John Irenicus
1.
An einem Donnerstagmorgen Anfang Dezember wurde sich Professor Carl Creifelds klar darüber, dass seine Ehefrau einen Liebhaber hatte, und er beschloss noch am gleichen Vormittag, sich diesen vom Halse zu schaffen. Genau dieser Ausdruck war ihm in den Sinn gekommen, nicht etwa töten, umbringen oder, Innos bewahre!, ermorden. In seinen Vorlesungen schätzte er die Effizienz und den hohen Abstraktionsgrad der Sprache, die seinem Fachgebiet zu eigen war. Wenn es um den Liebhaber seiner Ehefrau ging, war er davon überzeugt, dass sich vom Halse schaffen ein weitaus treffenderer Ausdruck war, denn man schaffte sich lästige Katzen, Ratten oder Bettler vom Halse. Es bedeutete nicht nur, dass man sie tötete, nein, man nahm ihnen ihre Bedeutung und sprach ihnen das Recht ab, jemals einen Wert gehabt zu haben.
Carl Creifelds saß an seinem Schreibtisch, während er diese Gedanken formulierte, und sah auf dezembergraue Wasser des Meeres und die Brandung, die matte Schaumwolken vor sich hertrieb. Er sah den Strand und den schmalen, gewundenen Strang aus Seetang und Treibholz, der den feinen, weißen Sand gegen die endlose Flut begrenzte. Die Wogen sahen wie schmutziges, schaumiges Glas aus.
Carl Creifelds wunderte sich, wie selbstverständlich und bedenkenlos er diesen Entschluss gefasst hatte. Er war nie ein Mann der Tat gewesen, er hatte im Gegenteil gerne darüber gescherzt, dass er sich seit frühesten Jahren seinen Hausgöttern Zaudern und Zweifeln unterworfen hatte. Nun überlegte er, dass es vermutlich einen dritten Genius gab, der seine Hand über ihn hielt, und dieser hieß Hellhörigkeit.
Wäre er nicht so hellhörig gewesen, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dass Melanie einen Liebhaber haben könnte. Hätte er nicht diesen besonderen Ton in der kurzen Mitteilung wahrgenommen, dann hätte sie ihn bis in alle Ewigkeit hinters Licht führen können.

Danke für deinen letzten Besuch. Es war so wunderbar! Wann sehen wir uns wieder? J.

J.? Carl kannte keinen J. Es gab keinen J. im engeren Bekanntenkreis. Die einzige J., die ihm einfiel, war seine Tante Jesebel, aber von der hatte er seit mindestens zehn Jahren nichts mehr gehört. Er zweifelte sogar ernsthaft daran, dass sie überhaupt noch am Leben war. Natürlich war es möglich, dass Melanie einen Arbeitskollegen hatte, dessen Name mit J begann, aber wieso sollte einer dieser todlangweiligen, geschniegelten Höflinge im Statthalterpalast sich auf diese dubios hingebungsvolle Art ausdrücken? Wann sehen wir uns wieder? Ginge es um Melanies Arbeit, hätte auf dem Streifen teuren, sandfarbenen Papiers gestanden: Schlage Termin für weitere Zusammenkunft vor.
Danke für deinen letzten Besuch. So bedankte man sich doch nicht in geschäftlichen Angelegenheiten! Eine Freundin, die er nicht kannte? Kaum vorstellbar.
Es war so wunderbar! Nein, es gab keinen Zweifel.
Carl hatte Melanies Taschen durchwühlt, ihre Kommode, den Nachttisch. Danach hatte er ihre Korrespondenz, die sie im Schreibtisch aufbewahrte, genau durchgesehen. Nichts. Es gab nur diese eine Nachricht von J. Und das war natürlich auch ein Zeichen.
Er nahm den sandfarbenen Papierstreifen, der sich weich und edel anfühlte, in die Hand, starrte ihn an, legte ihn auf den Schreibtisch, las ihn ein weiteres Mal, nahm ihn wieder in die Hand... und stutzte. Er kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, ob ihm sein Eifer und das trübe Dezemberlicht einen Streich spielten oder nicht.
Im Papier schien eine Art Struktur vorhanden zu sein. Er hob den Streifen ins Licht, das müde durch ein Fenster tröpfelte. Tatsächlich! Carl presste das Papier gegen die Scheibe. Es handelte sich um eine Art Wasserzeichen. Er schnaubte. Das passte natürlich zu jemandem, der ein so teures, hochwertiges Papier benutzte. Die menschliche Eitelkeit kannte offenbar keine Grenzen. Das Wort, das dort zu lesen war, lautet Irenicus. Carl sprang auf. Er kannte auch keinen Irenicus. Er durchwühlte die Korrespondenz seiner Frau ein weiteres Mal, ein weiteres Mal ihre Wäsche und Taschen, auf der Suche nach einem Adressbuch oder etwas anderem Kompromittierendem; er wusste selbst nicht recht, wonach er suchte. Während seine Hände hektisch über die zarten Seidenstoffe von Melanies Unterröcken glitten wie aufgeschreckte Blindschleichen, füllte sich sein Bewusstsein mit Bildern von ihrem nackten Körper, ihren schlanken Schenkeln, ihrer Brust, ihren geschmeidigen Bewegungen... und den Bildern eines nackten, fremden Mannes, der sich all dem mit Eifer widmete. Er sah, wie sie ihren Kopf in den Nacken warf und dieses tiefe, raue Gurgeln ausstieß, das...
Carl Creifelds schob die Gedanken beiseite. Ein anderer Mann, nach mehr als zehn Ehejahren? Er spürte, wie sein Puls in seinen Schläfen pochte und sein Gaumen trocken wurde, weil er mit offenem Mund geatmet hatte, gekeucht, während er fieberhaft und ohne System alle Schubladen durchwühlt und versucht hatte, der brutalen Nacktheit der Bilder zuvorzukommen.
Erschöpft ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, der unter dem Gewicht seines massigen Körpers leise ächzte. Er beschloss, heute erst später sein Büro an der Universität aufzusuchen, und zugleich wurde ihm bewusst, dass er bereits einen weiteren Beschluss gefasst hatte: Er würde sich diesen J. Irenicus vom Halse schaffen. Das war die einzige Lösung.
Noch unklar war allerdings, wie. Noch unklar war, wann und wo, aber die zwingende Notwendigkeit dieser Tat stand mit Flammenschrift an die Mauer vor seinem inneren Auge geschrieben.
Carl stellt fest, dass es noch eine vierte Unklarheit gab: wen?.

2.
Die Luft rau und schneidend, und vom schmutzigen, bleifarbenen Himmel schwebten einige wässrige, verwischte Schneeflocken auf die Hafenstadt herab. Die Rathausglocke schlug feierlich vier Uhr, als Professor Carl Creifelds nach seiner Vorlesung über Enthymeme und Topoi als juristische Begründungsmuster auf die Straße trat. Während seiner Lehrveranstaltung war er erneut von hässlichen Bildern und sinnlosen Fragmenten nackter Haut heimgesucht worden, so dass er seiner Assistentin Lea gesagt hatte, seine Migräne sei leider nicht besser, sondern im Gegenteil viel schlimmer geworden, so dass er sich gezwungen sähe, bereits jetzt nach Hause zu gehen. Ihm war bewusst, dass er vor diesem Gespräch nie auch nur mit einem Wort etwas von einer Migräne erwähnt hatte, aber er wusste auch, dass die unscheinbare, schüchterne Lea niemals den Mut haben würde, ihn darauf anzusprechen.
Auf dem Weg zur Universität am späten Vormittag hatte er einen Umweg gemacht, der ihn einige Goldstücke gekostet hatte, und nun machte er sich in den bleigrauen Nachmittag auf, um die Früchte dieses Umwegs zu ernten.
Der alte Kneipier der Taverne Zur Toten Harpyie, ein ehemaliger Matrose mit schönen Tätowierungen auf beiden Unterarmen, musterte Carl misstrauisch, stellte aber wortlos ein weiteres Glas Reisschnaps vor ihn auf den Tresen.
Mitten im Saal schwebte, an fast unsichtbaren Drähten aufgehängt, eine mottenzerfressene ausgestopfte Harpyie mit stumpfen, struppigen Federn und Glasaugen, die trüb wie umwölkte Murmeln aus ihren Höhlen starrten. Ihre Haut war über die Jahre zu safranfarbenem Pergament geworden, an Wangen, Stirn und Brust wies sie tiefe Risse auf. Die ledrigen Lippen der Harpyie waren zu einem trockenen Schrei verzerrt und entblößten schiefe Zähne, die wie alte Grabsteine in das schwarze, narbige Zahnfleisch eingesunken waren. Carl glaubte für einen Moment, unter dem Dunst von Bier und Scavengerbraten ihren toten Körper riechen zu können.
Er stöhnte auf und seine Hand verkrampfte sich um sein Glas, so dass es in der Umklammerung zersprang. Er starrte auf die Splitter, die in einer Pfütze von Reisschnaps und Blut funkelten. Der Wirt näherte sich und wischte Schnaps, Blut und Scherben mit einem schmutzigen Lappen vom spröden Holz des Tresens. Der Anblick seines eigenen Blutes war nichts im Vergleich zu dem, was ihm Attila, sein immer zuverlässiger Kontakt, wenn es um spezielle Aufträge ging, gerade eröffnet hatte. Attila hatte in den wenigen Stunden seit Carls schrecklicher Entdeckung bereits eine der Unsicherheiten – die wichtigste – beseitigt: Wen Carl sich vom Hals schaffen musste, war nun klar.
Nach Attilas Recherchen gab es auf der ganzen Insel drei Männer, die den Namen Irenicus und das Vornameninitial J. trugen. Der erste war Joannes Irenicus, ein im Ruhestand befindlicher Adanosgeweihter, der sich in zwölf Schriften von erschreckend geringer Qualität der khorinischen Landeskunde gewidmet hatte. Carl hatte ihn sofort ausgeschlossen.
Der zweite war ein gewisser Joneleth Irenicus, der als Schwarzmagier tätig und dadurch nicht sonderlich angesehen war. Carl Creifelds hielt es nicht für unmöglich, dass sich Melanie zu einer solchen Gestalt hingezogen fühlen könnte, verwarf allerdings die Möglichkeit, dass ein Schwarzmagier etwas so dümmlich Sentimentales wie Es war so wunderbar! auf einen sandfarbenen Zettel mit geprägtem Wasserzeichen schreiben würde.
Außerdem gab es einen dritten Kandidaten, der für die besagte Rolle wie maßgeschneidert war. Dieser dritte Mann hieß John Irenicus. Er lebte an der Ostküste der Insel, in der Grafschaft Westfeld, einer Gegend, die vor Generationen als Minental bekannt gewesen war. Sein Beruf war Schriftsteller. Schriftsteller! Carl war alles klar.

Als Professor Carl Creifelds' Ehefrau kurz nach sechs Uhr nach Hause kam, war er sämtliche Bücher in ihrem Regal durchgegangen, ohne auch nur eine einzige Spur dieses John Irenicus zu finden. Er hatte eine halbe Stunde zuvor eine Flasche Wein entkorkt, damit sie Luft bekäme, und in dem Moment, als Melanie in die Küche trat, holte er eine himmlisch duftende Meeresfrüchtepastete aus dem Ofen.
„Ach, Liebling“, sagte sie und wies auf seine verbundene Hand, „hast du dich etwa am Ofen verbrannt?“

