssucht verschwunden war, als dass er ihn dort noch erreichen konnte. Für seinen Freund kam jede Hilfe zu spät. Er hatte damals schon erkennen müssen, was in ihm schlummerte. Wäre er damals bloß aufmerksamer gewesen, er hätte ihn gewiss davon abhalten können, diesen Weg einzuschlagen. Er hatte das Ende der Welt nicht kommen gesehen, obwohl es direkt vor seiner Nase seinen Anfang genommen hatte.
    Die Klauen des Monsters schlugen nach ihm, doch er wich ihnen mit spielerischer Leichtigkeit aus. Die Größe hatte ihn auch träge gemacht. Die Flügel auf seinem Rücken konnten ihn unmöglich tragen. Und ob er sich in seinem Zustand noch in Schnee auflösen konnte?
    Cecilia und Shiva gesellten sich zu ihm. „Ich bin bereit, dich bis zu unserem Ende zu unterstützen!“, verkündete Cecilia, die ihre Entschlossenheit offenbar wiedergefunden hatte. „Nichts würde mich nach meinem Tod mehr grämen, als dieses Monster hinterlassen zu haben.“
    „Wir müssen ihn mit einem einzigen Angriff erledigen, damit er sich nicht wieder davon erholen kann“, entgegnete Navius, obwohl er selbst noch nicht wusste, wie das gehen sollte.
    „Er hat sich zwar die Kraft meiner Kinder einverleibt, aber genau das wird ihm gleich zum Verhängnis werden“, erklärte Cecilia angespannt. „Es gehörte seit jeher zu den Aufgaben der Schneemagierin, die Wächter zu kontrollieren. Rhademes wird gleich ein paar meiner mächtigsten Siegel am eigenen Leib zu spüren bekommen. Das wird meinen Kindern die Gelegenheit geben, ihre Foki aus seinem Körper herausziehen, so wie Shiva es bei dir versucht hat. In dem Moment, in dem ihn die Kräfte verlassen, wird er am verwundbarsten sein.“
    Navius erinnerte sich nur zu gut an das taube Gefühl, wenn einem der Fokus gewaltsam entrissen wurde. Doch würde es Rhademes ebenso ergehen, wo er doch auch ohne die Wächterkörper noch lebensfähig war? Ihm blieb nichts anderes übrig, als Cecilia zu vertrauen. „Wir müssen uns beeilen. Der Morgrad kann jeden Moment in sich zusammenbrechen. Die Megalithen sollen sofort loslegen. Ich kümmere mich darum, ihm den Gnadenstoß zu versetzen.“
    Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern schlug so kräftig er konnte mit seinen Flügeln. Pfeilschnell schoss er den Eisschacht hinauf. Um ihn herum brachen immer größere Brocken aus der Wand. Wenn sie zu lange brauchten, würde ihm der Rückweg versperrt sein.
    Als er die Meeresoberfläche fast erreicht hatte, ertönte unter ihm ein infernales Brüllen. Er warf einen Blick zurück. Mit seinen Wächteraugen sah er in die Tiefe und erkannte trotz der immensen Entfernung, dass die sieben Megalithen begonnen hatten, ihre Foki aus seinem Körper zu ziehen, und Rhademes nur noch haltlos zuckte.
    Navius schoss aus dem Eisschacht heraus. Die Wolken hatten sich verzogen. Die Sonne strahlte auf das aufgewühlte Meer, in dem sich die Wellen nun in atemberaubender Höhe türmten. Das Licht brachte seinen Wächterkörper zum Glitzern. Er feuerte Shivas Eisschwall in die Luft ab. Der riesige Gletscher, der daraus entstand, blieb einen Moment in der Luft hängen, dann begann er in den Eisschacht zu fallen. Der riesige Eiskristall warf in dem Sonnenlicht Regenbögen über das Meer.
    Navius flog seinem Geschoss hinterher, legte beide Hände auf die obere Kuppe und begann so schnell er konnte mit den Flügeln zu schlagen. Der Gletscher beschleunigte rasant, der Wind pfiff Navius in den Ohren. Sie brauchten nur Sekunden, um die Strecke bis zum Meeresboden zurückzulegen. Ihm schossen all die Menschen durch den Kopf, die er mit seinem Angriff treffen konnte, doch sie würden in wenigen Augenblicken ja ohnehin sterben.
    Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, als er mitsamt dem Gletscher auf Rhademes prallte und das Eis in alle Richtungen zerstob. Rhademes‘ Brüllen ging in der Kakofonie beinahe unter.
    Als der Eisstaub sich gelegt hatte, sah Navius, dass das Monster zwar reglos auf dem Rücken lag, die Pupillen ihm aber immer noch folgten. Der Gletscher hatte ein riesiges Loch in seine Brust gerissen.
    „Die Megalithen können die Foki nicht aus ihm herausziehen.“ Cecilia war an seiner Seite erschienen. „Die Fokussteine sind wohl miteinander verschmolzen. Sie können ihre Kräfte lediglich zur Rebellion bringen, damit er keine Macht mehr über sie hat.“
    „Sie sollen weiter machen, wir dürfen ihm keine Zeit geben, sich zu regenerieren!“, rief Navius und schwang sich wieder in die Luft.
