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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Jünger des Xardas ist offline

    Wettbewerbsbeitrag von JüdeX

    Ein Beitrag zum Wäddbewärb Schreim naoch Buchstohm 4 und eine Fortsetzung von Für den König!

    Personen, Gegenstände und sonstiges Vorgegebenes:
    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: General Lee Graf von Moltwitz, Oberkommandant des königlich-myrtanischen Heeres
    Person B: Algas von Montera, königlicher Kämmerer
    Person C: Seraphia von Kavaros, Königin von Myrtana
    Person D: Barthos, Kronprinz von Myrtana
    Person E: Carolina-Roberta von Breybing, Prinzessin von Breybing

    Ort A: Vengard, Hauptstadt Myrtanas
    Ort B: Königlicher Forst am Nordufer der Ven

    Gegenstand A: Gebetbuch
    Gegenstand B: Brosche der Königin

    Ereignis A: Die Offenbarung von Barthos' tatsächlicher Abstammung
    Geändert von Jünger des Xardas (17.04.2017 um 21:00 Uhr)

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Jünger des Xardas ist offline
    1. Vorgabe:
    Person A bekommt von Person B mitgeteilt, dass Person C sie, also Person A, nach langer Zeit wieder treffen möchte. Das Treffen zwischen Person A und Person C soll an Ort A stattfinden. Bei sich soll – so die Auskunft der Person B – Person C den Gegenstand A führen. Person A will Ort A daraufhin baldigst aufsuchen, wird aber von einer anderweitigen Verpflichtung ausgebremst.



    „Und woher stammst du?“
    „Aus Dransdorf. Das liegt in Gothaland, Herr General.“
    „Da kommst du doch auch her, Joseph, nicht wahr?“
    „Stimmt, Herr General. Aus Eghain, das ist nur zwei Dörfer weiter. Uwe und ich sind praktisch Nachbarn.“
    „Und, Uwe, hast du Familie daheim?“
    „Ein Mädchen, Herr General. Wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir heiraten. Ihre Eltern haben einen kleinen Hof. Den gibt’s als Mitgift. Haben keine Söhne.“
    „Klingt nach einer guten Partie. Was ist mit deinen eigenen Eltern?“
    „Mein alter Herr ist Bandwirker. Ich und meine Brüder haben uns als Tagelöhner verdingt, um etwas dazuzuverdienen. Aber damit wird Schluss sein, wenn ich meinen Hof habe. Ich stelle meine Brüder als Knechte ein. Dann haben sie auch ein Dach überm Kopf.“
    „Wartet’s ab, Herr General, unser Uwe, der wird noch mal ein richtiger Großbauer!“
    Die Runde lachte über Joberts Witz.
    Er lachte mit ihnen. „Gib mir auch mal was“, wandte er sich dann an Hans, der gerade den Schnaps in der Hand hielt. „Pfui Beliar“, stieß er aus, nachdem er einen Zug genommen hatte. „So was bekommt ihr runter?“ Er nahm noch einen kräftigen Zug.
    Die Männer lachten abermals. „Ihr würdet euch wundern, Herr General!“, ließ sich Joseph vernehmen. „Hab‘ schon Schlechteres gesoffen.“
    Eine kurze Gesprächspause trat ein, in der er einen dritten Schluck nahm und die Flasche dann weiterreichte. Sie starrten in die Flammen, um die sie sich versammelt hatten.
    „Herr General?“, meldete sich der junge Uwe mit einem Mal zu Wort.
    „Hm?“
    „Stimmt es? Was sie sagen? Dass die Orks Dämonen sind?“
    „Ich habe noch keinen Dämon getroffen. Aber die Orks bluten, sie sterben, genau wie wir. Wenn ihr mich fragt, sind sie ganz gewöhnliche Kreaturen, nicht anders als Goblins oder Oger.“
    „Dämonen sind sie vielleicht nicht, aber Bestien, die Beliar folgen“, meinte Jan. „Meister Justinian hat es gestern erst erklärt. Es steht in der Heiligen Schrift. Ganz im Norden da leben Ham und Maham. Böse Völker, die Blut trinken und Säuglinge aus den Bäuchen ihrer Mütter schneiden und verschlingen. Akascha hat einst eine Mauer zwischen den Bergen aufgerichtet, um sie im finsteren Norden einzusperren. Aber wenn die Endzeit kommt, wird die Mauer fallen und Ham und Maham werden nach Süden ziehen und alles im Blut ertränken. Nur der Retter wird sie besiegen können.“
    Hans nickte ernst. „Ja. Die Orks sind Ham und Maham. Sie sind Vorboten der letzten Tage. Meister Justinian hat gesagt, es steht geschrieben, erst wird Innos siegen und seine Diener werden die ganze Welt beherrschen. Und dann wird Beliar sein letztes Aufgebot schicken. Und nur der Retter wird seine Horden aufhalten können.“
    Es wird kommen eine Zeit des Elends und des Schreckens“, rezitierte Jan. „Ja, ich glaube, so hat er‘s gesagt. Es... wartet mal, es werden geschleift die Tempel des Herrn und erwürget seine Diener und viele werden abfallen von des Herrn gerechtem Wort und die nicht wanken im Glauben werden verfolgt werden zwei Zeiten lang und dann eine Zeit und dann eine halbe, ehe kommet der Retter.
    Andere Soldaten nickten zustimmend. „So hat er‘s gesagt!“, pflichtete einer bei.
    Er würde dringend ein Wort mit diesem Feldprediger reden müssen. Am besten gleich auch mit den anderen. Aber er musste vorsichtig sein. Es mochte ihm nicht schmecken, doch bei den Feuermagiern, die das Heer begleiteten, endete seine Autorität. Und Kirche und Krone schienen diesen Endzeitglauben fördern zu wollen. Ja, natürlich wollten sie das. Welcher Soldat kämpfte schon tapferer und entschlossener als der, der den letzten großen Krieg, als der, der gegen das Böse selbst kämpfte? War es im Varantkrieg anders gewesen, jenem letzten großen Krieg, der für immer hatte Frieden bringen, der die Macht Beliars auf Erden hatte brechen sollen? War es in den Feldzügen gegen Nordmar und die Südlichen Inseln anders gewesen, jenen heiligen Missionen, die das Licht Innos‘ in alle Winkel der Welt hatten tragen und diese unter der Gerechtigkeit des Herrn hatten einen sollen?
    „Ich weiß nicht, wo im Norden Ham und Maham stecken. Aber ich weiß, dass das Land der Orks nie hinter irgendeiner Mauer lag. Ich kenne die Nordmarer ein wenig und lasst euch gesagt sein, ihr Volk hatte schon immer mit den Orks zu kämpfen. Und nach Myrtana sind sie auch früher schon einmal eingefallen, im ersten Orkkrieg. Ohne dass die Endzeit gekommen wäre. Und was die Geschichten über die blutrünstigen Bestien angeht, sage ich euch noch einmal: Die Orks sind keine Dämonen. Was immer euch die Magier sagen, sie schlachten nicht jeden Menschen. In den Gebieten, die sie erobert haben, haben sie manche versklavt, manche lassen sie in Freiheit unter ihrer Herrschaft leben, ein paar dienen ihnen sogar als Söldner, wie ihr alle wisst.“
    Karl spuckte aus. „Verräter.“ Er erntete hie und da zustimmendes Gemurmel.
    „Mag sein“, fuhr er unbeirrt fort. „Kämpft gegen die Orks und kämpft tapfer. Sie sind in unser Land eingefallen. Sie kommen als Eroberer. Sie versklaven die unseren. Deshalb stellen wir uns ihnen entgegen. Wir werden sie aufhalten und wir werden sie wieder auf ihren Gletscher zurücktreiben. Ihr werdet kämpfen für eure Familien und Dörfer und Höfe und eure Mädchen zuhause“ – hier nickte er Uwe zu – „aber lasst euch keine Flausen in den Kopf setzen. Den Jüngsten Tag mögen unsere Kindeskinder einmal erleben, aber ich glaube nicht, dass er zu unseren Lebzeiten noch hereinbrechen wird. Das hier ist ein Krieg wie jeder andere auch. Lasst euch das von einem gesagt sein, für den das nicht der erste ist.“
    Die Männer nickten. Niemand widersprach. Vor seiner Erfahrung hatten sie alle gehörigen Respekt.
    „Herr General“, fragte Morten dann, „wenn das hier auch nur ein Krieg wie jeder andere ist, war der Varantkrieg dann genauso schlimm wie dieser? Oder schlimmer?“
    „Tja, Morten, zumindest ist dieser hier nicht so unerträglich heiß.“ Gelächter erklang von allen Seiten. „Der Varantkrieg war... komplizierter. Aber ich kann dir nicht sagen, welcher Gegner schlimmer ist, die Orks oder die Assassinen. Ich habe nie zuvor gegen Orks gekämpft, bloß gegen Menschen. Aber um ehrlich zu sein... Bei den Assassinen mussten wir auf Täuschung und Hinterlist gefasst sein, auf vergiftete Klingen und dergleichen. Die Orks, tja, die kämpfen ehrenhafter.“
    „Meint ihr, solche beliartreuen Tiere wissen was von Ehre?“, fragte Joseph skeptisch.
    „Der Meinung sind jedenfalls die Nordmarer. Die Orks sind ihre Erzfeinde, schon immer. Aber sie respektieren sie als ehrenhafte Krieger. Im Übrigen weiß ich nicht, ob die Orks zu Beliar beten. Aber selbst wenn, wenn mich der Varantkrieg eins gelehrt hat, dann, dass es so einfach nicht ist. Die Menschen in Varant haben zu Beliar gebetet und sie mochten fehlgeleitet sein, aber sie waren nicht alle böse. Das wäre schön gewesen.“
    „Schön?“, fragte Jobert ungläubig.
    „Mhm.“ Er starrte in das Feuer vor ihm. Das Holz knackte und knisterte leise, während die Flammen darüber tanzten. Mit einem Mal musste er an Bakaresh denken und an die Flammen der brennenden Häuser dort, die bis in den Himmel geschlagen waren. „Einfach, sollte ich wohl sagen.“
    „Aber die Orks sind nicht wie die Menschen in Varant“, beharrte Joseph. „Sie sind überhaupt keine Menschen. Sie sind Tiere.“
    „Ich weiß nicht viel über die Orks. Aber Tiere sind sie ganz gewiss nicht. Tiere tragen keine Rüstungen und kämpfen nicht mit Äxten. Hätten wir es bloß mit Tieren zu tun, wäre dieser Krieg schon lange vorbei. Tiere gebrauchen keine Strategie.“
    „Der Krieg wäre schon lange vorbei, wenn der König bei uns wäre“, erklang es von Hans, der inzwischen wieder die Flasche in der Hand hielt.
    „Das stimmt“, pflichtete ihm Jobert bei. „Damals in Varant, da hat er noch Seite an Seite mit seinen Soldaten gekämpft. Hat den Wächter von Bakaresh erschlagen. War es nicht so, Herr General?“
    „Mhm.“ Er sah eine Rüstung im Feuer, rot vom Licht der untergehenden Sonne. Sah einen Kriegshammer auf einen Koloss aus Stein niedergehen. Sah glänzende Ringe an den Fingern des Kämpfers. Goldene Ringe. Besetzt mit Rubinen, mit Saphiren, mit Smaragd und Amethyst. Er wusste, dass ihm die Erinnerung einen Streich spielte, wusste, dass er sie in diesem Moment nicht so deutlich, so einzeln vor sich gesehen hatte, wie er sie jetzt sah. Aber gesehen hatte er sie doch.
    „Das war ja auch der heilige Rhobar, Innos‘ Segen über ihn.“ Eckart beflammte sich. Andere taten es ihm nach. „Unser König... der wird schön in Vengard hocken bleiben.“
    Er riss sich los vom Anblick der Flammen und bedachte den Soldaten mit einem strengen Blick. „Seine Majestät tut alles, um das Reich zu schützen, und ich bin sicher, dass er mit seinen Gedanken stets bei uns ist.“ Er sah in den Gesichtern der Männer, dass diese paar Worte sie nicht überzeugten. Und sie hinterließen in seinem eigenen Mund einen schalen Beigeschmack. Wie sollte er andere von etwas überzeugen, woran er selbst nicht recht glaubte? Gewiss gab es Leute, die das spielend leicht vermocht hätten. Aber er gehörte nicht zu ihnen. Dennoch fühlte er sich verpflichtet, es zu versuchen. „Das Reich liegt dem König sehr am Herzen. Aber es ist groß und er hat vielfältige Aufgaben. Niemandem wäre gedient, wenn er...“
    „General Lee?“
    Er blickte auf. Marik, einer seiner Unteroffiziere, kam mit großen Schritten auf ihn zu. „Was gibt es?“
    „Eine Gesandtschaft aus der Hauptstadt ist soeben eingetroffen.“
    Sofort war er auf seinen Füßen. „Was wollen sie?“
    „Haben sie mir nicht gesagt, General. Aber der junge Herr Theodemir führt sie an. Und er wird von seinem Onkel Algas begleitet. Und Herzog Wendmar ist auch mit ihnen gekommen. Alle drei warten in Eurem Zelt auf Euch.“
    Lee nickte seinen Soldaten zu. „Tut mir leid, Männer, aber ihr hört es ja, die Pflicht ruft.“
    Raschen Schrittes folgte er Marik durch das Lager. Überall brannten Feuer zwischen den Zelten, um die sich Soldaten drängten und miteinander tranken, plauderten und lachten. Sie prosteten ihm zu, ja manche jubelten gar, als er vorbeischritt, und er beantwortete dies, indem er ihnen zunickte, winkte, dann und wann einen einzelnen Soldaten grüßte.
    „Sie sind gerade erst eingetroffen?“, fragte er Marik, während sie an der vor einem größeren Zelt aufgebauten Schmiede vorübergingen, deren Feuer um diese Zeit jedoch erloschen war.
    „Ja, bin sofort los, um Euch zu holen.“
    „Und sie haben nichts gesagt?“
    In der Ferne erklang das Wiehern eines der Pferde, als wollte es ihn für diese Frage auslachen. „Die hohen Herren reden mit einem wie mir nicht, General.“
    Lee lachte freudlos auf. „Mach dir nichts draus, Marik. Wenn ich ehrlich bin, reden sie mit mir auch nicht. Und untereinander genauso wenig. Nicht wirklich zumindest.“
    Sie marschierten an einem der Küchenzelte vorbei, aus dem das Gewirr vieler Stimmen drang, und für eine kurze Zeit mischte sich der Duft einer deftigen Gemüsebrühe unter den Geruch, der über dem Lager hing – den charakteristischen Geruch jedes Heerlagers, jene ganz eigene Mischung aus Schweiß, Pferd, altem Leder und Urin, die Lee nun schon sein halbes Leben begleitete und die er kaum noch wahrnahm.
    Was die beiden Monteras wohl hier wollten? Lee kannte Theodemir nur flüchtig. Aber er wusste, dass er als Sohn Herzog Ullricks Erbe eines der größten und wohlhabendsten Territorien des Reiches war. Und dass er erst kürzlich Prinzessin Innora geheiratet hatte und damit nun Schwiegersohn des Königs war. Und was seinen Onkel Algas anging... Lee biss beim Gedanken an ihn unwillkürlich die Zähne zusammen. Nein, nicht an ihn, sondern an den Mann, der ihn vor Jahren zum königlichen Kämmerer gemacht hatte. Algas war eine von Lord Dominiques Marionetten; wenn er auftauchte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Und dann war da noch Herzog Wendmar. Der kam nicht vom Hofe in Vengard, sondern aus dem nahen Teuten. Was den Herrn von Andalien wohl dazu gebracht hatte, seinen Musenhof zu verlassen?
    Langsam kamen sie in jenen Bereich des Lagers, wo die dreckigen gleichfarbigen Zelte der Soldaten den großen und bunten der Offiziere wichen und wo Masten mit Fahnen und Bannern aufragten, die an diesem Abend ohne Wind freilich trostlos herunterhingen.
    Sein Zelt war ein kleiner Palast, gefertigt aus rotem Stoff und geschmückt mit Wimpeln, auf denen das Banner Myrtanas prangte. Mehrere Männer standen vor dem Eingang wache. Und er erkannte sofort, dass die meisten davon nicht seine waren. Marik schob die Zeltplane für ihn zur Seite und trat erst nach ihm ein.
    Er fand die Karten und Notizen von seinem Tisch geräumt und diesen dafür reich gedeckt. Die goldenen Kerzenständer und das Porzellangeschirr, die er normalerweise nicht aus den Truhen holen ließ, waren offensichtlich von seinen Männern ausgepackt worden. „Ah, General!“, begrüßte ihn Herzog Wendmar.
    Er neigte respektvoll das Haupt. „Zu Euren Diensten.“
    Der Herzog von Andalien winkte ihn mit dem Messer in seiner Hand heran. „Setzt Euch zu uns!“
    Lee entließ Marik, der stramm neben dem Zelteingang stehengeblieben war, mit einem Kopfnicken. „Danke, Marik, du kannst gehen.“ Dann setzte er sich auf den freien Stuhl neben dem Herzog und gegenüber Theodemirs von Montera. Eigentlich stand ihm der Sinn nicht nach noch einem Abendessen, immerhin hatte er gerade erst mit seinen Männern gespeist. Aber wenn eines in höfischen Kreisen nicht zählte, dann waren es persönliche Befindlichkeiten, und so ließ er sich von einem Diener ebenfalls von der Gänsepastete auftun, die seine drei Gäste sich bereits munden ließen.
    „Wir hatten erwartet, Euch hier in Eurem Zelt vorzufinden“, begann sein Gegenüber. Dann gluckste der junge Mann. „Aber stattdessen sagte man uns, Ihr säßet mit Euren Männern am Feuer.“
    „Ganz recht. Man hat Euch die Wahrheit gesagt.“
    „Aber was tut Ihr denn dort bei den einfachen Soldaten?“ Theodemir von Montera hatte ein schmales Gesicht, kleine, eng beieinanderliegende Augen und dunkelblondes Haar, das er nach der Mode junger Edelmänner am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf gebunden hatte. Und natürlich jene hervorstehende Unterlippe, die ein Markenzeichen derer von Montera war.
    „Ich pflege mich mit meinen Männern vertraut zu machen. Ich verbringe jeden Abend mit einem anderen Fähnlein. Ich versuche, ihre Namen zu lernen, frage sie, woher sie stammen...“
    „Und...“, Theodemir schien ein wenig nach Worten zu ringen, „– wozu?“
    „Man sollte die Männer kennen, die für einen kämpfen.“
    „Das macht es gewiss nicht leichter, sie in den Tod zu schicken“, mutmaßte Herzog Wendmar neben ihm.
    „Nein, aber das sollte einem Feldherrn auch niemals leichtfallen. Krieg, Hoheit, ist kein Schachspiel, wo es nur darauf ankommt, um jeden Preis den eigenen König zu schützen, während man die Bauern jederzeit opfern kann, solange es einem einen taktischen Vorteil einbringt. Krieg wird mit echten Menschen geführt. Und ich lege Wert drauf, mich selbst regelmäßig an diesen Umstand zu erinnern.“
    „Ein nobler Zug“, befand Algas von Montera in demselben Tonfall, in dem jemand „Ein kleidsames Wams“ oder „Eine elegante Frisur“ sagen mochte. Der Reichskämmerer hatte ein etwas aufgedunsenes, zur Plumpheit neigendes Gesicht, ohne dabei eigentlich dick zu sein. Er war nach der neuesten tymorer Mode gekleidet: Schwarze, glänzende Schuhe mit großen Goldschnallen, weiße seidene Strumpfhosen, Brokatweste und ein Jabot aus Batist. Sein Rock mit den weiten Ärmelaufschlägen war im Grün seines Hauses gehalten und auf seinem Kopf saß eine dunkle Allongeperücke, wie sie Herzog Benfryd von Tymoris-Aahlen in den vergangenen Jahren unter Myrtanas Adel populär gemacht hatte.
    „Aber ich habe Euch noch gar nicht zu Eurer Hochzeit gratuliert“, wechselte Lee an Theodemir gewandt das Thema. „Meinen Glückwunsch, Hoheit.“
    Der Angesprochene dankte, indem er leicht den Kopf neigte. „Meine Gemahlin weilt derzeit am Hof meines herzoglichen Vaters in Montera. Ihr werdet verstehen, dass sie die Reise an die Front nicht auf sich nehmen mochte.“
    „Und darf ich fragen, weshalb Ihr sie auf Euch genommen habt?“
    Theodemir griff zu seinem Weinglas und nippte daran. Vielleicht plante er eine Kunstpause. War dies der Fall, so vermasselte ihm sein Onkel jedoch diesen Plan: „Der König wünscht, über die Lage an der Front und den Verlauf des Krieges informiert zu werden.“
    Das brachte Lee zum Stirnrunzeln. „Das wird er. Ich sende regelmäßig Berichte nach Vengard.“
    „Das stimmt. Doch seine Majestät ist unzufrieden mit diesen Berichten. Einfach gesagt, genügen sie seiner Majestät nicht.“
    „König Rhobar“, ergriff Theodemir mit spitzen Lippen wieder das Wort, „bat mich, die Lage selbst zu inspizieren.“
    „Euch?“ Lees Brauen wanderten in die Höhe.
    „Der junge Theodemir steht hoch in des Königs Gunst“, erläuterte Herzog Wendmar lächelnd. „Besonders seit seiner Hochzeit mit des Königs Tochter.“
    „Ihr seid der Hauptstadt seit mehr als zwei Jahren ferngeblieben“, erläuterte Algas. „Das missfällt seiner Majestät.“
    „Seiner Majestät missfiele es sicher noch weit mehr, wenn plötzlich die Orks vor Vengard stünden. Damit das nicht geschieht, verbringe ich meine Zeit lieber im Feld als bei Hofe.“
    „Belassen wir es dabei, dass Eure Abwesenheit vom Hof bemerkt wurde“, überging Algas Lees Argument. „Und Euch sollte bewusst sein, wie bedeutsam dieses Jahr ist. Der Tod des Heiligen Rhobar jährte sich zum zwanzigsten Mal, ebenso wie die Hochzeit des Königspaares. Zu beiden Anlässen seid Ihr nicht erschienen, ebenso wenig wie zur Vermählung der einzigen Tochter unseres guten Königs mit meinem Neffen, obwohl Ihr jedes Mal eingeladen wurdet.“
    Lee wurde etwas ungeduldig. „Jedes Mal hielt ich es, bei allem gebührenden Respekt, für wichtiger, gegen die Invasion der Orks zu kämpfen, auf dass wir noch den dreißigsten Hochzeitstag des Königs werden feiern und seinen eigenen Todestag nicht allzu bald werden begehen müssen. Gewiss hat seine Majestät Verständnis dafür.“
    „Ich bitte Euch.“ Theodemir machte eine wegwerfende Handbewegung. „Diese Orks sind keine Bedrohung. Sie können weder Faring noch Folklung überwinden. Was halten sie schon? Einige Gebiete in Nordmar und die großen Ebenen. Es ist nur eine Frage der Zeit, ehe wir diese Tiere zurückschlagen.“
    Lee gluckste, während er sich mit seiner Serviette den Mund abtupfte. Mehr als einige Bissen schaffte er nun wirklich nicht mehr. „Wie es der Zufall so will, habe ich die Frage, ob die Orks Tiere sind, gerade erst mit meinen Männern erörtert.“
    „Ja, das war gewiss sehr... erhellend.“
    „Nun, ich darf Euch daran erinnern, dass diese Tiere schon einmal den Großteil der Weldritz und des Suldgaus eingenommen hatten und vor Geldern standen.“