3.
Als er Melanie zum ersten Mal begegnet war, war dies in Begleitung einer anderen Frau gewesen. Einem von Carl Creifelds' älteren Kollegen, dem fast tragikomisch gelehrten Viktor Grottendinck, war es endlich geglückt zu promovieren – Miszellen zur kolonialen Rechts- und Verwaltungs-ordnung in der Zeit Rhobars II, und das anschließende Fest wurde in einem vornehmen Restaurant in der Oberstadt abgehalten. Carl Creifelds war mit Lucia dagewesen, einer bodenständigen, praktischen Frau mit einem Pferdegesicht, die seit der Schulzeit seine Lebensgefährtin war. Nach zwei Stunden und einem unglaublich zähen Scavenger hatte Lucia genug gehabt und das akademische Spektakel, eine diffuse Unpässlichkeit vortäuschend, verlassen; es hätte sich allerdings nicht gehört, dass Carl, der seine Professur nur wenige Monate zuvor erlangt hatte und seit zehn Jahren mit Grottendinck kollegialen Umgang pflegte, nicht noch geblieben wäre. Man war trotz allem erst beim dritten Gang angelangt, und mehr als ein Dutzend Reden waren noch zu erwarten.
Melanie saß ihm schräg gegenüber, doch erst nachdem Lucia verschwunden war, hatten sie ein Gespräch miteinander begonnen. Creifelds hatte mitbekommen, dass man auf der anderen Seite des Tisches die ökonomischen Unregelmäßigkeiten der Innoskirche diskutierte, und da er der Meinung war, zu diesem Thema so einiges beitragen zu können, hatte er sich eingemischt. Melanie hatte an diesem Abend ein tief ausgeschnittenes rotes Kleid getragen, mit einem kleinen Rubin an einer Goldkette, und es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass sie eine Studentin Grottendincks war. Nachdem die Tafel aufgehoben worden war, hatte sie bei Kaffee und einem guten Glas Lous Hammer beisammen gesessen und geredet, als würden sie sich, wenn nicht eine Ewigkeit, dann doch zumindest bedeutend länger kennen als die wenigen Stunden, um die es sich tatsächlich handelte.
Melanie war zehn Jahre jünger als Carl, sie stammte aus einem kleinen Nest auf dem Festland namens Geldern und nahm an Grottendincks Seminarreihe zur kritischen Würdigung der Kolonialleistung Rhobars II teil. Ihre Eltern waren bereits verstorben; Melanies Stimme bekam einen brüchigen, warmen Ton, wenn sie von ihnen sprach.
Creifelds hatte sich gefragt, ob sie einen Freund hatte, und da er zehn Jahre älter und außerdem Professor war, hatte er sich getraut, diese Frage tatsächlich zu stellen.
„Im Augenblick nicht“, hatte Melanie passenderweise geantwortet, und dann hatten sie miteinander angestoßen und sich dabei einen Moment zu lange in die Augen geschaut.
Wenige Tage später stießen sie in der Caféteria der Universität aufeinander und blieben mehr als eine Stunde beieinander sitzen. Sie unterhielten sich über die Sakralrechtsreform in Varant, die die Gemüter zu der Zeit bewegte, in der folgenden Woche über geschlechts- und herkunftsspezifische Benachteiligung bei den Abschlussprüfungen, und die Woche drauf war es ein Buch über Vertragstheorie und betriebliche Übung, das in der Bibliothek einfach nicht zu finden war, obwohl Melanie es verzweifelt suchte. Carl wusste, dass er es zuhause in seinem Regal hinter dem Schreibtisch stehen hatte, und obwohl es natürlich viel einfacher gewesen wäre, das Buch am nächsten Tag mit ins Institut zu bringen, hatten sie verabredet, dass Melanie zu ihm nach Hause kommen sollte, um es abzuholen.
Lucia unternahm zu diesem Zeitpunkt zufällig einen mehrtägigen Besuch bei ihrer Mutter, Carl Creifelds hatte trotzdem Essen gekocht, und so blieb Melanie. Sie führten Gespräche, leerten zwei Flaschen ausgezeichneten Varantiner Wein und als es Zeit wurde, die letzte Kutsche zu ihrer Behausung auf dem Gelände der Universität zu nehmen, da stellten sie fest, dass diese bereits abgefahren war. In diesem Moment beugte sich Professor Creifelds in einer plötzlichen Eingebung im Sessel vor und legte eine Hand auf Melanies Knie. Zu seinem Erstaunen schob sie sie nicht fort, und nur wenige Augenblicke später waren sie heftig damit beschäftigt, sich auf dem langhaarigen Schattenläuferteppich vor dem Kamin zu lieben.
Sie hörten nicht, wie sich die Wohnungstür öffnete, und sie bekamen nie Gelegenheit für irgendwelche Ausreden. Es war Lucia selbst, die sie zwang, ihre Anwesenheit wahrzunehmen, nachdem sie das Treiben auf ihrem Schattenläuferteppich eine Weile beobachtet hatte. „Ich sehe, du hast eine neue Schlampe gefunden, mein lieber Carl“, hatte sie gesagt, „Und wenn ich mich nicht irre, sogar aus dem Studentenbereich.“
Carl hielt das in vielerlei Hinsicht für eine bewundernswerte Replik. Was aus dem geplanten Besuch bei Lucias Mutter geworden war, darauf hatte er nie eine Erklärung erhalten, was aber in Anbetracht aller Umstände auch nicht so wichtig war.

4.
Ebenso schnell, wie er nach diesem Vorfall Melanie geheiratet hatte, hatte Lucia einen glutäugigen Pferdezüchter aus Varant zum Mann genommen – beleidigend schnell! - und hatte, als er zuletzt von ihr gehört hatte, bereits vier wohlgeratene Kinder mit ihm, einen Palast aus weißem Marmor und einen eigenen Dattelhain. Es war sonderbar, wie leicht und einfach Lucia aus seinem Leben verschwunden war, als hätte das alles – all die Jahre, alle ihre Pläne, alle ihre Gespräche – gar nichts bedeutet, als wären sie nur noch ein Fußabdruck im Wasser.
Aber das spielte alles keine Rolle, Professor Carl Creifelds liebte Melanie mit einer Kraft und Heftigkeit, die ihn selbst verwunderte und ängstigte. Wie war er bloß beschaffen, fragte er sich oft, dass eine Frau solche Macht über ihn haben konnte! Und sollte jetzt, zehn Jahre später, der Zeitpunkt gekommen sein, an dem er unwiderruflich alle Süße ausgekostet hatte, so dass nur noch Bitterkeit und Erinnerung übrig blieben? Wenn Melanie ihn nun so leichten Herzens verließ wie er damals Lucia, dann wäre das nicht weniger als sein sicheres Ende.
Von einem ziemlich drastischen Standpunkt aus betrachtet konnte man darin eine Art ausgleichende Gerechtigkeit sehen, dachte Carl, andererseits aber auch nicht, denn während sich Lucia fast verdächtig schnell ihrem pferdezüchtenden Varantiner an den Hals geworfen hatte, schien ihm als alterndem Juristen mit schwindender Haarpracht und wachsendem Bauchumfang die Hoffnung, einen entsprechenden Fang zu machen – zum Beispiel eine kühle, dunkle Maid aus Nordmar – kaum noch im Bereich des Wahrscheinlichen zu liegen. Allein der Gedanke, nach einer neuen Frau suchen zu müssen, bereitet ihm eine Gänsehaut. Wie? Wo? Nein, eines stand fest, wenn Melanie ihn nun verlassen würde, blieben ihm genau zwei Möglichkeiten: entweder für den Rest seiner Tage einsam zu leben und sich in Arbeit zu begraben – oder sich das Leben zu nehmen. Es gab weder Grund noch Anlass, sich eine düstere Zukunft schönzureden.
All diese traurigen Schlussfolgerungen waren ihm während der düsteren Nachmittagsstunden durch den Kopf gegangen, bevor er den himmlischen Auflauf aus dem Ofen holte. Und genau diese Überlegungen waren es gewesen, wie Carl im Nachhinein einsah, die das Motiv für seinen Beschluss, sich J. Irenicus vom Halse zu schaffen, ausmachten. Kurz und schmerzlos und ohne auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks andeutend, dass er überhaupt von dessen Existenz wusste.
J. Irenicus war also ein Schriftsteller. Carl Creifelds sah in drei Nachschlagewerken zur Literaturgeschichte nach, aber in keinem war auch nur eine Zeile über ihn vermerkt.
Nach der Meeresfrüchtepastete und der Flasche Wein liebten sich Carl und Melanie, weder besonders lange noch besonders leidenschaftlich, und während es vor sich ging, fiel es ihm schwer, sich der Bilder von Melanie mit einem fremden Mann zu erwehren. Doch er hielt durch, und als er ein paar Stunden später das schöne, sanfte, mondbeschienene Gesicht seiner schlafenden Frau betrachtete, wusste er, dass sie nichts davon ahnte, dass er es wusste. Er hatte seine finsteren Erkenntnisse in keiner Weise preisgegeben, und wenn der so genannte Schriftsteller John Irenicus in einer noch unbekannten, aber klar begrenzten Anzahl von Tagen ein für alle Mal von der Erdoberfläche verschwände, würde es nichts geben, was diese zweifelhafte Person mit Professor Carl Creifelds verband. Als er einen letzten Blick aus dem Fenster auf die Uhr des Rathausturmes warf, kletterten die Zeiger gerade auf drei Uhr zu, und Carl Creifelds schlief mit den ersten Schritten eines Plans und guten Gewissens sowie mit der Zuversicht ein, dass alles zu seiner Zeit in Erfüllung gehen würde.

5.
In Professor Carl Creifelds Leben gab es zwei unumstößliche Regeln. Die erste lautete, dass man niemals versuchen sollte, Rüben anzubauen, wenn man nicht reichlich Scavengermist zur Verfügung hatte. Die zweite sagte, man solle immer darauf achten, zwischen Entschluss und Ausführung ausgiebig zu ruhen. Carl war klar, dass er sich in seinem speziellen Falle eher an die zweite Regel zu halten hatte. Außerdem war ihm klar, dass ihm dieses ruhige Abwarten des richtigen Moments und des passenden Vorgehens gefiel, und er hatte keine Eile, jetzt, wo der Beschluss einmal gefasst war.
In den auf den schwarzen Donnerstag folgenden Tagen besuchte er mit Melanie ein klassisches Konzert im Barthos-von-Laran-Auditorium, sie sahen sich ein kompliziertes Theaterstück mit Überlänge an und besuchten gleich zweimal ein Restaurant, und erst am Montag, als Carl wieder an seinem Schreibtisch saß, begann er vorsichtig, ganz vorsichtig, Informationen über den Schriftsteller John Irenicus zu sammeln. Erst am Mittwoch wurde diese Arbeit von Erfolg gekrönt, als er Antwort von einem größeren Verlag erhielt – er selbst hatte sich in seinem Schreiben als Literaturwissenschaftler aus Kap Dun ausgegeben, der in einem äußerst informellen, aber nichtsdestoweniger vertrauenswürdigen Zusammenhang auf den Namen J. Irenicus gestoßen sei. Er erfuhr, dass John Irenicus tatsächlich ein Schriftsteller war, mit etwa fünfundzwanzig Titeln auf der Werkliste, dass er diese Bücher aber unter einem Pseudonym herausgegeben hatte.
Unter verschiedenen Pseudonymen sogar, aber das schien kein besonders strenges Geheimnis zu sein. John Irenicus' Autorentätigkeit teilte sich in drei ganz unterschiedliche Bereiche – oder Genres, wie Schriftsteller wohl sagten. Er versuchte sich in Romanen, Kurzgeschichten und Lyrik. Creifelds starrte auf die Namen, verfasste ein kurzes Dankesbillet an den Verlag und beschloss in Anbetracht der Tatsache, dass er bis zu seiner Lehrveranstaltung noch mehr als zwei Stunden Zeit hatte, die Buchhandlung am Marktplatz aufzusuchen.
Es gab keine Gedichtband von J. Kirschmichl, und von dem letzten Kurzgeschichtenband, der von John Harrison erschienen war, wie die Buchhändlerin ihm mitteilte, hatte man ein Exemplar erworben, das im letzten Frühjahr beim Ramschverkauf über den Ladentisch gegangen war - was Carl Creifelds in seiner Meinung bestätigte, dass die Buchhandlung am Marktplatz die beste in ganz Khorinis war. Er bedankte sich und begab sich eine Treppe tiefer in die Abteilung für Romane, wo er nach wenigen Augenblicken fündig wurde. Das einzig greifbare Buch von J. Kastaroth hieß Irrelevanzen II, offenbar die Fortsetzung eines einigermaßen erfolgreichen Werkes, woran der bedauernswerte Schreiberling anknüpfen wollte. Carl unterdrückte einen gewissen Widerwillen, ging zur Kasse und bezahlte.
Das Buch war dick und gebunden, dennoch hatte er das Gefühl, dass fast zwanzig Gold ein unverschämt hoher Preis war für diese Art Trivialliteratur, um die es sich zweifellos handelte.
Noch am gleichen Abend begann er zu lesen. Melanie war bei einer Veranstaltung im Statthalterpalast, an deren Organisation sie maßgeblich beteiligt war. Es war, zumindest anfangs, eine merkwürdige Geschichte. Das Buch handelte von einem Mann, der von seinem Doppelgänger heimgesucht wurde. Der Mann war Professor für Nervenheilkunde in einem ungenannten Ort, und eines Morgens, als er gerade seine erste Vorlesung des Tages hält, öffnet sich die Tür und er sieht, wie er selbst den Hörsaal betritt, wie er erschrickt und stehenbleibt. Er tauscht einen Blick mit sich selbst, der andere zieht sich zurück, schließt die Tür und verschwindet. Offenbar hat keiner der Studenten den Doppelgänger bemerkt, ja nicht einmal, dass überhaupt die Tür geöffnet worden ist. Bereits nach wenigen Seiten wurde Carl Creifelds von einem brennenden Schmerz in der Speiseröhre befallen, den er aus unergründlichen, aber gleichzeitig sonnenklaren Gründen mit dem Buch in Verbindung brachte.
Die unangenehme Begegnung des Professors mit sich selbst wiederholt sich einige Zeit später, allerdings in seinem Wohnzimmer. Sie verläuft ebenso wie die erste; nach erneutem, nur sekundenlangem Blickkontakt zieht sich der Doppelgänger zurück, ohne dass die Frau des Professors, die gerade in ihr Buch vertieft ist, etwas mitbekommen hat.
Professor Carl Creifelds musste die Lektüre unterbrechen, das Sodbrennen war nicht mehr zu leugnen. Er ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken.
Auf Seite fünfundfünfzig taucht der Eindringling zum dritten Male auf, und zwar in Zelle 6 der Nervenheilanstalt, die der Professor leitet. Nach dieser Begegnung beschließt der Professor, einen Mord zu begehen. Er gibt vor, erkrankt zu sein und beginnt, sich für die nächste Kollision mit seinem Doppelgänger zu wappnen. Im Zusammenhang mit diesen Vorbereitungen reist er aufs Land, in die Grafschaft Siegin, wo er in einem einsamen, verlassenen Herrenhaus unterkommt. Innerlich wie äußerlich isoliert, wird er mit der Zeit von immer verwirrenderen Träumen und Wahnvorstellungen heimgesucht. Ob die Mitteilung auf edlem, sandfarbenen Briefpapier, die er eines Tages erhält, in die Traumwelt oder die Wirklichkeit gehört, kann der Leser nicht erfassen; jedenfalls berichtet der unbekannte Absender dem geplagte Professor, dass seine Frau ein unschickliches Verhältnis mit einem gewissen J. unterhalte.
Professor Carl Creifelds schob das Buch von sich und starrte aus dem Fenster. Ein blasser Mond glitt über die sanft geschwungenen Dächer der Häuser von Khorinis, und das Sodbrennen schoss ihm erneut in die Kehle wie ein Strom kochenden Gifts. Aus dem Flur hörte er ein Geräusch, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Im selben Augenblick schlug die Rathausuhr elf Mal. Hastig schlug Carl die Irrelevanzen II zu und schob sie in die oberste rechte Schreibtischschublade.