    „Ich werde auch mithelfen“, beschloss Cecilia und erschuf Siegel in ihren Handflächen. Sie flog zu Rhademes‘ Augen und presste ihm die leuchtenden Siegel auf seine Pupillen. Die letzten Bewegungen von Rhademes erstarrten. Er schien nun endgültig gelähmt. „Ich kann die Siegel nicht lange aufrecht erhalten!“, rief sie ihm zu, doch er hatte auch schon entdeckt, was nun zu tun war. In dem Loch, dass er in Rhademes‘ Brust geschlagen hatte, waren die Foki zu erkennen. Ein unförmiges Gebilde, aus dem Reste der Prismen herausragten.
    Er stürzte sich mit seinen Krallen in den Schlund. Um ihn herum erschienen Dutzende schwarzer Lanzen. In Sekundenschnelle zogen sich rote Barrierern kreuz und quer durch das Loch in Rhademes‘ Brust. Seine Krallen schlugen gegen die Barrieren, fügten ihnen aber nicht einmal einen Kratzer zu.
    Navius atmete schwer. Ihnen blieb keine Zeit mehr. Und doch hatte er schon so oft versucht, diese Barrieren zu zerschlagen, dass er keine Chance mehr sah, dass es ihm jemals gelingen würde. Alle Hoffnung in ihm starb. Wie hatte er dieses Problem nur vergessen können? Was würde Horetius sagen, wenn er ihm im Jenseits begegnete und zugeben musste, dass er mit allem gescheitert war? Bei dem Gedanken an den Zeitreisenden schoss ihm durch den Kopf, was er noch vor wenigen Stunden über die Barrieren gesagt hatte. Das ist ein mächtiger Zauber des dunklen Gotts. Dagegen wird kein Magier Adanos‘ etwas ausrichten können. Vielleicht lag darin die Lösung. Er musste etwas finden, das große Zerstörungskraft besaß, aber nicht mit der Magie Adanos‘ durchdrungen war. Er suchte den ganzen Platz nach der dunkelvioletten Farbe Beliars und dem goldgelben Ton Innos‘ ab. Und zu seiner Erleichterung fand er dieses merkwürdige Schwert wieder, das Garox ihm abgenommen hatte und das mit der göttlichen Kraft Beliars getränkt war.
    Er flog zu dem dunkelvioletten Fleck hinunter und sah sich zu seiner Verblüffung dem Jungen gegenüber, der Rhademes so inbrünstig widersprochen hatte. Der Junge starrte ihn mit großen Augen an, hielt das Schwert locker in der Linken. „Ich brauche das Schwert, um dieses Monster zu erledigen. Kannst du es mir ausleihen?“, fragte er den Jungen.
    Der Junge blickte fragend den Wassermagier an, der an seiner Seite stand. Er nickte mit trauervoller Miene. Der Junge übergab ihm die Klaue, doch wie schon im Schacht brannte das Schwert in seiner Hand und wehrte sich mit Blitzen gegen seinen Griff. Er verfluchte sich dafür, doch er musste es fallen lassen. Er konnte es einfach nicht halten. Das Schwert wehrte sich zu sehr gegen die Kraft Adanos‘, die ihn durchströmte.
    „Ich konnte es auch nicht halten“, erklärte der Wassermagier betrübt.
    „Bist du bereit, diese Welt von dem Monster zu befreien?“, fragte Navius das Kind.
    Der Junge nickte.
    „Dann halt das Schwert gut fest.“ Er hob den Jungen auf seine Schultern, ignorierte die Proteste des Wassermagiers, und stieß sich wieder vom Boden ab. Er flog direkt über die Barrieren und ging in einen Sturzflug über. „Halt das Schwert einfach vor uns ausgestreckt!“, rief er dem Jungen zu.
    „Mach ich!“, schrie er und schwang die Klaue nach vorn.
    Während sie so auf die unzähligen Barrieren zudonnerten, fragte Navius sich, ob sein Plan wirklich aufgehen würde. Doch dann brachen sie auch schon knisternd durch die erste rote Membran. Von Scherben und roten Blitzen umschwirrt schmetterten sie ungebremst auf den Fokusklumpen in Rhademes’ Brust zu. Der Junge hatte einen wilden Schrei angestimmt. Mit Genugtuung dachte Navius daran, dass Beliar wohl nicht geahnt hatte, dass seine rechte Hand mal gegen seine Klaue antreten musste. Sie brachen durch die letzten Barrieren und Phil versenkte die Klaue Beliars in den Foki.
    Die Foki zerstoben zu Staub. Die Magiespeicher Adanos‘ hatten den Blitzen Beliars nichts entgegenzusetzen. Und mit ihnen zerfiel auch der Wächterkörper von Rhademes, zurück blieb nur sein menschlicher Körper, direkt unter ihnen.
    „Das hast du toll gemacht, Navius“, griente Rhademes. „Endlich hast du einen Weg gefunden, meine Barrieren zu zerstören. Aber mich wirst du nie erwischen.“ Und seine Gestalt löste sich in Hunderte Schneeflocken auf.
    Navius schrie auf vor Wut. Sie waren so nah dran gewesen. Und nun doch wieder meilenweit davon entfernt, ihm auch nur noch ein Haar zu krümmen.