    „Meinethalben, aber Ihr habt sie zurückgeschlagen. Und wir werden sie bald schon ganz aus dem Reich gedrängt haben.“
    „Das ist in der Tat mein Ziel. Und um dieses Ziel zu erreichen, werde ich an der Front bleiben und sämtliche Einladungen nach Vengard höflich ablehnen müssen. Aber Ihr könnt seiner Majestät sagen, dass ich zuversichtlich bin, den Orks im kommenden Jahr die Ebenen zu entreißen. Ich habe einen Plan für eine Offensive ausgearbeitet, den ich im nächsten Frühjahr ausführen möchte. Die Details werde ich seiner Majestät noch in diesen Tagen zukommen lassen.“
    Algas ergriff nun wieder das Wort anstatt seines Neffen. „Der König zöge es vor, wenn Ihr diese Details persönlich mit ihm besprächet. Wie ich Euch bereits sagte, genügen ihm schriftliche Berichte nicht länger. Er wünscht, ein genaueres Bild von dem zu erhalten, was Ihr hier eigentlich tut. Theodemir und ich sind nach seiner Hochzeit ohnehin mit meinem Bruder, der zu diesem Anlass selbstverständlich nach Vengard gereist war, nach Mittelland zurückgekehrt, um unsere Heimstatt zu besuchen.“
    „Es war der ausdrückliche Wunsch meiner Gattin, meine Frau Mutter zu treffen“, warf Theodemir ein.
    Algas nickte bedächtig. „Ganz recht, Herzogin Belinda konnte bei der Hochzeit leider nicht zugegen sein. Das Reisen, Ihr wisst. Nun, wie dem auch sei, da wir ohnehin gen Mittelland reisen würden, bat der König Theodemir – oh, Ihr müsst wissen, Theodemir ist unserem guten König wie ein Sohn! – er bat ihn also, weiter nach Westfeld zu reisen und auch Euch einen Besuch abzustatten, um ihm aus erster Hand zu berichten, wie es hier steht.“
    Lee gefiel das Misstrauen des Königs nicht, ebenso wenig dass ein Dreikäsehoch wie dieser Theodemir nun über seine Kriegsführung urteilen sollte, aber was blieb ihm schon übrig? „Ihr könnt Euch nach Belieben umsehen“, sicherte er dem königlichen Schwiegersohn also zu.
    „Oh, das werde ich, ganz gewiss“, versicherte Theodemir mit einer Stimme, die vor Selbstzufriedenheit nur so triefte. „Ferner sind wir auch hier, um Euch mitzuteilen, dass der König Eure Anwesenheit bei seinem Thronjubiläum wünscht.“
    „Er hofft“, ergänzte Algas in einem etwas gefälligeren, einschmeichelnderen Tonfall, „dass Ihr weniger geneigt seid, solch eine persönliche Einladung auszuschlagen als eine schriftliche.“
    „Ist das ein königlicher Befehl?“, fragte Lee. „Denn wenn nicht, dann muss ich wohl auch dieses Mal ablehnen, so leid es mir tut.“
    Algas und Theodemir wechselten einen Blick. Besonders der junge Prinz des Mittellands schien etwas verunsichert. Mit solch einer direkten Absage hatten sie wohl nicht gerechnet. „Nun“, gestand Algas zu, „so direkt geruhte seine Majestät sich nicht auszudrücken. Aber mit Verlaub, nachdem Ihr bereits der Todesfeier zu Ehren seines Vaters, seinem Hochzeitstag und der Vermählung seiner Tochter ferngeblieben seid, wäre es ein Affront, nun auch zum zwanzigsten Thronjubiläum unseres Königs nicht zu erscheinen. Zumal nachdem der König Euch die Gunst erwiesen hat, Euch persönlich durch seinen Kämmerer und den Gemahl seiner Tochter einladen zu lassen.“
    Ein Seufzen unterdrückend, nickte Lee. „Ja, für diese Ehre bin ich sehr dankbar. Aber es bleibt dabei, dass ich im Moment nur ungern die Front verlassen möchte. Die Gefahr, dass die Orks nach Westfeld einfallen...“
    „... ist sicherlich so groß nicht“, unterbrach ihn Theodemir. „Bald bricht der Winter herein. Und jedermann weiß, dass Kriege im Winter zum Stillstand kommen. Wenn Ihr jetzt mit uns in die Hauptstadt kommt und an den Jubiläumsfeierlichkeiten teilnehmt, werdet Ihr rechtzeitig zu Eurer geplanten Offensive im Frühjahr zurück sein.“
    „Das mag für gewöhnliche Kriege gelten. Aber Ihr vergesst, dass wir gegen Orks kämpfen, nicht gegen Menschen. Diese Kreaturen kommen weit aus dem Norden. Sie sind die Kälte und das Kämpfen in Schnee und Eis gewohnt. Das bedeutet, dass die Kämpfe im Winter nicht zum Stillstand kommen, sondern dass die Winter im Gegenteil besonders gefährlich sind. Die Orks genießen hier einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. In der Vergangenheit haben sie uns im Winter sehr zu schaffen gemacht. Ich erinnere Euch noch einmal an ihren Vormarsch durch den Suldgau und die Weldritz bis nach Geldern. Das geschah im Winter, als unsere Truppen kaum auf einen solchen Ansturm vorbereitet waren. Ich würde lieber vermeiden, dass sich so etwas hier in Westfeld wiederholt.“
    „Es bleibt dabei“, wiederholte Algas unbeirrt, „der König lädt Euch ein. Es mag kein direkter Machtspruch sein, der Euch nach Vengard beordert, aber ein solcher sollte auch nicht nötig sein, wenn Euer König und Eure Königin Eure Gegenwart wünschen.“
    Das ließ Lee aufhorchen. „Die Königin?“
    „Gewiss, Königin Seraphia teilt den Wunsch ihres Gatten. Bevor wir die Hauptstadt verließen, ließ sie mich noch wissen, dass es ihr ausdrücklicher Wunsch sei, Ihren Retter, dem sie verdankt, dass sie überhaupt den Tag erleben durfte, da sie den Thron bestieg, bei Ihrem Thronjubiläum einmal wiederzusehen. Auch sie hofft, dass Ihr endlich wieder nach Vengard kommen werdet.“
    „Ich verstehe.“ Lee nickte versonnen und versuchte, sich den Anschein zu geben, als dächte er nach. Seine Entscheidung war in dem Moment gefallen, als Algas Seraphia erwähnt hatte, aber das sollte niemand wissen.
    Der Kämmerer enthob ihn vorerst des Zwangs, etwas sagen zu müssen, denn er sprach einfach weiter: „Überhaupt sollt Ihr wissen, dass die Königin mit ihren Gedanken stets bei Euch ist, bei Euch und Euren tapferen Männern. Täglich entzündet sie mittlerweile Kerzen in der Hofkapelle und betet für einen schnellen Sieg und eine sichere Heimkehr unserer Soldaten.“
    Theodemir unterstrich die Worte seines Onkels mit eifrigem Nicken. „Unsere Königin hatte schon immer ein Herz voller Mitgefühl für das einfache Volk“, warf er ein. „Ein Zug, den meine Gemahlin von ihr geerbt hat. Bisweilen fehlt ihnen wohl eine gewisse männliche Härte, die zum Regieren nötig ist. Die Königin missbilligte beispielsweise die Errichtung dieser magischen Barriere im Minental. Aber derlei kann man ihr oder meiner Gattin kaum zum Vorwurf machen. Es fällt ihnen schwer, zu begreifen, dass Innos, der große Gott der Herrschaft, Ordnung und Gerechtigkeit hochhält, nicht Barmherzigkeit, und dass eben dies die Tugenden eines Königs sind: Er muss die Ordnung bewahren und er muss Gerechtigkeit walten lassen, aber er kann sich kein schwaches Weiberherz leisten, das noch mit dem Verworfensten Mitleid hat, schließlich liegt das Schicksal Tausender und vor allem des ganzen Reiches in seinen Händen. Stellt Euch vor, die Königin hat gar Verhandlungen mit den Orks angeregt. Sie will so viele Soldatenleben schützen wie nur möglich, das ist gewiss nobel, aber Ihr wisst sicherlich am besten, wie nötig es ist, einige dieser Leben zum Wohle des Reiches zu opfern, General.“
    „Ich würde sogar behaupten, die Güte und das Mitgefühl unserer guten Königin sind in der letzten Zeit noch angewachsen“, sinnierte Algas. „Unter uns: der Tod Prinz Innostians nur wenige Wochen nach der Geburt – unser König hat diesen schrecklichen Verlust selbstverständlich mit der Fassung getragen, die sich für einen wahren Monarchen geziemt – scheint sie noch frommer gemacht zu haben. Sie verbrachte zuletzt einige Zeit mit dem Erzmagier – selbstverständlich bevor er sich der Ketzerei verschrieb – und selbst den Wassermagiern und dieser Tage zieht sie sich oft in die Kapelle zurück. Auch geht sie nirgendwo mehr ohne ihr Gebetsbuch hin. Ich bin sicher, Euch fernab der Gefahr zu wissen oder gar in Vengard wiederzutreffen, würde ihr Herz mit Freude erfüllen. Immerhin habt Ihr sie einst aus den Klauen dieser beliarischen Assassinen befreit.“
    Der Gedanke an den Tod des Prinzen versetzte Lee einen Stich, wie er es bereits getan hatte, als er zum ersten Mal davon gehört hatte. Sicher, es schmerzte ihn auch, dass Seraphia die Kinder eines anderen gebar, aber es waren dennoch ihre Kinder. Und so wenig sie ihren Mann liebte, so sehr liebte sie ihre Kinder. Der Tod ihres Sohnes im Kindbett musste furchtbar für sie gewesen sein. „Nun, die Herren“, hob er an und räusperte sich, „ich werde über Eure Worte nachdenken. Mit der Gefahr durch die Orks ist nicht zu spaßen. Aber ich sehe, dass man mich in Vengard wünscht. Ich bitte Euch, lasst mich über all das schlafen. Ich werde Euch morgen meine Entscheidung mitteilen.“
    Theodemir schien etwas sagen zu wollen, doch Algas brachte ihn mit sanftem Druck auf seinen Arm zum Schweigen und erhob sich rasch. „Dann wollen wir Eure Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, General. Gewiss habt Ihr manches zu bedenken. Der König wird zu schätzen wissen, dass Ihr Euch so um die Verteidigung des Reiches sorgt.“
    Die Verteidigung des Reiches... Die würde für einige Wochen auch ohne seine unmittelbare Mitwirkung auskommen. Während Lee den königlichen Kämmerer und den Prinzen des Mittellands zum Zeltausgang begleitete und einen seiner Leute anwies, sie in ein angemessenes Quartier zu bringen, plante er in Gedanken schon genauestens seinen Fortgang: Welchem seiner Offiziere er welche Verantwortung übertragen, mit welcher Order er jeden von ihnen zurücklassen, wie er die Verteidigung der Frontlinie arrangieren und die Truppen aufstellen würde. Und natürlich kreisten seine Gedanken auch um Seraphia. Der Vorwand war ihm durchaus recht, auch wenn er sich eines unguten Gefühls angesichts des Umstands, dass er seine Männer zurücklassen sollte, nicht erwehren konnte. Viel zu lange war es schon wieder her. Und er verfluchte sich selbst, dass er nicht bei ihr hatte sein können, als sie ihren Sohn verloren hatte. Ja, er würde so schnell als irgend möglich nach Vengard aufbrechen. Als er sich wieder umdrehte, saß Herzog Wendmar, der sehr langsam gegessen hatte, noch immer bei Tisch. Erst jetzt legte er Messer und Gabel beiseite. „Ihr habt gar nicht erwähnt, weshalb Ihr hier seid“, bemerkte Lee bei seinem Anblick.
    Wendmar lächellte. Er hatte ein sehr gewinnendes Lächeln und überhaupt ein gutaussehendes Gesicht. Sein braunes Haar war kurz gehalten, wie man es wohl eher bei manchem jungen Studenten oder bürgerlichen Herrn als bei einem Adligen gefunden hätte. Sein Kinn war makellosglatt rasiert. Seine Züge wirkten streng, aber dabei nicht unfreundlich und hatten etwas Jugendliches, wenngleich er schon Ende dreißig war. Wie stets war der Andalenherzog statt in eine aufwändige Hoftracht in die Uniform eines Offiziers gekleidet. Schneidig war wohl alles in allem das Wort, das ihn am besten beschrieben hätte. „Das Anliegen der beiden werten Hoheiten von Montera erschien mir wichtiger als mein bescheidenes, also hielt ich mich lieber zurück. Ich soll Euch von meiner Frau Mutter grüßen.“
    „Meinen Dank. Wie geht es ihr?“
    „Oh, bestens. Sie ist sehr zufrieden mit sich, jüngst endlich Herrn Gernholt für ihren Salon gewonnen zu haben. In der Tat ein sehr vielversprechender philosophischer Geist. Ich habe ihm einen Lehrstuhl an meiner Universität angeboten.“
    „Richtet Herrin Amalia bitte auch meine Grüße aus. Und Eurer Frau und den Kindern ebenfalls.“
    „Das werde ich gerne tun.“ Der Herzog erhob sich. Er stand kerzengrade da wie ein Soldat.
    „Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, was mir die Ehre verschafft.“
    „Nun, Algas und Theodemir kamen auf ihrem Weg zu Euch selbstverständlich durch Teuten. Und auf dem Rückweg werden sie es ebenfalls passieren und ich werde mich ihnen ohnehin anschließen müssen, denn im Gegensatz zu Euch habe ich keine derlei praktische Ausreden parat, den Jubiläumsfeierlichkeiten in Vengard fernzubleiben. Übrigens möchte ich auch Euch nicht dazu raten“, setzte er hinzu und machte einige Schritte durch den Raum und kam vor einem Regal zum Stehen, in das man hastig Lees Karten gepackt hatte. „Das sind die Karten unserer und der feindlichen Stellungen?“, fragte er und dann, als Lee nickte: „Ich darf doch?“ Lee nickte abermals und der Herzog entrollte eine Karte und besah sie sich interessiert. „Ihr seid ein vortrefflicher General. Ich halte große Stücke auf Euer strategisches Genie. Aber, wenn Ihr mir diese Offenheit erlaubt, man merkt Euch die bürgerliche Herkunft doch an.“
    Wendmar durfte sich diese Offenheit erlauben, denn aus seinem Munde klang sie nicht wie eine Beleidigung, was sie aus dem vieler anderer Adliger wohl getan hätte. Lee hatte den Herzog von Andalien, an dessen Hof er zuletzt auf seinem Weg ins Feld vor etwas über einem Jahr einige Tage geweilt hatte, immer geschätzt, denn ihm schien jede Herablassung abzugehen, er begegnete jedem, selbst dem niedersten Diener, auf Augenhöhe. Seine Minister und Würdenträger waren fast sämtlich Bürgerliche, darunter einige der angesehensten Künstler und Gelehrten des Reiches, die Wendmar und seine Mutter sehr geschickt an ihren Hof zu locken schienen. Viele von ihnen dozierten auch zugleich an der Universität, die Wendmar ins Leben gerufen hatte, und mit der er der berühmten Akademie von Geldern Konkurrenz machen zu wollen schien.
    „Ihr habt eine gewisse praktische Einstellung, die... nun, eben praktisch ist, zumal in Fragen der Kriegsführung, aber bei Hofe kann ein zu großer Sinn fürs Praktische mitunter hinderlich sein. Die Etikette ist selten praktisch. Und Ihr tut nicht gut daran, die Leute vor den Kopf zu stoßen. Schon gar nicht den König.“ Wendmar blickte auf von der Karte, die er betrachtet hatte. „Kalsungen – war das nicht vor einem halben Jahr noch in unserer Hand? Die Stellungen haben sich zu Gunsten der Orks verschoben, nicht wahr?“
    „Wenn ihr mit „zu Gunsten“ meint, dass sie Landgewinne verbuchen konnten, ja. Aber tatsächlich stehen sie im Moment zu unseren Gunsten. Die Orks sind taktisch sehr viel geschickter, als ihnen die meisten meiner Offiziere zubilligen, aber sie sind ganz bestimmt nicht unbesiegbar. Es kommt jetzt darauf an, den Winter durchzustehen, ohne sie weiter vorankommen zu lassen. Ich bin sehr zuversichtlich, was meinen Plan für die Frühlingsoffensive angeht. Ich glaube, in einem schnellen Schlag bis zum Ebensee vordringen zu können. Und dann wird ihnen kaum etwas übrig bleiben, als wieder über den Pass nach Nordmar zu fliehen.“
    „Hoffen wir, das Ihr Recht behaltet.“ Wendmar legte die Karte wieder ins Regal. „Was Eure Frage angeht: Ich beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, um zu tun, was der werte Theodemir auf Geheiß unseres Königs tut, und mir ein eigenes Bild der Lage zu machen. In der Hauptstadt – eigentlich überall im Reich, und es kann nicht schaden, wenn Euch das bewusst ist, wenn Ihr nach Vengard geht, was ich Euch weiterhin dringend empfehle – dort ist man relativ zuversichtlich, was den Krieg angeht. Oder vielleicht sollte ich eher sagen: Man beachtet ihn kaum. Faring und Folklung werden standhalten, zumindest soweit liegt Theodemir wohl richtig. Und das bedeutet, Vengard, ja selbst Montera hat in nächster Zeit keinen Angriff zu befürchten. Die Kampfhandlungen finden weit weg statt. Die eroberten Gebiete sind arm und unbedeutend und liegen am Rande Myrtanas. Bei Hofe betrachtet man den Einfall der Orsk als ein unbedeutendes Ärgernis, das bald vorüber sein wird. Die Errichtung der Minenkolonie auf Khorinis und dieser magischen Barriere wird von den meisten Höflingen trotz des Desasters, in dem es endete, als Geniestreich des Königs gefeiert. Man ist sich sicher, dass wir den Krieg mit dem Magischen Erz spielend gewinnen werden.“
    „Ihr teilt die Zuversicht der anderen Adligen nicht.“ Es war keine Frage. Die Worte seines Gesprächspartners ließen keine Zweifel übrig.
    Herzog Wendmar lächelte gequält. „Sagen wir, ich habe das Gefühl, mir nicht leisten zu können, sie zu teilen. Das Mittelland ist noch weit weg. Die Ostküste noch weiter. Andalien? Nicht so sehr. Die Orks stehen vor den Toren Westfelds. Wenn sie Eure Linien durchbrechen, könnten sie in drei Tagen in Teuten sein.“
    „Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, das zu verhindern, Hoheit, Ihr habt mein Wort.“
    Der Herzog schenkte ihm ein dankbares Kopfnicken. „Und ich vertraue, was das angeht, auf Eure strategischen Fähigkeiten. Versteht mich nicht falsch, ich bin kein Defätist. Aber ich möchte nicht die Gefahren übersehen, die vor uns liegen. Oder auch hinter uns. Die meisten scheinen mir nur hier auf die Westfront und auf die Südfront zu schauen. Aber da ist auch noch die orkische Flotte. Und anderes, was uns Sorgen machen sollte. Myrtana hat sich bei seinen diversen Eroberungen sehr verausgabt. Und der König herrscht nun über ein riesiges Reich, das er mit verhältnismäßig wenig Soldaten halten muss. Varant ist auch nach zwei Jahrzehnten keineswegs befriedet, die Südlichen Inseln sind es erst recht nicht. Und man hört Beunruhigendes über Aufstände in den Kolonien. Und nicht nur dort. Auch die Bauern Myrtanas sind nicht glücklich über die erhöhten Steuern und ihre eingezogenen Söhne. Ganz zu schweigen von dieser Barriere. Vorerst mögen es nur lokale Unruhen hie und da sein. Aber mir scheint, unser Heer ist nicht groß genug, dauerhaft zugleich all unsere Kolonien zu halten und den Orks die Stirn zu bieten.“
    „Das ist der Grund, weshalb ich die Orks noch dieses Frühjahr von myrtanischem Boden vertreiben will. Und weshalb ich den König schon mehrfach ersucht habe, Söldner anzuheuern. Ich stimme Euch zu: Wenn dieser Krieg zu lange dauert, werden wir die Provinzen und Kolonien nicht halten können. Und wenn wir zulassen, dass die Orks hier in Westfeld oder im Suldgau durchbrechen und die Front sich verbreitert... Nun, dann werden wir mehr Soldaten brauchen. Und noch mehr Truppen aus Varant oder den Südlichen Inseln abzuziehen, hieße ebenfalls, diese Kolonien aufgeben.“
    Wendmar rieb sich versonnen das Kinn. „Ich fühle mich also in meiner Einschätzung der Lage bestätigt, wenn Ihr sie teilt. Euer Urteil in dieser Sache ist mir sehr wichtig, Graf. Nun, wenn ich so offen sein darf: Ich bin der Ansicht, wir sollten dringend den König auf die derzeitige Situation aufmerksam machen und ersuchen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Söldner, die Ihr erwähntet, anzuwerben, wäre wohl ein Anfang. Aber das wird nicht genügen, zumal wenn es nur mit weiteren Steuererhöhungen finanziert wird. Die Bauern und die Städte haben nun eine Generation lang die Kriege Myrtanas geschultert. Erst die Flammenzüge, dann der Varantkrieg, dann die Feldzüge nach Nordmar und auf die Südlichen Inseln, jetzt die Orks. Ich möchte dem König empfehlen, die Reichsstände einzuberufen. Wenn er den Bauern und den Städten entsprechende Zugeständnisse macht, wenn er sie in seine Politik miteinbezieht, den Städten mehr Autonomie gewährt, vielleicht gar die Leibeigenschaft aufhebt, dann wird er sich auch ihre Unterstützung in diesem Krieg bewahren können. Wenn Ihr mit an den Hof kommt, könnt Ihr auf meine Unterstützung beim König zählen, und ich hoffe, ebenso auf die Eure zählen zu können. Zwei Stimmen dürften wohl mehr Gewicht haben als eine. Und so Innos will, kann ich noch für einige Stimmen mehr sorgen. Ich schrieb vor meiner Abreise aus Teuten einen Brief an meinen Vetter, den Grafen...“
    „General!“
    Lee fuhr herum und sah abermals Marik im Zelteingang stehen. Der Feldwebel schien es zu seinem neuen Steckenpferd zu machen, die Gespräche seines Generals mit überraschenden Neuigkeiten zu unterbrechen. „Ja? Was gibt es denn?“
    „Unsere Späher berichten von neuen Truppenbewegungen der Orks. Gerade kam ein Bericht an: Kan soll sein Hauptquartier in Silden verlassen haben und hierher an die Westfront unterwegs sein.“
    Sofort war Lee alarmiert. Wenn der Oberherr der Orks selbst sich in Bewegung setzte, dann konnte das vieles bedeuten, aber nur das wenigste, was ihm davon einfiel, war gut. Und dieser Kan, dem die Orks folgten, hatte sich in der Vergangenheit bereits als ein Meister der Taktik erwiesen. Lee wusste, dass er ihn auf keinen Fall unterschätzen durfte. „Herzog“, wandte er sich noch einmal nach hinten um, „Ihr entschuldigt mich, aber die Pflicht ruft, wie Ihr hört.“ So sehr es ihn schmerzte, sein Aufbruch zu Seraphia würde wohl noch etwas warten müssen.