6.
Am Vormittag des folgenden Tages machte sich Carl Creifelds ans Werk. Seine erste Tat bestand darin, Melanie ein Billet in den Statthalterpalast zu senden.
Meine liebe Melanie,
ich muss dir leider mitteilen, dass es in der Delegation der juristischen Fakultät einen kurzfristigen Ausfall gegeben hat, so dass ich einspringen und nach Faring reisen muss. Genauer gesagt muss ich sogar heute Nachmittag abreisen, um pünktlich bei der Faring-Konferenz zu erscheinen; du weißt ja, wie bedeutsam diese Zusammenkunft ist. Ich hoffe, du bis darüber nicht allzu traurig! Können wir heute Mittag vor meiner Abreise noch gemeinsam essen? Ich schlage ein Treffen in der Fröhliche Mastsau vor.
Dein dich liebender
Ehemann
Carl
P.S. Spätestens Dienstag bin ich wieder zurück in Khorinis!


Bereits eine halbe Stunde später erhielt er Antwort von Melanie, die einem Treffen zustimmte. Ob sie über seinen überstürzten Aufbruch enttäuscht oder erleichtert war, ließ sich dem Ton ihrer Nachricht nicht entnehmen.
Im Institut sagte er gar nichts. Es war nicht notwendig, denn er hatte montags weder Termine noch Lehrveranstaltungen, und falls es sich herausstellte, dass er es nicht bis zu seinem Seminar am Dienstag schaffen sollte – eine Veranstaltung über die Wurzeln des Feudalrechts in vierundzwanzig Sitzungen, die er seit zwölf Jahren in völlig unveränderter Form hielt - konnte er immer noch kurzfristig eine Eilmeldung schicken und erklären, dass er erkrankt sei.

Melanie kam wie verabredet zu Mittag in die Fröhliche Mastsau, wo sie ein einfaches Gericht zu sich nahmen. Er begleitete sie zurück zum Statthalterpalast und verabschiedete sich von ihr, und sobald er sie hinter den dicken Mauern des imposanten Gebäudes wusste – in ihrer Abteilung gab es keine Fenster -, ging er, nein, sprang er in Richtung des Osttores, wobei er sich vor Tatendrang und guter Laune kaum in Zaum halten konnte angesichts dessen, was vor ihm lag. Er winkte einer Mietkutsche und schwang sich in den Fahrgastraum. Er würde kurz nach Einbruch der Dunkelheit im Minental ankommen, genauer in der Grafschaft Westfeld. Dort würde er in einem Gasthaus absteigen, sich eine Flasche Wein gönnen und es würde alles nach dem Plan laufen, den er zwar noch nicht in jeder Einzelheit im Kopf hatte, der aber mit jeder Stunde, die verstrich, immer deutlicher wurde. Das Spiel war eröffnet.

Seit er die Irrelevanzen II am vergangenen Abend zugeklappt hatte, hatte Carl keine Zeile mehr in diesem Buch gelesen, doch es lag zuoberst in seinem lurkerledernen Seesack. Kaum hatte er die Tür des behaglichen, wenn auch etwas verwohnten Gasthofzimmers hinter sich geschlossen, legte er es mit einer gewissen Sorgfalt auf den Nachttisch neben dem abgenutzten Bett aus dunklem Eschenholz. Er hatte die Nacht im Voraus bezahlt, und niemand hatte ihn nach seinem Namen gefragt. Auf dem rauchfarbenen Glastisch vor dem Fenster stand eine kleine Schale mit Obst. Seine Hausgötter Zaudern und Zweifeln schienen in Khorinis zurückgeblieben zu sein, doch Hellhörigkeit hatte einen Logenplatz in seinem Bewusstsein. Vor dem Einschlafen las Carl Creifelds bei trübem Kerzenlicht noch ein Kapitel, in dem sich der namenlose Professor immer noch in seinem ausgekühlten, einsamen Herrenhaus auf dem Lande befindet und mit einer lichtscheuen Gestalt darüber verhandelt, eine Waffe zu kaufen. Wie er den Kontakt zu dieser Gestalt hatte aufnehmen können und wie die Verhandlungen eigentlich abliefen, wurde Carl nicht so recht deutlich, und weder die Ehefrau des Professors noch der gewisse J. wurden mit einem Wort erwähnt. Professor Carl Creifelds, der in jungen Jahren auch einige Veranstaltungen zur myrtanischen Literaturgeschichte besucht hatte, vornehmlich, um dort unaufdringlich mit Studentinnen in Austausch treten zu können, ahnte, dass es sich dabei nicht etwa um Nachlässigkeit des Autors, sondern um eine raffinierte Verzögerung im Erzählstrom handeln musste. Als er das Buch niederlegte und die Kerze löschte, schlug das berühmte Glockenspiel im Rathausturm von Westfeld zwei Uhr. Carl war genau bis zur Mitte des Buches gekommen – Seite einhundertvierundfünfzig.

Der Samstag begann mit hohem Himmel und leichten Wolken. Carl Creifelds schlief bis Viertel nach neun, und als er hinunter in die Gaststube kam, war das Personal bereits dabei, das Frühstück abzuräumen. Dennoch bekam er noch Leberpastete und die berühmten Westfelder Gurken, und während er noch so dasaß, sein Frühstück genoss und gleichzeitig den Stadtplan studierte, den er sich an der Rezeption besorgt hatte, überkam ihn plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden.
Er schaute sich im Raum um. Abgesehen von einer Kellnerin, die ein paar einsame Teller abräumte, war keine Menschenseele zu sehen. Aber das Gefühl war stark, fast unerträglich. Möglicherweise hatte jemand Sekunden, bevor Carl Creifelds den Blick gehoben hatte, hinter ihm gestanden, ihn betrachtet und sich, sobald er einen Anflug von Bewegung wahrgenommen hatte, schnell und geräuschlos zurückgezogen. Aber wer? Und warum? Es erschien ihm höchst unwahrscheinlich, dass ihn jemand in dieser fremden Gaststube beobachtete. Carl schüttelte das unangenehme Gefühl ab und beendete sein Frühstück, faltete sorgfältig die Karte zusammen und verließ die Gaststube.
Bald darauf befand er sich vor der alten Westfelder Felsenfestung, die einst von den ersten Fürsten der Grafschaft erbaut worden war, die dunkle Zeit der Barriere über dem Minental und die Orkinvasion überstanden hatte und den Westfeldern nun als Rathaus diente. Der wolkenlose, milde Dezembertag hatte die Menschen in Horden auf die Straßen und Plätze gelockt. Professor Carl Creifelds fand einen Platz auf dem Rand eines alten Springbrunnens, dessen Wasser bereits abgestellt war. Als er dort so saß, überkam ihn eine rätselhafte Erinnerung an einen früheren Aufenthalt in Westfeld, als er an eben dieser Stelle gesessen hatte und ihn feine Wolken voller Wasserkristalle umschwebt hatten, woraufhin er sich gezwungen sah, den Platz zu wechseln. Ihm wollte jedoch nicht einfallen, wann das gewesen sein und zu welchem Zweck er sich in Westfeld befunden haben könnte, und die Erinnerung blieb merkwürdig verschwommen.
Er nestelte den Stadtplan aus seiner Tasche und studierte ihn ein weiteres Mal. Die Adresse von J. Irenicus hatte er angekreuzt; sie befand sich nur zwei oder drei Straßenzüge von ihm entfernt, in der Graf-Bergmar-Gasse.
Sich vom Halse schaffen, dachte Carl und sah sich um. Hier saß er am helllichten Tag unter all den Menschen und plante einen Mord. Einen Mord.
In dem Augenblick, als er diesen unheilvollen Gedanken formulierte, wurde er von brennender Sehnsucht nach seiner Frau gepackt, und als er glaubte, es nicht länger aushalten zu können, den irrsinnigen Plan aufgeben und auf der Stelle nach Hause zurückkehren zu müssen, da bekam er eindeutige Gewissheit darüber, wie es zwischen Melanie und dem Schriftsteller John Irenicus tatsächlich stand. Im Hintergrund stimmte das Westfelder Glockenspiel gerade seine bekannte Melodie an, als er eine schlanke Gestalt für den Bruchteil einer Sekunde in der Menge ausmachen konnte, bevor eine Woge von Passanten sie wieder verschluckte. Carl war erstaunt, mit welch ausgeklügelter Präzision hier ein Zahnrad ins andere gegriffen hatte! Acht schwere Klöppel, geschmiedet von längst zu Staub und Erde zerfallenen Meisterschmieden der Grafschaft Westfeld, hatten im selben Moment auf acht Bronzeplatten geschlagen, wie sie es seit über dreihundert Jahren getan hatten, und die sanfte Folge von zweiundzwanzig Tönen war über den Rathausplatz getragen worden, und das genau in dem Moment, als die grundlegenden, zufälligen Mechanismen des Lebens ihm einen Atemzug lang das Antlitz seiner Ehefrau gezeigt hatten, die auf das Haus des Schriftstellers zustrebte.


7.
Professor Carl Creifelds packte mit beiden Händen den Brunnenrand. Melanie befand sich hier. Viele Meilen von zuhause entfernt, in Westfeld. Es gab keinen Zweifel. Halb verdaute und einander widersprechende Impulse wüteten in seinem Inneren wie rasende Hornissen. Für einen verwirrenden Moment kam ihm der Gedanke, ihr nachzulaufen, sie zu ertappen, sie zur Rede zu stellen, doch dann erinnerte er sich an die Voraussetzungen. Wenn die Untreue seiner Frau ans Licht käme, könnte sie sich dafür entscheiden, ihn einfach zu verlassen. In seinem tiefsten Inneren wusste er, dass diese Möglichkeit absolut nicht undenkbar war, und es war genau diese mögliche Entwicklung gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, sich für einen Mord zu entscheiden. In seinem aufgewühlten Zustand gelang es ihm dennoch, zwei Richtlinien aufzustellen, die ihm unbestreitbar erschienen.
Erstens: Melanie durfte ihn auf keinen Fall entdecken. Damit wäre sein Plan, sich John Irenicus geräuschlos vom Halse zu schaffen, ein für alle Mal zunichte gemacht, und Carl würde einer einsamen, niederschmetternden Zukunft entgegensehen, an deren Ende unausweichlich der Selbstmord stand.
Zweitens: Wenn Melanie sich tatsächlich in Westfeld befand – und daran konnte, wie gesagt, kein Zweifel bestehen -, dann musste sie einen Grund dafür haben, und über diesen Grund machte sich Carl keine Illusionen. Vermutlich klopfte sie in diesem Augenblick an die Tür des Erzschuftes und Schundautors John Irenicus, der so wenig Rückgrat hatte, dass er nicht einmal unter seinem eigenen Namen auftrat, und wenn sie sich ausgiebig geliebt hatten, vermutlich sogar auf einem Schattenläuferfell am offenen Kamin, dann würden sie darüber sprechen, wie Melanie ein neues Leben an der Seite dieser Schriftstellermemme beginnen würde...
Carl Creifelds schluckte den sauren Geschmack in seinem Mund herunter und beschloss, noch einige Minuten auf dem Brunnenrand zu verweilen und danach die Graf-Bergmar-Gasse aufzusuchen.