    Da tauchte plötzlich das Irrlicht an seiner Seite auf, stimmte ein durchdringendes Fiepen an und verdunkelte sich zu einem tiefen Rot. Navius meinte zu spüren, wie das Irrlicht seine Umgebung abscannte. Dann brachen Tausende dünne Lichtstrahlen aus ihm hervor. Es nahm alle Schneeflocken gleichzeitig ins Visier und durchbohrte jede einzelne Schneeflocke mit einem seiner sengend roten Lichtstrahlen. Navius warf sich schützend über den Jungen, doch die Strahlen waren so fein, dass sie an seiner Haut einfach abprallten. Nur die so schwächlichen Schneeflocken wurden alle auf einen Schlag zerschmolzen.
    Als das Irrlicht seinen Angriff beendet hatte und schnurrend wieder zu seinem fokusblau zurückkehrte, sah Navius sich um. Auch mit seinen übermenschlichen Sinnen konnte er keine Schneeflocke mehr ausmachen. Wohl aber einen verbrannten, geradezu schwarzen Körper, der im Sand lag und sich schwach krümmte.
    Navius landete neben dem sterbenden Rhademes. Und für einen Moment saß er wieder mit ihm auf dem Stein an der Flussgabelung vor den Toren von Silden.
    „Ich wollte meinem Leben doch immer nur einen Sinn geben. War das denn zu viel verlangt?“, fragte Rhad und sah traurig auf zum Sternenhimmel.
    „Dein Leben hatte einen Sinn“, betonte Navius. „Du hättest nur mit dem, was du geleistet hast, zufrieden sein brauchen, dann hättest du den Sinn deines Lebens gefunden.“
    „Mein Leben hatte keinen Sinn. Ich hinterlasse der Welt gar nichts“, widersprach Rhad trotzig.
    „Du hast die Welt schon vor langer Zeit verändert“, beharrte Navius und wurde selbst ganz traurig, als ihm klar wurde, wie furchtbar schief alles gelaufen war. „Ohne dich wäre ich nie Schneemagier geworden. Ich hätte die Zeichen in den Sternen überhaupt nicht bemerkt, ohne dich wäre ich in der Eiswüste von Nordmar jämmerlich erfroren! Du hast mich zu Shiva geführt. Wärest du nicht gewesen, wäre jemand ganz anderes Schneemagier. Selbst wenn ich dir nie begegnet wäre und ich mein ganzes Leben in Silden verbracht hätte, wäre ich schon vor Jahrhunderten gestorben. Ohne dich wäre ich es gewesen, der der Welt nichts hinterlassen hätte.“
    „Hm“, machte Rhad. „Damit hätte ich vielleicht wirklich zufrieden sein sollen. Zu Größerem war ich wohl einfach nicht bestimmt.“
    Rhademes starb in seinen Armen und die Gefühle drangen zu ihm durch, brachen sich bahn zu seinem abgeschotteten Herzen. Und er weinte bitterlich über all die Fehler, die ihm unterlaufen waren.

    Milten schwebte eine Fußlänge über dem zitternden Boden, die Arme ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt. Er war in eine Aura magischer Energie gehüllt und hatte seine Augen vor Konzentration geschlossen. Noch nie hatte er an einem Umkehrritual teilgenommen, obwohl er so viel darüber gelesen hatte, dass er die einzelnen Schritte auch im Halbschlaf hätte herunterbeten können. Er hatte auch schon lange den Wunsch gehegt, sein angelesenes Wissen auf diesem Gebiet in der Praxis zu erproben, doch wann wollte man schon mal göttliche Energien in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen und hatte zufällig auch noch einen Schwarzmagier zur Stelle? Nie hätte er sich träumen lassen, dass wenn dieser Tag mal kommen würde, gleich die ganze Welt auf Messers Schneide stehen würde.
    Er spürte das Mana von Merdarion zu seiner Linken und Ningal zu seiner Rechten. Ihre Kreisläufe hatten sich mit seinem verbunden und die Energien, die sie freisetzten, berauschten ihn. Jeden Moment musste sie ihren Höhepunkt erreichen. Die Energie zirkulierte zwischen ihnen und drehte sich immer schneller und schneller. Wie ein Tornado in der transzendentalen Welt wütete sie zwischen ihnen und war doch vollkommen unter ihrer Kontrolle.
    Auf einmal verpuffte der magische Wind. Der Kreislauf brach ab, das berauschende Gefühl versickerte. Milten spürte, wie er sank und seine Füße den Boden berührten. Erschrocken riss er die Augen auf, was war schief gelaufen? Doch noch bevor er seinen Arm hoch riss, weil das Licht ihn so blendete, wurde ihm klar, dass der Boden unter seinen Füßen gar nicht mehr bebte. Und dann erkannte er endlich, dass das Licht, das ihn blendete, der Stützpfeiler war, der inmitten des zerstörten Tempels an seinem angestammten Platz schwebte.