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    An Ort A stellt sich heraus, dass dort gar nicht Person C, sondern Person D anwesend ist. Es entsteht ein Streit zwischen Person A und Person D, der sich (auch) um das lange zurückliegende Ereignis A dreht, welches mit Ort B in Verbindung steht.



    Zunächst kreisten Lees Gedanken vor allem um das, was hinter ihm lag. Um den Krieg. Er hatte seine Männer unter dem Kommando Major Kubans zurückgelassen und diesem wiederum klare Instruktionen gegeben, was er im Falle einer neuen Angriffswelle der Orks zu tun hatte. Dennoch, der Gedanke daran, dass er die Front verließ, während Kan offenbar irgendeinen neuen Zug vorbereitete, behagte ihm nicht.
    Sie hielten nur für einen Tag in Teuten, wo sie in Wendmars Stadtschloss übernachteten. Die Herzoginmutter erwies sich als gute, wenn auch exzentrische Gastgeberin, wie schon als Lee die Stadt das letzte Mal in entgegengesetzter Richtung passiert hatte. Den Abend füllten philosophische und ästhetische Debatten. Mit ihnen am Tisch saßen der Geheime Rat Kälthe und Herr Herland, Professor an der herzoglichen Universität, zwei von Myrtanas renommiertesten Dichtern, die zu Anfang eifrig über ihre jeweiligen Dramentheorien debattierten, sowie der bekannte Naturforscher Karl Untmann und der Philosoph Mehsing, die später ein Gespräch über die neuesten Entdeckungen der Physik über die Natur des Lichts und über Farbenlehre anstießen, an dem sich auch Kälthe lebhaft beteiligte. Herzog Wendmar hörte den an seinem Hof versammelten Denkern die ganze Zeit über aufmerksam zu, stellte einige interessierte Fragen und steuerte auch selbst einige Überlegungen bei. Algas und Theodemir hingegen waren auffallend wortkarg. Was Lee anbetraf, so hörte er nur mit halbem Ohr zu und verstand wohl bestenfalls ein Viertel; ihn beschäftigten weiterhin vor allem die Truppenbewegungen der Orks.
    Ihr Aufenthalt in Montera währte länger. Vier Tage verbrachten sie hier, ehe sie weiterzogen. Herzog Ullrick hieß sie mit allen gebührenden Ehren willkommen und veranstaltete am dritten Tag eine Jagd für sie. Lee entging nicht, dass der Herzog und sein Sohn recht einsilbig waren, wenn sie miteinander sprachen. Algas war dafür herzlicher denn je und wohl das einzige, was die beiden Monteras zusammen in einem Raum halten konnte. Wann immer Ullrick im Begriff zu sein schien, seinem Sohn in brüskem, kalten Ton einen Befehl zu erteilen, oder auch nur sein Mundwinkel missbilligend zuckte, wann immer Theodemir trotzig den Mund verzog, weil er sich wieder bevormundet fühlte, wechselte der Kämmerer geschickt das Thema. Zugleich schien er unablässig um seine Schwägerin zu kreisen und überhäufte diese mit Komplimenten und Höflichkeiten. Herzogin Belinda wiederum hatte nur Augen für Theodemirs Braut.
    Sie sieht Seraphia immer ähnlicher. Das war, was Lee durch den Kopf geschossen war, als er Prinzessin Innora kurz nach ihrer Ankunft getroffen und sich heruntergebeugt hatte, um ihr die Hand zu küssen. Schon immer hatte sie die blauen Augen und das blonde Haar ihrer Mutter gehabt. Doch nun, da sie zu einer schönen jungen Dame herangereift war, war die Ähnlichkeit umso frappierender. Indes: Ähnlich waren sich die beiden Frauen, nicht gleich. Da lag noch etwas anderes in Innoras Gesicht, das in dem von Seraphia nicht zu finden war, etwas beinahe Unwirkliches, eine Schönheit, die mehr die eines Engels als die eines Menschen zu sein schien und die einer Prinzessin wohl zu Gesicht stand, wenn sie vielleicht auch etwas zu perfekt und rein war, um eigentlich schön zu sein. Aber Lee übersah das, oder wenigstens: Er beachtete es nicht weiter, denn sein Blick erfasste gerade jene Züge ihres Antlitzes, die ihn an jenes andere erinnerten, das er so sehr vermisste.
    Den Charakter ihrer Mutter hatte die Prinzessin freilich bei aller äußerlichen Ähnlichkeit nicht geerbt. Sie war bloß ein scheues Ding, das artig zu knicksen verstand, aber sonst zumeist still am Arm ihres frisch angetrauten Gatten hing. Eine Prinzessin, wie sie im Buche stand.
    In Montera stießen weitere Edelleute zu ihnen, die ebenfalls zur Feier des Thronjubiläums nach Vengard reisten. Da war der greise Landgraf Kurbert von Dress, Herzog Jogust von Nitten-Neumark samt seinem gleichnamigen Sohn, Graf Kormar von den Obermyrtat-Erbachern mit dem schwarzen Scavenger und Graf Levin von den Tauwitzer Erbachern mit dem grünen Scavenger im Wappen. Und an ihrem zweiten Tag ritt Markgraf Heron zur Westmark mit einem ganzen Tross aus märkischem Adel in Montera ein.
    Mit zunehmendem Unwillen stellte Lee fest, dass Wendmar völlig Recht gehabt hatte. Der Krieg schien für den Adel Myrtanas schlicht nicht zu existieren. Was in den fernen Ebenen und an den Rändern Westfelds geschah, war kein Gesprächsthema, nicht einmal für diejenigen, deren Territorien relativ dicht an der Front lagen. Die zwanzigjährige Herrschaft Rhobars II., der das Reich über die gesamte Welt ausgedehnt hatte, das war alles, woran sie zu denken schienen. Einzig Markgraf Heron nahm ihn einmal kurz beiseite, um nach Lees Einschätzung der Lage zu fragen. Allerdings schien er sich weniger um die Orks an der Nordgrenze des Landes zu sorgen als um die Möglichkeit, dass ihretwegen weitere Besatzungstruppen aus Varant abgezogen werden könnten. Der Herr von Trelis schien nicht vergessen zu haben, wie er einst vor Lukkors Vormarsch hatte fliehen müssen, und offenbar waren ihm Nachrichten über die jüngsten Unruhen in Varant zu Ohren gekommen. Lee beruhigte ihn, dass er davon ausgehe, die Lage an der Front noch vor dem nächsten Sommer in den Griff zu bekommen, und fügte außerdem die halbherzige Versicherung hinzu, dass Statthalter Rigaldos hartes Durchgreifen in Varant sicher Wirkung zeigen werde, auch wenn er bei sich eher Gegenteiliges vermutete.
    Er wusste nicht, ob es der Anblick Prinzessin Innoras gewesen war, der ihm das Gesicht ihrer Mutter umso lebhafter ins Gedächtnis gerufen hatte, oder ob es die Tatsache war, dass sie sich immer weiter von der Front entfernten und stattdessen der Hauptstadt näherten, doch in Montera nahmen seine Gedanken an den Krieg und seine Sorgen wegen Kans Plänen ab und stattdessen drängte sich mehr und mehr der Gedanke an Seraphia in den Vordergrund, während sie erst nach Norden und durch Gothaland und dann durch das Vental in Richtung Meer zogen.
    Bald schon sahen sie in der Ferne die vertrauten Türme und Dächer Vengards emporragen. Wie stets wurde das Bild der Stadt von der Kathedrale St. Akascha in Vengard am Nordufer des Flusses und vom königlichen Schloss auf der Insel in seiner Mündung dominiert. Letzteres war auch das Ziel, das sie ansteuerten, nachdem sie das Faringtor passiert hatten.
    Die Stadt kam Lee voller und geschäftiger als üblich vor – was etwas heißen wollte, denn schließlich war Vengard die Hauptstadt der bekannten Welt und dazu der wichtigste Hafen der Ostküste und damit sowieso stets voller Menschen. Nun aber strömten Gäste aus allen Teilen des Reiches zu den Feierlichkeiten. Und der Adel des Landes brachte dabei ganze Heerscharen von Dienern und Gefolgsleuten mit sich. Derlei wiederum zog das übliche fahrende Volk an, das hoffte, von solch einem Menschenauflauf zu profitieren: Gaukler und Schausteller, Huren, Krämer, Taschendiebe und solche, die ein bisschen etwas von allem waren.
    Ihr Zug kam am Königsplatz zu halten, jenem großen Platz direkt vor den Palasttoren, um den die vielstöckigen Häuser der Oberschicht aufragten. Etwas war anders als in Lees Erinnerung: Ein überlebensgroßes Reiterstandbild thronte nun auf einem Sockel in der Mitte des Platzes, das es hier früher noch nicht gegeben hatte. Lee hatte König Rhobar I. nie getroffen, und doch wusste er sofort, dass der Krieger mit dem strengen, bärtigen Gesicht, dem unter der Krone hervorwallenden Haar und dem gen Himmel gereckten Schwert niemand anderen darstellen konnte. Vielleicht hatte man den verblichenen Monarchen jüngst anlässlich seines zwanzigsten Todestages mit der Aufstellung dieses Denkmals geehrt.
    Eine Abordnung der königlichen Ehrengarde empfing sie auf dem Platz, die Gesichter hinter den Visieren der roten Helme verborgen, stumm und unbeweglich wie Statuen. Auf den breiten Stufen, die zu den Palasttoren hinaufführten, standen drei Männer in Erwartung ihrer Ankunft. Der Linke war sofort als der Kommandant der Ehrengarde zu erkennen. Selbst wenn er nicht wie seine Männer eine glänzend silberne Rüstung mit roten Schulterplatten getragen hätte, diesen wilden flammenden Bart – seinen Helm hatte er abgenommen und sich unter einen Arm geklemmt – gab es auf der Welt nur einmal: Am Kinn Reichskommandant Robert Cobryns. Der Mann zur Rechten musste Oberhofmeister Franz von Nirrich sein. Der Zeremonienstab in seiner Hand und das aufwändige im Rot und Gold des Königshauses gehaltene Gewand verrieten ihn, noch ehe man nahe genug war, um ihn an seiner typischen steifen Haltung oder dem kleinen Bärtchen an seinem Kinn zu erkennen, das Lee immer etwas lächerlich gefunden hatte. Aber weder Cobryn noch von Nirrich interessierten ihn, als er gewahr wurde, wer sie da willkommenhieß.
    Kronprinz Barthos kam die Treppenstufen herabgestiegen und ihnen entgegen, als ihr Tross zu Füßen der Statue seines Großvaters hielt. Er stach in dem Meer von Rot, das einen im Königspalast von Vengard stets umgab und das von all den Wimpeln und Bannern, die auf den Turmspitzen flatterten, den Helmen und Schulterplatten der Ehrengardisten, den Gewändern des Oberhofmeisters, ja selbst dem Bart des Reichskommandanten gebildet wurde, dadurch hervor, dass er darauf verzichtete, die Farben seines Hauses zu tragen. Stattdessen hatte er ein für den Erben eines Weltreichs geradezu schlichtes Wams gewählt, das in dunklen Blau- und Grüntönen gehalten war. Zielstrebig hielt er auf die herzogliche Kutsche zu. „Schwester, was für eine Freude, dich wiederzusehen!“, hörte Lee, der es vorgezogen hatte, gemeinsam mit Wendmar vor der Kutsche einherzureiten, und nun absaß, ihn sagen und sah, wie er Prinzessin Innora die Hand reichte, um ihr hinabzuhelfen. Dann wandte er sich Theodemir und Algas zu, die nun ebenfalls ins Freie traten.
    Nachdem er die Monteras begrüßt hatte, drehte der Prinz sich zu Lee und Wendmar um, die mittlerweile an ihn herangetreten waren. „Auch Euch möchte ich im Namen meines Vaters herzlich in Vengard willkommenheißen, Hoheit“, sagte er und verbeugte sich leicht vor dem Herzog von Andalien.
    Dieser antwortete mit einer deutlich tieferen Verbeugung. „Eure königliche Hoheit sind zu gütig, uns hier persönlich zu empfangen.“
    Lee erschrak, als er den Prinzen so aus der Nähe sah. Er war deutlich herangereift in den letzten Jahren. Das letzte Kindliche war ganz und gar aus seinem Gesicht gewichen, das nun einen reiferen, ernsteren Ausdruck angenommen hatte – und dem seines Vaters deutlich ähnlicher geworden war. Das schulterlange schwarze Haar, das gewiss nicht von seiner Mutter kam, das mochte man König Rhobar zuschreiben. Doch diese strengen Züge, das harte Kinn, die Furche zwischen den Augenbrauen, die seinem Gesicht etwas Grimmiges gab, das waren nicht des Königs Züge.
    Dann wendete sich Barthos von Herzog Wendmar ab und ihm zu. Ihre Augen trafen sich und für einen Moment starrten sie einander stumm an. Lee suchte in den Augen des Prinzen... Was? Ja, was suchte er dort eigentlich?
    „General Lee.“ Barthos neigte auch vor ihm leicht das Haupt. „Gewiss wird seine Majestät hocherfreut sein, dass Ihr beschlossen habt, den Hof endlich wieder mit Eurer Anwesenheit zu beehren. Und gewiss wird auch meine Mutter sich freuen.“
    Lee konnte nicht viel mehr tun, als sich zu verbeugen. Und während der Prinz die übrigen Angekommenen begrüßte und sie dann in den Palast geführt wurden, schwirrte ihm nur eine Frage durch den Kopf: Was tat Barthos hier?
    Nach allem, was Lee wusste, sollte er sich auf dem Östlichen Archipel, der Heimat seiner Mutter aufhalten. Der Kronprinz, hatte es geheißen, würde zu einer großen Reise über alle Hauptinseln des Archipels aufbrechen. Und er würde sich eine Braut suchen, so ging das Gerücht. Es war höchste Zeit, da waren sich wohl viele im Reich einig. Immerhin näherte sich sein zwanzigster Geburtstag und immerhin hatte seine jüngere Schwester sich nun bereits vermählt. Wieso also war Barthos nun hier? Lee war auf diese Begegnung nicht vorbereitet gewesen. Und er wusste nicht, was er getan hätte, hätte er mit ihr gerechnet. Auch jetzt wusste er nicht, was er tun sollte. Gerne hätte er mit Barthos unter vier Augen gesprochen. Aber das war bei all diesem Trubel im Moment natürlich völlig undenkbar.
    Im Palast wurde ihm ein Zimmer zugewiesen. Ein großes mit einem imposanten Himmelbett und Eichenmöbeln, die sicherlich aus den Werkstätten Gelderns kamen, ganz wie es sich für den obersteren Heerführer des Reiches geziemte. Auch wurde er in aller Form zu einem Ball geladen, der noch heute Abend zu Ehren der frisch Eingetroffenen – allen voran der Prinzessin und ihres Gatten – stattfinden sollte. König und Königin, so erfuhr er, waren nicht zugegen. Und diese Erkenntnis war mindestens ebenso überraschend wie die, dass Prinz Barthos sich in der Stadt aufhielt. Offenbar hatten auch Algas und Theodemir hiermit nicht gerechnet und waren so überrascht wie er, den Monarchen, der sie doch ausgesandt hatte, um Lee herzubringen, bei ihrer Rückkehr nicht vorzufinden. Allerdings wurde ihnen versichert, dass das Herrscherpaar vor dem Beginn der offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten zurückkehren würde. In der Zwischenzeit oblagen die Tagesgeschäfte des Regierens dem Kronprinzen, der auch ihr Gastgeber sein würde, solange sie auf seine Eltern warteten.
    Lee verbrachte den Nachmittag allein in seinem Zimmer. Er hatte sich vorgenommen, sich etwas von der Reise zu erholen und vor dem Ball ein wenig auszuruhen, womöglich gar für zwei oder drei Stunden zu schlafen, doch stattdessen fand er sich, er wusste selbst nicht recht, wie es kam, die meiste Zeit über auf und ab gehen, eine Tätigkeit, die er nur gelegentlich einmal dadurch unterbrach, dass er zum Fenster schritt und hinausblickte. Man hatte von seinem Zimmer aus eine formidable Aussicht auf den Hafen. Der glich von hier oben einem Ameisenhügel mit all den kleinen Menschen, die hier durch die Straßen und Gassen und die Kaimauern entlang wuselten und dabei aus der Ferne nicht mehr waren als bunte Punkte. Vor Anker lagen die üblichen Koggen, die man überall an der Ostküste Myrtanas zu Gesicht bekam, aber auch mehrere Kriegsschiffe, schwere Galeonen westmärkischen Typs. Und natürlich all die Schiffe aus Übersee, die Vengard tagein, tagaus anliefen: Kauffahrer vom Östlichen Archipel und den Khorinseln, die Wein von Khorinis und Sandstein von Khorelius oder laranische Teppiche und Kohle aus den Minen von Kavaros bringen mochten; die Schiffe der Händler, die mit dem königlichen Privileg bedacht worden waren, Güter aus Bakaresh oder den südvarantinischen Häfen nach Myrtana zu schiffen, ein Privileg, das den Einwohnern von Varant verwehrt war, die laut königlichem Erlass nur noch innerhalb der eigenen Grenzen Handel treiben durften; ja selbst einige fremdländische Schiffe von den Südlichen Inseln, die exotische Waren oder aber weitere Gäste für das Thronjubiläum gebracht haben mochten: Abgesandte ihrer unterworfenen Fürsten. Es war alles einerlei. Die vielen Masten und Takelagen, die Fahnen und Flaggen, die emsig umherlaufenden Menschen und die den Hafen säumenden Kontore und Lagerhallen, das alles verschwamm vor seinen Augen zu einer einzigen undeutlichen Masse und bald schon schritt er wieder unruhig den Raum ab.
    Auf Seraphia war er vorbereitet gewesen. Auf Barthos nicht. Er hatte ihn nicht mehr gesehen, seit jener Jagd damals im königlichen Forst. Wann war das gewesen? Noch ehe die ersten Berichte über die Eroberung der großen Mine von Nordmar durch die Orks sie erreicht hatten. In einer Zeit, als es geschienen hatte, als wäre nun, nach der Unterwerfung der Südlichen Inseln, nach der Vereinigung der vier Reiche am Myrtanischen Meer ein ewiger Frieden eingekehrt. Wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten? Was sollte er ihm sagen? Wenn er wenigstens nicht allein mit ihm wäre (Lee dachte in jenem Moment nicht an die vielen anderen hundert Seelen, die sich ebenfalls im Palast aufhielten und die Barthos gewiss fast rund um die Uhr umschwärmten), wenn Seraphia ebenfalls hier wäre... Doch sie war es nicht, und wenn der Krieg ihnen eins gelehrt hatte, dann, dass es müßig war, über „hätte“ und „wäre“ nachzudenken: Eine Niederlage, die mit tausend Soldaten mehr ein Sieg gewesen wäre, blieb eine Niederlage.
    Lee blieb unruhig und in seine wild kreisenden Gedanken versunken, auch als der Ball begann. Die ermüdend langen Ankündigungen des Herolds, der unzählige Edelleute und Würdenträger samt all ihrer Titel aufzählte, schwappten einfach über ihn hinweg. Die ohnehin oberflächliche und bedeutungslose Konversation, in die man ihn dann und wann verwickelte, vergaß er sofort umgehend wieder; er gab bloß mechanisch Höflichkeiten von sich, wann immer man von ihm erwartete, etwas zu sagen, und schien damit eine durchaus passable Figur zu machen. Ein paar Happen aß er, doch mehr um sich zu beschäftigen, als des Hungers wegen. Am Tanz beteiligte er sich nicht. Barthos eröffnete ihn, indem er mit seiner Schwester tanzte, später forderte er noch einige andere Hoffräulein zum Tanz auf, wie es von ihm erwartet wurde, während Innora, deren natürliche Grazie und Anmut Lee an anderen Tagen hätte auffallen können, die er nun aber so wenig beachtete wie die anderen Anwesenden, die meiste Zeit an der Seite ihres Gatten verbrachte. Lee hatte Bälle, Bankette, Empfänge und dergleichen nie gemocht. Sie erinnerten ihn auf unangenehme Weise an seine bürgerliche Herkunft. Er fühlte sich auf ihnen gewöhnlich deplatziert und fremd. Heute aber war er viel zu abgelenkt, um sich unwohl zu fühlen.
    Der Ball verstrich rasch. Oder vielleicht dauerte er viele Stunden an, doch Lee war so mit sich selbst beschäftigt, dass er auf nichts um sich herum achtete. Er war kaum auf sein Zimmer zurückgekehrt, als es jedoch an seiner Tür pochte. Mit leichter Verwunderung – wer konnte um diese Stunde etwas von ihm wollen? – öffnete er. Es war ein Page, der sich ehrerbietig vor ihm verbeugte. „Graf Moltwitz, seine Hoheit der Prinz wünschen Euch zu sprechen.“
    Barthos! Lee war unsicher gewesen, wie der junge Mann wohl bezüglich seiner fühlen mochte. Aber offenbar wollte er ihn sehen. Abseits des Hofzeremoniells und all der neugierigen Augen und Ohren, die jedes offene Gespräch unmöglich machten.
    Er folgte dem Pagen auf die Nordseite des Palastes, wo der Kronprinz einen Turm bewohnte, der direkt gegenüber der Kathedrale auf der anderen Flussseite aufragte. Sein Führer klopfte auch hier und nach einigem Warten öffnete ihnen ein anderer Diener, der einen Leuchter in der Hand hielt und sich ebenfalls vor Lee verbeugte, ehe er sich umwandte und ihn ankündigte: „Königliche Hoheit, Graf Moltwitz ist hier, wie Euer Hoheit wünschten.“
    Irgendwo aus dem hinteren Teil der Gemächer vernahm Lee Stimmen. Noch ein Gast? Seine unausgesprochene Frage wurde ihm nach einigen Momenten beantwortet, als Herzog Wendmar im Türrahmen erschien. Er bedachte Lee mit einem freundlichen Lächeln und einer kleinen Verbeugung. „Guten Abend, Herr Graf.“ Lee erwiderte den Gruß milde überrascht. Dann entfernte sich der Herzog von Andalien strammen Schrittes und Lee wurde hineingebeten.
    Die Diener führten ihn durch zwei große, aber gänzlich dunkle Zimmer. Einzig der Leuchter des einen spendete etwas Licht. Doch als sie in einen dritten Raum traten, kam ihnen plötzlich ein Luftzug entgegen und blies die Kerzen aus. Dennoch blieb es hell. An der gegenüberliegenden Wand – an den übrigen standen Bücherregale, ein mit reichen Schnitzereien verzierter Schrank und ein Schreibpult – hingen Öllampen, deren Glas sie vor dem Wind schützte. In die Wand war auch eine gläserne Tür eingelassen, die offenstand und auf einen Balkon hinausführte. Eine Gestalt stand dort, den Rücken zu ihnen gewandt, und hob sich schwarz gegen den klaren und sternenübersäten Himmel ab. „Ah, General Lee. Willkommen. Wie freundlich von Euch, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid.“
    Lee verbeugte sich vor dem Prinzen, der sich nun zu ihm herumdrehte. „Aber selbstverständlich, Hoheit. Es ist mir eine Ehre. Ich sehe, dass Ihr nicht nur mich eingeladen habt. Es gibt wohl vieles, was Eurer Aufmerksamkeit bedarf, solange Ihr die Regentschaft in der Hauptstadt führt?“
    Barthos‘ Züge verloren für einen Moment ihren ernsten Ausdruck und offenbarten eine leichte Irritation. Seine Augen zuckten in Richtung des Ausgangs und schienen den Schritten seines vorherigen Besuchers zu folgen. „Herzog Wendmar, meint Ihr? Nein, ich hatte nur Euch bestellt. Der Herzog hat sich selbst eingeladen.“
    Auch Lee schaute unwillkürlich dem längst Verschwundenen nach. „Was wollte er denn?“
    „Über die Zukunft sprechen. Aber das ist jetzt nicht von Belang. Willem, Tobert, ihr könnt uns allein lassen.“
    „Sehr wohl. Wie Euer Hoheit wünschen.“
    Sie warteten, bis die Diener gegangen waren und sie das Schließen der Tür hörten. Bei diesem Geräusch entspannte Lee sich. „Es ist gut, dich wiederzusehen“, sagte er dann.
    Barthos‘ Stimme war ruhig und doch schneidend wie eine herabsausende Peitsche. „Ich habe Euch nicht erlaubt, auf das Hofzeremoniell zu verzichten.“
    „Aber Barthos...“ Die schroffe Abfuhr traf ihn völlig unvorbereitet. Etwas hilflos hob er die Arme und machte einen Schritt auf sein Gegenüber zu, wie um zu einer Umarmung anzusetzen, doch er ließ sie sofort wieder sinken. „Ich dachte...“
    Der junge Mann vor ihm wandte sich mit einem resignierten Seufzer ab. „Wir sind allein. Es ist auch egal. Nennt mich, wie Ihr wollt. Aber erwartet nicht, dass ich Eure Vertraulichkeiten erwidere.“
    „Barthos...“ Lee hörte, dass nun etwas Flehendes in seine Stimme getreten war. „Du bist mein Sohn.“
    „Ja, das habt Ihr und Mutter mir damals auf der Jagd im königlichen Forst mitgeteilt. Danke, ich habe es nicht vergessen. Und? Was erwartet Ihr nun von mir?“
    „Ich weiß auch nicht... Vielleicht, dass...“ Nein, Lee wusste es nicht.
    „Ihr wart nicht mehr hier, seit Ihr es mir gesagt habt. Nicht ein einziges Mal.“
    „Barthos, ich hatte Verpflichtungen. Ich habe nicht um diesen Krieg gebeten.“
    „Und ich habe nicht darum gebeten, Euer Sohn zu sein.“
    Lee ließ die Arme, die er noch einmal hilflos erhoben hatte, sinken. Auch sein Kopf sank mutlos herab.
    „Ich habe Euch nicht hergebeten, weil Ihr mein Vater seid“, fuhr der Prinz unwirsch fort. „Ich habe nie einen Vater gehabt. Mein Vater, der, wie sich herausstellt, gar nicht mein Vater ist, hat sich stets nur um eins gesorgt: Dass ich der perfekte Prinz und Nachfolger bin. Offenbar bin ich es nicht. Und je älter ich wurde, desto deutlicher wurde das. Mein Vater täte nichts lieber als mich zu enterben und durch Rhobar zu ersetzen, wenn er das könnte. Ihr seht, ich bin sechzehn Jahre ganz gut zurechtgekommen, auch ohne einen Vater, der mir ein Vater war. Ich bin die drei vergangenen Jahre nicht minder gut zurechtgekommen.“
    „Barthos, es tut mir leid, dass ich dir kein besserer Vater sein konnte. Es lag nicht in meiner Macht. Wenn die Umstände anders wären...“
    Barthos schnaubte. „Hört Ihr Euch reden?“ Dann drehte er sich herum, ging auf einen Tisch zu, der in der Mitte des Raumes stand. „Es ist auch egal. Ich sagte Euch doch, ich brauche keinen Vater. Ich brauche keinen und ich habe keinen. Ich habe einen falschen Vater, der wünschte, ich wäre nicht sein Sohn. Und ich habe einen richtigen, der bloß irgendein Offizier meines falschen Vaters ist und mit dem ich nicht mehr zu schaffen habe als mit irgendeinem anderen Würdenträger, der alle Jubeljahre bei Hof erscheint.“ Ein weiteres Schnauben drang aus seiner Kehle und er warf sich auf einen hinter dem Tisch stehenden Stuhl. „Einen richtigen. Was heißt das überhaupt? Was kümmert mich, aus wessen Lenden ich gekrochen komme? Nein“, wiederholte er dann noch einmal, diesmal leise, mehr zu sich selbst, „ich habe keinen Vater. Aber“ – und mit diesem Wort blickte er auf – „ich habe eine Mutter. Und um ihretwillen ließ ich Euch kommen.“
    „Was ist mit Seraphia?“, fragte Lee, der bei ihrer Erwähnung sofort hellhörig wurde, und trat an den Tisch heran. Seine Hand kam auf der Lehne eines Stuhls zu liegen. Er war unsicher, ob er sich ebenfalls setzen sollte.
    „Sie vertraut Euch. Sie sagt, Ihr würdet für sie durchs Feuer gehen.“
    „Das würde ich.“
    Etwas an der Art, wie Lee dies sagte, musste Barthos aus der Fassung bringen. Es war nur eine feine kaum wahrnehmbare Bewegung seiner Gesichtsmuskeln, aber sie reichte aus, um zu erahnen, dass hinter seinem Gesicht weit mehr vor sich ging. „Gut, es gibt also einen, der sich auf Euch verlassen kann“, presste er hervor.
    „Wenn du damit andeuten willst, du könntest dich nicht...“
    Barthos schlug mit der Hand auf den Tisch und schnitt ihm damit das Wort ab. „Ich will nichts andeuten. Eure Hingabe meiner Mutter gegenüber ist wirklich rührend. Und ich bin froh über sie, glaubt mir. Mutter braucht im Moment Menschen, auf die sie sich verlassen kann. Aber wir müssen einander nichts vormachen. Eure Hingabe meiner Mutter gegenüber endet auch bei meiner Mutter. Ich stehe Euch nicht näher als diejenigen ihrer Kinder, die nicht Eure Bastarde sind.“
    Langsam wurde Lee zornig. Was hatte er nur getan, um sich eine solche Ablehnung zu verdienen? „Weil du mir ja gar keine Möglichkeit lässt, dir irgendwie nahezukommen!“, stieß er aus. „Was habe ich dir denn angetan? Ich weiß, wie du dich fühlen musst“ – hier ließ Barthos ein spöttisches Schnauben und ein „Nichts weißt du“ vernehmen, doch Lee ließ sich nicht unterbrechen, „aber was sollte ich denn tun? Du weißt genau, was es für dich, was es für deine Mutter bedeutet hätte, hätte ich je offen gezeigt, was ich für euch empfinde. Ach was!“ Unwillig stieß er sich von der Stuhllehne ab. „Hätte ich auch nur zu viel Interesse an dir gezeigt! Glaubst du denn, für mich ist es leicht? Mein Sohn wächst als Sohn eines anderen auf. Ich kann ihn stets nur von Ferne sehen, nie mehr Worte mit ihm wechseln, als für einen ehrerbietigen Gruß nötig. Und immer wieder muss ich an die Front, bekomme dich und Seraphia für Monate oder Jahre gar nicht zu Gesicht!“
    „Das sind doch Ausflüchte. Ja ja, die Lage ist kompliziert. Aber Ihr habt doch nie auch nur versucht, mir irgendwie nahezukommen, mir in irgendeiner Form ein Vater zu sein.“
    „Das stimmt nicht! Aber ich muss den Hof immer wieder verlassen und mich zu meinen Truppen begeben. Und du bist selbst oft genug abwesend. Meine Männer nennen dich schon den Reiseprinzen. Überall in Myrtana besuchst du die Höfe. Sogar auf den Khorinseln und bei deiner Tante in Bakaresh bist du schon gewesen. Selbst wenn ich in Vengard bin, wann sollte ich dich einmal zu fassen kriegen?“
    „Was sollte ich auch hier am Hof, wo ich nicht willkommen bin? Aber Ihr windet Euch schon wieder heraus. Ihr habt nie einen Versuch unternommen, mir nahezukommen, welche Gründe Ihr auch anführen mögt. Wenn es nach Euch ginge, wüsste ich bis heute nicht einmal, dass Ihr mein Vater seid.“
    „Ich habe es dir gesagt! Damals auf der Jagd, wo keine unwillkommenen Ohren zuhörten.“
    „Ja, ganz recht. Und wessen Idee war es, mir, als ich sechzehn war, endlich die Wahrheit zu sagen? Mutters, war es nicht so? Wenn sie Euch nicht überredet hätte, hättet Ihr die Wahrheit noch eines Tages mit ins Grab genommen.“
    „Um dich zu schützen, einzig und allein, um dich zu schützen. Wieso kannst du mir das nicht glauben?“
    Das grimmige Funkeln in Barthos‘ Augen erlosch mit einem Mal. Traurig schüttelte er den Kopf. Dann murmelte er: „Ich habe es immer gewusst. Nicht wirklich natürlich, aber... etwas in mir hat es gespürt. Dass ich nicht sein Sohn bin. Dass mich nichts mit ihm verbindet. Aber dass Ihr mein Vater seid, das hatte ich nicht gewusst. Weil mich mit Euch auch nichts verbindet. Ihr habt Euch oft in ihrer Nähe aufgehalten. Ihr bei Bällen Eure Aufwartung gemacht. An den Gesellschaften in ihrem Salon teilgenommen. Daran hat Euch die Gefahr, entdeckt zu werden, nie gehindert. Ihr wart immer sehr subtil, natürlich. Jedermann weiß, dass Ihr die Königin schätzt, aber kaum jemand würde mehr vermuten. Aber subtil oder nicht: Ihre Nähe habt Ihr gesucht. Die meine nie. Eure Erklärungen und Ausreden brauche ich nicht.“ Barthos erhob sich mit einem Seufzen. Sein Blick war gen Boden geheftet und schnell drehte er sich herum und machte ein paar Schritte auf die Balkontür zu. Es war, als könne er ihm mit einem Mal nicht mehr in die Augen sehen. „Das alles... Ich will davon nichts mehr hören. Es ist unwichtig. Wegen alledem... habe ich Euch nicht kommen lassen.“
    „Weshalb dann?“, fragte Lee leise. Auch er fühlte sich plötzlich kraftlos. Er wünschte sich, Barthos möge sein Anliegen schnell ausspucken und ihn dann entlassen. Er wollte weg von hier. Weg aus diesem Zimmer. Weg von seinem Sohn.
    „Wisst Ihr, weshalb ich nicht auf dem Östlichen Archipel bin? Der König wünscht es nicht“, begann Barthos dem Nachthimmel zu erzählen, während Lee in seinem Rücken stand. „In letzter Zeit... gibt es immer mehr, was der König wünscht oder nicht wünscht. Und immer weniger Leute, auf deren Rat er hört. Er umgibt sich nur noch mit Schmeichlern, die ihm nach dem Mund reden. Nichts und niemand kann ihn von seinen Ideen abbringen. Nicht einmal wenn sie fehlschlagen, beirrt ihn das. Diese Barriere... anstatt das Desaster einzugestehen, beharrt er doch tatsächlich weiter darauf, jeden Verbrecher des Reiches ins Minental zu schicken. Und er lässt sich von den Gefangenen erpressen. Er macht Geschäfte mit Gomez dem Schlächter. Gomez dem Schlächter!“
    „Worauf willst du hinaus?“
    „Es kann so nicht weitergehen. Mutter sagt, es muss etwas geschehen. Aber auf sie hört der König auch nicht mehr. Sie baut auf Eure Unterstützung. Und noch eins: Der König wird sicher bald an Euch herantreten, wenn er wieder hier ist. Er hat große Pläne, was den Krieg angeht.“
    „Der König hat Pläne? Das ist neu.“ Rhobar II. war kein großer Stratege. Er überließ die Kriegsführen gewöhnlich dem Urteil seiner Offiziere.
    „Ich spreche nicht davon, dass er irgendeine Strategie ausgearbeitet hätte, sondern davon, was geschehen soll, wenn Ihr die Orks zurückschlagt. Es reicht ihm nicht aus, die Grenzen zu sichern. Er will ihr Land erobern.“
    Lee traute seinen Ohren nicht. „Bist du sicher? Das kann er doch nicht ernst meinen. Er will, dass wir die Orks über den großen Gletscher verfolgen? In ihr Land einfallen, das kaum ein Mensch je betreten hat?“
    „Ich bin sicher. Und der König hat noch ganz andere Pläne. Er will einen neuen Kreuzzug. Größer als der seines Vaters. Ihr müsst helfen, diesen Wahnsinn zu verhindern. Mutter zählt auf Euch. Um Euch das zu sagen, habe ich Euch kommen lassen. Und für sonst nichts.“
    Als Lee die Tür zu Barthos‘ Gemächern hinter sich schloss und im dunklen Korridor stand, schossen ihm plötzlich Bilder einer anderen Zeit durch den Kopf. Damals, als er ebenfalls in der dunklen Nacht vor einem Gemach hier im Palast von Vengard gestanden hatte. Damals, als er ebenfalls einen Streit hinter sich gehabt hatte.
    „Soll ich tagsüber auf dem Thron sitzen, Ehefrau und Königin sein, um mich dann nachts heimlich mit Euch zu treffen, so wie jetzt? Und was, wenn Ihr an die Front müsst, vielleicht für Monate – oder für Jahre? Natürlich, ich werde mir nach außen nichts anmerken lassen, während ich innerlich vor Sehnsucht und Sorge vergehe. Und wenn uns die Nachricht erreicht, Ihr wärt gefallen, dann lasse ich mir ebenso nichts anmerken. Schließlich seid Ihr offiziell nur ein unbedeutender Offizier für mich, den ich kaum kenne.“
    Seraphia hatte Recht gehabt damals. Sie hatte immer Recht gehabt. Und nun, so viele Jahre später? Was war bloß geschehen?
    „Wer weiß, vielleicht schenke ich Euch ja sogar einen Sohn. Vielleicht wird ihn mein Gemahl für den eigenen halten, wer weiß? Und vielleicht werdet Ihr ihn nie zu Gesicht bekommen, weil Ihr längst in irgendeinem fernen Land gefallen seid.“
    Seraphia hatte Recht gehabt, nie eine Affäre zu wollen. Und doch hatte am Ende eine einzige Nacht ausgereicht...
    War es falsch gewesen, Barthos schützen zu wollen? War es falsch gewesen, ihm die Wahrheit ersparen zu wollen? War der Zorn, den er Lee gegenüber jetzt hegte, nicht das Ergebnis dieser Wahrheit? Lee hatte seinen Sohn am Ende doch zu Gesicht bekommen. Aber er wusste nicht, ob es für diesen Sohn nicht besser gewesen wäre, wäre es anders gekommen. Er musste an die Front, würde es immer wieder müssen, würde vielleicht sogar ins Land der Orks marschieren müssen, wenn der König auf seinem wahnsinnigen Plan bestand. Und eines Tages würde er vielleicht nicht zurückkehren. Wie hätte er Barthos da je ein Vater sein können? Wäre es nicht besser gewesen, er hätte es nie erfahren? Und was nur sollte er ihm nun sagen? Dass er Recht hatte? Dass all das, ihrer beider regelmäßige Abwesenheit vom Hof, die Sorge vor einer Entdeckung, selbst die Sorge um das Leid, das Barthos aus Lees Dienst im Krieg erwachsen konnte, dass all das nur eine Ausrede war? Dass er Seraphia liebte, sich an jedem einzelnen Tag nach ihr verzehrte, dass aber Barthos, die Frucht dieser Liebe, nie beabsichtigt gewesen war und er nie gewusst hatte, wie er mit ihr umgehen sollte?
    Seraphia. Sie musste nach Vengard zurückkehren, bald. Oh, wenn sie nur schon hier wäre, wie sie es hätte sein sollen! Er taugte nur zum General und zu nichts anderem, ganz gewiss nicht zum Vater. Im Felde, im Kreis seiner Männer, dort fühlte er sich wohl und wusste, was zu tun war. Doch überall sonst, da fühlte er sich ohne Seraphia fürchterlich einsam und verloren.