Gegenüber dem Gebäude, in dem der Schriftsteller hauste, lag ein kleines Restaurant, das Spezialitäten aus Jharkendar anbot. Elf von zwölf Tischen waren frei, Carl ließ sich am Fenster nieder und bestellte Honigtee und Feigengebäck.
Die Position war perfekt.
Bevor er sich in das Restaurant Königin Sabatha begeben hatte, war er am Hauseingang gegenüber gewesen, mit gesenktem Kopf, und hatte Attilas Angaben überprüft. Auf einer schönen alten marmorierten Spiegeltür der Wohnung im zweiten Stock hatte sich ein zierliches Messingschild befunden. Irenicus / Mariska stand darauf. Mariska konnte eine Frau sein, mit der Irenicus in wilder Ehe zusammenlebte, es konnte genauso gut auch der Name des Hund des exzentrischen Schriftstellers sein, oder der einer Katze. Wer oder was auch immer Mariska war, John Irenicus lebte tatsächlich dort: Es stimmte also, alles stimmte so verdammt genau in diesem erbärmlichen Melodram. Carl Creifelds hatte seine Ehefrau belogen und ihr vorgegaukelt, er befände sich auf einer Konferenz in Faring, dabei war es doch sie, die ihn in viel höherem Grade hinters Licht führte, oder etwa nicht? Das ironische Paradoxon war, stellte er betroffen fest, dass er in seine eigene Falle getappt war. Melanie betrog ihn mit einem anderen, und nun hatte sie vollkommen unwissend seine Lüge genutzt und war nach Westfeld gereist, um … nun, um mit dem anderen zusammenzusein.
So ein Schweinehund, dachte Carl, so ein verfluchter Schweinehund, und dann überfielen ihn die Bilder zweier nackter Körper, der eine unbekannt, der andere schmerzlich vertraut, mit einer Wucht, die ihn leise aufstöhnen ließ. Mit letzter Kraft hob Professor Carl Creifelds die Hand und winkte den Kellner zu sich, einen dunkelfelligen, schmalen Goblin, der ihm mit einem unergründlichen Lächeln von jharkendarischer Unverbindlichkeit die Speisekarte reichte.
Die letztendliche Bestätigung, soweit es denn überhaupt noch einen Raum für irgendeinen Zweifel gegeben hatte, erhielt er knapp zwanzig Minuten später. Er hatte gerade ein Bal Mak Pruk mit reichlich Feuerdorn verzehrt, als er sie durch die Scheibe hindurch erspähte. Zu seinem Erstaunen kam Melanie nicht aus der Wohnung des schreibenden Schweinehundes heraus, sondern hielt geradewegs auf die Tür zu seiner Lasterhöhle zu. Vielleicht hatte sie ihm noch ein Gastgeschenk besorgt, denn sie trug eine leichte Stofftasche in der linken Hand. Sie kam dieselbe Straße hinunter, die er zuvor entlanggekommen war, trug ihren neuen Mantel, über dessen leuchtend hellgrünen Stoff ihr rotbraunes Haar offen herabfiel. Es erschütterte ihn, wie schön sie war, wie jung und unbekümmert sie wirkte. Ohne das geringste Zögern ging sie in den Eingang des Hauses, und es war allzu deutlich, dass sie das nicht zum ersten Male tat. Sie schob die Tür mit geübter Hand auf, und im nächsten Moment war sie verschwunden, als wäre sie nur ein Trugbild gewesen. Nicht wirklich real, die Welt als Wille und Vorstellung, dachte Carl grimmig. Er hatte sie nur einige Augenblicke lang beobachten können. Hätte er seine Aufmerksamkeit nur für einen kurzen Moment auf etwas anderes gerichtet, hätte er sie verpasst. Aber er hatte sie nicht verpasst. Die Zahnräder hatten ein weiteres Mal ineinandergegriffen. Er hatte Melanie mit schnellem Schritt den Bürgersteig der fremden Graf-Bergmar-Gasse in der fremden Grafschaft Westfeld entlanggehen sehen, und er hatte gesehen, wie sie ohne Zögern in dem Eingang zur Wohnung ihres Liebhabers verschwand. So waren die Tatsachen.
Er hob seinen Blick zu den hohen, stummen Rechtecken der Fenster in der ockerfarbenen Hausfassade und versuchte, sich dem erneuten Bienenschwarm von Gedanken und Bildern zu widersetzen, der ihn überfiel. Natürlich konnte er dort oben nichts sehen. Es war früher Nachmittag, in der Wohnung brannte noch kein Licht, aber plötzlich spürte er, wie ihn ein heftiges Schwindelgefühl überkam. Wellen kalter Schauer schwappten über ihn hinweg, alles um ihn herum wurde trüb, und einen Moment lang glaubte er, ohnmächtig zu werden.
Doch der Anfall ging vorüber. Carl winkte dem Kellner, der sich im Schatten herumdrückte, und bat um die Rechnung. Zusammen mit der Rechnung wurde ihm ein jharkendarischer Glückskuchen serviert. Carl Creifelds brach ihn auf und las die Botschaft, die das Schicksal für ihn bereithielt: Heute solltest du dich nicht verzetteln. Plane genau, und das Glück wird dir lachen.
Carl bezahlte und verließ das Restaurant. Nicht den Bruchteil einer Sekunde schielte er zu der verhassten Wohnung hinauf, er zog die Schultern hoch und lenkte seine Schritte zurück zum Gasthof.


8.
Professor Carl Creifelds lag in seinem abgenutzten Gasthofbett und beobachtete die Zeiger der Turmuhr, die auf Viertel vor Zwölf kletterten. Er hatte den kleinen Nachtschrank neben dem Bett geleert, bis auf den Tiegel mit Ziegenfett, der sich zu seinem Verwundern ebenfalls dort befand, doch es nützte nichts, der Alkohol half nicht. Wie ein höhnischer Sonnenaufgang breitete sich klare Nüchternheit in ihm aus. Außerdem konnte er das unangenehme Gefühl nicht abschütteln, Opfer seines eigenen Ränkespiels geworden zu sein. Die Tatsache, dass sich Melanie ebenfalls in Westfeld befand – mit äußerster Kraftanstrengung schob er den Gedanken, womit sie sich im Augenblick höchstwahrscheinlich beschäftigte, zur Seite – diese Tatsache machte es ihm nun unmöglich, selbst zu Werke zu gehen. Die Gefahr, dass sie Zeugin des Mordes werden könnte, oder auch nur zu ahnen begann, dass sich ihr Ehemann ganz und gar nicht auf der Konferenz in Faring befand, bildete den Hemmschuh für seine Pläne, schon an diesem Wochenende zuzuschlagen. Er musste der Empfehlung des Glückskuchens folgen und sich Zeit lassen. Es war ihm nicht einmal möglich, bereits am Sonntag wieder nach Hause zurückzukehren, wie er betrübt feststellte – außer, er könnte irgendwie dafür sorgen, dass Melanie zuerst heimkehrte. Wollte er sich ihren Liebhaber vom Halse schaffen, war und blieb doch die wichtigste Voraussetzung, dass er Melanie nicht ertappen durfte. Carls Gedanken drehten sich in verwirrenden Spiralen. Wenn er sie ertappte, dann verstünde sie, dass er wusste, dass sie heimlich verreist war...
Verdammter Mist, dachte er, wenn ich sie nicht so sehr lieben würde, könnte ich sie mir beide vom Halse schaffen. Aber andererseits, räsonierte er weiter, unter den gegebenen Umständen kann ich mich zumindest dessen rühmen, dass ich als einziger klar und logisch gedacht habe. Dieser tintenklecksende Schweinehund Irenicus wird bald nur noch eine hässliche Erinnerung sein, eine Fußnote – wenn überhaupt – im ewigen Register ungeklärter Mordsachen.
Das Ganze war eine Frage der Geduld und der Zeit, wie er wusste. Er holte die Irrelevanzen II aus der Nachttischschublade und begann zu lesen, während er der leisen mitternächtlichen Melodie des Glockenspiels lauschte. Kenne deinen Feind.
In seinem kalten, abgelegenen Herrenhaus wacht der namenlose Professor der Nervenheilkunde (Warum konnte ihm dieser Schmierfink nicht einmal einen Namen geben, dachte Carl verärgert) eines Morgens mit der quälenden Erkenntnis auf, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Er kann sich an nichts mehr aus seinem Leben erinnern, er weiß nicht einmal, wie er heißt (Ach so, deshalb, dachte Carl) und er begreift nicht, wo er ist. Er sitzt drei Seiten lang an einem Tisch vor einer Stimmgabel vor sich und versucht herauszufinden, was das für ein Gerät sei. Weder Name noch Funktion kommen ihm in den Sinn; ansonsten kennt er fast alle Gegenstände, die sich im Haus befinden und weiß, wozu sie benutzt werden, nur über seine eigene Rolle in der Welt ist er sich nicht im Klaren – und über die Stimmgabel. Verdrossen wirft er das unbegreifliche Ding aus dem Fenster und begibt sich im Haus auf Jagd nach seinem Namen. Als er bei der Suche auf ein Dokument stößt, das den Namen Nefarius Pankratz trägt, sagt ihm der Name nichts. Im selben Lederbeutel, in dem sich das Dokument befindet, liegt auch eine kleine Portraitzeichnung einer Frau, auf deren Rückseite geschrieben steht Melanie, meine Geliebte. Vage, äußerst vage meint er sie zu erkennen. Das ist das erste Zeichen, dass er überhaupt irgendwelche persönlichen Erinnerungen besitzt, was ihn eher beunruhigt als zufriedenstellt.
Professor Carl Creifelds hörte auf zu lesen, von einer plötzlichen Ahnung erfüllt. Hastig blätterte er zum Vorsatzblatt mit den Erscheinungsabgaben, um nachzusehen. Irrelevanzen II war vor drei Jahren herausgegeben worden, er erinnerte sich, dass er das bereits zur Kenntnis genommen hatte, als er das Buch in der Buchhandlung an Marktplatz gekauft hatte.
Drei Jahre? Konnte das sein? Nein, das wäre doch... Er schob den Gedanken beiseite, doch er drängte sich ihm immer wieder auf wie ein beharrliches Insekt, eine Stechfliege vielleicht. Sollte John Irenicus die Geschichte bereits vor drei … oder nein, es musste dann vor mindestens vier Jahren gewesen sein … sollte er sie damals geschrieben haben? John Irenicus, der in diesem Moment mit hoher Wahrscheinlichkeit im Bett lag und … nein … sollte er vor mindestens vier Jahren eine Geschichte geschrieben haben, deren Hauptperson einen Hinweis bekommt, dass seine Frau eine Liebesbeziehung mit einem Schriftsteller unterhält, und der anschließend, nachdem er sein Gedächtnis verloren hat, auf ein Bild einer Frau namens Melanie stößt, auf dessen Rückseite jemand, vermutlich ein gewisser Nefarius Pankratz, meine Geliebte geschrieben hat?
Es gab darauf nur eine Antwort: John Irenicus hatte bereits eine Beziehung zu Melanie gehabt, als er dieses Buch schrieb. Vier Jahre! Mindestens vier Jahre! Carl ergriff das Buch und warf es gegen die Wand. Er setzte sich kerzengerade im Bett auf. Wie, bei Beliar, hing das alles zusammen? Es gab zu viele Anspielungen, zu viele Verknüpfungen, als dass alles Zufall sein konnte! Carl Creifelds schluckte und versuchte sich gegen den Gedanken zu wappnen, der mit der Macht eines Dammbruchs in sein Bewusstsein drängte. War es vielleicht gerade der Sinn des Ganzen gewesen, dass er dieses Buch las? Gehörte das alles zu einer teuflisch ausgeklügelten Verschwörung? Wussten Melanie und ihr Schriftstellerschwein, dass er sich in diesem Moment in diesem Zimmer befand? Nein, das war ganz unmöglich, es gab Grenzen. Auch wenn der Reisschnaps nicht geschafft hatte, ihn betrunken zu machen, sondern offenbar stattdessen versuchte, ihn paranoid zu machen. Er stand auf, löschte das Licht und trat ans Fenster. Er schaute über die nachthelle Stadt. Die Aussicht war einzigartig. Er sah das Dach des Rathauses, die große Innoskathedrale gegenüber, deren Turm wie ein mahnender Zeigefinger in den dunklen Himmel wies. Was war das für ein...? Warum sollte...?
Aber die Fragen wollten sich nicht zu Ende denken lassen. Er dachte daran, dass die Taverne des Gasthofes bis in die frühen Morgenstunden geöffnet war. Schnell zog er sich Hemd und Hose über und verließ das Zimmer.