    Milten klappte der Mund auf, als ihm klar wurde, dass sie es geschafft hatten. Der Stützpfeiler war wieder intakt, die Beben hatten aufgehört. Er tauschte einen unsicheren Blick mit Merdarion, der mit ebenso verhaltener Freude zurückblickte. Dann sah er zu Ningal hinüber, der fassungslos den Kopf schüttelte. Milten fiel auf die Knie und dankte Innos, und auch Adanos und Beliar. Dass sie ihnen die Kraft gegeben hatten, die Welt zu retten.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass das wirklich funktioniert“, murmelte Merdarion und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

    Navius war zu versunken, um zu bemerken, dass die Beben ein Ende fanden. Erst als er Cecilias warme Hand auf der Schulter spürte, öffnete er die Augen und hob den Kopf. Zunächst wusste er nicht, was es bedeutete, dass eine dünne Membran um sie herum aufstieg. Dann erkannte er, dass die Seifenblase, die den Tempel vor dem Meer abschirmte und ihn gleichzeitig mit ihm verband, sich offenbar regenerierte.
    „Wir hatten kluge Verbündete“, sagte Cecilia. „Du müsstest es besser sehen können als ich. Aber ich glaube, der Stützpfeiler wurde repariert.“
    „Das kann nicht sein“, erwiderte er zum dritten Mal an diesem Tag in der felsenfesten Überzeugung, dass es wirklich absolut unmöglich war, dass die Worte seines Gesprächspartners der Wahrheit entsprachen. Doch als er den Kopf zu den Ruinen des Tempels wandte und durch all die herumwuselnden Menschen hindurch spähte, entdeckte er tatsächlich eine hell leuchtende Kugel, die selbst für einen Wächter keinen Unterschied zu dem Stützpfeiler aufwies, der sich zuvor an seiner Stelle befunden hatte. Das Unmögliche war geschehen.
    „Hey, Flügelmann!“, rief ihn jemand grob von der Seite an.
    Navius erhob sich immer noch nicht ganz im Klaren darüber, was eigentlich geschehen war. Ein Pirat mit struppigem schwarzen Bart und einer Zigarre im Mundwinkel stach ihm seinen Zeigefinger in die Brust. „Diese vermaledeite Blase schließt uns hier gleich alle ein, Mann! Du mit deinen Superkräften musst mein Schiff sofort zurück aufs Meer bringen! Hab nämlich keine Lust, den Rest meines Lebens hier unten zu verbringen. Mit Weltuntergang ist doch jetzt nichts mehr, wenn ich das richtig verstanden hab. Die Erde hat sich ja wieder eingekriegt, was?“
    Navius wurde plötzlich von der Erleichterung übermannt. Sie betörte ihn so sehr, dass er sich nicht einmal über den Tonfall des Kapitäns ärgern konnte. Die Welt war gerettet. Das Monster, das aus seinem Rhad geworden war, vernichtet. Rhad hatte Spuren auf dem Morgrad hinterlassen. Doch das Monster nicht.
    Er fasste die beiden Schiffe ins Auge. Vielleicht waren sie tatsächlich noch seetüchtig. Er würde zwei Mal fliegen müssen, um beide nach oben zu bringen, doch die Blase schloss sich mit solch quälender Langsamkeit, dass er genug Zeit dazu haben würde.
    „Dann aber rasch alle an Bord, ehe es zu spät ist. Die vom anderen Schiff auch!“, rief er über die Köpfe der gebannt lauschenden Seeräuber hinweg. Sie brachen in Jubel aus und rannten zurück zu ihren Schiffen.
    „He, du, Kapitän!“
    „Ich bin Käpt’n Blackbeard, schreib dir das hinter die Ohren“, entgegnete der schwarzbärtige Zigarrenraucher und musterte den dreiäugigen Mann, der zu ihnen getreten war. Auf seinem Rücken hing ein bewusstloser Mann, dessen rechter Arm in einem blutigen Stumpf endete. Navius wurde bewusst, dass er nicht mal die Hälfte der Dinge mitbekommen haben konnte, die sich hier unten abgespielt hatten.
    „Nimm uns bitte mit, Käpt’n Blackbeard“, bat der Dreiäugige und wies mit einem Kopfrucken hinüber zu vier weiteren Männern, die ziemlich erschöpft und deprimiert wirkten. „Der Teleportationskreis, den wir hierher genommen haben, ist in all dem Chaos verschwunden.“
    „Teleportationskreis?“, mischte Navius sich alarmiert ein. Es konnte sich doch niemand einfach so hierher teleportiert haben! Andererseits hatte es ja schon vor Rhademes‘ Erscheinen dieses merkwürdige Loch im Meer gegeben und die Blase war zerstört worden. Damit so etwas in Zukunft nie wieder vorkam, musste er dieser Sache unbedingt auf den Grund gehen.
    „Frag den Schwarzmagier. Er hat uns hergebracht.“ Der Dreiäugige wies auf den Schwarzmagier, der inmitten der Tempelruine stand. Bei ihm ein Feuer- und ein Wassermagier. Hatten sie den Stützpfeiler etwa mit einem Umkehrritual repariert, so wie Rhademes auch den Eiskreis entwurzelt hatte?
    Von da an lief alles erstaunlich reibungslos ab. Er brachte die beiden Schiffe zurück aufs Meer und fand bei seiner Rückkehr nur noch Cecilia, die Megalithen, Phil und die Magier vor. Sie suchten einen Eisbrocken, auf dem alle bequem Platz hatten, und schon hievte Navius auch sie zurück ans Tageslicht. So ließen sie den zerstörten Tempel des Meeres vorerst hinter sich. Die Blase schloss sich, der Schacht aus Eis brach in sich zusammen und das Loch im Meer verschwand.