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    3. Vorgabe:
    Person A versucht mit Gegenstand A an Ort B zu gelangen und wird dabei von Person B begleitet. Noch bevor sie Ort B erreichen, wird Gegenstand A durch ein Verhalten von Person B zerstört.



    Lee fühlte sich unwohl bei Hofe. So war es immer gewesen. Er zog die Gegenwart seiner Männer und die Gespräche am Lagerfeuer der Gegenwart all dieser Schranzen und ihrer oberflächlichen Konversation, er zog seine Rüstung einem steifen Wams vor, ja ihm wäre sogar der Geruch nach Pferden und Latrinen lieber gewesen als die Parfüms der Höflinge. Und zu allem Überfluss fühlte er sich auch noch einsam, war nicht einmal Seraphia hier bei ihm.
    Im Schloss gab es kaum jemanden, mit dem er wirklich hätte reden können. Er versuchte, mit Admiral de Caville ins Gespräch zu kommen und ihrer beider Strategien im Kampf gegen die Orks aufeinander abzustimmen, doch der Oberbefehlshaber der Flotte riet ihm lachend, sich doch auf die bevorstehenden Festlichkeiten zu konzentrieren und diese grässlichen Orks und den furchtbaren Krieg für einige Wochen zu vergessen, sie hätten später noch genug Zeit, derlei zu bereden. In jenem Moment hatte er sich den alten Roddenbrugg zurückgewünscht. Und er hatte an etwas gedacht, was Seraphia schon vor Jahren, kurz vor Beginn des Krieges gesagt hatte: „Unter Rhobar I. – oder vielmehr unter Großmeister Dominique und Lordkanzler Barthos, sollte ich sagen – wurden Posten noch mit denjenigen besetzt, die dafür geeignet waren. Je länger mein werter Gemahl die Krone trägt, desto mehr sehe ich mich von Leuten umgeben, deren größte Qualitäten erhabene Namen und eine alte Blutlinie, echte oder geheuchelte Frömmigkeit und ein Talent für schmeichelnde und dem König gefällige Worte sind. Dich würde man heute nicht noch einmal zum General machen, Lee.“ Und wahrscheinlich, dachte er bei sich, würde man Cobryn auch nicht noch einmal zum Befehlshaber der Ehrengarde machen. Der Reichskommandant war einer der wenigen bei Hofe, die er schätzte. Sie beide verband die einfache Geburt und die militärische Laufbahn. Aber dennoch kannten sie einander zu wenig, als dass er mit Cobryn vertraute Gespräche hätte führen können, anstatt nur ein paar freundliche Sätze zu wechseln. Ganz davon abgesehen, dass der Gardekommandant viel zu sehr mit all den eintreffenden Gästen und den Vorbereitungen der Feierlichkeiten beschäftigt war.
    Vielleicht war es seine Einsamkeit, die ihn am späten Nachmittag zum Adanosschrein trieb. Frömmigkeit war es gewiss nicht, denn er kam nur wegen des Mannes, den er dort zu finden hoffte.
    Der Schrein war nicht mehr als ein kleiner Pavillon, versteckt in einem Winkel der Palastgärten. Mehr als dieses kleine Zugeständnis an seine Gäste die Wassermagier hatte Seraphia dem König nicht abringen können, dessen Ablehnung des Adanosglaubens weithin bekannt war. Lee spürte, wie sich seine Schritte unwillkürlich verlangsamten, als er die fünf Stufen zur Eingangstür hinaufschritt. Er wusste selbst nicht recht, warum, doch eine gewisse Andacht ergriff ihn an diesem winzigen Ort des Adanoskultes in der Hauptstadt des Innosglaubens.
    Drinnen herrschte nur das dämmrige Licht, das durch kleine Fenster unter der kuppelförmigen Decke einfiel. An der gegenüberliegenden Wand plätscherte es leise. Wasser rann aus der Wand und in ein mit heiligen Schriftzeichen und Bildnissen verziertes Becken. Ein Mann kniete vor jenem Becken, das Haupt so weit geneigt, dass seine Stirn den Boden berührte. Wo der graue Marmor endete und wo die blaue Robe des Mannes begann, die sich fließend um ihn ausbreitete, war im Zwielicht kaum auszumachen. Lee erstarrte beim Anblick des Wassermagiers. Er war unschlüssig, ob er etwas sagen oder warten oder wieder gehen sollte. Er hatte ihn nicht in seiner Andacht stören wollen.
    „Sei willkommen“, murmelte der Adanospriester, ohne das Haupt vom Boden zu erheben.
    „Ähm...“ Lee räusperte sich. „Verzeiht. Ich kann auch später wiederkehren...“
    Der Betende erhob sich langsam und drehte sich zu ihm um. Ein Lächeln stand in seinem dunklen Gesicht. „Adanos ist ewig, mein Sohn. Seine Kinder sind es nicht. Ich bin sicher, er hat Verständnis, wenn wir ihn um ihrer Willen warten lassen.“ Dann wurde sein Lächeln noch ein wenig breiter. „Seid willkommen, General. Es freut mich, dass ihr mich besucht.“
    „Danke, die Freude ist ganz meinerseits, Meister Vatras“, antwortete Lee und verbeugte sich leicht vor dem alten Magier. Ja, alt war geworden. Der Mann, der dort vor ihm stand, hatte nicht mehr viel gemeinsam mit dem Magier, den er damals vor gut zwanzig Jahren in der Wüste getroffen hatte. Oder, entschied er bei einem zweiten Blick, vielleicht hatte er doch sehr viel mit ihm gemein. Das volle schwarze Haar mochte grau und spärlich, das Gesicht faltig geworden sein, aber noch immer lag Güte in diesem Lächeln und Weisheit in diesen Augen. „Wie geht es Euch?“, fragte er nach kurzem Schweigen. So ganz wusste er nicht, was er hier tat. Es war nicht so, als hätten sie sich jemals nahegestanden. Aber Lee fühlte sich, als gäbe es außer dem Wassermagier momentan niemanden im Palast, mit dem er reden konnte. Und er hatte den Priester Adanos‘ stets geschätzt. Zudem hatte er nicht vergessen, was er und die seinen für ihn und Seraphia getan hatten.
    Vatras seufzte und etwas Melancholisches mischte sich in sein Lächeln. „Wie in einem Käfig. Es ist seltsam, nicht? Meine Brüder sind es, die in der magischen Barriere eingesperrt wurden. Einzig ich blieb frei. Und doch fühle ich mich nicht so.“
    „Gibt es irgendetwas, was ich für Euch tun kann?“
    „Danke, mein Sohn, aber ich fürchte nicht. Wir Wassermagier haben die Freiheit unseres Volkes damals mit unserer eigenen erkauft. Die Nomaden dürfen weiterhin die Wüste durchziehen, im Gegenzug mussten wir an den Königshof kommen und in den Dienst seiner Majestät treten. Wir haben in diese Bedingung eingewilligt. Und ich möchte nicht klagen. Mir mangelt es an nichts, ich habe diesen Schrein, um zu meinem Herrn zu beten... Aber wisst ihr, ein alter Mann wie ich kann nicht davon ablassen, sich nach dem Land seiner Jugend und nach seinem Volk zurückzusehnen. Ich vermisse den heißen Wüstensand unter meinen Füßen. Ich vermisse das Schaukeln der Kamele. Ich vermisse die Gesichter meiner Sippe.“ Er seufzte. „Und nun, nun sind meine Brüder in der magischen Barriere gefangen. Adanos möge mir vergeben, aber beinahe beneide ich sie und wünschte, ich hätte mit ihnen gehen können. Ich bin kaum weniger gefangen, als sie es sind. Aber wenigstens haben sie noch einander. Es verging nie ein Tag hier, an dem ich kein Heimweh verspürte, doch nun... nun bin ich wirklich allein. Ein Fremder in einem fremden Land, wo sie eine fremde Sprache sprechen und einem fremden Glauben anhängen.“ Vatras zog eine Hand aus dem Ärmel seiner Robe, in den er sie zuvor geschoben hatte, und griff hinter sich. Seine Finger streiften die Oberfläche des Wassers. Nun lächelte der alte Mann wieder. „Nun, ich bin nicht gänzlich allein. Adanos ist bei mir, wohin ich auch gehe, und dies gibt mir Trost.“
    „Es tut mir leid“, sagte Lee beklommen. „Ich möchte nicht sagen, ich wüsste, wie Ihr Euch fühlt. Aber... vielleicht kann ich einen Teil davon nachempfinden.“
    Vatras nickte und bemerkte versonnen: „Ja, wenn ich Euch so ansehe, glaube ich Euch, das Ihr das könnt...“ Dann wich der nachdenkliche Ton wieder aus seiner Stimme und er teilte ihm mit: „Ich habe den König seit dem Unglück im Minental schon mehrmals ersucht, seinen Hof verlassen zu dürfen. Es ist mein Wunsch, nach Khorinis zu gehen. Dort könnte ich meinen Brüdern näher sein. Und vielleicht gibt es sogar einen Weg, dieses Fiasko zu beheben und die Barriere wieder zum Einsturz zu bringen. Vielleicht wird der König so gütig sein, mir meinen Wunsch zu gewähren. Er scheint, unter uns gesagt, in den letzten Jahren immer weniger Wert auf die Anwesenheit oder gar den Rat eines Adanospriesters zu legen. Daher könnte er geneigt sein, meiner Bitte nachzukommen. Es sind vor allem andere, deren Fürsprache ich es verdanke, noch hier zu sein. – Da wir davon sprechen: Ich bin nicht überrascht, dass Ihr mich aufsucht. Die Königin war sicher, Ihr würdet zu mir kommen, wenn sie bei Eurer Ankunft in der Stadt noch nicht hier wäre.“
    Das ließ Lee seine bedrückte Stimmung, in die ihn die Worte des Wassermagiers versetzt hatten, für den Moment vergessen. Und es erinnerte ihn wieder an einen der Gründe, weshalb er hergekommen war: Seraphia hatte den Wassermagiern stets nahegestanden, näher noch als er. Sie war es schließlich gewesen, die sich einst für die Freiheit der Nomaden unter der Bedingung der Treue ihrer Priester stark gemacht hatte. Und sie hatte den König immer wieder, das wusste Lee, bewogen, die an seinem Hof anwesenden Wassermagier auch zu Rate zu ziehen. „Wie geht es der Königin?“, wollte er wissen.
    Vatras schien über diese Frage einen Moment lang nachzudenken. Seine Augen wanderten in die Ferne, seine Lippen öffneten sich leicht und schlossen sich dann wieder. Dann sagte: „Wenn ich offen sein soll, glaube ich, dass ihre Majestät einige meiner Gefühle teilt. So wie auch Ihr das meinem Eindruck nach tut.“
    Nun war es an Lee, melancholisch zu lächeln. „Wenn Ihr meint, sich wie in einem Käfig zu fühlen... Ja, das Gefühl habe ich zuweilen. Vor allem hier in Vengard.“
    „Und die Königin hat es auch. Was uns nachdenklich machen sollte. Wir sollten uns fragen, ob nicht vielleicht einiges im Argen liegt, wenn wir alle so fühlen. Wartet, ich habe etwas für Euch.“
    Etwas überrascht blieb Lee stehen, während der Wassermagier sich umdrehte und gemessenen Schrittes zu einem kleinen Lesepult hinüberging, das an einer Wand zwischen Eingang und Wasserbecken stand. „Und um auf Eure Frage zurückzukommen: Die Königin trägt viele Bürden. Der Tod ihres Sohnes... Wir können Adanos danken, dass sie selbst sich vom Kindbett erholt hat. Sie war zu alt für eine vierte Schwangerschaft. Aber sie ist eine bemerkenswerte Frau.“ Vatras zog einen Schlüssel aus einer Tasche seiner Robe und kniete sich nieder, um eine kleine Klappe in seinem Pult zu öffnen. „So tief ihr Schmerz auch war, sie ließ sich von ihm nicht übermannen. Sie legte keine ihrer anderen Bürden ab, um diese besser schultern zu können. Oh nein, sie ist unermüdlich. Sie tut vieles für das Wohl des Reiches. Auch wenn dies leider schwerer und schwerer wird.“ Nun schloss der Magier das Pult wieder ab und kehrte mit einem Gegenstand zu Lee zurück, den er der Klappe entnommen hatte.
    „Was ist das? Ein Gebetbuch?“
    „Es gehört der Königin. Sie wollte, dass Ihr es erhaltet, solltet Ihr vor ihr in der Stadt eintreffen.“
    Lee wendete das kleine Büchlein in seinen Händen. Es war in Samt eingebunden und mit einer hübsch verzierten silbernen Schließe versehen.
    „Den werdet Ihr auch brauchen“, ergänzte Vatras und überreichte Lee einen Schlüssel, den er wie schon den ersten aus seiner Robe hervorzauberte. „Doch gebt gut auf beides acht. Die Königin wünscht nicht, dass es in fremde Hände fällt.“
    Bei diesen Worten hob Lee seinen Blick von dem Büchlein in seinen Händen und schaute in die Augen des Wassermagiers. Ihm war, als sähe er dort ein Funkeln, das ihm vorher nie aufgefallen war. Und er wusste sofort, dass das, was er hier erhalten hatte, mehr als nur ein Gebetbuch war. Aber er war zugleich unsicher, ob der Wassermagier ihm mehr sagen würde oder ob er selbst schauen sollte, was es mit diesem Büchlein auf sich hatte. „Die Königin vertraut Euch vieles an?“, fragte er schließlich.
    Vatras‘ Lächeln war kaum zu deuten. „Sehr vieles.“ Dann fuhr er fort: „Sie ist der Meinung, ich könnte auch Euch vieles anvertrauen.“
    Lee gefiel nicht, wie sich dieses Gespräch mit einem Mal entwickelte. Das alles klang in seinen Ohren mit einem Mal plötzlich nach Verrat. Aber es ging um Seraphia. Für sie hätte er Innos selbst verraten.
    „Ich weiß, was Ihr denkt“, erklärte Vatras. „Aber ich bitte Euch, keine falschen Schlüsse zu ziehen. Meine Absichten sind lauter. Und gewiss werdet Ihr mir glauben, dass es die der Königin auch sind. Lasst mich Euch fragen: Kann ich Euch ein Geheimnis anvertrauen?“
    „Das könnt Ihr.“
    „Schwört Ihr, es niemandem zu offenbaren?“
    „Ich schwöre“, antwortete er nach kurzem Zögern.
    „Wie Ihr wisst, sind wir Wassermagier dem Gleichgewicht auf dieser Welt verpflichtet. Als wir unsere Heimat verlassen und hierher an den Hof kommen mussten, beschlossen wir bald, nicht bloß untätig herumzusitzen, sondern das Beste aus unserer neuen Lage zu machen und unsere Position zu nutzen, um dem Gleichgewicht zu dienen, so gut wir es können. Zu diesem Zweck riefen wir einen Geheimbund ins Leben. Den Ring des Wassers.“
    Also doch Verrat. „Was Ihr mir hier erzählt, kommt einer Verschwörung gleich.“
    „Manche würden es so sehen und das ist eben der Grund, weshalb der Ring des Wassers ein Geheimnis bleiben muss. Aber ich versichere Euch, nichts liegt uns ferner als eine Verschwörung. Wir haben geschworen, dem König mit Rat und Tat zu dienen. Und diesen Schwur haben wir nie gebrochen. Meine Brüder haben ihre Treue mit ihrer Freiheit bezahlt. Sie rieten dem König von der Errichtung der Barriere ab, aber dennoch haben sie sich seinem Befehl nicht verweigert. Was der Ring tut, geschieht nicht zum Schaden des Reiches. Im Gegenteil, der Ring des Wassers hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Gleichgewicht zu erhalten und damit allen Menschen zu dienen, so wie es das Gebot Adanos‘ ist.“
    „Er ist also eine religiöse Sekte.“
    „Auch dies stimmt nicht. Wir handeln im Sinne Adanos‘, das ist wahr, doch unser Ziel ist nicht die Bekehrung der Menschen, noch der Kirche Innos‘ zu schaden. Der Ring hat inzwischen viele Mitglieder. Es sind Menschen aller Stände und Schichten darin. Bauern und Adlige, Handwerker und Kaufmänner, Bettler und Ratsherren, selbst Soldaten Eurer Armee. Viele von ihnen sind treue Diener Innos‘. Aber sie eint der Wunsch, das Gleichgewicht zu bewahren.“
    „Warum erzählt Ihr mir das alles?“, fragte Lee, der das Gebetbuch an die Brust presste. Ihm war unbehaglich. Vatras mochte darauf bestehen, nur das Beste im Sinn zu haben, und Lee war geneigt, ihm zu glauben, doch er war sich sicher, der König und die Kirche wären wenig tolerant gegenüber diesem Ring des Wassers. Und er war ungern Mitwisser derlei fragwürdiger Machenschaften.
    „Weil es der Wunsch der Königin war. Weil sie glaubte, Ihr könntet uns ein wertvoller Verbündeter sein.“
    „Wollt Ihr damit sagen, sie...?“
    „Ja, Königin Seraphia ist ein Mitglied des Rings. Und sie glaubt, auch Ihr könntet eines werden.“
    „Das... Verzieht, aber ich kann das nicht einfach so entscheiden. Ich muss nachdenken. Mit der Königin über all das hier reden, wenn möglich.“
    „Selbstverständlich“, antwortete Vatras und hob beschwichtigend die Hand. „Die Entscheidung obliegt Euch und ich werde Euch nicht drängen. Mir ist bewusst, dass es keine leichte ist. Aber lasst mich Euch erklären, warum die Königin eine der unseren wurde und warum sie hofft, auch Ihr möget es werden: Das Gleichgewicht nicht nur in Myrtana, sondern in der Welt ist bedroht. Myrtana hat in den letzten zwanzig Jahren alle Reiche am Myrtanischen Meer unterworfen. Varant, Nordmar, die Südlichen Inseln, überall herrscht heute der König von Myrtana.“
    „Wenn es das ist, was Ihr ändern wollt, dann ist das Verrat. Und ich hoffe, Ihr habt nicht vergessen, dass ich des Königs General bin. Ihr könnt unmöglich von mir erwarten, Euch zu helfen, die Unabhängigkeit der anderen Reiche wiederherzustellen.“
    „Ich bitte Euch, General, lasst mich ausreden. Wäre die Welt in Frieden geeint, das wäre das eine. Doch die Herrschaft, die Myrtana ausübt, wird von den eroberten Völkern als Tyrannei empfunden. Die Unruhen in Varant nehmen stetig zu. Und die Südlichen Inseln stürzen immer stärker ins Chaos, seit nicht mehr Lord Dominique ihr Gouverneur ist. Und auch in Myrtana selbst mehren sich die unzufriedenen Stimmen. Die Eroberungen der letzten Jahre haben das Reich ausbluten lassen. Die Kassen sind leer, die Felder liegen brach, wo immer mehr Bauerssöhne eingezogen werden. Und leider begegnet man diesen Zuständen nicht mit Verständnis und Reformen, sondern mit Härte. Die Minenkolonie hat das Volk dem König nicht gerade gewogen gemacht. Sie wird als ungerecht empfunden. Die Menschen sehen nicht ein, dass ein Nachbar, der vor Hunger einen Hasen wilderte, ein Freund, der wegen der hohen Abgaben seine Pacht nicht zahlen konnte, ein Bruder, der ein falsches Wort über die Krone sagte, lebenslang in den Minen schuften soll, Seite an Seite mit Mördern und Banditen. Für sie ist die magische Barriere eine despotische Maßnahme, das Volk zu unterdrücken. Wusstet Ihr, das jüngst ein ganzes Dorf in Süd-Tymoris in die Barriere geworfen wurde? Sechsunddreißig Männer. Nachdem sie die jungen Burschen im Wald versteckt hatten, damit sie nicht eingezogen werden.“
    Nein, das hatte Lee nicht gewusst. Auch wenn ihm über seine Männer schon die eine oder andere Geschichte zu Ohren gekommen war.
    Vatras fuhr fort: „Doch der König hört weniger und weniger auf seine Berater. Mein Wort oder das meiner Brüder galt kaum noch etwas in den letzten Jahren. Selbst Lordkanzler Xardas wurde immer seltener um Rat gefragt. Und sogar seine Gemahlin oder der Kronprinz vermögen dieser Tage kaum, Einfluss auf König Rhobar zu nehmen. Er scheint nur noch den eigenen fixen Ideen zu folgen. Oder jenen sein Ohr zu schenken, die ihn in diesen Ideen bestärken.“
    „Und welche Ideen sind das?“
    „Herrschaft. Ordnung. Die Verbreitung des einzig wahren Glaubens. Eine Welt im Sinne Innos‘. Und dies bedeutet eine Welt ohne Gleichgewicht. Der König strebt danach, die Städte zu entmachten, seine Herrschaft über die Kolonien und deren Missionierung weiter auszudehnen. Er träumt davon, ins Land der Orks einzufallen, auch noch das letzte Ende der Welt zu erobern und die Brut Beliars, als die er die Orks betrachtet, von der Erde zu tilgen. Er träumt von einem neuen Flammenzug. Er will die verbliebenen Beschwörungstempel Beliars finden, die der Wut seines Vaters entgingen. Und ich fürchte, sein religiöser Eifer wird langfristig nicht bei den Dienern Beliars Halt machen.“
    „Was wollt Ihr damit sagen? Ihr fürchtet doch nicht etwa um Euer Leben?“
    „Um das meine? Nein. Aber die Königin berichtet, ihrem Gemahl sei das Waldvolk ein Dorn im Auge. Selbst die uralten Schwüre seiner Vorgänger, die dem Waldvolk Freiheit garantieren, solange es die Herrschaft des Königs nicht infrage stellt und Neutralität wahrt, bedeuten dieser Tage nichts mehr. Er wünscht kein fahrendes Volk in seinem Reich. Ihm missfällt der Gedanke, dass dort Menschen sind – Menschen mit magischen Fähigkeiten gar –, die sich seiner Herrschaft entziehen. Seiner Herrschaft und dem Wort Innos‘. Und vielleicht ist es nur dem Krieg mit den Orks zu danken, der die Truppen bindet, dass der König noch nicht Hand an das Waldvolk gelegt hat. Wenn der Krieg erst einmal endet... General, es wurde bereits ein ganzes Dorf in die Barriere geworfen, es kann nicht Euer Wunsch sein, in einigen Jahren mit Euren Truppen ganze Scharen der Waldläufer ins Minental zu treiben.“
    Lee beeilte sich, schnell in sein Gemach zurückzukehren, nachdem er sich von Vatras verabschiedet hatte. Das kleine Büchlein hielt er dabei eng an seinen Körper gepresst, als hätte er Angst, es zu verlieren. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was der Wassermagier sagte, dann... Ja, was dann? War er denn je glücklich gewesen mit dem Land, dem er diente? Hatte er den Einmarsch in Nordmar gutgeheißen? Oder die Strafexpedition gegen die Südlichen Inseln? War er denn vor diesem Gespräch etwa ein Verfechter der Barriere gewesen? Hatte er damals im Varantkrieg an die Sache geglaubt, für die er angeblich gekämpft hatte? Hatte er Dominiques heimtückischen Angriff auf Bakaresh nicht im Stillen verurteilt? Und doch hatte er stets seinen Dienst getan. Hatte getan, was man von ihm verlangt hatte. Wenn der König sie über den großen Gletscher hetzen würde, wenn sie anfingen, Jagd auf die Waldläufer zu machen, würde er vielleicht plötzlich anders handeln? Mit einem Mal kam er sich feige vor. Aber was konnte man denn von ihm erwarten? Was wollte dieser Ring des Wassers tun? Sollten sie vielleicht den König stürzen? Und war überhaupt wirklich der König das Problem? Lee hatte es meist vermieden, darüber nachzudenken, ob Rhobar II. ein guter oder ein schlechter Herrscher war. Es war nicht so, dass er seinen König schätzte. Aber er hatte ihn auch nie als fürchterlichen Tyrannen empfunden. In Vatras‘ Worten hatte er geradezu größenwahnsinnig und fanatisch geklungen. Vielleicht, so mutmaßte Lee, waren eher die Einflüsterungen seiner Berater das Problem. „Der König ist bei der Gesetzgebung kein maßgebender Faktor“, schoss es ihm durch den Kopf. Und mit diesem Satz stieg in ihm auch das Bild des Mannes auf, der ihn einst geäußert haben sollte.
    In seinem Zimmer angekommen, setzte er sich sofort an den Schreibtisch, entzündete eine Kerze – es dämmerte bereits über Vengard – und schloss das Buch auf.
    Auf den ersten Blick schien es ein gewöhnliches Gebetbuch zu sein. Lee blätterte durch die Seiten und besah sich die Abbildungen, die immer wieder zwischen den Text eingestreut waren. Holzschnitte mit religiösen Motiven. Engel und Heilige. Nichts, was ihm irgendwie außergewöhnlich oder von Belang erschienen wäre. Doch dann stieß er auf eine Seite mit einem anderen Bild, das sich von den übrigen abhob. Ein liegender Mensch. Weniger detailreich als die übrigen Figuren. Dafür umgeben von verschiedenen Schriftzeichen. Die Seite wirkte wie nachträglich in das Buch eingefügt und nur lose gebunden. Fast, als sollte sie herausgetrennt werden. Und sie bestand aus Pergament, nicht aus Papier. Er blättert langsam herum. Nur, um auf der nächsten Seite auf das Bild eines Eiszapfens und einiger Schneeflocken zu stoßen. Und wieder Schriftzeichen. Lee beherrschte kein altes Varantisch, aber das hier sah für ihn dennoch genau wie solches aus. Unter den fremden Buchstaben standen die in Myrtana gebräuchlichen. Sie schienen dieselben Worte wiederzugeben. Lee fuhr sie mit dem Finger nach und entzifferte sie murmelnd. Und im nächsten Moment zuckte er zurück, als ein langer, spitzer Eiszapfen aus der Seite hervorbrach und beinahe seine Hand durchbohrte. Das Geschoss sauste gegen die Decke, wo es klirrend zerstob und Eissplitter und Schneeflöckchen auf ihn herabregnen ließ. Lee konnte sich bloß noch schützend die Hände über den Kopf reißen.
    Als er sich von dem Schock erholt hatte, blickte er wieder auf das Buch. Das Pergament mit der Zeichnung des Eiszapfens war verschwunden. Plötzlich wusste er, womit er es zu tun hatte. Das mussten Spruchrollen sein. Seraphia versteckte sie in diesem Büchlein. Ob sie es deshalb immer mit sich herumtrug? Aber wozu brauchte sie derlei Zauber? Wähnte sie sich etwa in Gefahr?
    Er blätterte weiter und besah sich nun auch die Texte. Die meisten waren erbaulicher Natur. Gebete. Andachtsformeln. Sie handelten vom Zwiegespräch der Seele mit Innos. Aber dann stieß er auf an die Seite gekritzelte Notizen. Und er erkannte die Handschrift sofort. Seraphia.
    Rhobars Besessenheit von Blut und Adel. Kann es nicht verwinden, dass sein Vater nur ein Barbar aus Nordmar war, die Krone dem Rückhalt der Kirche verdankte. Will den Makel von seiner Familie waschen. Daher hat er Innora mit Theodemir vermählt. Einfluss der Monteras wächst. Selbst meine Herkunft ist Rhobar nicht gut genug. Archipeladel. Ich spüre, wie er die eigenen Kinder anblickt und dabei ihre Herkunft hasst. Aber dass er Barthos nun die Reise aufs Archipel verbietet – Er will auch für ihn eine myrtanische Braut. Alter Adel mittlerweile wichtiger als politische Zukunft. Setzte die Verbindung zum Archipel aufs Spiel. Und scheint Barthos immer weniger zu trauen. Vorsicht.
    Lee las den Text zweimal. Deshalb sollte Barthos sich also keine Braut vom Archipel suchen. Der König wollte ihn in alten myrtanischen Adel einheiraten lassen. Warum traute er ihm nicht? War es wirklich bloß seine Herkunft? Und dann Seraphias Sorge wegen der Monteras... Schon wieder schoss ihm durch den Kopf, wer Algas damals das Amt des Kämmerers verschafft hatte.
    Er blätterte einige Seiten weiter, bis er wieder eine Notiz fand.
    Vatras will nach Khorinis, zu seinen Brüdern. Habe Verständnis. Doch wieder ein Verbündeter bei Hofe weniger. Barthos und ich sind zunehmend isoliert. Vatras trug mir Führung des Rings in Myrtana in Abwesenheit der Wassermagier an. Schmeichelhaft, aber gefährlich. Wie unauffällig mit Mitgliedern außerhalb des Palastes in Kontakt treten?
    Der Ring des Wassers. Vatras hatte nicht gelogen. Seraphia war ein Mitglied dieses ominösen Geheimbundes. Und es schien ihr Ernst damit zu sein. Er blätterte um.
    Nachrichten aus der Barriere: Erzmagier Xardas abtrünnig, lebt nun als Dämonenbeschwörer in der Wildnis. Feuermagier in Barriere bestimmten Corristo zum Nachfolger. Rhobar außer sich. Hof und Kurie verbeliarn ihn. Xardas war schon immer undurchsichtig. Habe ich ihm zu sehr vertraut, als ich in ihm einen Verbündeten suchte? Konnte Rhobar immer die Stirn bieten, schien vernünftig, aber nur selten an Politik interessiert. Dann der Vorschlag mit der Barriere. Nie von ihm erwartet. Jetzt dies? Was für ein Spiel spielt er? Sind die Gerüchte wahr? Dient er Beliar?
    Ist es wichtig? Vielleicht für immer im Minental gefangen. Aber vielleicht auch nicht.