Dort unten saßen drei einsame Männer mittleren Alters. Sie saßen jeweils mit zwei Stühlen zwischen sich, den Rücken der leeren Gaststube zugewandt, den Blick auf die dunkel schimmernden Flaschen hinter dem Tresen gerichtet. Der Schankwirt, ein junger Mann mit langem, zu einem welligen Pferdeschwanz zusammengefasstem Haar, stand ebenfalls allein da, und hatte in einer Art verwaschener Aufmerksamkeit seinen Blick auf die trinkenden Männer gerichtet. Carl bestellte sich ein Glas Lous Doppelhammer. Er ließ sich neben einem der Männer nieder – die Zahl der Barhocker war auf sieben begrenzt, so dass es keinen Platz für weitere Einsamkeit gab – und bekam sein Glas. Er trank es aus und bat um ein neues. Dann wandte er sich an den Mann, der zu seiner Linken saß und sich gerade einen Stängel Sumpfkraut anzündete.
„Denken Sie gerade an eine Frau?“
„Was glaubst du denn?“, entgegnete der Mann, ohne den Kopf zu drehen. „Wenn du vorhast, dein Herz auszuschütten, dann bist du bei mir an der falschen Adresse.“ Er war Carl einen kurzen, verächtlichen Blick zu.
„Entschuldigung“, sagte Carl. „Ich wollte mich nicht aufdrängen. Ich hatte nur das Gefühl, dass wir eine Art Wertegemeinschaft bilden würden.“
„Wertegemeinschaft?“, wiederholte der Mann.
„Ja, genau das.“
„Nun hör mir mal zu“, sagte der Mann und beugte sich zu Professor Carl Creifelds hinüber. „Ich habe nur einen Wert, und das ist Reisschnaps. Ich will keine Gemeinschaft irgendeiner Art mit irgendwem bilden.“
„Das respektiere ich. Ich verspreche, den Mund zu halten, wenn ich auch einen Stängel Sumpfkraut haben kann.“
Der Mann zögerte einen Moment lang, dann nestelte er einen weiteren Sumpfkrautstängel aus dem Beutel, der vor ihm auf dem Tresen lag. Carl nahm ihn entgegen, bekam Feuer und nickte zum Dank. Es war viele Jahre her, dass er zum letzten Mal Sumpfkraut geraucht hatte, und der erste Zug ließ den Raum um ihn herum schwanken. Carl stabilisierte ihn mit einem Schluck Lous Doppelhammer. Er nahm noch einen Zug. Wie bin ich nur hier gelandet?, dachte er. Warum sitze ich in einer Taverne, in einer fremden Stadt, und bettle einen Fremden um einen Stängel Sumpfkraut an? Immerhin, das musste er zugeben, war diese Fragestellung gut formuliert und angemessen.
Carl wurde in seinen Gedankengängen unterbrochen, als eine einsame Frau von der Straße hereinkam. Er nahm an, dass es sich um eine Hure handeln musste, die einen letzten Kunden suchte, um die Tageskasse zufriedenstellend aufzufüllen, aber ihre biedere Kleidung und ihre ganze Erscheinung widersprachen dieser Annahme. Sie schien Mitte dreißig zu sein, hatte welliges, dunkles Haar, trug weder Putz noch Schminke und war in ein hübsches, aber reizloses Kleid gehüllt. Sie war weder auffällig hübsch noch hässlich, fand Carl. Mit entschlossenem Schritt ging sie auf den Tresen zu, und alle Männer, sogar der junge Schankwirt, betrachteten sie mit kaum verhohlenem Interesse.
„Guten Abend“, sagte sie mit warmer, melodiöser Stimme. „Wie geht es den Herren an diesem wunderschönen Winterabend?“
„Ööh...“, sagte der Mann rechts von Carl. Er versuchte, auf seinem Hocker Haltung anzunehmen, fiel aber stattdessen fast hinunter.
„Alles in Ordnung“, sagte der Schankwirt mit dem Pferdeschwanz.
Die Frau lächelte, und der ganze Raum schien wärmer und heller zu werden. Nun fand Carl Creifelds sie doch ausnehmend hübsch.
„Hört mal her“, sagte die Frau mit ihrer tröstlichen und verlockenden Stimme. „Ich bin eine Barmherzige Schwester Innos' aus der Kathedrale gegenüber. Wir möchten einsamen Männern helfen. Ihr seid mir und dem Herrn Innos herzlich willkommen, mir zu einem Beisammensein mit Tee und Gebäck in unserem Gemeindehaus zu folgen.“
„Ööh...“, sagte der Mann rechts.
„Was?“, fragte der Mann, von dem Carl das Sumpfkraut bekommen hatte.
Die Frau räusperte sich, lächelte erneut, noch wärmer, noch verlockender, und wiederholte ihre Einladung. Es wurde still im Schankraum. Die Uhr zeigte zwanzig nach eins.
„Warum nicht?“, sagte der dritte Mann, der bisher geschwiegen hatte. „Ich komme mit. Immer noch besser, als in diesem Loch zu sitzen.“ Er leerte sein Glas und rutschte vom Hocker.
„Ach, scheiß drauf“, sagte der Mann mit dem Sumpfkraut. „Ich komme mit.“
„Ööh...“, sagte der Mann rechts. „Ich auch.“
Der Schankwirt schwieg. Professor Carl Creifelds schwieg. Die Barmherzige Schwester Innos' warf ihnen ein sanftes Lächeln zu und verließ die Taverne zusammen mit den drei Männern. Der junge Schankwirt sah Carl an und zuckte mit den Schultern. Carl nickte.
„Wird Zeit, sich zurückzuziehen.“
„Genau“.

Am nächsten Morgen kam Carl erst in letzter Minute in die Gaststube. Nachdem er ein Kännchen Tee getrunken hatte, ließ er sich Papier und Feder bringen und verfasste, ohne lange nachzudenken, ein Billet an seine Frau.
Liebste Melanie,
ich habe gute Nachrichten. Wir waren auf der Faring-Koferenz so erfolgreich, dass wir die Verhandlungen früher beenden können. Ich komme nicht erst Dienstagmorgen, sondern schon am Montag nach Hause, vermutlich am frühen Nachmittag.
Dein dich liebender
Ehemann Carl

Er winkte dem Kellner. „Per Eilboten, bitte!“ Der nickte, nahm den Brief an sich und entfernte sich mit schnellen Schritten. Carl ging davon aus, dass Melanie klug genug gewesen war, um eine Nachsendung ihrer Post zu beantragen. Per Eilbotensendung müsste das Billet sie heute Abend hier erreichen. Es würde eine lange Reise völlig umsonst machen; er hätte es ja eigentlich gleich selbst in der Graf-Bergmar-Gasse einwerfen können. Dieser Gedanke ließ ihn gleichzeitig kichern und erschauern. Dann ging er zurück auf sein Zimmer und schaute aus dem Fenster. Das gute Wetter hielt immer noch an, er konnte das Glitzern auf dem vereisten Fluss sehen, der sich durch die flache Ebene unterhalb der Stadt schlängelte. Widerstrebend begann er, einen Plan zu skizzieren, wie er den Tag bis zum Abend verbringen könnte, bis Melanie die Nachricht erhalten und spätestens Montagmorgen abreisen würde, um vor ihm zuhause zu sein. All diese Stunden.
Ein langer Spaziergang am Fluss entlang, wie immer er auch heißen mochte, eine Besichtigung der alten Erzbaronfeste, eine Stunde Mittagsruhe im Zimmer, ein Restaurantbesuch, ein Besuch im Stadtmuseum oder im Theater. Der Sonntag eines einsamen Menschen. Vier Viertel Sinnlosigkeit, wie Grottendinck es einmal formuliert hatte.
Carl trat vom Fenster zurück, hob John Irenicus' Buch vom Boden auf, wo es in der Nacht zuvor gelandet war, und stopfte es in seine Tasche. Während er die Treppe hinunter nahm, überlegte er, wie man eigentlich auf die einfachste Art zur Tat schritt, wenn man sich einen Menschen vom Halse schaffen wollte.


9.
Der Sonntag verging ohne besondere Vorkommnisse. Professor Carl Creifelds machte tatsächlich einen langen, ermüdenden Spaziergang entlang des Gomez, wie der braune, träge dahinfließende Wasserstrom hieß, und die untergehende Sonne tauchte Westfeld bereits in ein fiebrig orangenes Licht, als er am späten Nachmittag zum Gasthof zurückkehrte. Er stellte fest, dass er mit unterschiedlichem, aber insgesamt verhältnismäßig gutem Erfolg seine Gedanken von Melanie und John Irenicus ferngehalten hatte. Es war nicht einfach gewesen, aber die körperliche Betätigung in den winterlichen, aber sonnenbeschienenen Auen entlang des Flusses hatte ihn dabei unterstützt. Bewegung des Körpers entzog dem Vorstellungsvermögen offenbar Kraft.
Nachdem er ein frühes Abendessen zu sich genommen hatte, wurde es schlimmer, und als er schließlich auf sein Zimmer zurückkehrte, war es gerade erst halb acht. In diesen Minuten würde Melanie die Nachricht erhalten und ihre Abreise planen, wenn sie vor ihm zuhause sein wollte. Um sich von seinen Gedanken abzulenken, holte er die Irrelevanzen II aus seiner Tasche. Den ganzen Tag hatte er es mit sich herumgetragen, aber keine Seite darin gelesen. Er ahnte, dass es ein gewisses Risiko in sich barg, sich weiter in das Schicksal des Professors für Nervenheilkunde zu vertiefen, gleichzeitig wurde er das drängende Gefühl nicht los, dass es dort Hinweise geben könnte, die sich nicht anzueignen er sich nicht leisten konnte. Als Roman, aus literarischem Blickwinkel betrachtet, war es ein ziemlich erbärmliches Werk, das war Carl von Anfang an klar gewesen. Es war vielmehr der Subtext, der darauf wartete, von ihm gelesen und entschlüsselt zu werden; diese eigenartige Verkopplung – oder, dachte Carl, man müsste es vielleicht besser Korrespondenz nennen – zwischen dem vermeintlichen Inhalt des Buches und seiner eigenen, immer komplizierteren Wirklichkeit.
Noch einige Seiten lang irrt der Professor für Nervenheilkunde erinnerungslos in seinem einsamen Herrenhaus in Siegin umher. Er findet nirgends einen Halt, eine Verankerung, er weiß nicht, ob er Nefarius Pankratz heißt oder vielleicht ganz anders. Das einzige, was ihm ein wenig bekannt vorkommt, ist das Bild dieser Melanie. Er versucht sich vorzustellen, dass sie seine Frau sei, und sich einzureden, er habe viele Nächte gemeinsam mit ihr verbracht, doch es eher allgemeine, fast theoretische Bilder, die vor seinen Augen entstehen. Er fragt sich, ob sein Zustand vielleicht die Folge einer unkontrollierten Alkoholeinnahme sein könnte, aber im ganzen Haus ist nicht die geringste Spur von Alkohol oder alchimischen Mitteln zu entdecken. Schließlich fällt der Professor in tiefen Schlaf (ein bisschen plötzlich, dachte Carl missbilligend), und im nächsten Kapitel wacht er in seinem Schlafzimmer neben seiner Frau auf.
„Schatz, musst du nicht aufstehen?“, brummt sie und dreht sich unter ihrer Bettdecke um. Er gähnt, schaut auf die Uhr und stellt fest, dass er in einer knappen Stunde in der Nervenheilanstalt erwartet wird. Ein Traum hängt ihm noch nach, doch er bekommt ihn nicht zu fassen; das Traumgebilde zerfasert, als er versucht, einen Zipfel davon zu packen. Er steht auf, geht ins Badezimmer und betrachtet sein Gesicht im Spiegel. Dem Leser, nicht aber dem Professor selbst, wird klar, dass er jetzt ein anderer ist. Nein, nicht wirklich ein anderer, sondern der Professor, der jetzt in seinem edel gekachelten Badezimmer vor dem Spiegel steht, ist nicht mehr der gleiche Mensch, der sich vor ein paar Tagen in ein einsam gelegenes Herrenhaus in Siegin aufgemacht hatte, um dort in Ruhe nachdenken zu können und das ein oder andere Problem zu lösen. Er hat keine Erinnerung an einen Gedächtnisverlust und auch nicht daran, wie er nach Hause zurückgekommen ist. Der Leser ahnt – jedoch nicht der Professor - , dass es im Grunde um diese eine Frage geht: Gibt es tatsächlich zwei Exemplare? Aus einer Reihe an der Wand aufgehängter Diplome und Urkunden, an denen der Autor seine Leser auf dem Weg zu einem hastigen Frühstück in der Küche vorbeiführt, geht in wünschenswerter Deutlichkeit hervor, dass der Professor tatsächlich Nefarius Pankratz heißt. Offenbar war Pankratz in seiner Jugend ein ausgezeichneter Armbrustschütze, aber es ist dem Leser nicht vergönnt, irgendwelche Details darüber zu erfahren.
Professor Carl Creifelds blätterte um, trank einen Schluck Wein aus der Flasche, die man in sorgfältigem Zuvorkommen in seinem Nachtschränkchen ersetzt hatte, und seufzte. Reine Zeilenfüller, dachte Carl, so ein Blödsinn!
Nefarius Pankratz lässt sich mit einem Teller Gerstenbrei am Küchentisch nieder. Er blättert eilig die Morgenzeitung durch und bleibt bei einem Artikel auf Seite sechs hängen. Der nämlich handelt von einem Professor C., der seit zwei Wochen lang spurlos verschwunden ist – er scheint sich auf dem Weg zu einer Konferenz in Faring buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben -, und dessen Ehefrau und die ermittelnden Behörden sich mit der Bitte um Hinweise an die Allgemeinheit wenden. Trotz seiner Zeitnot liest Professor Pankratz den gesamten Artikel noch ein weiteres Mal, reißt ihn dann aus der Zeitung heraus, faltet ihn zweimal und schiebt ihn in seine Brusttasche. Anschließend macht er sich eilig auf den Weg in seine Heilanstalt.
Carl Creifelds klappte das Buch zu. Er leerte den Wein, und ihm kam eine Idee. Er riss die letzte gelesene Seite aus dem Buch heraus, faltete sie zweimal zusammen und schob sie in seine Brusttasche.