    „Käpt’n Greg?“
    „Jetzt nicht, Bill! Siehst du nicht, dass ich mich mit meinem Erzrivalen messe?“ Greg unterstrich seine Worte, indem er die Zähne fletschte, einen Fuß auf die Reling setzte und eine Faust durch die Luft schwang.
    Bill spähte zu der ausgeweideten Jungfrau hinüber und sah Blackbeard ganz ähnliche Gebärden vollziehen. Bei dem strahlenden Sonnenschein wirkte ihr Gebaren allerdings deutlich weniger einschüchternd als noch während der sturmzerzausten See am Morgen. „Aber Käpt’n Greg, Francis hat diesen Schwarzmagier Garox im Lagerraum entdeckt. Er muss sich an Bord geschlichen haben, kurz bevor wir aufgebrochen sind. Francis lässt fragen, was wir mit ihm machen sollen?“
    „Na, wenn gerade niemand einen Schwarzmagier gebrauchen kann, kielholen natürlich. Irgendwann is jawohl auch gut mit dem ganzen Theater!“ Dann wandte Greg sich wieder der ausgeweideten Jungfrau zu und krakeelte: „Beim nächsten Mal kratz ich dir auch ohne Grund noch das zweite Auge aus, du stinkender Pestauswuchs!“
    „Warum hat der Käpt’n denn so schlechte Laune?“, fragte Bill in sicherer Entfernung ein paar Kameraden, die belustigt beobachteten, wie die beiden Kapitäne sich über die immer größer werdende Entfernung hinweg anbrüllten, obwohl sie zuvor doch so gute Schicksalsgefährten geworden waren.
    „Wahrscheinlich macht es ihm Angst, dass er sich bei dem ganzen Durcheinander da unten ganz gut mit Blackbeard verstanden hat“, antwortete Skip berechnend. „Außerdem… Seit sie sich kennen waren sie wegen dieser Sache mit der zerrissenen Schatzkarte verfeindet und jetzt ist diese Sache aus der Welt. Ich denke, sie wissen beide nicht, wie es jetzt mit ihrer so schönen Rivalität weitergehen soll.“ Bones und Garrett lachten. Bill stimmte etwas zu spät mit ein.
    „Ach, mach den Kopf zu, Neuer“, unterbrach Skip ihn sofort wieder. „Du lachst wie ein Mädchen, das kann man sich ja nicht mit anhören. Lass uns mal sehen, was wir mit unserem blinden Passagier machen.“
    Und gemeinsam gingen sie unter Deck, während ihr Käpt‘n noch weitere Flüche übers Meer brüllte.

    Leise rauschend liefen die Wellen auf den flachen Strand von Varant auf. Ihr Murmeln war nach all dem Krachen und Klirren eine Wohltat. Milten, die Wassermagier und Ningal standen nebeneinander und sahen gedankenverloren der untergehenden Sonne zu.
    „Irgendwie komisch, jetzt einfach zum Alltag zurückzukehren, oder?“, fragte Cronos in die friedliche Stille hinein.
    Zunächst antwortete ihm keiner, doch dann fasste Milten seine Gedanken zögernd in Worte. „Ich glaube nicht, dass ich zu meinem Alltag zurückkehre. Ich glaube, ich weiß jetzt endlich, womit ich mein Leben verbringen möchte.“ Er machte eine Pause, weil er nicht wusste, wie er fortfahren sollte, doch niemand unterbrach ihn. „Heute ist mir klar geworden, wie mächtig die Magier sein könnten, wenn sie die Schranken ihrer Religionen aufbrächen und zusammenarbeiten würden. Das Umkehrritual ist der beste Beweis dafür, dass aus der Zusammenarbeit von Magiern aus den verschiedenen Kirchen Möglichkeiten erwachsen, von der eine Kirche allein nicht einmal träumen kann. Wären heute nicht zufällig Vertreter jeden Gottes zugegen gewesen, wäre die Welt jetzt nicht mehr da.“
    „Vielleicht wäre es wirklich fruchtbar, auf diesem Gebiet zu forschen. Bisher hat sich kaum jemand damit befasst“, überlegte Ningal. „Und Beliars Lehren haben mich auf meiner Suche nach Macht zugegebenermaßen in eine Sackgasse geführt.“
    „Es geht mir nicht nur um Forschung und die Weiterentwicklung der Magie“, fuhr Milten fort. „Ich glaube, wir müssen uns endlich von dem ewigen Krieg der Götter befreien. Können wir Innos und Beliar nicht dienen, ohne ihren ewigen Streit mitzutragen? Die Feuermagier müssen endlich lernen, dass nicht alle Schwarzmagier böse sind. Und umgekehrt muss auch jeder Schwarzmagier lernen, dass die Feuermagier nicht zwangsläufig ihre Feinde sind. Wir können doch selbst entscheiden, was wir tun. Davon müssen wir Gebrauch machen, wenn wir eines Tages einen stabilen Frieden erreichen wollen. Und wenn dann wieder ein Avatar auf den Plan tritt, der diesen oder jenen Gott vernichten will, muss unsere Gemeinschaft der Magier geschlossen gegen ihn stehen. Und gemeinsam werden wir die Macht haben, jeden Avatar aufzuhalten und den Fluch des Götterkriegs zu brechen.“