    Lee blätterte und blätterte. Er besah sich die Spruchrollen, die dann und wann zwischen den Seiten auftauchten, jedoch vorsichtig darauf bedacht, keine mehr auszulösen, und er las Seraphias Notizen, mehr und mehr entschlossen, ihr zu helfen, mehr und mehr überzeugt, dass sie ihn brauchte und dass tatsächlich etwas geschehen musste in Myrtana. Er las, bis es mit einem Mal dunkel wurde. Er hatte gar nicht gemerkt, wie seine Kerze immer weiter herabgebrannt war. Rasch suchte er in der Finsternis nach einer neuen, stieß sich dabei den Fuß, entzündete sie und fuhr dann fort, über dem Buch zu brüten.
    Ein Klopfen weckte ihn am nächsten Morgen in der Frühe. Schlaftrunken und noch leicht verwirrt stellte er fest, dass er wohl eingenickt war und mit dem Kopf auf dem geöffneten Buch geschlafen hatte. Auch die zweite Kerze war irgendwann während der Nacht wohl heruntergebrannt.
    Der Klopfende war ein Diener, der kam, um ihn an die Jagd zu erinnern. Die Jagd! Lee hatte es ganz vergessen. Sie hatten heute Morgen zur Jagd in den königlichen Forst ausreiten wollen. Hastig schlüpfte er in passende Kleidung, spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht – bei dieser kleinen Wäsche musste es jetzt bleiben – und wäre schon fast aus dem Zimmer herausgehetzt, als er noch einmal innehielt und einen Blick zurückwarf. Das Buch einfach aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegenzulassen, behagte ihm nicht. Er glaubte nicht daran, dass jemand einfach in sein Zimmer einbrechen würde, aber dennoch... Nein, er konnte dieses Buch nicht einfach herumliegen lassen. Dafür war sein Inhalt zu sensibel. „Kann ich Hochwohlgeboren behilflich sein? Die Jagdgesellschaft erwartet Euch bereits.“ Von den Worten des Dieners aufgeschreckt, griff Lee nach dem Buch, ohne weiter nachzudenken, und drückte es an sich.
    „Ah, General, wie freundlich von Euch, endlich zu uns zu stoßen“, begrüßte Prinz Barthos ihn, als er die Treppen zum Königsplatz heruntereilte, und schwang sich auf sein Pferd. Der Rest der Anwesenden tat es ihm gleich. Offenbar hatten sie nur noch auf Lee gewartet. Der ließ sich von einem der Stallknechte die Zügel seines Pferdes, eines schlanken Rappen, reichen.
    „Guten Morgen, Herr Graf“, grüßte ihn Markgraf Heron, ehe er auf seinen eigenen Fuchs aufsaß. „Auf eine gute Jagd!“
    „Graf Moltwitz.“ Thomann von Göritz, der königliche Brotmeister nickte ihm zu, als er an ihm vorbeiritt. Lee erwiderte das Nicken.
    Dann sprach ihn plötzlich Algas von Montera an. „Seid gegrüßt, General. Ihr nehmt Eure Lektüre mit auf die Jagd?“ Die Augen des Kämmerers zuckten zu dem Buch, das Lee noch immer in der Hand hielt.
    Hastig stopfte er es in seine Satteltasche. „Ja, natürlich“, antwortete er rasch. „Wir werden sicher rasten, uns stärken, da kann ich ebenso gut ein wenig lesen.“
    „Eine ungewöhnliche Lektüre auf so einem Ausflug allerdings. Ein Gebetbuch, wenn ich richtig sah? Mich dünkt, es handle sich um ein erbauliches Werk für fromme Frauenzimmer.“
    „Frömmigkeit ist auch beim Manne eine Tugend.“ Lee stieg auf sein Pferd und griff nach den Zügeln. Er wollte dieses Gespräch gerne schnellstmöglich beenden.
    „Gewiss habt Ihr Recht“, erwiderte der Edelmann, „vielleicht möchtet Ihr auch mich beizeiten in Eure frommen Einsichten einweihen. Ich habe die Ehre.“ Und mit einer kleinen Verbeugung drehte er sich um und schlenderte zu seinem eigenen Pferd hinüber.
    Lee konnte Jagden nicht ausstehen. Zumindest solche, wie sie der Adel pflegte. Genau genommen konnte er so ziemlich jeden Zeitvertreib des Adels nicht ausstehen. Er wusste nicht, was ergötzlich daran sein sollte, sich von einem ganzen Heer von Jägersleuten und Hunden irgendein armes Tier vor die Bögen und Armbrüste treiben zu lassen und es dann zu erschießen, wenn es bereits halb zu Tode gehetzt war. Und heute war ihm noch weniger nach jagen zumute als anderntags. Zu sehr beschäftigte ihn das Buch in seiner Satteltasche und die Frage, was es ihm noch offenbaren würde. Aber was blieb ihm übrig? Der Kronprinz hatte nun einmal zur Jagd gerufen. Und es hatte sich eine große Jagdgesellschaft zusammengefunden. Theodemir von Montera stellte stolz seine perlweiße Stute und eine nach der neuesten Mode gefertigte Jagdkleidung aus dunklem Leder zur Schau. Der Brotmeister, der Truchsess und der Kämmerer hatten sich ihnen angeschlossen. Ebenso wie Admiral de Caville. Der junge Sohn Herzog Benfryds, welcher selbst in seinem Schloss bei Aalehn verblieben war, ritt mit ihnen, gleichfalls der Herzog von Nitten-Neumark und sein Sohn. Auch jede Menge Hofdamen und Edelfräulein begleiteten sie auf diesen Ausritt, adrette Hütchen auf dem Kopf und Kleider am Leib, die noch einmal überdeutlich unterstrichen, dass dies hier bloß dem Namen nach eine Jagd war, da sie auf einer echten wohl mehr als fehl am Platz gewesen wären. Lee erkannte die Herzogin Adelheid von Breybing, deren Gatte sich wegen irgendeines Unwohlseins oder dergleichen hatte entschuldigen lassen, Eleana von Krapen, die Tochter des alten Herzogs Mechtbert sowie die beiden Schwestern Leonora und Letitia von Hohenhacken, die beide nach der aktuellsten tymorer Mode gekleidet und dennoch hässlich wie die Nacht waren.
    Gemeinsam ritten sie über den nördlichen Venarm und ins Tempelviertel, über dem die Türme Kathedrale hoch in den Himmel aufragten, als sollten sie Innos‘ Sonne selbst berühren. Sie verließen die Stadt im Norden, durch das Jägertor – oder das Schranzentor, wenn man die Namen bevorzugte, die der Volksmund wählte. Hier schloss Algas von Montera zu ihm auf, der zuvor weiter hinten in ihrem Zug geritten war. „Ein herrlicher Tag für eine Jagd, nicht, General?“
    „Hm, wirklich vortrefflich.“
    „Was glaubt Ihr, wer den Fuchs heute zur Strecke bringen wird?“
    „Ich schätze, wir werden es in einigen Stunden wissen.“
    „Mein Neffe ist ein ganz vortrefflicher Jäger, müsst Ihr wissen. Aber natürlich ist der Prinz heute unter uns. Das Jagdglück wird mit seiner königlichen Hoheit sein, da bin ich mir sicher.“
    „Wenn ihr das sagt.“ Lee gefiel nicht, wie sich Algas plötzlich an ihn heranmachte. Aber was blieb ihm übrig, als höflich zu bleiben? „Verzeiht, ich bin kein großer Jäger.“
    „Ihr zieht den Krieg vor?“
    Lee wandte den Kopf zur Seite und bedachte seinen Gesprächspartner mit einem irritierten Gesichtsausdruck. „Ihr lasst es klingen, als wären beides harmlose Vergnügungen. Darf ich Euch erinnern, dass im Krieg nicht nur der Gegner zu Tode kommt? Der ist nämlich kein wehrloser Fuchs oder Hirsch oder dergleichen. Die Orks haben schon viele tapfere Männer umgebracht und werden noch viele mehr töten. Das bereitet mir keine Freude.“
    „Ah ja, richtig, Ihr seid Euren Männern sehr verbunden. Ich bin sicher, sie vergelten es Euch mit ihrer Loyalität.“
    „Ich schätze schon.“
    „Es geht die Rede, ein Großteil Eurer Männer würde Euch bis in Beliars Reich folgen.“
    Lee zuckte die Schultern. „An der Front wächst man zusammen. Oder man geht unter.“
    „Fürst von Trelis hat damals eine kluge Entscheidung getroffen, Euch als unseren General vorzuschlagen.“
    Wie immer, wenn Lord Dominiques Name fiel, verhärteten sich Lees Züge. Wachsam richtete er sich im Sattel auf. „Wie geht es dem Fürsten?“
    „Er erfreut sich nach wie vor bester Gesundheit, soweit ich weiß. Aber er beehrt den Hof nur noch selten mit seinem Besuch. Er zieht die Ruhe seines Landsitzes vor. Eine wohlverdiente Ruhe angesichts seiner zahlreichen Verdienste, da werdet Ihr mir sicher beistimmen.“
    Lee gab ein unbestimmtes Brummen von sich.
    Algas von Montera musterte ihn mit interessiertem Lächeln, während sie die Straße entlangtrotteten. Lee bemerkte, wie sein Doppelkinn bei jedem Schritt des Pferdes leicht zitterte. „Um auf Eure Frömmigkeit zu sprechen zu kommen, General: Ich frage mich, ist auch diese Euren Erfahrungen an der Front geschuldet? Im Angesicht der Gefahr und des Todes sollen schließlich schon manche zu den Göttern gefunden haben. Und die Nähe zu Euren Männern... nun, nichts für ungut, aber Ihr werdet mir zustimmen, dass diese einfachen Gesellen zuweilen zum Aberglauben neigen.“
    „Ihr übertreibt, was meine Frömmigkeit angeht.“
    „Aber, aber, General!“ Die Stimme des Kämmerers nahm etwas Altväterliches an. Das stand ihm nicht. Zusammen mit seinem plumpen gepuderten Gesicht und der teuren und modischen Kleidung gab es ein unharmonisches Bild ab. Algas, entschied Lee, wirkte lächerlich. „Das ist doch nichts, wofür Ihr Euch zu schämen braucht. Im Gegenteil. Frömmigkeit ist eine Tugend. Wohl gar die höchste unter den Tugenden. Innos weiß, dass es der Welt an Frömmigkeit gebricht. Seht Euch nur um im Reich. Die Barriere über der Strafkolonie steht ein Jahr und schon beherbergt sie Hunderte und die Straßen der Städte werden ihretwegen langsam leerer und leerer. Erst diese großartige Maßnahme unseres weisen Königs führt uns den Verfall vor Augen, der unter den Menschen herrscht. Wo immer man hinsieht, Lug und Trug, Verrat, Unzucht, Ehebruch gar. Und die Sünde und das Laster haben nicht nur von den gemeinen Menschen Besitz ergriffen. Unter jenen haben sie freilich stets geherrscht. Aber nein, Beliars Klauen haben sich selbst um die Herzen der Hohen und Edlen geschlossen. Doch ich bin zuversichtlich, dass unser guter König dem ein Ende bereiten wird. Seine Majestät ist selbst ein frommer Mann, wie Ihr wohl wisst, ein wahrer Erwählter Innos‘. Der König hat die Welt unter dem rechten Glauben geeint, nun wird sie von der Sünde gereinigt werden. Und jene, die zu verworfen sind, um Vergebung zu erfahren, die werden ihre gerechte Strafe erhalten.“
    Sein Gesprächspartner erschien Lee inzwischen gar nicht mehr lächerlich. Er glaubte, etwas aus seiner Stimme herauszuhören, wenn sie auch oberflächlich freundlich und offenherzig blieb, etwas, das ihm ganz und gar nicht behagte.
    „Aber wie dem auch sei“, setzte der Kämmerer seinen Gedankengang fort, „für Euren festen Glauben solltet Ihr Euch nicht verstecken müssen. Eure Frömmigkeit ist mir nicht entgangen. Ich hörte, man sah Euch gestern sogar den Adanosschrein aufsuchen.“
    „Meister Vatras ist ein alter Bekannter, er rettete mir im Varantkrieg das Leben“, antwortete Lee langsam, nicht sicher, ob er damit das Richtige sagte.
    „Nun, ich bin ganz offen: Ich hatte nie viel Verständnis für den Adanoskult. Das scheint mir doch ein heidnisches Relikt vergangener Tage zu sein. Eine Religion für primitive Völker wie die Waldläufer und Nomaden. Wer in der Wildnis lebt, Seite an Seite mit den Bestien, der kennt freilich nur das Kreatürliche der Welt und gelangt rasch dazu, den Herrn des Fleisches und der Materie anstelle des Herrn des Geistes anzubeten. Gewiss ist dieser Aberglaube auch bei Seeleuten verständlich, die sich tagein, tagaus dem Toben des Meeres ausgesetzt sehen. Aber sonst scheint mir der Kult Adanos‘ nur eine Religion für Schwärmer und Enthusiasten zu sein, für Dichter, die die fleischlichen Freuden besingen und derlei. Meint Ihr nicht, es ist an der Zeit, derlei hinter uns zu lassen?“
    „Wie gesagt, Ihr überschätzt meine Frömmigkeit. Ich bin nicht sehr versiert in Religionsfragen.“
    Algas neigte entschuldigend das Haupt. „Verzeiht, ich trat Euch zu nahe. Ich sollte zurückhaltender sein in meinem Urteil. Schließlich teilt selbst unsere gute Königin Eure Neigung zum Adanoskult. Auch Ihre Majestät pflegt Meister Vatras in seinem Schrein aufzusuchen. Gewiss erinnert auch die Königin sich der alten Bekanntschaft. Es gibt vieles, was Ihr teilt.“ Lächelnd ließ Algas sich wieder zurückfallen und schon nach wenigen Augenblicken ritt er neben der Herzogin von Breybing einher und machte dieser seine charmante Aufwartung.
    Bald schon hatten sie das königliche Jagdschloss Grünwald erreicht, das am Ufer der Ven ein Stück aufwärts der Stadt stand. In der Ferne waren schon die Wipfel des königlichen Forstes erkennbar. Doch vor Beginn der Jagd wollten sie rasten und ein gemeinsames Frühstück einnehmen.
    Lee war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um groß auf das zu achten, was um ihn herum geschah, während er stumm seinen Kuchen verspeiste. Nur am Rande nahm er wahr, wie die beiden Hohenhackenschwestern Barthos umschwärmten und bei jedem seiner Worte an seinen Lippen hingen, was diesem alles andere als zu behagen schien, auch wenn die beiden Frauen aus herzoglichem Hause sicher genau die Sorte Braut abgegeben hätten, die sich der König vorstellte. Zu seiner Rechten unterhielten sich der Truchsess und der Brotmeister über irgendwelche Belanglosigkeiten, ihm gegenüber hatte Herzogin Adelheid, die sich unablässig Luft zufächelte, den Admiral in ein Gespräch verwickelt, nachdem sich Algas kurz entschuldigt und den Stuhl an ihrer Seite leer gelassen hatte, links von ihm schließlich lauschten einige hohe Herren den Prahlereien Theodemirs, der sich sicher war, das Jagdglück würde ihm heute hold sein, und der schwor, seiner Gattin am Abend einen Fuchsschwanz mitzubringen.
    Mit einem Mal wurde Lee von einem lauten Brausen und Rauschen aus seinen Gedanken gerissen. Auch alle anderen bei Tisch wurden von dem Geräusch aufgeschreckt. Die Hohenhackens stießen synchron spitze Schreie aus. Prinz Barthos war als erster auf den Beinen. „Das kommt von den Ställen!“
    Sie hasteten zum Eingangstor hinaus und an der Seitenwand des Schlosses entlang. Das Rauschen wurde lauter. Rufe und entsetztes Wiehern hatten sich daruntergemischt. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie eine hohe weiße Fontäne, die das Dach des Stalls aufgesprengt hatte und dampfend gen Himmel schoss. Stallknechte liefen aufgescheucht vor dem Stall umher. Ein paar Mutige waren hineingestürzt. Noch während sie herbeirannten, wurde die Fontäne langsam kleiner und erstarb. Momente später brachen sie durch die Tür, der Prinz an ihrer Spitze.
    Im Stall herrschte Chaos. Pferde bäumten sich brüllend in ihren Boxen auf, traten gegen ihre Einpferchung und waren durch die Knechte kaum zu beruhigen. Bei diesem Bild blieben die meisten der Adligen am Eingang stehen oder wichen sogar erschrocken zurück. Einzig Barthos, Lee, Markgraf Heron und der junge Jogust von Nitten-Neumark trauten sich, weiterzurennen bis dorthin, wo der Boden mit Balken und Holzsplittern übersät war, die in einer noch dampfenden Pfütze schwammen, und über allem das große Loch in der Decke klaffte. Algas von Montera saß da, gegen die Wand gelehnt, halbbenommen, ob vor Schreck oder vor Schmerz, das war nicht zu sagen. Seine Kleidung war durchnässt, Hände und Gesicht waren gerötet, seine Perücke war ihm vom Haupt gefegt worden, sodass sich nun schütteres Haar und eine blutende Wunde offenbarten, wo er mit dem Hinterkopf gegen die Wand geschlagen war. Zwei Stallknechte hatten sich bereits über ihn gebeugt, doch Barthos stieß sie beiseite und fiel selbst vor dem Verwundeten auf die Knie, um nach ihm zu sehen. „Was ist nur geschehen?“, sprach Markgraf Heron atemlos aus, was wohl jeder in diesem Moment dachte.
    Jeder außer Lee, der sich als einziger nicht über den verwundeten Kämmerer beugte. Er schaute zur Seite, wo sein Rappe halb unter den Trümmern des Daches begraben lag, die ganze Flanke verbrannt und nur noch ein klägliches Keuchen von sich gebend. Er blickte sich in dem Gemisch aus Stroh, Holzsplittern und Wasser um, in dem das arme Tier lag. Und sofort sah er einen Fetzen Papier dort herumtreiben. Und da noch einen. Und da noch einen anderen. Ja, er wusste, was geschehen war. Er wusste, wer sich an seiner Satteltasche zu schaffen gemacht und versehentlich nicht bloß eine Eislanze, sondern gleich einen Geysir beschworen hatte. Vorsichtig bückte er sich herab, um nach einem der Papierstücke zu fischen. Sofort, als er danach gegriffen hatte, zog er seine Finger zischend zurück. Das Wasser war noch immer heiß. Ein kurzer Blick auf das nasse Etwas, das er da zwischen den Fingern hielt und das ihm in der Hand zerfiel, heruntergezogen vom Gewicht des Wassers, mit dem es sich vollgesogen hatte, genügte, um zu erkennen, dass Seraphias Gebetbuch verloren war. Die Tinte war völlig verlaufen. Die Seiten waren hinüber und sicher über den halben Stall verstreut, ein paar, überlegte er bei einem kurzen Blick nach oben, mochten ebenso gut aufs Dach oder wer weiß wohin geschleudert worden sein.
    Er ließ fallen, was er in Händen hielt, und drehte sich um. „Ein Messer!“, rief er. „Gebt mir ein Messer. Oder gleich einen Hirschfänger, wenn ihr einen habt.“ Sein Pferd brauchte nicht noch länger leiden.