Während er am Fenster stand und versuchte, seine Gedanken von dem, was er gerade in den Irrelevanzen II gelesen hatte, abzulenken, traf es ihn wie ein Blitzschlag. Er hatte die Lösung! Sie war einfach und praktisch, und ihm war sofort klar, dass dies die Leitsterne waren, nach denen er sich richten musste: Das Einfache und das Praktische.
Er würde trotz allem seine vier geplanten Nächte in Westfeld bleiben. Morgen würde er eine weitere Eilsendung nach Hause schicken und Melanie bedauernd mitteilen, dass er leider, ganz kurzfristig und aufgrund neuer, nicht vorhersehbarer Umstände, doch bis Dienstag in Faring bleiben musste, wie es ursprünglich geplant gewesen war. Das war natürlich traurig, aber so war es nun einmal. Er würde seine Frau daran erinnern, dass er sie liebte, und anschließend hätte er den Montagabend zur Verfügung, um sich John Irenicus in der Graf-Bergmar-Gasse vom Halse zu schaffen. Es kostete ihn einige Gedankenarbeit, die Methode an sich zu entwickeln, aber als er kurz vor Mitternacht – und ohne eine weitere Zeile in John Irenicus' Buch gelesen zu haben – ins Bett ging, stand ihm das Szenario deutlich vor Augen.


10.
Der Montag zeigte den gleichen hohen Himmel, und Carl Creifelds wachte früh auf. Nach dem Frühstück widmete er sich wieder dem Buch, denn die Stimme in ihm, die meinte, es sei wichtig, die Lektüre abzuschließen, bevor er mit seinen Mordplänen zu Werke schritt, war nicht zu ignorieren. Er beschloss, jetzt drei Kapitel zu lesen, dann würde er die noch fehlenden vierzig Seiten am Nachmittag schaffen.
Es näherte sich dem Ende. Der Professor – oder Nefarius Pankratz, wie er nach allem zu schließen wohl heißt -, erleidet während eines Vortrags über Geisteskrankheiten einen Nervenzusammenbruch von sanfter psychotischer Art: Er verspürt den Drang, alle anwesenden Studenten in die Schublade seines Katheders zu stopfen, denn nur dort sind sie vor dem Harpyienangriff geschützt, der jede Sekunde einsetzen kann. Die Studenten begreifen nicht, worum es geht. Obwohl er so laut ruft, wie er kann, gehorchen sie seinen Anweisungen nicht, und zum Schluss stürzt sich Nefarius Pankratz geradewegs durch die Fensterscheibe und landet in der Feuerdornhecke, die den Campus auf dieser Seite eingrenzt. Der Sturz geschieht aus dem zweiten Stock und die Hecke dämpft den Aufprall, jedoch hat er schlimme Schnittwunden überall am Körper und blutet heftig. Er wird schnellstens in das städtische Hospital gebracht, wo er versorgt und in einem Doppelzimmer untergebracht wird. Er erhält schmerzstillende Tränke und fällt daraufhin in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem er erschöpft und mit schwerem Kopf erwacht. Ihm gegenüber liegt ein anderer Patient, der, wie er aus einem Gespräch zweier Schwestern erfährt, in der Nacht zuvor von einem Liebespaar draußen im Wald gefunden worden war, nackt und bewusstlos. Es gibt keine persönlichen, ihn ausweisenden Dokumente, doch hatte er ein Bild einer Frau namens Melanie in der verkrampften Hand, und das genügt dem Leser, um zu wissen, wer der Mann ist.
Die Schwestern verlassen das Zimmer, und nun liegen Nefarius Pankratz I und Nefarius Pankratz II einander gegenüber. Der bewusstlose Wald-Pankratz ist an zwei lebensspendende Apparaturen angeschlossen, ein Schlauch ist in den Mund, ein anderer in seine Nase eingeführt, und insgesamt erscheint er ziemlich mitgenommen.
Der Professor-Pankratz betrachtet ihn eine Weile und erkennt sich mit der Zeit selbst wieder. Er überlegt lange, wie er sich verhalten soll, und zum Schluss steht er mit schmerzenden Gliedern vorsichtig auf und zieht beide Schläuche heraus. Er kriecht wieder in sein Bett, und bereits nach wenigen Augenblicken stellt er fest, dass die Atmung seines Gegenübers aufgehört hat. Er wartet einige Minuten, bis er sich ganz sicher ist, dann schiebt er die Schläuche an ihren Bestimmungsort zurück, doch das wird dem Wald-Pankratz nichts mehr nützen. Er hat ihn sich vom Halse geschafft und fällt, zufrieden mit sich und der Welt, erneut in einen tiefen Schlaf, aus dem er erst erwacht, als man seinen toten Doppelgänger hinausschafft und einen neuen Patienten hereinrollt. Der stellt sich als ein gewisser Professor C. heraus, der einen Fuß gebrochen und eingegipst hat. Beide haben den Eindruck, sich irgendwie zu kennen, vermutlich aus irgendeinem akademischen Kontext, und begrüßen sich zögernd. Dann widmet sich Professor C. wieder der Lektüre seines Buches – Irrelevanzen – so dass kein Gespräch zwischen ihnen zustande kommt. Nach einer ungewissen Zeitspanne kommt Besuch, eine Frau namens Melanie. Sie hat einen ganzen Arm roter Rosen bei sich, scheint jedoch zu zögern, wen von beiden sie eigentlich besuchen will. Da Nefarius Pankratz in tiefem Schlaf liegt, wendet sie sich Professor C. zu, zieht einen Stuhl heran und setzt sich an sein Bett. Professor Nefarius Pankratz verschläft den gesamten Besuch und erfährt nie etwas von ihr. Der Leser jedoch kann seinen Träumen folgen; er träumt, er sei ein Magier, sein Name wäre Edwin, und er wäre auf einer Reise, um nach vielen Jahren endlich etwas abzuschließen, was er schon lange vor sich her geschoben hat.
Hier endete das Buch. Zu seiner Empörung stellte Carl Creifelds fest, dass die letzten dreißig Seiten ein Fehldruck waren, sie enthielten die ersten Kapitel einer anderen Erzählung, die in einer Taverne namens Orlan's begann und genau von dem Mann zu handeln schien, der vorher erwähnt worden war, einem gewissen Edwin.
Mit einem Gefühl der Wut und Enttäuschung klappte Carl das Buch zu und legte es auf den Nachttisch. Schundliteratur!, dachte er, Es bildet sich doch jeder dahergelaufene Schmierfink ein, einen Roman schreiben zu können. Zweifellos wäre die Welt eine bessere, wenn es weniger von diesen Dutzendschreibern gäbe!
Carl schaute auf die Uhr, es war Viertel nach Zwölf. Vermutlich war Melanie gerade zu Hause angekommen, und um die Zeit totzuschlagen, beschloss er, einen kleinen Erkundungsgang in die Graf-Bergmar-Gasse zu unternehmen.
Außerdem musste er sich noch eine Eisenstange besorgen.
Er beschloss, das Restaurant Königin Sabatha heute zu meiden. Im Hinblick darauf, wie wenige Gäste es zu besuchen schienen, war es durchaus vorstellbar, dass das Personal auf ihn aufmerksam werden würde, wenn er es innerhalb nur weniger Tage zweimal aufsuchte.
Stattdessen fand er ein kleines Café, das gerade noch in Blicknähe zu John Irenicus' Wohnung lag. Wenn dort jemand ein- oder ausging, würde ihm das nicht entgehen, und wenn es Melanie wäre, würde er sie auf jeden Fall erkennen. Carl hoffte sehr, dass sie Westfeld längst verlassen hatte und bereits zuhause war. Der Gedanke, dass er ja gar nicht wusste, wie John Irenicus aussah und was es also nützen sollte, den Hauseingang im Blick zu behalten, streifte Carls Verstand kurz und unangenehm, aber er redete sich ein, dass das Motiv eigentlich keine Rolle spielte. Es war alles eine Frage der Intuition. Die Mordwaffe lag in einem Stoffbeutel verpackt auf seinem Schoß; er spürte ihr beruhigendes Gewicht auf seinem Oberschenkel. Er hatte sie in einem Hinterhof auf der anderen Seite der Stadt gefunden, eine unterarmlange, hohle Metallstange, die seinem Empfinden nach hervorragend in der Hand lag. Carl sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. Er überschlug seine Zeitplanung und beschloss, einen Brief an Melanie zu verfassen, in dem er ihr mitteilte, dass leider einiges schiefgelaufen sei bei ihrer Konferenz und er nicht habe abreisen können, denn er müsse nun doch an der Abschlussdiskussion teilnehmen. Er winkte dem Kellner, bat ihn um eine Eilzustellung und bestellte seine dritte Tasse Tee.
In diesem Moment verließ eine Person das Haus in der Graf-Bergmar-Gasse. Es handelte sich um eine elegante Dame, etwa in Melanies Alter und von ähnlicher Statur, aber keinesfalls Melanie selbst. Sie trug einen beeindruckend roten Mantel und einen fast schon verstiegen modischen Hut. Ohne zu zögern ging sie auf das Café zu, durch dessen Fenster Carl sie beobachtete. Sie öffnete die Tür, ein oder zwei Glöckchen klingelten über der Eingangstür. Die Dame ließ ihren Blick über die Häupter der Anwesenden schweifen, und Carls Magen krampfte sich zusammen. Doch dann wandte sie sich der Frau hinter dem Tresen zu und verlange nach einem Becher Schokolade zum Mitnehmen.
„Gerne, Fräulein Mariska“, erwiderte die Bedienung und beeilte sich, den Wunsch ihrer Kundin zu erfüllen.
Fräulein Mariska – also doch kein Hund, dachte Carl halb erleichtert, halb enttäuscht – nahm ihren Becher, bezahlte und schickte sich an, das Café zu verlassen, dann aber wandte sie sich um und sagte: „Die Reservierung für heute Abend muss ich leider absagen. Ich habe einen Termin außerhalb, und ich werde erst spät wieder hier sein.“
Die Bedienung notierte sich das, und Fräulein Mariska verließ unter Glöckchenklingeln das Café. Carl spürte, dass ihm die Zunge am Gaumen klebte. Er trank einen Schluck Tee und lehnte sich zurück. Wie einfach, stellte er fest, wie außerordentlich einfach! Die Luft war also rein. Sich einen unerwünschten Schriftsteller vom Halse zu schaffen schien wirklich keine allzu komplizierte Angelegenheit zu sein, wenn man es genau betrachtete. Aber das hatte er auch nicht erwartet.
Er legte einige Münzen neben sein Teegedeck und stand auf. Es gab keinen Grund, länger zu zögern. Es war besser, auf die Welle von Tatkraft zu vertrauen, die seine Brust überrollt hatte. Es war wichtig, Entschluss und Tat zeitlich voneinander zu trennen, aber es war natürlich ebenso wichtig, den Abstand zwischen beidem auch nicht zu groß werden zu lassen. Er dachte an ein Bild, das er einmal im Stadtmuseum von Khorinis betrachtet hatte. Es hatte den sterbenden Rhobar I dargestellt, ein Gesicht mit gebrochenen Augen, papierdünner Haut und schmalen, graulila Lippen, ein Mahnmal des Siechtums. Er fragte sich, ob dies vielleicht ein generelles Bild vom Tod war, denn der Tod, den er für John Irenicus geplant hatte, sollte diesem ganz und gar nicht ähneln. Ein paar schnelle Schläge mit dem Eisenrohr, das würde in einigen Sekunden erledigt sein. Irenicus würde sich dessen, was mit ihm geschah, vermutlich nicht einmal bewusst werden. Professor Carl Creifelds musste zugeben, dass ihn dieser Gesichtspunkt etwas verärgerte. Ich sollte wenigstens die Zeit haben, ihm auseinanderzusetzen, warum er sterben muss, dachte Carl, als er die Haustür aufschob und in das Gewölbe trat. Es wäre sinnvoll, wenn das Schriftstellerschwein wüsste, wer sein Mörder ist. Oder war es eine größere Strafe, dem Tod zu begegnen, ohne zu wissen, warum?
Doch nun war nicht der richtige Zeitpunkt, diese Frage zu behandeln. Er hielt im Treppenhaus inne und lauschte nach irgendwelchen Geräuschen. Jemandem auf dem Weg zum Tatort zu begegnen, wäre natürlich ein verheerender Strich durch die Rechnung, aber er gelangte ohne Zwischenfälle in den zweiten Stock. Vor der Wohnungstür blieb er stehen, zog das Rohr aus seiner Tasche und klingelte. Augenblicklich konnte er hören, wie drinnen Bodendielen knarrten und jemand zur Tür kam, und nur einen Moment später etwas, das ihn dazu brachte, seine Waffe fester zu umklammern: das dumpfe Knurren eines größeren Hundes.