    „Ich muss mich auch nach einer neuen Tätigkeit umsehen“, erhob Merdarion die Stimme. „Ohne mein Augenlicht wäre es mühselig weiter in den Ruinen des Alten Volkes herumzustöbern. Und wie Milten ganz richtig sagt, ist es vielleicht an der Zeit, dass wir aufhören in der Vergangenheit zu leben und unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen.“
    „Ningal, Merdarion.“ Milten trat mit begeistertem Glitzern in den Augen vor die beiden Magier. „Ich möchte eine neue Gemeinschaft gründen. Eine, die die Lehren aller drei Götter studiert, das Wissen aller Kirchen lehrt, aber niemandem aufzwingt, was er zu glauben hat. Damit alle Magier in der Gemeinschaft zusammenarbeiten können und gemeinsam Neues schaffen können. Würdet ihr mir bei diesem Unterfangen helfen? Es wäre nur ein richtiges Zeichen, wenn von Anfang an jede Glaubensrichtung vertreten wäre.“ Milten spürte deutlich, wie die anderen Wassermagier skeptische Blicke tauschten. Sie schienen nicht davon überzeugt, mit den Anhängern Innos‘, von denen sie sich in grauer Vorzeit aus gutem Grund abgespalten hatten, und mit den Anhängern Beliars, die sie aus ihren Städten vertrieben hatten, zusammenzuarbeiten.
    Doch Merdarion schien über diesen Zweifel erhaben. „Ich würde gerne ein Teil dieser neuen Bewegung sein“, bekannte er sich.
    „Mich interessieren die magischen Möglichkeiten, die sich aus so einem Zusammenschluss ergeben“, gab Ningal zu. „Ich denke, ich werde dich zumindest vorerst bei dieser Sache unterstützen.“
    „Aber dann solltet ihr doch die wichtigste Frage zuallererst klären!“, platzte Saturas in ihre Eintracht. „Welche Farbe werden die Roben eurer Gemeinschaft haben? Ein Grünton würde zu sehr an die Druiden erinnern, gelb halte ich für geeignet. Allerdings ist Gelb ja nicht gleich gelb, kanariengelb halte ich für…“
    „Nein, nein! Es soll doch gerade nicht darum gehen eine Kirche zu gründen, sondern die Mitglieder der anderen Kirchen zu vereinen! Sie sollen bleiben, was sie sind, und trotzdem an einem Strang ziehen. Neue Roben halte ich für unangebracht“, wandte Milten ein. „Aber das mit den Druiden ist eine super Idee, wir sollten sie direkt fragen, ob sie nicht auch mit einstigen wollen!“
    „Mach mal lieber halblang“, beschwichtigte Ningal ihn. „Du… Wir haben uns doch auch so schon genug vorgenommen.“
    Dies war die Geburtsstunde der Gemeinschaft von Tooshoo.

    Navius kam es vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass er die kreisrunde Höhle der Megalithen betreten hatte. Und genau genommen war es ja auch so. Doch genau wie damals standen die neun Megalithen einträchtig in einem Kreis um ihn und Cecilia herum. Und suchten einen neuen Schneemagier.
    „Nachdem Rhademes gestorben ist, ist der Eiskreis hierher zu seinem Ursprung zurückgekehrt“, sagte Shiva förmlich. „So wie es stets der Fall ist, wenn der mit ihm verbundene Schneemagier verstirbt.“
    „Damit sollte Varant gerettet sein“, schlussfolgerte Navius und ihm fiel bei diesen Worten eine schwere Last von den Schultern.
    „Es gibt aber auch so noch genug zu tun“, erinnerte Cecilia ihn bedrückt. „Der Tempel des Meeres wurde zerstört. Gegenwärtig liegt der Stützpfeiler offen und kann von jedem erreicht werden. Dabei wissen jetzt so viele von seinem Standort.“
    „Diejenigen, die dabei waren, sind nicht das Problem“, sagte Navius. „Sie haben mit eigenen Augen mit angesehen, was passiert, wenn man den Stützpfeiler stört. Ich glaube nicht, dass jemand von ihnen so töricht ist, Rhademes‘ Fehler zu wiederholen. Aber du hast recht. Wir müssen die Pforte neu errichten. Und vielleicht sollte dieses Mal sogar niemand Zugang zum Stützpfeiler erhalten.“
    „Bevor sich um diese Dinge gekümmert werden kann, brauchen wir einen neuen Schneemagier“, erinnerte Shiva sie.
    „Das stimmt“, pflichtete Cecilia ihr bei. „Du kannst nicht ewig in dem Körper eines Wächters bleiben, Navius. Wir müssen dich wieder mit dem Eiskreis verbinden, damit du wieder ohne Fokus in deiner Brust leben kannst.“
    „Uns, den Megalithen, ist es gelungen, die Waagschalen neu zu erschaffen“, erklärte Shiva und mit einem Schwenk ihrer Hand schwirrten sieben Waagschalen herbei, die den vorherigen vollkommen glichen. Sie umzingelten Navius, wie er es schon kannte.