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    4. Vorgabe:
    Person A findet an Ort B die Person C vor, die im Besitz von Gegenstand B ist. Während des Versuchs der Person A, den Gegenstand B zu erlangen, wird Person A nackt.



    „Wiglaf, Sohn von Weohstan!“ Mit ausgebreiteten Armen schritt er auf seinen alten Freund zu.
    „Lee Graf... Dingenskirch... Clauske oder so...“ Der stämmige Nordmarer schloss ihn so fest in die Arme, dass ihm die Luft wegblieb.
    „Moltwitz“, lachte er, „Graf von Moltwitz. Aber mach dir nichts draus.“
    Wiglaf winkte ab. „Konnt‘ ich mir nie merken. Ich bleib‘ bei Lee.“
    „Ich bitte drum! Aber ein Gemeiner kann halt nicht die Armee führen. Also hat mir Lord Dominique seinerzeit den Titel beschafft.“
    Wiglaf spuckte aus. „Bleib mir weg mit dem. Erzähl mir lieber, wie‘s dir geht! Aber lass uns nicht hier auf dem Hof stehen. Als ich das letzte Mal in Vengard war, gab‘s noch diese nette kleine Kneipe bei den Docks. Zum Salzhering. Gibt‘s die noch?“
    Lee lachte. „Du machst mir Spaß. Woher soll ich das wissen? Klingt nicht gerade nach einem angemessenen Ort für den Oberbefehlshaber der Streitkräfte.“
    „Aber nach einem Ort, wo‘s was anderes zu trinken gibt als diesen Traubensaft hier im Palast. Zwar keinen Nebelgeist, aber besser als Wein ist‘s allemal.“
    Und so verließen sie den großen Hof, auf dem sie sich getroffen hatten, erst in Richtung von Lees Gemächern, wo er sich etwas Simpleres anzog, das für einen Gang in die Stadt eher geeignet war, dann ins Hafenviertel am Südufer der Ven. Den Salzhering, so stellte sich heraus, gab es tatsächlich noch. Und entgegen gewisser Vorurteile, die man gegenüber Hafenkneipen haben mochte, gab es dort nicht bloß billigen Fuseln, sondern einen, wie Lee zugeben musste, wirklich guten Grog.
    Er war froh gewesen, als der König und die Königin endlich nach Vengard zurückgekehrt waren. Nicht nur, weil er so lange darauf gewartet hatte und endlich – endlich! – Seraphia wiedersah, sondern auch, weil es die Leute im Palast ablenkte. Für zwei Tage, nachdem ihre Jagd solch ein katastrophales Ende gefunden hatte, hatte es bei Hofe kein anderes Gesprächsthema gegeben. Vom Küchenjungen bis zum Oberhofmarschall, jeder hatte über den magischen Geysir gesprochen, der Algas von Montera fast das Leben gekostet hatte. Der Kämmerer war mit einem gehörigen Schock, einigen Prellungen und ein paar Verbrennungen davongekommen. Und er hatte nicht verraten, dass der Geysir einem Buch in Lees Satteltasche entsprungen war – wohl, weil dies nicht nur Lee in Verlegenheit gebracht, sondern auch die Frage aufgeworfen hätte, was Algas denn an seiner Satteltasche zu schaffen gehabt hatte. Und dies hatte selbstverständlich die Spekulationen angeheizt. Jeder im Palast schien eine Meinung zu haben, wie es zu diesem magischen Ausbruch gekommen war, manche auch zwei. Das Eintreffen des Königspaares mit dem halben Ordenskapitel der Paladine und dem nordmarer Gesandten im Schlepptau hatte zwar nicht alle Gespräche und Gerüchte ersterben lassen, aber doch wenigstens einen großen Teil der Aufmerksamkeit wieder auf anderes gelenkt. Wenn der König am Hof weilte, drehte sich alles um ihn.
    „... Bin über Faring“, erklärte Wiglaf und schwenkte dabei sein Glas in der Hand. „Da habe ich die ganze Bagage getroffen. Waren schon auf dem Rückweg aus Gotha.“
    „Wie ist die Lage in Nordmar?“, wollte Lee wissen.
    „Da herrscht das Chaos. In der Mine des Hammerclans sitzen die Orks. In Norbek auch. Dann halten sie noch ein paar Pässe, um ihre Versorgungsrouten zu sichern. Aber ansonsten sind sie geradewegs durch unser Land durchmarschiert und über den Westpass in die Okarawälder.“
    „Und von da in die Ebenen, ich weiß. Aber was ist mit deinem Volk?“
    Wiglaf setzte das Glas ab. Sie saßen etwas abgeschieden in einem kleinen Alkoven im zweiten Stock. Der Lärm von Matrosen und Seesoldaten, die ihre Heuer versoffen, drang von unten an ihre Ohren. „Die Klans sind uneins. Der Hammerclan und der Erzklan wollen vor allem die Orks bekämpfen und aus der Mine jagen. Aber die meisten Klans scheren sich kaum um die Filzpelze. Die sind immerhin schon fast alle weiter nach Myrtana. Sie nutzen die Chance lieber, um sich aufzulehnen.“
    „Ich habe immer gesagt, wir können Nordmar unmöglich dauerhaft halten, ohne richtige Garnisonen. Aber der König hatte immer nur Interesse an der Mine und der großen Schmelze. Jetzt rächt es sich, dass wir im Rest des Landes kaum Soldaten stationiert haben.“
    „Weiß nicht, was ich davon halten soll, dass du drüber nachdenkst, wie ihr unser Land besser hättet unterwerfen sollen.“
    „Entschuldige. Berufskrankheit.“ Lee setzte sein Glas an die Lippen. „Ich weiß, deine Leute sehen die Orks im Moment als Chance, das myrtanische Joch abzuwerfen. Aber wir werden sie schlagen. Und dann wird Rhobar nicht einfach hinnehmen, dass Nordmar unabhängig bleibt. Er wird Vergeltung üben.“ Er leerte sein Glas.
    Die blauen Tätowierungen, die Wiglaf wie alle seines Volkes im Gesicht trug, zogen sich zusammen, als er die Stirn runzelte. „Ja, das meint Kerth auch. Deshalb hat der Feuerklan auch noch nicht rebelliert. Deshalb hat er mich zum Verhandeln hergeschickt. Aber scheiße, ich weiß nicht, was Kerth sich denkt. Die anderen Klans halten uns eh schon für Verräter, weil er damals die Krone niedergelegt hat. Die Jarls sind zwar im Moment zu zerstritten, um einen neuen König zu wählen, aber wenn Kerth so weitermacht, wird uns bald jeder in Nordmar wie Aussätzige behandeln. Auf dem Weg nach Faring hätten mich ein paar Halunken vom Donnerklan schon fast einen Kopf kürzer gemacht, wenn das Gastrecht nicht gewesen wäre. Und was soll ich bitte hier in Myrtana erreichen?“ Er schnaubte. „Wenn euer Überfall auf meine Heimat je irgendetwas Gutes hatte, dann, dass ich nachhause konnte, weil dein König keinen Wert auf einen Gesandten einer unterworfenen Provinz an seinem Hof legt. Und jetzt bin ich wieder hier. Und wozu? Die Deppen hier glauben tatsächlich, ich würde für ganz Nordmar sprechen. Denken, bei uns ginge das zu wie hier. Oder dass Kerth noch Autorität als König hätte oder so. Aber verdamm mich, was wird‘s die übrigen Klans jucken, was ich hier aushandle?“
    „Vielleicht nicht viel, aber wenn du nicht willst, dass bald doch in jedem eurer Dörfer eine Garnison stationiert wird und man eure Jarls in die Barriere wirft, dann musst du den König irgendwie von eurer Loyalität überzeugen – und irgendwie erreichen, dass die Klans wieder Ruhe geben.“
    Wiglaf ließ ein undefinierbares Schnauben hören und stürzte sein Glas in einem Schluck herunter.
    „Ich weiß nicht“, murmelte Lee, bloß halb zu seinem Freund, halb mehr zu sich selbst, „vielleicht können wir den König irgendwie milde stimmen gegenüber Nordmar. Vielleicht weiß Seraphia Rat.“
    Sein Freund hob den Blick von seinem leeren Glas. „Ach ja“, ließ er verlauten. „Da war ja was. Die Königin wollte, dass wir morgen Abend in den Wald reiten.“
    „Was?“ Er war nicht sicher, ob er eben richtig gehört hatte. Wiglafs letzter Satz hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen.
    „Hat sie mir gesagt, bevor wir hier in Vengard ankamen. Irgendwas von wegen die Sonnenuntergänge sollen vom Venufer aus besonders schön sein, ich sollte mit meinem Freund dem General einen abendlichen Ausflug in den Königsforst unternehmen. Und er sollte sein Medaillon bei sich tragen. Weißt du was von einem Medaillon, Lee?“
    „Ich würde Euch niemals vergessen.“ „Dennoch will ich, dass Ihr etwas habt, was Euch an mich erinnert.“ Seine Hand zuckte zu seinem Hals hinauf, ohne dass er es recht bemerkte. Natürlich wusste er etwas von einem Medaillon. Und niemand brauchte ihm zu sagen, dass er es irgendwohin mitnehmen sollte. Nie hätte er es abgelegt. Aber wenn Seraphia Wiglaf nun solch kryptische Anweisungen gab, dann konnte dies eigentlich nur eines bedeuten... Keine Sekunde glaubte er daran, dass sie ihn und seinen Freund wirklich nur in den Genuss versetzen wollte, einen Sonnenuntergang über der Ven zu erleben, so herrlich diese auch sein mochten.
    Sie ritten schon am späten Nachmittag des nächsten Tages los. Lee wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Dass sie für ihren Ritt in den königlichen Forst einige Stunden brauchen würden, das hatte Seraphia sicher bedacht, aber es konnte nicht schaden, schon früh aufzubrechen. Wiglaf hatte sofort eingewilligt, mit ihm zu kommen, und keiner Erklärung bedurft. Teils offenbarte sich hier der Freund, den Lee in ihm hatte. Teils war der rüstige Nordmarer wohl auch froh um jeden Vorwand, die Stadt und den Palast zu verlassen. Um den Steifheiten des Hoflebens und all den Schranzen dort zu entgehen, nahm Wiglaf sogar die Strapazen eines Ritts auf sich, obwohl es seinem kaputten Bein sicherlich besser getan hätte, hätte er sich stattdessen erst einmal von seiner Reise durch halb Nordmar ausgeruht. Das Erlebnis eines schönen Sonnenuntergangs blieb ihnen verwehrt. Stattdessen war der Himmel grau, wie er es in dieser Jahreszeit so oft über Vengard war. Obwohl sie den Wald schon am frühen Abend erreichten, war es deshalb finster. Die Wolken verschluckten das wenige Licht, das noch über die Berge im Westen hätte dringen können.
    „Und nun?“, fragte Wiglaf etwas unschlüssig, nachdem sie abgesessen waren.
    „Ich weiß auch nicht so genau“, entgegnete Lee, der die Zügel seines Pferdes an einem Ast festband. „Aber dieses Medaillon, damit habe ich Seraphia damals in der Wüste gefunden, weißt du? Wenn ich es jetzt mitnehmen sollte, dann ist sie vielleicht hier irgendwo.“ Er griff sich in den Kragen und zog den kleinen goldenen Anhänger hervor. Er klappte ihn auf und warf einen Blick auf den rötlichen Kristall darin, der gleich einer Kompassnadel stets in dieselbe Richtung wies, wie er das Amulett auch drehte. Nach Osten. „Seraphia ist in Vengard“, murmelte er mit einem Blick in Richtung der Stadt, deren Türme und Dächer jedoch längst von der Dämmerung verschluckt worden waren. „Ich habe keine Ahnung, wieso sie uns hier haben wollte...“
    Ihnen fiel nichts Besseres ein, als zu warten. Lee sammelte einige trockene Zweige, um mit ihnen ein Feuer zu entzünden. Er bestand darauf, dies allein zu tun, auch wenn Wiglaf protestierte. Sein Freund sollte endlich sein Bein schonen, satt im Dunkeln durchs Unterholz zu humpeln. Immer wieder warf Lee einen Blick auf den Kristall in seinem Medaillon, doch es tat sich nichts. Er zeigte weiterhin auf die Hauptstadt. Wohin auch sonst?
    Glücklicherweise waren sie nicht ganz ohne Verpflegung aufgebrochen. Während sie dem Knacken des Lagerfeuers lauschten, teilten sie sich Schnaps aus Wiglafs Flachmann. Dazu aßen sie einige Butterbrote, die Lee sich in der Palastküche hatte schmieren lassen. Und sie unterhielten sich. Über alte Zeiten. Darüber, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen war, in denen sie einander nicht gesehen hatten. Und darüber, was die Zukunft bringen mochte. Aber Lee musste sich leider eingestehen, dass er seinem Freund nur halb zuhörte, während dieser von dem Zorn vieler Nordmarer auf seinen Jarl berichtete, den König, der das Knie gebeugt hatte, oder von Olaf, Jorund und Halbjörn, den drei jungen Kriegern vom Hammerclan, die man in die Barriere geworfen hatte, nachdem sie einen myrtanischen Konvoi überallen hatten, und die man im halben Land nun als Helden und Märtyrer feierte. Zu sehr war er mit den Gedanken bei Seraphia. Zu oft ließ er unruhig das Medaillon auf- und nach einem kurzen Blick, der ihm zeigte, dass sich nichts verändert hatte, mit noch gewachsener Unruhe wieder zuschnappen.
    Es hatte zu nieseln begonnen, als Lee ein weiteres Mal auf seinen magischen Kompass starrte und plötzlich eine Veränderung wahrnahm: Der Kristall zeigte nicht mehr nach Vengard, sondern nach Nordwesten, irgendwo in den Wald hinein. Sofort war er auf den Beinen und trieb auch den überraschten Wiglaf zum Aufbruch an. Er konnte sich nicht erklären, was los war. Der Kristall zeigte immer dorthin, wo Seraphia sich aufhielt. Und sie konnte unmöglich in dieser kurzen Zeit solch eine Distanz zurückgelegt haben. Aber er musste dieser Sache nachgehen.
    Der königliche Forst war kein dichter Wald. Ja, mit den langen künstlichen Alleen, die ihn durchzogen, war er zu einem guten Teil mehr Park als Wald. Trotzdem wagten sie es nicht, in dieser Dunkelheit und dem stärker werdenden Regen durchs Unterholz zu galoppieren. Ein Pferd, das sich das Bein brach, war das letzte, was sie nun gebrauchen konnten.
    Ihr Weg führte sie einen sanften Abhang hinauf und über ein Bächlein. In der Ferne erklang der Ruf einer Eule und einmal huschten einige Wildschweine hinter ein paar Bäumen vorbei. Lee war froh, dass es in diesem Wald bloß Keiler, Füchse und Hirsche gab. Die Männer des Königs achteten darauf, dass kein Schattenläufer, ja nicht einmal ein Ripper sich hier ansiedelte. Die Höflinge wollten hier schließlich jagen, nicht selbst zu Gejagten werden. Zwar hatte er sich ein Schwert umgegürtet, aber er hätte sich kaum zugetraut, damit eine plötzlich aus dem Unterholz springende Bestie zu bezwingen. Und Wiglaf gab zwar alles, um sich keine Schmerzen und keine Erschöpfung anmerken zu lassen, aber so, wie er langsam und schnaufend mit seiner Krücke hinter ihm her hinkte, würde er in einem Kampf wohl auch keine große Hilfe darstellen.
    Lee wusste, wohin sie sein Medaillon führen würde, als sie den Bach passierten. Und er behielt Recht. Bald schon lichteten sich die Bäume und gaben den Blick auf einen künstlichen Teich frei, an dessen Ufer die hochherrschaftlichen Jagdgesellschaften schon so manch ein Picknick veranstaltet hatten, der nun aber verlassen dalag, während der Regen auf die schwarze Oberfläche prasselte. Der Kristall in Lees Anhänger hatte nun leicht zu glühen begonnen. Das magische Licht hatte an Intensität gewonnen. Sein roter Schein verbreitete eine wohlige Wärme in der Dunkelheit.
    „Lee!“ Ein Zischen, ein Flüstern fast, kaum zu vernehmen gegen den Wolkenbruch, zu dem sich der anfängliche Nieselregen inzwischen ausgeweitet hatte. Eine Gestalt trat aus einer Laube auf der anderen Seite des Teiches hervor.
    Nichts hielt ihn jetzt mehr. Er ließ das Medaillon aus seiner Hand gleiten und rannte, rannte, bis er die wenigen Meter hinter sich gebracht hatte. „Seraphia!“, stieß er aus, als er vor ihr stand. Ja, sie war es. Gehüllt in einen dunklen Mantel stand sie da und lächelte ihn an. Und in ihrem Lächeln lagen all die Sehnsucht, all die Liebe und all der Schmerz, die er selbst verspürte. Gerne hätte er sie in diesem Moment in seine Arme geschlossen. Und gerne hätte er nie mehr losgelassen. Aber er unterdrückte diesen Impuls, wohlwissend, dass sie es nicht gewollt hätte, und griff bloß nach ihren Händen. Sie drückte die seinen leicht und ihr Lächeln gewann noch an Wärme. Schön war sie. So schön wie damals, als er sie zuerst gesehen hatte. Einige blonde Locken fielen unter ihrer Kapuze hervor und rahmten ihr Gesicht ein. Tropfen fielen auf ihre Stirn und rannen ihr Gesicht hinab. Sie hatte die Vierzig bereits überschritten und man sah es ihr an: Falten waren um ihre Augen getreten und schmückten ihre Mundwinkel, die dort früher nicht gewesen waren. Doch das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Nein, in diesem Moment schien es ihm sogar, dass sie schöner war als je. Ihre blauen Augen hatten noch dasselbe strahlende Leuchten, aus ihnen sprachen noch derselbe Geist und dieselbe Kraft wie früher, wenn auch etwas Trauriges hinzugetreten war.
    Ein Räuspern erklang in ihrem Rücken und riss Lee aus seiner Starre. Es war Wiglaf.
    „Gesandter, ich danke Euch“, wandte Seraphia das Wort an ihn. „Und ich hoffe, wir können auf Eure Verschwiegenheit bauen?“
    Der Nordmarer legte die Hand aufs Herz. „Selbstverständlich.“ Er zögerte kurz und schaute sie unangenehm berührt an, dann sagte er: „Ihr braucht mich wohl nicht. Ich geh dann mal zurück. Zu den Pferden, meine ich. Mit dem hier“ – er klopfte sich mit einem Blick auf Lee mit seiner Krücke gegen das Bein – „brauch ich eh länger als du. Ich warte dann einfach auf dich.“
    Lee nickte. „Danke“, sagte er leise und legte in dieses eine Wort all die Dankbarkeit, die er empfand, in alledem einen Freund wie Wiglaf an seiner Seite zu haben. Dieser entfernte sich nun ohne ein weiteres Wort, während Lee sich wieder Seraphia zuwandte. „Mein Beileid“, sagte er, nachdem er sie einige Momente stumm angeschaut hatte. „Wegen Innostian.“
    Ihre Hände, die noch immer in den seinen ruhten, drückten abermals sanft zu. „Danke. Aber bitte, lass uns nicht davon sprechen. Es ist schwer, sein Kind zu Grabe tragen zu müssen.“ Traurig schüttelte sie mit dem Kopf. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie schwer... Und dass ich meinen Schmerz nicht mit dir teilen konnte, hat es nicht leichter gemacht. Aber jetzt bin ich nicht der Toten wegen hier, sondern der Lebenden. Auch du hast einen Sohn.“
    Bei diesen Worten wich er ihrem Blick aus und seufzte nur leise. „Er scheint das leider anders zu sehen...“
    „Vergib ihm. Es ist schwer für ihn. Vielleicht ist es mein Fehler. Vielleicht hätte ich nicht darauf bestehen sollen, dass wir es ihm sagen. Wenigstens nicht auf diese Weise.“
    „Du bist die letzte, die sich Vorwürfe machen sollte. Nichts ist dein Fehler.“
    Seraphia lachte leise auf. „Oh Lee, ich hatte vergessen, was für ein hoffnungsloser Romantiker du bist. Ich habe viele Fehler gemacht, glaube mir. Sehr viele. Wir...“ Sie brach ab, ihre Augen schienen etwas in der Ferne zu suchen.
    „Das war auch ein Fehler?“ In seiner Stimme lag kein Vorwurf. Er wusste, dass sie es so nicht meinte. Aber trotzdem schmerzte ihn, was ihr durch den Kopf zu gehen schien.
    „Ich bereue es nicht.“ Ihre Hand fand den Weg auf seine Brust, kam über seinem Herz zu ruhen. „Ich würde es wieder tun. Selbst wenn mir mein Verstand jetzt sagt, ich hätte es nicht tun sollen. Wäre ich noch einmal in dieser Situation, ich könnte nicht anders, als es wieder zu tun. Aber Barthos...“ Wieder entrang sich ein Seufzer ihrer Brust, schwerer als der letzte. „Lee, er ist in furchtbarer Gefahr. Und jetzt, wo du hier bist... Ich weiß nicht, ob es klug war, dich herzubitten. Mit jedem einzelnen Tag, den er heranwächst, sieht er dir ähnlicher. Und nun, wo ihr beide hier bei Hof seid – ich weiß nicht, wer die Wahrheit noch lange übersehen soll. Rhobar hat es ohnehin immer gespürt, glaube ich.“
    Lee erschrak. So sehr, dass er sogar Seraphias Hand losließ. „Du meinst, der König weiß von uns?!“
    „Nein, nein, das nicht. Aber komm, lass uns nicht hier im Regen stehen.“ Sie ergriff wieder seine Hände und zog ihn mit sich. „Du musst ohnehin mit reinkommen. Ich muss dir meine Brosche geben. Rhobar...“, fuhr sie fort, während er ihr zu der Laube am Ufer des Sees folgte, „er war immer kalt und distanziert gegen Barthos. Er hat ihm nie vertraut. Das ganze Reich weiß, dass er lieber Rhobar zum Erben hätte. Du könntest es auf allerhand schieben. Barthos‘ Herkunft vielleicht. Ihm missfällt, dass sein Erbe dem Archipeladel entstammt. Auch wenn ich glaube, dass ihm der Umstand, dass sein Erbe den Nordmarern entstammt, noch mehr missfällt. Schau nicht so verdutzt, den König plagt ein gefährlicher Selbsthass, wenn es um die eigene Abstammung geht. Aber diesen Makel teilt Barthos freilich mit seinen Geschwistern. Und glaube mir, Rhobar ist auch diesen gegenüber kühl und distanziert. Aber mit Barthos ist es mehr als nur das. Sein Charakter... Nicht fromm genug, zu interessiert an modernen Ideen. Sogar sein Name. Natürlich konnte der König kaum widersprechen, als ich vorschlug, unseren Sohn nach dem jüngst verstorbenen Erzmagier zu benennen, nicht bei einem so gefeierten und verehrten Erzmagier wie Barthos von Laran, aber ich weiß, dass er bis heute den Gedanken nicht verwinden kann, dass ihm kein Rhobar III. nachfolgen wird. Und dennoch, all das ist nicht alles. Da ist mehr. Da war immer mehr. Ich sage nicht, dass mein Gemahl weiß, dass Barthos nicht sein Sohn ist. Er hätte längst etwas unternommen, wenn er es wüsste. Aber ich glaube, irgendetwas in ihm spürt die Wahrheit.“