11.
Professor Carl Creifelds letztes bedeutsames Erlebnis mit einem Hund hatte sich etwa zweieinhalb Jahre zuvor zugetragen - kurz bevor er für längere Zeit krankgeschrieben wurde.
Es war ein normaler Tag gewesen, und Carl hatte vorgehabt, den Vormittag in seinem Arbeitszimmer zu verbringen und sich mit dem ziemlich mittelmäßigen Manuskript über den Verwaltungsvorgang zur Teilung der Innoskirche zu widmen, das einer seiner Doktoranden abgeliefert hatte. Doch eine halbe Stunde, nachdem sich Melanie auf den Weg zu ihrem Büro im Statthalterpalast aufgemacht hatte, war ihm eine bessere Idee gekommen. Es war Viertel vor zehn, die erste wirklich wärmende Sonne des Frühjahres war über den grünspanfarbenen Kupferdächern der Oberstadt aufgegangen, und Carl fragte sich ernsthaft, warum er in dem hoffnungslosen klerikalen Verwaltungsakt herumstochern sollte, wo doch draußen die ersten Vogelstimmen, zögerlich noch, aber alles in allem hoffnungsvoll, aus dem zarten Grün der Hecken und Bäume zu hören waren? Er sah aus dem Fenster. Die Erde schien unter den Sonnenstrahlen anzuschwellen, der Himmel leuchtete in einem kühnem Blau, und Carl schob die Papiere von sich und beschloss, einen längeren Spaziergang zu unternehmen. Er könnte unterwegs ein Mittagessen einnehmen und rechtzeitig zur Vorlesung um zwei Uhr an der Universität wieder zurück sein. Den Hinweg wollte er an der Küste entlanggehen, die Sonne und den sanften Wind im Gesicht, auf dem Rückweg durch den Wald an der Südseite der Stadt entlang. Er nahm seine Wildlederjacke von der Garderobe, verzichtete auf Handschuhe und Schal und eilte die Treppe hinunter, als gelte es, nicht einen Augenblick dieses erste Frühlingstages zu versäumen.
Er erreichte den Strand gegen zehn Uhr, und kaum hatte er einen Fuß auf den hellen, weichen Sand gesetzt, da tauchte auch schon der Hund auf. Aus dem Nichts, wie es Carl schien, befand sich das Tier plötzlich an seiner Seite. Es war ein großer, schwarzer, schöner Rüde, der sich elegant und ohne Hast bewegte, das geschmeidige Spiel seiner Muskeln war unter dem kurzen, glänzenden Fell zu sehen. Carl Creifelds hatte nie ein Tier besessen, und er hatte nie eine besondere Beziehung zu Hunden gehabt, aber er konnte nicht leugnen, dass er für dieses elegante Exemplar eine gewisse Zuneigung verspürte. Er blieb stehen und tätschelte ihm den Hals. Er war sich vage bewusst, dass er dabei ein wenig dümmlich lächelte.
Der Hund bleib ebenfalls stehen und ließ sich streicheln, während er Carl aus dunklen Augen betrachtete. Carl richtete sich wieder auf und hielt nach dem Besitzer Ausschau. Bei dem schönen Frühlingswetter waren einige Menschen unterwegs. Auf einer Bank in der Nähe, an deren Unterseite Seepocken und Flechten wuchsen, saß ein junger Mann und las. Carl Creifelds nahm an, dass der Hund wohl zu ihm gehören müsse. Er setzte seinen Spaziergang fort, und der Hund folgte ihm. Als sie an der Bank vorbeigingen, machten weder der Hund noch der Mann irgendwelche Anzeichen, dass sie einander kannten. Carl Creifelds ging weiter, der Hund folgte ihm leichten Schrittes, und ein merkwürdiges Gefühl der Freude durchfuhr den Professor. Dieses stolze Tier hatte ihn als Herrn ausgewählt und folgte ihm nun getreulich. Carl ging schneller, und auch der Hund wurde schneller. Er ging langsamer, und auch der Hund wurde langsamer. Er blieb stehen und tat, als würde er sich die Schnürsenkel binden, und auch der Hund bleib stehen und betrachtete Carl mit klugen, nachdenklichen Augen. Erneut hielt er nach einem möglichen Besitzer Ausschau, konnte aber niemanden entdecken, der in Frage kam. Der Hund hatte viele hundert Schritte an seiner Seite zurückgelegt, sie waren an einem alten Amphitheater und an einem kleinen Strandlokal vorbeigekommen, das noch nicht geöffnet hatte. Es kam sicher vor, dachte Carl, dass ein Hund einem Fremden ein Stück folgte, aber wenn der Besitzer sich anfangs noch in der Nähe befunden hatte, so musste der Hund mittlerweile den Kontakt zu ihm verloren haben.
Was tun?, dachte Carl und ging weiter. Wie wird man einen Hund los? Scheucht man ihn einfach davon? Er betrachtete den großen Hund. Wohl kaum! Tritt man nach ihm oder schlägt man ihn mit einem Stock? Nein, wieso sollte ich es mir mit jemandem verderben, der so einen guten Geschmack gezeigt und mich als seinen Herrn anerkannt hat? Außerdem war mit den Kräften eines so großen Tieres auch nicht zu scherzen.
Da entdeckte er das Halsband. Es war aus dunkelbraunem Leder gefertigt und zum größten Teil unter dem Fell am Hals des Hundes verborgen. Er beugte sich hinab und griff danach, und der Hund blieb folgsam stehen und ließ zu, dass Carl sich das kleine silberne Namensschild besah. Lee stand darauf. Sonst nichts, keine Adresse, kein Name des Besitzers.
„Lee?“, fragte Carl Creifelds, „du heißt also Lee?“
Der Hund setzte sich hin. Innos, der Hund ist begabter als viele meiner Studenten!, dachte Carl. Und so waren sie weitergegangen, Seite an Seite, den ganzen langen Weg an der Küste entlang, danach über die sanften Hügelketten und die Obstwiesen, durch den Waldgürtel, bis sie schließlich bei Akils Landgasthof angelangten, einem traditionsreichen Landgut, das in vierter oder fünfter Generation geführt wurde und für seine hervorragenden Suppen bekannt war. Auf dem Weg hatte Carl zweimal einen Stock geworfen, zweimal hatte Lee ihn geholt. Aber als der Hund ihm den Stock vor die Füße gelegt hatte, hatte er ihn mit einem leicht vorwurfsvollen Blick angesehen, und Carl hatte begriffen, dass diese Tätigkeit unter der Würde des Tieres war, ja eigentlich unter der Würde von beiden Beteiligten.
Ich behalte ihn, dachte Carl, während meiner Vorlesungen kann er in meinem Arbeitszimmer bleiben. Noch besser aber gefiel ihm die Vorstellung, Lee könnte während der Lehrveranstaltungen neben dem Katheder liegen. Creifelds und Lee, das unzertrennliche Duo. Sie würden bei Kollegen und Studenten zu einem Begriff werden. Er sah den Hund an, der Hund sah ihn an, und in seinem Blick lag etwas Großartiges, ein geheimnisvolles Band des gemeinsamen Wissens, das anderen nicht vergönnt war.

Man hatte bei Akils Landgasthof einige Tische hinausgestellt. Carl Creifelds ließ sich an einem kleinen Tisch für zwei nieder und befahl Lee, sich zu seinen Füßen niederzulegen. Das stattliche Tier gehorchte ohne das geringste Zögern. Die Kellnerin kam mit der Speisekarte, und Carl studierte sie eine Weile. Dann bestellte er Eintopf und Brot für sich, außerdem eine Schale Wasser und zwei blutige Steaks für Lee. Die Bedienung notierte die Bestellung, ohne auch nur das geringste Anzeichen für Verblüffung zu zeigen. Während sich Professor Creifelds zurücklehnte und die sanften Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht genoss, gähnte Lee und legte den Kopf auf seine Pfoten.
Anschließend hatten sie gemeinsam gegessen. Carl bekam sein Fleischwanzenragout, Lee seine Steaks. Der Hund hatte nicht länger als eine halbe Minute gebraucht, um beide Fleischstücke hinunterzuschlingen. Er leckte sich das Maul und machte sich, nun etwas langsamer, an die Bratkartoffeln. Als er fertig war, trank er ein wenig Wasser und ließ sich erneut zu den Füßen seines neuen Herrn nieder. Carl beugte sich hinab und strich dem Hund über den Hals. In diesem Moment spürte er, wie sich etwas Uraltes in ihm rührte, eine Saite aus grauer Vorzeit, die plötzlich gezupft worden war und einen herrlichen Laut von sich gab. Tier und Mensch im Einklang, ein Mann und sein Hund. Darin lag etwas Reines und Schlichtes, etwas, das fast in eine andere Zeit zu gehören schien. Eine andere Art des Seins, dachte Professor Carl Creifelds mit ehrfürchtigem Erstaunen. Sie beobachteten einander einen Moment lang mit gegenseitigem, selbstverständlichem Respekt. Hier und jetzt pulsiert das Leben!, dachte Carl, überrascht darüber, dass sich gerade so eine pathetische Formulierung aus seinem Unterbewusstsein gelöst hatte, und dann veränderte sich alles.
Die Sonne verdunkelte sich. Carls Löffel blieb auf halbem Wege hängen, als wäre die Luft um ihn herum zu Eis gefroren. Von Westen her hatte sich eine finstere Wolkenbank aufgebaut, ohne dass er es bemerkt hatte, und im nächsten Moment fegte ein eisiger Wind über über den Landgasthof. Die gestreifte Markise über dem Eingang flatterte, ein Holzbecher wurde vom Nachbartisch hinunter geweht und rollte mit klackerndem Geräusch über den Kiesweg, wie ausgefallene Zähne in einer hölzernen Schachtel. Gleichzeitig erschien ein Mann in dunklem Mantel. Er schlenderte lässig den Weg zum Gasthof entlang, seine abgetragenen Stiefel knirschten auf dem Kies. Er war hochgewachsen und schmal, trug das lange, dunkle Haar in einem Pferdeschwanz, und sein Kopf wippte im Takt einer Musik, die nur er selbst hörte. Er ging nur in wenigen Schritten Entfernung an Carl Creifelds Tisch vorbei, und gerade, als er ihn passiert hatte, warf er Lee einen Blick zu und schnipste mit den Fingern.
Der Hund war augenblicklich auf den Beinen. Vielleicht zögerte er einen Moment – später zumindest bestand Carl darauf, dass es einen deutlichen Augenblick des Zögerns gegeben hatte -, bevor er dem Jüngling in Schwarz folgte. Professor Carl Creifelds handelte zu spät. Erst als sich das Paar gut zwanzig Schritte entfernt hatte, versuchte er, den Hund zurückzurufen.
„Lee“, rief er, „Lee, komm her!“
Der Hund reagierte nicht. Drehte nicht den Kopf, änderte nicht den Winkel seiner Ohren. Er trottete einfach weiter neben dem Schwarzgekleideten, genau so, wie er während des gesamten Sonnenscheinspaziergangs an Carls Seite getrottet war.
Carl sprang auf, kippte dabei seinen Stuhl um und rief noch lauter: „Lee! Hierher, Lee!“
Der Hund reagierte nicht, nur die Kellnerin erschien auf der Treppe und sah zu Carl hinüber. Dieser stand verwirrt auf der von den ersten Frühlingsblumen umrahmten Terrasse und sah dem schwindenden Paar nach. Er begegnete dem erstaunten Blick der Kellnerin und wusste plötzlich nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Es lag auf der Hand, dass sie eine Art Erklärung von ihm erwartete. Man bestellte doch keine doppelte Portion vom feinsten Steak für seinen Hund, um ihn dann im nächsten Moment mit einem Fremdling davonlaufen zu lassen!
Doch es fiel ihm keine Erklärung ein. Alles, was auf dieser denkwürdigen Wanderung am ersten Frühlingstag des Jahres geschehen war, war unbegreiflich. Er setzte sich wieder, trank aus und verlangte die Rechnung. Er spürte, wie etwas Dunkles, zu Großes, unerbittlich versuchte, in seinen Verstand einzudringen und das Kommando zu übernehmen. Es war wie ein Umschlag von Dur zu Moll, ein Kopfsprung von der Freude hinab in die bitterste Verzweiflung, eine Verzweiflung, so bodenlos, dass sie den sonnigsten Tag in sich aufsaugen, einhüllen konnte wie ... ja, wie eine Wolkenbank, die sich vor die Sonne schob.
Er bezahlte und eilte dem schwarzgekleideten Jüngling nach, aber es war eine gespielte Hast, er wusste von vornherein, dass es nutzlos war, und mit jedem Schritt spürte er klarer und deutlicher, dass er das Spiel verloren hatte.
Er sah sie nie wieder. Nach einigen hundert Schritten brach ein eiskalter Regen über ihn herein, und als er nach einer halben Stunde vollkommen durchnässt in seine Wohnung taumelte, fror er so, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Er hatte jegliches Gefühl in seinen Fingerspitzen verloren, aber es gelang ihm noch, eine Nachricht an die juristische Fakultät zu senden, dass seine Vorlesung am Nachmittag entfallen müsse, da er mit Fieber und Erkältung darniederläge.
In der Tat hatte sich in seinem Körper und seiner Seele ein frostiger Eisnebel ausgebreitet und wütete dort in lähmender Allmächtigkeit. Als er eine Woche später in die Heilanstalt der nervenkundlichen Fakultät eingewiesen und für drei Monate krankgeschrieben wurde, hatte er bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Melanie wich während all dieser Tage und Nächte nicht von seiner Seite.