    Doch noch bevor Shiva ihre Hand sinken lassen konnte, um das Gewicht seiner Sünden zu wiegen, sagte er: „Halt, Shiva. Ich werde kein Schneemagier mehr sein.“ Cecilia zuckte bei seinen Worten zusammen und warf ihm einen ungläubigen Blick zu. Er glaubte, selbst in den Gesichtern der Megalithen ringsum Verwunderung lesen zu können. „Ich bin doch eigentlich schon längst tot. Wäre Shivas Fokus nicht gewesen, wäre ich heute gar nicht hier. Meine Zeit in dieser Welt ist vorbei. Und auch wenn Horetius mit den meisten seiner Anschuldigungen falsch lag, so waren einige von ihnen doch nicht von der Hand zu weisen. Ich bin träge und geistig müde geworden. Das Amt des Schneemagiers ist zu wichtig, als dass es jemand ausüben sollte, der nur das Nötigste tut. Die Welt braucht einen Schneemagier, der besonnen, aber beherzt an seine Aufgabe herangeht. Und die Zeit hat wohl gezeigt, dass ich das nicht bin.“
    „Aber dann wirst du sterben“, sprach Cecilia die unvermeidliche Tatsache aus.
    Schweigen lastete bleiern in der Höhle. Shiva senkte ihren Arm. Und mit ihm sank auch eine der Waagschalen. Wie schon Horetius vor ihr entblößte auch sie seine Trägheit. Shiva sah ihm tief in die Augen und er hielt ihrem Blick stand.
    „Wer soll dann mit dem Eiskreis verbunden werden und Zugang zu göttlicher Macht erhalten?“, fragte Shiva.
    „Ich denke, wir haben einen geeigneten Kandidaten mitgebracht“, antwortete Navius und wie aufs Stichwort trat Phil aus den Schatten, die Klaue Beliars mangels Schwertscheide noch immer in Händen. Unsicher tapste er in die Mitte der Höhle.
    „Er ist noch ein Kind, Navius!“, rief Cecilia. „Du tust einem Kind keinen Gefallen, indem du ihm diese Last aufbürdest.“
    „Ich glaube nicht, dass Phil noch ein Kind ist“, widersprach Navius ihr unbeeindruckt. „Sieh ihm in die Augen. Er hat schon mehr erlebt und überstanden als die meisten Erwachsenen. Und du wärst ja für ihn da, seine Situation wäre eine ganz andere als meine damals.“
    Cecilia schien alles andere als überzeugt. Shiva ließ wortlos die Waagschalen von Navius zu Phil schweben, dem eine Mischung aus Unglauben und Faszination ins Gesicht geschrieben stand. Als Shiva ihren Arm senkte, verharrten die Waagschalen.
    „Wie ist dein Name, junger Wanderer?“, fragte Shiva den Jungen.
    „Phil“, antwortete er atemlos.
    „Was trägt das Balg da für ein Schwert bei sich?“, fragte die Greisin und schlug unruhig mit ihrem Gehstock auf den Höhlenboden. Es verströmt eine ungute Aura.“
    „Es ist die sagenumwobene Klaue Beliars“, antwortete Navius an Phils Stelle. „Die Wassermagier vertrauten sie uns an, weil ihre Methoden, sie zu verbergen, gescheitert sind. Sie bitten uns, die Zerstörung der Klaue in Erwägung zu ziehen.“
    Cecilia ging vor Phil auf die Knie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Was hast du mit diesem Schwert vor? Ist es dir nicht viel zu schwer?“
    „Ich weiß noch nicht so genau“, erwiderte Phil unsicher. „Ich habe mir schon immer ein Schwert gewünscht, damit ich meine Schwester besser beschützen kann. Aber wenn die Erwachsenen es mir wegnehmen und sie damit verletzen, würde ich mir das niemals verzeihen.“
    „Du hast eine Schwester?“, wiederholte Cecilia verdutzt. „Warum möchtest du dann Schneemagier werden?“
    „Na, um sie zu beschützen natürlich“, erklärte Phil noch einmal. „Dann müssen wir endlich nicht mehr stehlen, um nicht zu verhungern. Und wir müssen uns nicht mehr vor den Männern fürchten, die in den Gassen mit uns ihre Zeit totschlagen wollen.“
    Cecilia schenkte ihm ein warmherziges Lächeln. „Du bist ein guter Junge.“ Sie erhob sich wieder und warf Navius einen schwer zu deutenden Blick zu. „Ich verstehe nun, warum du ihn vorschlägst. Er hat das Herz am rechten Fleck, kennt die Finsternis dieser Welt und hat trotzdem die Hoffnung noch nicht verloren. Das könnte eine Triebfeder für einen guten Schneemagier sein.“
    „Mit deiner Hilfe wird er es schaffen“, bekräftigte Navius noch einmal. Cecilia wirkte verlegen.
    „Phil“, sagte Shiva mit ihrer melodischen Stimme. „Bist du bereit, dich in den Dienst von Adanos zu stellen, dem gerechten Gott und Wahrer des Gleichgewichts?“
    „Ja“, antwortete Phil schlicht.