    „Aber offensichtlich wiegt nichts davon schwer genug, Barthos zu enterben“, warf Lee ein. Sie waren nun im Inneren der Laube angelangt, wo runde Tischchen standen, die in dieser Finsternis seltsam verlassen und traurig wirkten. Er war inzwischen so durchnässt, dass er den Unterschied zu draußen kaum wahrnahm. Noch mehr Regen hätte ihn auch nicht mehr nasser werden lassen können.
    „Weil es dafür bisher keinen triftigen Grund gibt. Mein Gatte würde niemals offen gegen Traditionen und Etikette verstoßen oder irgendetwas tun, das einen Skandal provozierte. Er lebt für nichts anderes als für seinen Ruf. Oder hm, eigentlicher für sein Selbstbild, denn es ist nicht einmal so sehr der Ruf, den er bei anderen hat, der ihn beschäftigt. Aber glaube mir, der König täte nichts lieber, als Rhobar zu seinem Erben zu machen, wenn er nur könnte.“ Seraphia warf die Hände über den Kopf. „Innos bewahre das Reich vor König Rhobar III.! Der Junge ist keine Dutzend Lenzen alt und führt sich auf, als wäre er der wiedergeborene Akascha. Jeder, der bei Verstand ist, sollte beten, dass nie der Tag kommt, wo dieser verzogene Rotzlöffel den Thron besteigt.“ Lees Gesicht musste seine Überraschung verraten haben, Seraphia so über ihr jüngstes Kind sprechen zu hören, denn sie fügte hinzu: „Er ist mein Sohn und ich liebe ihn über alles. Darum darf ich so etwas sagen. Ich würde durch Beliars Reich für Rhobar gehen, aber was er bräuchte, wären ein paar hinter die Löffel, nicht eine Krone auf dem Kopf.“ Dann drang ein trockenes Lachen über ihre Lippen. „Innora ist das einzige Kind, das mir keinen Kummer bereitet.“
    „Sie ist ein artiges Mädchen“, räumte Lee mit leichtem Schulterzucken ein. „Aber mehr als ein gut erzogenes Püppchen scheint sie mir nicht zu sein.“
    „Oh, unterschätze sie nicht.“ Seraphias Augen blitzten. „Ganz ähnlich haben nicht wenige über mich gedacht. Es ist mehr an Innora, als du siehst. Um ehrlich zu sein“, fügte sie, plötzlich nachdenklich geworden, hinzu, „habe ich manchmal das Gefühl, dass sie ein wenig zu gescheit ist. Und ehrgeizig obendrein. Aber Rhobar musste sie ja an diesen Einfaltspinsel von Montera verheiraten.“
    „Du hast von einer Brosche gesprochen“, erinnerte Lee sie. „Wo ist sie? Und was soll ich überhaupt damit?“
    „Du wirst sie brauchen, um dich als mein Verbündeter zu erkennen zu geben. Ich habe sie hier.“ Seraphia wollte sich schon zu einem der Tische hinter ihr wenden, auf dem Lee in der Dunkelheit nicht mehr als schwarze Silhouetten ausmachen konnte, doch ein heftiges Niese, das ihm plötzlich entfuhr, ließ sie in der Bewegung innehalten. „Grundgütiger, schau dich nur an, du bist ja klatschnass!“ Seraphia deute an ihm hinunter. Auf seine durchweichten Kleider, die ihm wie seine Haare förmlich am Körper klebten. Auf die Pfütze, die sich unter ihm gebildet hatte und in die stetig neue Tropfen von seinem Rock hinabfielen. „Los, schlüpf erst mal raus aus diesen Sachen.“
    „Du willst, dass ich mich jetzt ausziehe?“
    „Ich will, dass du dir hier nicht den Tod holst. Schlimm genug, dass dein armer Freund jetzt wieder allein durch den Wald spaziert. Das war dumm von mir. Ich war so froh, dich wiederzusehen, ich habe kaum einen Gedanken an ihn verschwendet. Ich hätte ihn auch hereinbitten sollen. Na los doch!“ Da Lee weiterhin gezögert hatte, klatschte sie in die Hände. „Raus aus den nassen Sachen!“
    „Ich habe doch gar nichts anderes, um mich anzuziehen...“, wandte er ein, begann aber gehorsam, sein Hemd aufzuknöpfen.
    „Mach dir darüber keine Sorgen. Außerdem ist alles besser, als in diesen nassen Sachen zu bleiben. Ich könnte mir nicht verzeihen, wenn du dir jetzt eine Lungenentzündung holen würdest.“
    Lee tat, wie ihm geheißen. Mit Seraphia wollte er nicht diskutieren. Bloß als sie ausstieß, „gütiger Innos, du bist ja bis auf die Unterkleider durchgeweicht, komm, aus denen musst du auch raus“, zögerte er einen Augenblick. „Was denn?“, lachte Seraphia, die sich nun selbst ihres nassen Mantels entledigt und darunter ein schlichtes Kleid offenbart hatte, das eher einer Dienstmagd geziemte als einer Königin, „kein Grund, sich an die Hofetikette zu halten. Und außer ein paar neueren Kriegsnarben ist dort bestimmt nichts, was ich nicht schon einmal gesehen hätte.“ Trotz dieser Worte wandte sie das Gesicht ab, als er sich weiter auszog, und ging zu dem Tisch hinüber, den sie schon vorher hatte ansteuern wollen. Sie öffnete ein kleines Kästchen, das auf dem Tisch lag und zog eine goldene Brosche mit einem eingelassenen Smaragd daraus hiervor. „Hier, die wirst du brauchen, wenn du mir helfen willst.“ Sie drehte den Kopf leicht zur Seite, sodass sie ihn aus den Augenwinkeln sehen konnte.
    Lee fühlte sich seltsam, so nackt vor ihr zu stehen, während sie noch immer angezogen war. Außerdem merkte er erst jetzt, wie kalt ihm eigentlich war, auch wenn es vorher in seinen nassen Kleidern nicht hatte wärmer sein können. Er schlang die Arme um sich, während er seine Sachen über verschiedene Stuhllehnen hängte.
    „Hier.“ Seraphia hatte ein Bündel ausgewickelt, das neben dem Kästchen gelegen hatte, und reichte ihm nun den Stoff. „Trockne dich erst mal ab.“ Ihr Blick ruhte kurz auf ihm, während Lee das provisorische Handtuch entgegennahm und sich damit abrieb. Er folgte ihren Augen mit den eigenen und dann trafen sich ihre Blicke für einen Moment. Beide schwiegen sie. Es bedurfte keiner Worte. „Hier, das kannst du anziehen“, unterbrach sie schließlich die Stille und reichte ihm einige Kleider, die zuvor in dem Bündel eingewickelt gewesen waren. Als er sie entgegennahm, berührte Seraphia für einen Augenblick seinen Arm. Es war nur ein sachtes Streifen seiner Haut, aber wie gern hätte er diese Berührung erwidert, hätte auch seine Finger auf ihren Arm gelegt. Stattdessen nahm er stumm die ihm dargereichten Kleider entgegen und schlüpfte in eine dunkle Hose, ein bläuliches Kettenhemd und eine Lederweste. „Eine Rüstung?“, fragte er, während er sich anzog. „Was ist das für eine Rüstung?“
    „Die Rüstung des Rings des Wassers. Jedes Mitglied bekommt so eine. Strenggenommen solltest du sie nicht tragen, solange du keiner von uns bist.“
    „Du bist also wirklich Mitglied in diesem... Was ist es eigentlich? Orden?“
    Sie hielt ihre Hand vor sein Gesicht. Ein aquamarinblauer Ring steckte an einem ihrer Finger. „Ja, das bin ich. Siehst du diesen Ring? Den Aquamarin hier? Das ist unser Erkennungszeichen. Ich habe auch einen mit, den du haben kannst, wenn du dich uns anschließen willst. Aber ich kann dich nicht allein aufnehmen. Eine Reihe anderer Mitglieder des Rings muss anwesend sein. Und du musst erst zeigen, dass es dir ernst ist.“
    „Und ihr wollt das Gleichgewicht erhalten? So hat Vatras es formuliert.“
    Seraphia ließ ein leises Lachen hören. „Tja, er ist ein Wassermagier. Wie sonst würde er es formulieren?“
    „Dann sag du mir, was das alles eigentlich soll. Und wenn du schon dabei bist, weshalb die Spruchrollen?“
    „Die Wassermagier haben sie mir gegeben. Und Lee, wirklich, was hast du dir nur dabei gedacht? Ich dachte, das Gebetbuch wäre bei dir in sicheren Händen!“
    Er ließ den Kopf hängen. In diesem Moment fühlte er sich wie ein dummer Schulbube. „Es tut mir leid. Ich hätte es nicht einfach so in meiner Satteltasche zurücklassen dürfen. Das war dumm.“
    „Wir können nur hoffen, dass Algas nichts Wichtiges gelesen hat, bevor er diesen Geysir heraufbeschworen hat. Aber selbst wenn nicht, er wird sich manches zusammenreimen können und er wird die Sache persönlich nehmen. Und ich werde Vatras nach neuen Spruchrollen fragen müssen. Das wird nicht einfach werden, schon gar nicht jetzt, wo seine Brüder nicht mehr hier sind. Es war Meister Merdarion, der sich auf ihre Anfertigung verstand.“
    „Wofür brauchtest du sie überhaupt? Die Notizen, das verstehe ich, aber Zaubersprüche?“
    „Zu meinem Schutz“, entgegnete Seraphia und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
    Lee hatte es ihr gerade gleichtun wollen, aber nun blieb er alarmiert stehen. „Schutz? Schutz wovor?“
    „Wenn ich wüsste, vor wem ich mich alles schützen muss, würde ich mich schon um einiges sicherer fühlen. Die Zahl der Leute, denen ich vertraue, kann ich in diesen Tagen an einer Hand abzählen. Lee, es tut sich einiges im Reich. Und das Problem im Zentrum von allem ist mein Gatte.“
    „Ja, das scheinen mir in letzter Zeit viele Leute erklären zu wollen. Aber ich will es von dir hören. Dir und deinem Urteil traue ich.“
    Und so setzte er sich doch noch und Seraphia erzählte. Sie erklärte ihm, dass der König getrieben sei von dem unerschütterlichen Glauben, der Erwählte Innos‘ zu sein und das Recht und die Pflicht zu haben, sich die Welt Untertan zu machen. Aber auch, dass er zugleich von dem Gedanken geplagt werde, nicht der zu sein, der er sein sollte, keinem alten königlichen Geschlecht zu entstammen, sondern nur der Sohn eines Barbaren aus Nordmar zu sein. Wer des Königs Schwächen kenne, so setzte sie ihm auseinander, der konnte sie sich zunutze machen. „So konnte ich damals Lord Dominique isolieren. Ich brauchte ihn nur beiläufig erinnern, dass Fürst von Trelis ein Emporkömmling war, von gemeiner Geburt. Das hasst er. Wahrscheinlich, weil es ihn an ihn selbst erinnert. Und dann noch etwas seinen Stolz genährt... Ihn wissen lassen, dass die Leute tuschelten, Lord Dominique sei der wahre König gewesen, nicht sein Vater. Er hatte Angst, schwach zu wirken. Und er hatte das Gefühl, der Großmeister nehme sich zu viel heraus. Du weißt, was passierte. Fürst von Trelis verlor die Leitung des Geheimdienstes, dann wurde er ausgesandt, um die Südlichen Inseln zu erobern, und musste als Großmeister zugunsten Lord Hagens zurücktreten. Aber dann hörte der König auf Einflüsterungen von anderen und ging noch weiter. Er hätte Dominique in Agadir als Gouverneur versauern lassen können. Aber stattdessen musste er ihm selbst diesen Posten nehmen. Und seitdem versinken die Kolonien dort im Chaos. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis offene Rebellionen ausbrechen. Und Myrtana wird die Inseln unmöglich halten können, schon gar nicht mit den Orks und den aufständischen Nordmarern im Norden. Die Armee ist über alle Welt verteilt, das Reich blutet aus und hat sich jeden seiner Nachbarn zum Feind gemacht und die Bauern dürfen für Rhobars Feldzüge und Eroberungen bezahlen.“ In den letzten Jahren sei ihr Einfluss auf den König stetig geschrumpft, führte sie weiter aus. „Er hat mich nie geschätzt. Unsere Ehe war immer kalt und von bloßer Pflichterfüllung geprägt. Aber dennoch hatte ich meine Mittel und Wege. Wenn ich seine Eitelkeit ein wenig reizte, seinen Stolz ein wenig verletzte, ihn glauben ließ, ein Vorschlag käme nicht von mir, sondern wäre seine eigene Idee, dann konnte ich ihn mitunter lenken, aber nun misstraut er mir mehr und mehr. Er achtet darauf, mich in seiner Nähe zu behalten. Deshalb musste ich ihn nach Gotha begleiten. Er wollte nicht, dass ich mit Barthos in Vengard zurückbleibe. Aber Einfluss kann ich kaum noch auf seine Entscheidungen nehmen. Das tun heute andere. Solche, denen die eigenen Interessen über die des Reiches gehen.“ Und dann erging sie sich über die Kamarilla, die heute das Geschick Myrtanas bestimme. Und an ihrer Spitze: Algas von Montera. „Nicht genug, dass Herzog Ullrick einer der reichsten und mächtigsten Reichsfürsten und sein Bruder königlicher Kämmerer ist, vor zwei Jahren hat Algas seinem Bruder Usbald auch noch das Amt des Mundschenks verschafft. Und jetzt hat Prinz Theodemir auch noch Innoras Hand erhalten. Natürlich auch auf Algas‘ Vermittlung. Ich war gegen diese Verbindung. Aber wie ich schon sagte, der König hört schon lange nicht mehr auf mich. Die Monteras sind myrtanischer Uradel, nur darauf kommt es ihm an. Dass sie ein immer größeres Übergewicht bei Hof und im Reich gewinnen, das schert ihn nicht, ja er bemerkt es nicht einmal. Er glaubt, sich nicht um Bündnispolitik oder um Kräftegleichgewichte sorgen zu müssen, weil es sein innosgegebenes Recht sei, unumschränkt zu herrschen, das niemand infrage stellen dürfe. Deshalb ist ihm auch für Barthos eine Braut aus einer alten Linie wichtiger als eine solche, die das Königshaus politisch stärken würde. Stell dir vor, er hat ihm verboten, das Archipel zu bereisen, und möchte nicht, dass er dort nach einer Braut sucht. Und weshalb? Weil er denkt, das Archipel schulde ihm Gehorsam, es sei unter seiner Würde, ihn sich zu erkaufen, und weil die dortigen Adelshäuser ihm nicht gut genug für seine Kinder sind.“ Und so schaffe sich Rhobar mit seinem Absolutismus und seinen blinden Herrscherallüren zu den aufrührerischen Kolonien auch noch jede Menge Feinde innerhalb des Reiches: Die Khorinseln, deren alte Autonomien er einschränke, den Adel des Östlichen Archipels, den er ein ums andere Mal verprelle und vor den Kopf stoße, die Reichstände und die Städte, deren Rechte er immer weiter beschneide. Und stattdessen verschaffe er einigen wenigen Häusern gedankenlos mehr und mehr Einfluss und Privilegien, weil ihm der Klang ihrer alten Namen gefalle und er um ihre Gunst buhle, um sich selbst vergessen zu machen, was er dem Schicksal nicht verzeihe, dass er keiner von ihnen sei. Einigen wenigen Häusern und natürlich der Kirche! „Dass der König, der sich in der Regel zu fein ist, sein eigenes Reich zu bereisen, und von seinen Untertanen stattdessen erwartet, ihn in Vengard aufzusuchen und ihm dort ihre Aufwartung zu machen, persönlich nach Gotha reist, um die Oberen des Paladinordens zu seinem Thronjubiläum nach Vengard zu geleiten, spricht für sich. Und dann seine großen Pläne. Dem Waldvolk seine alten Sonderrechte nehmen, die Heiden in Nordmar und auf den Südlichen Inseln zwangsbekehren, ein Flammenzug in die Orklande... Es ist mittlerweile die Kirche, die den Großteil der Politik dieses Reiches bestimmt. Das heißt, im Moment tut die Kirche, was der König will. Lord Hagen ist ein loyaler Befehlsempfänger. Falls er in seinem Leben je einen eigenen Gedanken gehabt haben sollte, hat er das gewiss umgehend seinem Beichtvater offenbart und um Vergebung gebetet. Und der Kreis des Feuers muss sich vorerst von dem Fiasko im Minental erholen. Die sechs höchsten Würdenträger des Ordens gefangen in der Strafkolonie, wahrscheinlich für immer, das war ein schwerer Schlag. Meister Karrypto wäre unter normalen Umständen niemals Lordkanzler geworden. Und er weiß selbst nicht recht, was er auf diesem Posten tut. Aber was werden die künftigen Folgen dieser Stärkung der Kirche sein? Wenn ihr Geschick einmal nicht mehr in den Händen von Männern wie Hagen und Karrypto liegt und im Reich nicht mehr ein Monarch herrscht, der der Kirche stets willfährig ist? Barthos wird sich einst mit einer übermächtigen Reichskirche herumschlagen müssen, die sich nicht einfach gefallen lassen wird, wenn es plötzlich keine Missionierungen und Flammenzüge mehr gibt.“
    Lee hatte Seraphias Ausführungen aufmerksam gelauscht, sie nur einige Male mit einer Frage unterbrochen. Nun aber musste er endlich wissen, was ihm schon lange unter den Nägeln brannte: „Und was willst du unternehmen?“
    „Ich suche nach Verbündeten, um auf meinen Gatten einzuwirken. Er soll die Reichsstände einberufen, einen Teil seiner Macht abgeben. Zugeständnisse machen. Er mag sich weigern, es zu sehen, aber das ist der einzige Weg, einen Zusammenbruch des Reiches zu verhindern.“
    „Was, wenn er sich weiterhin weigert, es zu sehen?“
    Seraphia blinzelte nicht und wandte auch nicht den Blick von ihm ab. „Dann muss er abdanken und Barthos muss den Thron besteigen.“
    „Das ist Hochverrat.“
    „Ich will den König nicht ermorden, Lee, ich will bloß, dass das Reich nicht völlig aus den Fugen gerät.“
    „Es ist trotzdem Hochverrat.“
    „Ja. Und ich werde dich nicht zwingen, mir zu helfen.“
    Seine Hand hatte nach ihrer gegriffen, die auf dem Tisch lag. Er hatte es gar nicht bemerkt. „Das musst du nicht. Das weißt du. Ich würde alles für dich tun.“ Wieder trat eine Stille zwischen ihnen ein, während sie einander in die Augen schauten. Wie lange war es her, dass er ihr so nahe gekommen war wie heute? Mehr als zwanzig Jahre. Der Drang war übermächtig, sich zu ihrem Stuhl hinüberzubeugen und diese Lippen zu küssen, die er so lange nicht berührt hatte. Aber dennoch hielt er sich zurück. Und dann endete der Moment und Seraphia brach den Bann, indem sie ihre Hand zurückzog und sich erhob. „Außerdem“, fuhr er langsam fort, „es ist nicht nur das... Ich möchte dir helfen. Aber vielleicht möchte ich zur Abwechslung auch einmal für etwas Gutes kämpfen. Oder, ich weiß auch nicht, wenigstens für etwas, woran ich glaube. Befehle habe ich genug befolgt.“
    Sie schob ihm lächelnd ihre Brosche zu, die sie vom Nachbartisch herbeigeholt hatte. „Gut. Große Teile des Heeres sind dir gegenüber loyaler als dem König. Das ist ein offenes Geheimnis. Das wird einiges an Gewicht haben, wenn wir auf ihn einzuwirken versuchen. Oder wenn wir uns nach Verbündeten umschauen. Wir sollten bald wieder aufbrechen“, wechselte sie dann plötzlich das Thema. „Es ist nicht gut, wenn ich dem Palast zu lange fernbleibe.“
    „Wie bist du überhaupt so plötzlich hierhergekommen?“, fragte Lee, während er nach der Brosche griff. Erst jetzt kam ihm diese Frage wieder in den Sinn, die er über die Freude des Wiedersehens und Seraphias Ausführungen gänzlich vergessen hatte.
    „Noch ein Geschenk von Vatras. Ein Teleportstein. Ich werde mich auch wieder zurückteleportieren. Du solltest lieber wieder reiten. Man hat vielleicht gesehen, wie ihr die Stadt zusammen verlassen habt, man sollte euch auch zusammen zurückkehren sehen. Auch wenn es mir leidtut, dich wieder in den Regen hinausschicken zu müssen.“
    Lee winkte ab. „Halb so wild. Und ich glaube übrigens, er hat schon wieder abgenommen.“
    „Hoffen wir, dass er noch weiter abnimmt, bevor du aufbrichst. Ehe wir uns trennen, sollten wir besprechen, was wir als nächstes tun. Wie gesagt, ich bin auf der Suche nach Verbündeten. Und vielleicht kannst du mir dabei helfen. Immerhin kannst du dich etwas freier bewegen als ich. Deshalb die Brosche. Der bei den Truppen beliebte General, der nach Leuten sucht, die mit der Politik des Königs nicht einverstanden sind, noch dazu ein bürgerlicher General, das könnte einen falschen Eindruck erwecken. Es soll niemand glauben, du würdest einen Militärputsch planen. Aber diese Brosche wird man erkennen. Sie sollte unseren potentiellen Verbündeten zeigen, dass du die Unterstützung der Königin hast. Ich hoffe nur, du gehst mit ihr etwas umsichtiger um als mit dem Gebetbuch, das ich dir anvertraut habe...“

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Person D setzt zu einem handfesten Versuch an, Gegenstand B zu erlangen. Bei diesem Versuch benutzt Person D die Person E als Druckmittel.



    Don Fernando Alfonso Enrique Juan Gonzalo Oliviero de Salmancha y Alajo, Duque de Catagón strich sich nachdenklich über den spitzen Bart an seinem Kinn. „Wir haben durchaus schon gehört, dass Statthalter Rigaldo Schwierigkeiten hat, Varant unter Kontrolle zu halten. Und Ihr meint also, es werden weitere Truppen aus Varant abgezogen werden?“
    „Für den Kampf gegen die Orks? Nicht zwingend. Wenn es mir gelingt, sie im Frühjahr zurückzudrängen, sollten wir diesen Krieg rasch beenden können. Es dürfte ausreichen, weitere Söldner anzuheuern.“
    „Das dürfte den Staatshaushalt weiter belasten.“ Der Herzog von Catagón zog eine zusätzliche Karte vom Stapel. Sein Neffe Carlos legte eine Karte ab. Eine Reihe westmärkischer Edeldamen saß mit an ihrem Tisch. Bis auf Doña Yolande beteiligten sie sich jedoch nicht am Spiel, sondern zogen es vor, sich mit ihren Fächern Luft zuzuwedeln.
    „Weniger als ein Krieg, der sich noch über viele Jahre hinzieht“, entgegnete Lee und spielte eine Karte aus. „Aber mein Punkt ist dieser: Ich kann mit meinen vorhandenen Männern die Orks zurückschlagen. Aber nicht mehr. Sollte der König eine Strafexpedition gegen die aufständischen Nordmarer planen oder gar – und danach sieht es aus – die Orks über ihren Gletscher verfolgen und den Krieg in ihre Heimat tragen wollen, dann werden wir Truppen aus Varant abziehen müssen.“
    „Aber unsere Garnisonen dort werden jetzt schon immer kleiner!“, protestierte Carlos ungestüm. „Der König kann keine Rebellion Varants riskieren wollen. Seine Majestät muss wissen, was das für die Mark bedeuten würde.“
    „Und nicht nur für die Mark, möchte ich anmerken“, ließ sich Herzog Ferdinand wieder vernehmen. Er trug die typische Mode seiner Heimat mit ihren breiten Kragen und ihrer Vorliebe für dunkle Farben. „Wenn Varant sich wieder von Myrtana lossagen und die Seewege blockieren würde wie vor dem Varantkrieg, wären die Kolonien auf den Südlichen Inseln kaum zu halten. Ich hoffe, der König wird dies bedenken.“
    „Ich habe den Eindruck, der König hat seinen Blick fest auf den Norden gerichtet. Aber vielleicht könnte seine Majestät bewogen werden, von den Orklanden abzulassen, vielleicht selbst von Nordmar... Wenn wir mehr Truppen in Varant stationieren könnten, aber gleichzeitig das Volk dort weniger drücken würden, könnten wir das Land vielleicht befrieden. Und wenn die Varantiner von einem der ihren statt von einem Fremden regiert würden, würde sie das vielleicht ebenfalls besänftigen“, so wiederholte er nun eine Überlegung Seraphias, „vielleicht wäre ein Nachkomme der letzten Sultans von Bakaresh als Statthalter geeigneter als Rigaldo.“
    Doña Yolande spielte langsam drei Karten aus. „Ihr versteht Euch wahrlich auf das Kriegshandwerk, General. Ich kann dasselbe nicht von mir behaupten. Doch Euer Vorschlag klingt weise. Aber glaubt Ihr, der König wird Euch in dieser Sache sein Ohr leihen?“
    „Vielleicht wird er das, wenn andere mit mir sprechen.“
    „Ich weiß nicht“, wandte Ferdinand ein, „seiner Majestät liegt viel am Kampf gegen die Heiden und die beliarischen Monster. Und was Statthalter Rigaldo angeht, so ist er des Königs Bruder durch die Ehe.“
    Lee lächelte, als ihm bei einem Blick auf seine Karten eine Idee kam. „Vielleicht wird der König uns wirklich kein Gehör schenken“, räumte er ein und legte erst eine Dame und dann einen Buben vor sich ab, „aber es gibt nicht nur den König.“
    Es war an Ferdinand, zu lächeln. Der catagónische Herzog legte sein Blatt auf den Tisch. „Das war ein seltsames Manöver“, entschied er, „ganz und gar untaktisch für einen Offizier wie Euch. Und ich fürchte, Ihr habt diese Partie verloren. Aber vielleicht gibt es andere Spiele, die tatsächlich mit Dame und Bube zu gewinnen sind, und vielleicht ist das Glück Euch dort holder. Ihr solltet mir bald einmal in einer ruhigen Stunde von derlei Spielen erzählen.“
    Was er hier tat, entschied Lee, unterschied sich so sehr vom Kriege nicht. Auch hier kam es darauf an, wer welche Truppen in die Schlacht schicken konnte, wie er sie platzierte, wann er sie zuschlagen ließ. Und dennoch lag ihm der offene Krieg mehr...
    Sich darauf zu einigen, wen sie für sich gewinnen sollten, war nicht einfach gewesen. Gleich Seraphias erster Vorschlag hatte Lee schockiert. „Lord Dominique? Das kann nicht dein Ernst sein!“
    „Ich weiß, du magst ihn nicht, Lee, aber das hier ist Politik, persönliche Sympathien und Antipathien spielen hier keine Rolle.“
    „Hier geht es nicht um Antipathie, sondern darum, dass man ihm nicht trauen kann! Und wer es doch tut, der muss es früher oder später bitter bereuen.“
    Hier hatte sie seine Hand ergriffen und ihn eindringlich angeschaut. „Lee, die Menschen, denen ich vertraue, kann ich an einer Hand abzählen. Wenn wir das zum Kriterium machen, werden wir niemanden finden. Ich sage es noch einmal: Das hier ist Politik. Da muss man sich manchmal mit denen zusammentun, mit denen einen gemeinsame Ziele und Interessen verbinden, was immer man von ihnen halten mag. Wir dürfen Dominique nicht vertrauen und wir müssen vorsichtig sein, wenn wir uns mit ihm einlassen, da stimme ich dir zu, aber nichtsdestotrotz sollten wir es auf den Versuch ankommen lassen. Er mag nicht mehr Großmeister sein, aber sein Wort hat noch immer Gewicht im Paladinorden. Und genau das brauchen wir, wo der Orden sonst so fest hinter Rhobar steht. Und außerhalb des Ordens hat Fürst von Trelis ebenfalls noch einige Beziehungen, die uns von Nutzen sein könnten, auch wenn er sich in den letzten Jahren aus der Politik zurückgezogen hat und davor bei Hofe zunehmend isoliert wurde.“
    „Und darf ich dich daran erinnern, dass du es warst, die wesentlich dazu beigetragen hat, ihn zu isolieren und beim König in Ungnade fallen zu lassen?“
    „Danke, daran erinnere ich mich selbst noch am besten. Aber wiederum: Dies ist Politik. Allianzen und Loyalitäten ändern sich da. Dominique wird das besser als jeder andere wissen. Und du wärst ideal, um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Niemand wird etwas dabei finden, wenn du den Mann, dem du deine Karriere verdankst und mit dem du in Varant gekämpft hast, für einige Tage auf seinem Gut besuchst.“
    Lee hatte die Hände in die Luft geworfen und war einige Male auf und ab gegangen. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du das vorschlägst! Was ist mit Algas? Dominique hat ihn überhaupt erst zum Kämmerer gemacht vor elf Jahren. Warum sollte er uns helfen wollen? Algas ist durch und durch Dominiques Kreatur. Wer sagt dir überhaupt, dass Dominique sich wirklich zurückgezogen hat? Du scheinst zu glauben, das Problem wäre der König. Was, wenn er es nicht selbst ist? Was, wenn es die Einflüsterungen seiner Berater sind? Von Leuten wie Algas. Und der wiederum ist Dominiques Marionette. Vielleicht führt Dominique das Reich nicht mehr so direkt wie einst, aber ich glaube keine Sekunde, dass er wirklich einfach auf seinem Landgut sitzt und Jagdhunde züchtet.“
    „Jetzt lässt du dich von deinem Hass auf Fürst von Trelis blenden“, hatte sie ihm zu erklären versucht. „Er ist nicht der allmächtige und geniale Manipulator, für den du ihn hältst. Das war er nie. Ja, ihm verdankt Algas das Amt des Kämmerers. Aber das ist lange her. Und es bedeutet nicht, dass Algas oder gar das ganze Haus Montera Dominique in allem zu Willen ist. Du solltest Algas nicht unterschätzen. Die Monteras sind untereinander völlig zerstritten. Herzog Ullrick ist halsstarrig und unnachgiebig und spielt sich als unangefochtener Patriarch seines Hauses auf. Damit verprellt er sowohl Usbald, der es ohnehin nicht verwinden kann, dass die Herzogswürde wegen einiger weniger Minuten Unterschied seinem Zwillingsbruder und nicht ihm zufiel, als auch Theodemir, der sich von seinem Vater bevormundet und verkannt fühlt. Aber der gemeinsame Groll gegen den Herzog schweißt die beiden nicht etwa zusammen. Für Usbald ist Theodemir die lebende Erinnerung daran, dass seinem Bruder gehört, was er gerne hätte, und er hält den Prinzen für einen eitlen Gecken, der das Erbe der Familie ruinieren wird, das natürlich lieber in den Händen seiner eigenen Söhne liegen sollte. Algas ist der einzige, der das Haus Montera zusammenhält und das ist bei einer solch zerstrittenen Familie schon für sich eine Leistung. Und im Übrigen ist nicht jedes Unheil im Reich Dominiques Werk. Was immer sonst du von ihm oder seinen Methoden halten magst, du solltest dir klar machen, dass er stets auf ein starkes und stabiles Reich und ein Gleichgewicht der Kräfte bedacht war. Nach dem Varantkrieg versicherte er Nordmar und den Südlichen Inseln, dass das Reich saturiert sei. Er war stets gegen weitere Eroberungsfeldzüge. Und was nun geschieht... Nein, dass mein Gemahl der Kirche und einigen wenigen Häusern wie den Monteras solches Übergewicht gibt und sich dabei auf der anderen Seite so viele Feinde im Volk und im Auslande schafft, damit hat Fürst von Trelis gewiss nichts zu tun. Dafür ist er ein zu kluger Politiker.“
    „Eben sagtest du noch, er wäre nicht so genial, wie ich ihn mache.“
    Seraphia hatte aufgestöhnt und nur noch einmal bekräftigt: „In der gegenwärtigen Lage ist er einer der besten Verbündeten, die wir uns wünschen könnten. Er ist alt und hat wahrscheinlich nicht mehr viele Jahre zu leben. Er hat keinerlei persönliche Ambitionen, noch hat er als Paladin irgendeine Familie, deren Interessen er über die des Reiches stellen könnte. Wir mögen ihm persönlich nicht vertrauen können, aber wir können darauf vertrauen, dass er im Sinne Myrtanas handeln wird, nicht in seinem eigenen.“
    Lee war unnachgiebig geblieben und er glaubte weiterhin, dass es hier nicht er, sondern Serphia war, die sich blenden ließ, vielleicht, weil sie sich zwischen Rhobar und den Monteras und nun selbst ohne die Wassermagier in die Ecke gedrängt fühlte, vielleicht, weil ihr die Hofintrigen zu Kopf gestiegen waren. Aber sein Vorschlag, den er stattdessen eingeworfen hatte, war kaum besser angekommen als der ihre bei ihm.
    „Wendmar?“, hatte sie nur gefragt, eine Braue skeptisch nach oben gezogen, um dann hinzuzufügen: „Ja, ich bin sicher, der würde uns mit Freuden helfen, die Krone zu schwächen.“
    „Herzog Wendmar ist ein guter Mann. Er war immer höflich zu mir und nie herablassend wie so viele andere seines Standes.“
    „Ja, der Herzog gibt sich gerne aufgeschlossen und spielt den aufgeklärten Fürsten. Aber lass dich davon nicht täuschen, Lee, er kann so viele Dichter und Denker an seinen Hof holen, wie er will, er bleibt doch ein Machtpolitiker.“
    „Aber er sieht auch, was im Reich schiefläuft. Er hat Algas und Theodemir an die Front begleitet, als sie mich aufgesucht haben. Und schon da hat er mich auf die Unruhen in den Kolonien und die aufrührerischen Bauern angesprochen. Er will den König ebenfalls zum Umdenken bewegen. Und er hat mich schon in meinem Heerlager um Hilfe gebeten. Er wäre ein natürlicher Verbündeter.“
    „Wendmar will nicht, was das Beste für Myrtana ist, Wendmar will, was das Beste für ihn und Andalien ist. Er hat die letzten Jahre damit zugebracht, seinen Einfluss in Westfeld und im Myrtaland auszudehnen. Erst vor vier Jahren hat er es eingefädelt, dass sein jüngerer Bruder die Grafschaft Paunburg erhielt. Und kürzlich erst hat er seinen Neffen mit der Erbin von Zweibrücken-Olden vermählt. Und glaubst du, seine Universität baut er nur auf, weil er solch ein Förderer der Wissenschaften ist? Er versucht, Geldern Konkurrenz zu machen und die andalische Wirtschaft mit all den Studenten zu stärken. Gewiss ist er mit Rhobars Absolutismus unzufrieden und wünscht sich mehr Mitspracherecht für die Reichsstände. Vor allem für sich selbst. Nein, Lee, wir dürfen nicht den Fehler machen, die Macht der Monteras einzudämmen, nur um zuzulassen, dass das Haus Hittin noch mehr an Einfluss gewinnt und in Westfeld noch mächtiger wird, als es ohnehin schon ist.“
    Am Ende hatten sie sich doch auf einige Namen einigen können. Der Adel der Westmark würde keine weiteren Kriegsanstrengungen wollen, die Truppen banden, welche dann in Varant fehlten, zu tief saß dort bis heute die Angst vor einem freien Varant und den Überfällen auf Trelis, die ein solches immer wieder starten konnte. Außerdem trennten die eigene Kultur und Sprache sowie der dort bis heute starke Adanosglaube die Mark vom Rest Myrtanas und würden die dortigen Fürsten unwillig machen gegen alle Versuche, ihre Autonomie zu beschränken und den Innosglauben zu forcieren. Auch von einigen kleineren Fürsten Westfelds und des Mittellands versprach Seraphia sich Unterstützung, aus Nordmar und vor allem den Südlichen Inseln sowieso und auch von den Patriziern der Reichsstädte.
    Lee wurde aus seinen Gedanken gerissen, als seine Tischgenossen aufblickten. Er drehte sich um und sah zwei Personen von einem der anderen Tische, an denen ebenfalls Karten gespielt wurde, zu ihnen hinüberkommen. Barthos führte die beleibte Herzogin von Breybing am Arm. Man erhob sich und verbeugte sich höflich vor dem Kronprinzen, während seine Begleitung von einigen Handküssen und Knicksen begrüßt wurde. „Ihr erlaubt, dass wir uns zu Euch setzen?“, fragte Barthos, wogegen natürlich niemand etwas einzuwenden hatte, und begann dann sofort ein Gespräch mit Herzog Ferdinand, an dessen Hof er auf seinen zahlreichen Reisen durch Myrtana wohl schon einige Zeit zugebracht hatte. Auch Doña Yolande beteiligte sich lebhaft an der Konversation, die sich um eine Aufführung drehte, die man gestern im vengarder Theater gesehen hatte, wobei sie zwar das Spiel der Hauptdarstellerin lobte, aber darauf bestand, die Inszenierung von Fräulein Julia Kellerin, der sie vor vier Jahren in Geldern beigewohnt hatte, sei um Welten besser gewesen. Lee hatte das Stück nicht gesehen, hätte aber auch sonst wohl kaum an der Unterhaltung teilgenommen. Stattdessen musterte er immer wieder Barthos‘ Profil, während dieser sprach oder zuhörte, und fragte sich dabei, was dieser wohl hier wollte. Denn dass er an seinen Tisch gekommen war, war gewiss kein Zufall, daran glaubte er keinen Moment.
    Er wurde bestätigt, als Barthos aufstand und sich entschuldigte und ihn fragte, ob er ihn nicht begleiten wolle, Admiral de Caville habe ihm manches zum Kriegsverlauf erläutert und es würde ihn interessieren, Lees Meinung hierzu zu hören. Und so verließen sie den Tisch gemeinsam, während Barthos seine Begleiterin mit den märkischen Edelleuten zurückließ.
    „Herzogin Adelheid ist eine sehr charmante Gesellschafterin“, erwähnte er, während sie den Saal verließen.
    „Ich habe leider nicht die Ehre, sie näher zu kennen“, antwortete Lee, der sich fragte, weshalb sie nun auch miteinander den belanglosen Gesprächen frönen mussten, die einen Großteil des Hoflebens ausmachten.
    „Ihr solltet das nachholen. Sie hat auch eine sehr reizende Tochter. Carolina-Roberta. Es ist nur ein Jammer, dass der Zustand ihres Gatten sich immer weiter verschlechtert.“
    Sie verließen den Palast und schlugen den Weg zur königlichen Menagerie ein. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Noch immer war der Boden feucht von dem Regen, der drei Tage angehalten und erst an diesem Morgen aufgehört hatte. Dann und wann löste sich ein Tropfen von einer der großen Platanen, unter denen sie entlangschritten, und fand seinen Weg nach unten.
    „Ich habe mit Mutter gesprochen“, begann Barthos leise, als sie das Gehege der Zebras erreichten, ein Geschenk des unterworfenen Moguls von Ariabia. „Sie hat Euch vorgeschlagen, Fürst von Trelis aufzusuchen. Ihr habt Euch geweigert.“
    „Aus gutem Grund.“
    „Euer persönlicher Groll ist kein guter Grund.“
    „Das ist nicht einfach persönlicher Groll. Ich weiß, wer Dominique ist, wie gefährlich er ist. Und du weißt es nicht. Du solltest meinem Urteil vertrauen.“
    Barthos lachte auf und lehnte sich auf das Geländer, das das Scavengergehege umgab. „Eurem Urteil vertrauen? Das werde ich vielleicht, wenn ich einen Krieg zu führen habe, aber nicht in dieser Sache.“
    Auf der anderen Seite des Geländers und des dahinterliegenden kleinen Grabens pickte ein Scavenger scheinbar lustlos im feuchten Gras herum. Seine Gefährten hatten sich am Boden zusammengerollt, die langen Hälse um die Körper geschlungen.
    „Wie konntet Ihr so unvorsichtig sein, das Buch, das Mutter Euch gab, einfach so in Eurer Satteltasche zurückzulassen?“
    „Du weißt davon?“
    „Es war nicht schwer, sich zusammenzureimen, dass dieser Geysir mit Euch zu tun haben muss. Ich habe Mutter gefragt und von dem Buch erfahren.“ Mit finsterem Gesicht sah Barthos zu dem Scavenger hinüber, der den Kopf hob und den Prinzen fragend anblickte, ihm dabei abwechselnd das linke und das rechte Auge zuwendend. „Ich möchte wissen, warum sie Euch das Buch überhaupt überließ. Und warum sie mir nichts davon gesagt hat.“ Lee entging nicht, wie sich Barthos‘ Hände um das Geländer gekrallt hatten, dass die Knöchel weiß wurden.
    „Es war keine Absicht“, entschuldigte sich Lee.
    „Glaubt Ihr, das macht es besser? Der halbe Hof hat den Vorfall schon wieder vergessen, möchte man meinen. Aber nicht der König. Er hat Algas seine Anteilnahme ausgedrückt und seinen eigenen Arzt nach ihm sehen lassen. Und er hat Meister Argos und mehrere Paladine damit beauftragt, diesen Vorfall zu untersuchen. Ich höre, sie haben bereits Meister Vatras ausgefragt. Er ist der einzige verbliebene Wassermagier hier. Und selbst jeder Stallknecht kann bestätigen, dass das Adanosmagie war.“
    Der Scavenger schien das Interesse an dem Prinzen verloren zu haben und begann wieder im Boden herumzupicken. Wie in stummem Einverständnis mit dem Vogel stieß sich Barthos vom Geländer ab und stapfte weiter. Lee schloss sich ihm an.
    „Ihr scheint den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Eure Unachtsamkeiten, Absicht oder nicht, kann Mutter sich nicht leisten. Ich wünschte, sie sähe das auch. Wenn herauskommt, dass Ihr für diese Magie verantwortlich wart, wenn herauskommt, dass Meister Vartas mit dieser Angelegenheit zu tun hat oder Mutter...“
    „Das werde ich nicht zulassen. Im Zweifel werde ich leugnen, dass es ihr Buch war. Ich werde alle Schuld auf mich nehmen.“
    Barthos hielt abrupt inne und fuhr zu ihm herum. „Immerhin kann sich Mutter auf Eure Treue verlassen, wie schön“, spie er aus. „Nur leider nicht auf Eure Klugheit, wie es scheint. Wäre es umgekehrt, hätte sie wahrscheinlich mehr davon. Mir wäre lieber, sie hätte Fürst von Trelis als Euch zum Verbündeten.“ Mit diesen Worten stampfte er wieder los und Lee beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten.
    „Barthos, du kannst mir diesen Fehler so lange vorhalten, wie du willst. Vielleicht hast du Recht damit, aber es ist nun einmal geschehen. Wir sollten zusammenhalten und einander beistehen, du, deine Mutter und ich, und nicht zanken. Ich habe es ihr gesagt, ich sage es dir: Wir müssen Lord Dominique um jeden Preis aus dieser Sache heraushalten. Wir können ihm nicht vertrauen. Wir können nicht einmal wissen, ob er nicht für die verkehrte Politik des Königs verantwortlich ist. Wenn du mich fragst, dann...“
    „Gebt mir die Brosche“, befahl Barthos, der nun vor dem Schattenläufergehege zum Stehen gekommen war, und streckte auffordernd die Hand aus.
    „Was?“
    „Ich weiß, dass Mutter Euch ihre Brosche gab und zu welchem Zweck. Glaubt Ihr, ich wüsste nicht, warum Ihr dort drinnen gerade mit dem Herzog von Catagón gespielt habt? Gebt mir die Brosche.“
    „Seraphia hat sie mir anvertraut.“
    „Und das war ein Fehler, auch wenn sie sich leider weigert, das einzusehen. Ich gedenke, ihn zu korrigieren, bevor er ebensolche Konsequenzen hat wie der letzte.“
    „Das wird er nicht...“, begann Lee, doch er wurde von seinem Sohn barsch unterbrochen:
    „Ihr habt zugelassen, dass Algas herausfand, dass Ihr das Gebetbuch der Königin besitzt, und es so achtlos herumliegen lassen, dass er es ohne Schwierigkeiten in die Finger bekommen konnte. Ich werde nicht zulassen, dass Ihr genauso gedankenlos mit dieser Brosche umgeht. Ist Euch eigentlich klar, was passiert, wenn man die Brosche der Königin bei Euch findet? Was das für Mutter hieße?“
    Lee verschränkte die Arme vor der Brust. Er war die ewigen Vorwürfe und Schuldzuweisungen seines Sohnes leid. Gern hätte er ihm gesagt, dass er zu wissen glaubte, weshalb Seraphia ihn nicht in die Sache mit dem Gebetbuch eingeweiht hatte, stattdessen entgegnete er: „Wenn ich eines kann, dann ist es, aus Fehlern zu lernen. Man gewinnt keine Kriege, wenn man dazu nicht in der Lage ist. Ich werde die Brosche nicht einfach herumliegen lassen.“
    „Selbst wenn nicht, Ihr werdet unvorsichtig genug sein, sie der falschen Person zu zeigen. Und das wird genauso fatal sein. Mit Herzog Ferdinand habt Ihr Glück, aber andere werden gerne die erstbeste Gelegenheit nutzen, Euch und Mutter beim König zu denunzieren, um selbst in seiner Gunst aufzusteigen. Ihr seid zu direkt, zu vertrauenselig, Ihr müsst zweideutiger und unverbindlicher sein, um niemandem in die Falle zu laufen... Und das würde ich Mutter zutrauen, aber nicht Euch.“
    „Du vertraust mir vielleicht nicht, aber sie tut es, sonst hätte sie mir ihre Brosche gar nicht erst gegeben. Wenn du ihre Entscheidung für falsch hältst, besprich das mit ihr.“
    „Das habe ich schon. Leider lässt sie sich in Eurem Fall von ihren Gefühlen blenden, so scharfsinnig ihr Urteil normalerweise auch sein mag.“
    „Wie auch immer“, versuchte Lee, dieses sinnlose Gespräch zu beenden und wandte sich zum Gehen. „Du kannst nicht von mir erwarten, diese Brosche, die Seraphia mir anvertraut hat, einfach so ohne ihr Einverständnis aus der Hand zu geben. DAS wäre gedankenlos und ein Vertrauensbruch. Und genau das willst du doch nicht von mir, oder?“
    „Dann tut wenigstens mit dieser Brosche, wozu Ihr sie erhalten habt!“, fuhr ihn Barthos an. „Mutter braucht Fürst von Trelis, ob es Euch passt oder nicht, und jetzt ist nicht die Zeit, auf alten Kränkungen zu beharren. Jetzt ist die Zeit, pragmatisch zu denken.“
    Es hatte wieder leicht zu nieseln begonnen. Der Schattenläufer, ein altes Exemplar noch aus den Tagen Rhobars I., dessen Fell mehr grau als schwarz war und der im Schatten seins Felsens döste, schien sich nicht daran zu stören.
    „Ich werde das hier auf meine Weise machen und tun, was ich für das Beste halte“, erklärte Lee seinem Sohn, während er sich abwandte. „Sei du pragmatisch.“
    „Das werde sein.“ Barthos‘ Stimme war hart geworden. „Ich werde um Carobertas Hand anhalten, wenn Ihr mir die Brosche nicht gebt.“
    Das brachte Lee tatsächlich dazu, innezuhalten und sich umzudrehen. Nur der Schattenläufer blieb unbeeindruckt. „Was?“
    „Carolina-Roberta von Breybing. Wenn es anders nicht geht, werde ich sie heiraten.“
    „Aber...“ Lee hatte Mühe, diese neue Information richtig einzuordnen. „Das kannst du nicht so einfach tun.“
    „Wer will mich hindern? Ich bin der Kronprinz von Myrtana. Wenn ich die Prinzessin von Breybing heiraten möchte, dann werde ich die Prinzessin von Breybing heiraten.“
    „Was ist mit dem König?“
    Barthos lachte auf. „Der König wird am Ende noch erfreut sein über diese Verbindung. Die Breybings sind uralter Adel. Sie können sich bis auf antike trelische Patriziergeschlechter zurückverfolgen. Und in der weiblichen Linie stammen sie von den Albertingern ab, dem letzten Königshaus vor dem Ersten Orkkrieg. Manch einer würde behaupten, dass ihnen das im Grunde einen besseren Anspruch auf den Thron gibt als dem Rhobarengeschlecht. Und der König ist sich dessen deutlich bewusst, da dürft Ihr sicher sein. Im Übrigen werde ich in vier Tagen, wenn die Feierlichkeiten endlich beginnen, öffentlich meine Liebe für Caroberta bekunden und um ihre Hand anhalten. Es gäbe einen Skandal, wenn der König dann vor aller Welt Einspruch erhöbe. Und wenn der König eines um jeden Preis vermeiden wollen wird, dann einen Skandal.“
    „Aber du liebst diese Caroberta nicht.“
    Barthos zuckte mit den Schultern. „Darauf, einmal eine Frau zu heiraten, für die ich nichts empfinde, war ich schon mein ganzes Leben vorbereitet. Ich bin ein Prinz. Oder zumindest hält man mich dafür. Ich kann mir nicht wie Ihr den Luxus leisten, aus Liebe zu heiraten oder mein Lebtag unvermählt zu bleiben. Und ich könnte es schlechter treffen. Caroberta ist vielleicht etwas leichtsinnig, aber immerhin nicht völlig auf den Kopf gefallen. Und so grässlich wie die Hohenhacken-Schwestern schaut sie auch nicht aus.“
    „Und was bezweckst du mit dieser Heirat?“
    „Mutter musste ich das nicht erklären.“ Das Lächeln, das auf Barthos‘ Gesicht getreten war, hatte zugleich etwas Mitleidiges und etwas Herablassendes. „Der alte Herzog Elmort liegt in den letzten Zügen, die Ärzte sind sich einig. Sein ältester Sohn ist von der Erbfolge ausgeschlossen. Er musste einwilligen, für immer auf alle Ansprüche auf das Herzogtum zu verzichten, um die Tochter des Hofkapellmeisters heiraten zu dürfen. Das gab einen schönen großen Skandal. Herzogin Adelheid ist die Geschichte heute noch peinlich. Elmorts jüngerer Sohn kam bei einem Jagdunfall ums Leben und der jüngste fiel den ariabischen Blattern zum Opfer. Wenn ich Caroberta heirate, fällt Breybing an mich. Es ist vielleicht nicht das Mittelland oder Tymoris oder Catagón, aber dennoch eines der größeren Territorien im Reich. Und Ihr dürftet Major Kuban kennen?“
    „Natürlich“, antwortete Lee, verwirrt von dem plötzlichen Themenwechsel. „Ich kenne meine Offiziere.“
    „Aber offenbar nicht gut genug, wenn Euch inzwischen nicht in den Sinn gekommen ist, dass er Herzogin Adelheids Bruder ist. Was glaubt ihr, wird der König tun, wenn ich ihm vorschlage, den Major zum neuen General unserer Streitkräfte zu befördern?“
    Barthos‘ Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Es brauchte einen Moment, ehe sich eine Antwort seiner Kehle entrang. „Du willst mich beseitigen?“
    „Das hier ist kein drittklassiges Trauerspiel“, gab sein Sohn unwillig zurück. „Seid nicht so dramatisch. Ich will Euch nichts Böses. Ihr werdet Euren Titel und Eure Einkünfte behalten. Ihr werdet schlicht das Heer nicht mehr führen.“
    „Aber warum, Barthos? Wir sind doch auf derselben Seite.“
    „Dann handelt entsprechend und händigt mir diese Brosche aus. Ich brauche Verbündete, auf die ich mich verlassen kann.“
    „Verbündete? Gefolgsleute, meinst du wohl eher“, antwortete Lee, der mit einem Mal verstand. „Du willst niemanden, auf den du dich verlassen kannst, du willst alles selbst machen und brauchst Leute, die dir Gehorsam sind.“
    „Wenn meine sogenannten Verbündeten mir und meiner Mutter mehr schaden als nützen, sobald sie eigenständig handeln, dann ja. Ihr könnt es nennen, wie Ihr wollt. Die Wahl liegt jetzt bei Euch: Gebt mir Mutters Brosche, lasst mich an Eurer statt nach Verbündeten suchen und willigt ein, mit Fürst von Trelis oder meinethalben Beliar selbst zusammenzuarbeiten, wenn nötig. Wenn ich weiß, dass ich mich auf Euch verlassen kann, gibt es keinen Grund, Euch zu entfernen. Oder bleibt starrsinnig. Aber dann werde ich Prinzessin Carolina-Roberta heiraten und alles in meiner Macht stehende tun, um Euch durch ihren Onkel ersetzen zu lassen. Major Kuban wird mir mehr als nur dankbar sein. Ich werde das Heer auf meiner Seite haben, ob durch ihn oder durch Euch.“
    „Und dann? Planst du vielleicht einen Staatsstreich?“
    Barthos sah sich verstohlen um, doch niemand lauschte ihnen, der Schattenläufer ausgenommen. Und der wusste bestimmt nicht, dass er das Wappentier Rhobars und seinem König verpflichtet war. „Wenn es sein muss, ja. Glaubt nicht, dass ich die Macht will. Rhobar kann die Krone gerne haben, wenn er möchte. Meinethalben kann selbst Innora sie haben. Oder besser noch: Wir schaffen diese Tyrannei ganz ab. Habt ihr Lafidel gelesen? Oder Hercot? Nein, natürlich nicht“, beantwortete er sich seine Frage selbst, ohne Lee Zeit zu lassen, etwas zu sagen. „Der Willkürherrschaft sollte ein Ende gesetzt werden. Es sollte eine Teilung der Staatsgewalten geben. Und die Kirche sollte gänzlich entmachtet werden. Mag sie sich um das Seelenheil der Menschen kümmern, aber der Großmeister der Paladine als Reichsfürst, der Erzmagier als Lordkanzler, das sind Relikte vergangener Tage. Aber das sind für den Moment alles nichts als hehre Ideen. Der König ist von Sinnen. Mutter scheint noch zu glauben, dem könnte abgeholfen werden, wenn nur genug Druck auf ihn ausgeübt wird. Sollte das funktionieren, bitte. Aber wir sollten vorbereitet sein für den Fall, dass es nicht funktioniert. Und ich sage es nochmals: Mutter braucht dann Verbündete, auf die sie sich wirklich verlassen kann.“

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