    Es war für Navius eine merkwürdige Erfahrung, das Ritual als Außenstehender zu erleben. Die Megalithen hoben ihre Arme, Phil wurde von einer Kugel aus purem Licht eingeschlossen. Und als die Megalithen ihre Arme wieder senkten und das Licht verschwand, lag Phil auf dem Boden. In eine weiße Robe gehüllt, die ihm perfekt passte. Neben ihm die Klaue Beliars und die zerschlissenen Klamotten, die er seit Jahren getragen hatte.
    „Wao“, sagte er ehrfürchtig und begutachtete sich von allen Seiten.
    „Dann bleibt nun nur noch eines zu tun“, sagte Navius und fasste sich an die Brust. „Ich wünsche dir viel Erfolg, Phil. Mögen all deine Träume in Erfüllung gehen.“ Und mit einem Ruck riss er sich den Fokus aus der Brust. Cecilia nahm ihn sprachlos entgegen.
    Navius fühlte sich zunächst nur wie gelähmt. Dann spürte er, wie sich sein Körper langsam auflöste.
    „Navius, warte!“, riss sich Cecilia plötzlich aus ihrer Lethargie. „Anstatt neue Foki herzustellen, habe ich beschlossen, auch die letzten beiden zu zerstören. Die Wächter werden in diesem Zeitalter, wo die Götter nur noch so wenig Einfluss haben, nicht mehr gebraucht, oder? Siehst du das auch so?“
    Navius‘ Lippen bewegten sich kaum, doch er hoffte, dass sie ihn trotzdem verstand. „Du tust bestimmt das Richtige.“ Und dann verging er mit einem Lächeln. Zufrieden mit sich und seinem langen Leben.

    Er betrat das Lager von Hurit und seinen Nomaden unter der sengenden Mittagssonne Varants. Der Schnee war rasch geschmolzen und das ursprüngliche Klima wiederhergestellt. Die Sippe aß gerade zu Mittag, doch als das kleine Mädchen ihn erkannte, ließ sie den Teller mit dem Eintopf achtlos fallen, sprang auf und rannte ihm entgegen, nur um wenige Schritte vor ihm abrupt anzuhalten und ihn mit großen Augen anzusehen.
    Vatras sah, dass sie Angst vor dem hatte, was er ihr erzählen würde. Er beeilte sich ein freundliches Gesicht aufzusetzen, obwohl all die Strapazen der vergangenen Stunden an ihm nagten und er noch keine Zeit gehabt hatte, sich auszuruhen. „Deinem Bruder geht es gut, Phinea. Du brauchst dir keine Sorgen mehr um ihn zu machen.“
    Vatras war etwas irritiert, als sie nicht begeistert in die Luft sprang, sondern ihn nur argwöhnisch anschielte. „Und wo ist Phil dann?“
    Vatras seufzte. Er hatte das Gefühl, den beiden Geschwistern noch etwas schuldig zu sein. „Wenn du möchtest, bringe ich dich zu ihm. Es ist allerdings eine sehr weite Reise.“
    „Das ist mir egal“, behauptete Phinea arglos. „Ich möchte endlich meinen Bruder wiedersehen! Und wir haben schon einmal eine ganz lange Reise gemacht.“
    Vatras aß nur rasch eine Schale Eintopf und ließ sich von Hurit ausreichend Wasser mitgeben, dann machte er sich mit Phinea auf die Reise durch die Wüste. Sie waren noch gar nicht so lang unterwegs, als Schnee vom Himmel fiel. Irritiert blinzelte Vatras zum Himmel, wähnte die Rückkehr des Albtraums, dem sie gerade erst entkommen waren. Doch es war nur Phil, der auf sie zu flog und dicke Schneeflocken schwitzte.
    Stürmisch schloss er seine Schwester in die Arme. „Brudi!“, quiekte sie und vergrub ihr Gesicht in seiner weißen Robe.
    Vatras war etwas mulmig zumute, Phil nun tatsächlich als Schneemagier zu sehen. Navius hatte ihn gefragt, ob er einverstanden war. Er war einverstanden gewesen, dass Phil diese Entscheidung selbst traf. Aber nun, da Phil tatsächlich in der weißen Robe vor ihm stand, hatte er das Gefühl, ihm schon wieder eine zu große Last aufgebürdet zu haben.
    Doch in diesem Moment, da sich die beiden Kinder weinend vor Freude in den Armen lagen, hatte er eher das Gefühl, ihnen das Leben erleichtert zu haben.
    „Wir werden jetzt nie wieder Hunger haben!“, rief Phil überschwänglich und Phinea antwortete ihm mit einem überglücklichen „Jippieh!“. Vatras lächelte. Gerade hatte sie noch eine ganze Schale Eintopf verschüttet ohne mit der Wimper zu zucken. Doch er gönnte den beiden Kindern diesen Moment.
    Phil löste sich von Phinea und trat ihm entgegen. „Vielen Dank, dass du dich um meine Schwester gekümmert hast, Vatras! Das werde ich dir nie vergessen.“
    Und nun spürte auch er eine Träne in seinem Augenwinkel. „Das war doch das Mindeste, Phil.“
    Ob sie ihnen einen Gefallen getan hatten oder nicht, das würde die Zukunft zeigen.

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