12.
Die Tür ging nach innen auf. Professor Carl Creifelds erwartete, dass ein Hundekopf knurrend hervorstoßen würde, und diese Komplikation ließ ihn das Eisenrohr schnell hinter seinem Rücken verbergen. Doch in der Türöffnung stand nur ein Mann in makellos weißem Hemd, lang und sehnig, mit wettergegerbtem Gesicht, dunklem Haar und einem kurzgehaltenen Bart. Durch eine schmale Brille in Metallfassung blickten kühle blaue Augen. Er sah selbstverständlich großartig aus, und er war sich dessen bewusst.
„Ja bitte?“
Im gleichen Moment bellte der Hund erneut, und Carl erkannte, dass das Geräusch gar nicht aus dieser Wohnung kam, sondern von irgendwo weiter oben im Haus. Die Komplikation hatte sich von selbst gelöst; selten genug, dass so etwas passierte. Carl visierte die linke Schläfe des Mannes an und schwang das Rohr.
Es war nicht gerade ein Volltreffer, was in erster Linie daran lag, dass die Türöffnung zu eng war. Das Rohr schlug zuerst gegen das Holz, wodurch die Schlagrichtung abgefälscht wurde, und der Schlag traf - mit verringerter Kraft – die Stirn des Mannes. Er schwankte und taumelte in den Flur zurück. Carl folgte ihm, zog behutsam die Tür zu und überlegte, wo er den zweiten Schlag platzieren sollte, als ihn mit einem Mal eiskalte Erregung überkam. Das schien ein Handwerk nach seinem Geschmack zu sein! Der Mann – John Irenicus, das Schriftstellerschwein – stöhnte und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Wieder schwankte er vor und zurück, und plötzlich fiel er zu Boden, schräg nach hinten, ohne sich abzustützen. Im Fall stieß er mit dem Kopf gegen eine hübsche antike Kommode mit gehäkeltem Zierdeckchen und landete schwer auf dem Rücken. Aus der Wunde auf der Stirn floss Blut in sein rechtes Auge, und es gab kein Anzeichen dafür, dass er noch bei Bewusstsein war.
Aber er atmete ganz eindeutig noch. Carl umklammerte die Eisenstange und fühlte, wie die Erregung einer allumfassenden Übelkeit wich. Kalte, feuchte Schauer krochen ihm den Schlund hinauf. Er starrte auf den Mann am Boden, und sein Blickfeld begann, sich von den Seiten her zusammenzuziehen.
Es klappt nicht, dachte er, ich werde gleich ohnmächtig.
Er lehnte sich gegen die üppig mit Blumen dekorierte Tapete und sah sich nach Wasser um. Rechts neben ihm war eine weitere Türöffnung, und er konnte sehen, dass sie in die Küche führte. Er ließ das Eisenrohr polternd auf den Küchentisch fallen, stolperte zum Spülbecken und schöpfte Wasser in die hohle Hand, benetzte sich das eiskalte Gesicht und trank ein paar Schlucke. Als er wieder in der Lage war sich aufzurichten, merkte er, dass er beobachtet wurde.
Die Küche hatte eine weitere Tür, die offen stand, und in der Öffnung saß ein alter Mann in einem Rollstuhl und starrte ihn an. Eine karierte Decke lag über seinen Beinen, und darauf ein Stapel Papier, dessen oberster Bogen vor Hälfte mit kleinen, engen Buchstaben beschrieben war. Es war ein edles Papier, das konnte Carl aus der Distanz erkennen, dickes, weiches, sandfarbenes Papier. Die dürren Hände des Alten umklammerten die gepolsterten Armlehnen, sein Kopf, von einer Wolke feinen weißen Haares umweht, zitterte auf dem dünnen Hals, sein Kehlkopf, der wie ein Astknoten darauf saß, hüpfte auf und ab. Er öffnete und schloss den Mund, ohne einen Laut hervorzubringen.
Es vergingen einige Augenblicke, in denen Carl und der Alte einander nur anstarrten. Dann hob der Mann im Rollstuhl die Hände, als wollte er um Gnade flehen.
„Wer sind Sie?“
Carl zögerte. Die Frage war der Situation angemessen, aber es schien keine gute Idee zu sein, darauf zu antworten.
„Das könnte ich auch fragen“, erwiderte er, um Zeit zu gewinnen, „Wer sind Sie?“
Der Alte nahm die Hände herunter und blinzelte Carl an. Aber die Frage beantwortete auch er nicht, wie Carl mit Missfallen feststellte.
„Was haben Sie mit Percival gemacht?“
Carl starrte auf das Rohr, das immer noch auf dem Tisch lag. Es hatte die hellgraue Decke mit hässlichen rostfarbenen Blutspuren verschmutzt. Percival? Irgendetwas stimmte hier nicht. Er musste sich Klarheit verschaffen.
„Es spielt keine Rolle, was ich hier mache. Reden wir lieber darüber, wer Sie sind!“
Der Alte schluckte, fasste sich und entgegnete einigermaßen kühn:
„Ich heiße Irenicus. John Irenicus, und ich wohne hier. Ich bin Schriftsteller, und das ist meine Wohnung. Ich muss leider sagen, dass Sie hier eingedrungen sind. Was ist da draußen im Flur passiert?“
Ein heftiger Schwindel packte Carl, so dass er sich an der Lehne eines Küchenstuhls festhalten musste. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah auf die Blutspuren auf der Tischdecke. Die Decke war mit einer zierlich gestickten Bordüre mit kleinen dunkelroten Schmetterlingen eingefasst, und diese schienen auf einmal in Bewegung zu geraten. Er zog den Stuhl ein Stück vom Tisch und ließ sich darauf niedersinken.
„Ich bin hinters Licht geführt worden“, brachte er hervor und stützte den Kopf in die Hände. „Es tut mir Leid. Es war nicht meine Schuld.“
Der Alte bewegte seinen Rollstuhl einige Schritte vorwärts, so dass er in den Flur sehen konnte. Er hob die Hände wieder in dieser seltsam hilflosen Geste und keuchte: „Percival! Was zum Beliar...?“
Carl drehte den Kopf und sah den Mann, der ihm die Tür geöffnet hatte. Jetzt stand er im Türrahmen, aber er schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Sein eben noch makellos weißes Hemd zeigte nun rote Flecken. Er atmete mühsam.
„Ich kann das erklären...“, setzte Carl Creifelds an, aber als er in einem Inneren nach einer Erklärung suchte, fand er keine Worte. „Es sieht so aus...“, versuchte er es, und sein Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Sie schienen tatsächlich auf eine Art Erklärung zu warten und verharrten bewegungslos auf ihren Plätzen. „Es sieht so aus, als ob...“
Im selben Moment sprang Carl auf, packte das Rohr und stürzte aus der Küche. Die Tür zum Treppenhaus war nur angelehnt, was ihn ein wenig wunderte, denn er war ganz sicher, sie zugezogen zu haben, aber er würde ein anderes Mal darüber nachdenken. Er rannte aus der Tür ins Treppenhaus, wollte die scharfe Kurve nach rechts nehmen, rutschte auf dem glatten Marmorboden aus, verlor den Halt, fand nichts, woran er sich hätte festhalten können, stürzte.
Er stürzte die ganze Treppe hinunter, die steil und heimtückisch war, und als er unten landete, war er längst nicht mehr bei Bewusstsein.
Carl wachte von einem scharfen Schmerz auf, der von seinem Fuß ausstrahlte und an der Grenze des Erträglichen war. Zwei kräftige Frauen und ein Mann mit einem Hund an der Leine standen um ihn herum.
„Mein Fuß...“, stöhnte er.
„Ganz ruhig“, sagte eine der Frauen, „gleich kommt ein Arzt, der Ihnen hilft.“
Carl stöhnte weiter.
„Sie können dankbar sein“, fügte die andere Frau hinzu. „Bei so einem Sturz hätten Sie sich auch das Genick brechen können.“
„Mindestens!“, warf der Mann mit dem Hund ein.
Der Hund knurrte. Carl sah ihn an und stellte fest, dass es kein großes, dunkles, herrschaftliches Tier war, wie er aus irgendeinem Grund angenommen hatte, sondern ein unscheinbares, helles und in keiner Weise herausragendes Exemplar. Er blickte sich um, so gut er konnte. Nirgends war ein gutaussehender Mann mit blutender Wunde auf der Stirn oder ein Alter im Rollstuhl zu sehen. Carl biss vor Schmerz die Zähne aufeinander.


13.
Die Zimmerdecke war blassgrün und schien in unbestimmter Höhe über seinem Bett zu schweben. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder, aber es war schwer, sich auf etwas zu konzentrieren, und einen schwindelerregenden Moment lang fiel ihm sein eigener Name nicht ein. Pankratz?
Die Wände waren ebenfalls blassgrün, und es war nicht auszumachen, wo das senkrechte Grün ins waagrechte Grün überging. So entstand der Eindruck, dass alles um ihn herum schwebte.
Creifelds. Professor Carl Creifelds, Professor der Jura, Schwerpunkt Digestenexegese, an der Universität zu Khorinis. Natürlich, alles andere war undenkbar!
Plötzlich wurde er sich dessen bewusst, dass noch jemand in seinem Zimmer war. Im Bett gegenüber lag ein Mann und las. Carl konnte den Titel des Buches nicht erkennen, aber der Einband kam ihm bekannt vor. Mit derselben Plötzlichkeit wurde er sich auch anderer Dinge bewusst: Beispielsweise, dass diverse Schläuche aus seinem Körper ragten. Sein Mund war trocken wie die Wüste von Varant. Er schaute sich um und entdeckte ein Wasserglas auf dem Tisch neben seinem Bett. Wenn es ihm gelang, sich ein wenig nach links zu drehen, dann könnte er...
Der Kopfschmerz traf ihn wie ein Bolzenschuss, oder wie ein Fünfzollnagel, der ihm in den Schädel getrieben wurde. Carl vergaß das Wasser, hektisch sah er sich nach einer Art Klingel um, so etwas musste es doch hier geben! Wie zum Beliar war er überhaupt dazu gekommen, in einem Krankenhaus zu liegen?
Die Erinnerung stieg so schnell in ihm hoch wie Wasser, das in ein schmales Gefäß gegossen wird.
Melanie.
J.
Irenicus.
Sich vom Halse schaffen.
Die Grafschaft Westfeld, die Graf-Bergmar-Gasse.
Der Plan, der große Plan.
Die Faring-Konferenz.
Und dann?
Plötzlich fiel ihm die Schlussszene dieses verwirrenden Einakters wieder ein. Sie legte sich wie Tau über die gesamte Oberfläche seines Verstandes und breitete sich in der seichten Schale der Erinnerung aus. Das Hundegebell, der Mann im makellosen weißen Hemd, die Eisenstange, das Schwindelgefühl, der Mann im Rollstuhl. Der alte, gebrechliche, magere Mann im Rollstuhl, der John Irenicus sein musste.
Die Schmerzen in Carls Kopf explodierten in einer roten Wolke. Gleichzeitig betrat eine weißgekleidete Schwester das Zimmer.
„Sie haben geläutet, Herr Professor Pankratz?“
„Creifelds“, brachte Carl heraus, „Ich heiße Creifelds.“
„Verzeihung“, lächelte die Schwester, „Ich habe Sie verwechselt mit...“
Sie machte mit dem Kopf ein Zeichen zum anderen Bett hin, wo der Mann immer noch scheinbar unbeteiligt in seinem Buch las.
„Wie geht es Ihnen, Herr Professor? Haben Sie Kopfschmerzen?“
Carl nickte. Was die Sache nicht besser machte.
„Ich werde sehen, dass Sie etwas Linderung bekommen.“
Sie verschwand und kam nach wenigen Augenblicken zurück. In der Hand hielt sie einen kleinen Becher, in dem eine zähe, braune Flüssigkeit stand. Sie sah zu, wie Carl den Inhalt des Bechers schluckte und sagte:
„Jetzt wird es gleich besser. Sie sollten ein wenig schlafen. Es war eine komplizierte Operation, aber...“
„Aber?“
„Aber.. nun, es ist alles gut gelaufen. Lehnen Sie sich zurück und ruhen Sie sich aus!“
Die Schwester verschwand, und er lehnte sich zurück. Er betrachtete eine Weile lag seinen Mitpatienten im Bett gegenüber. Er hatte etwas vages Bekanntes an sich, wie auch das Buch, in dem er las, aber es blieb Carl keine Zeit, darüber nachzudenken.
Wieder öffnete sich die Tür, und zwei Frauen traten ein. Beide sahen ernst und angespannt aus, und eine von ihnen war seine Ehefrau Melanie. Sie trug ein gelbes Kleid und hatte einen kleinen Strauß Blumen in der Hand. Auch die andere Frau kam ihm bekannt vor, vor allem ihr kühn auf dem üppigen Haar balancierender Hut. Beide Frauen traten heran und setzten sich auf die Besucherstühle am Bett. Melanie räusperte sich.
„Carl, bist du klar?“
„Was... was meinst du damit?“
„Ich meine, ob du klar im Kopf bist?“
„Natürlich“. Carl war verwundert über diese Frage.
„Gut. Dann möchte ich dir meine Freundin vorstellen, Jeanne Mariska. Ich glaube, ihr seid euch noch nicht begegnet.“
„Fräulein Mariska? Ich weiß nicht, ich glaube...“
Melanie schnitt ihm das Wort ab. „Jeanne Mariska aus Westfeld, Graf-Bergmar-Gasse. Wir sind alte Schulfreundinnen. Sie wohnt mit einem gewissen John Irenicus zusammen, einem sehr alten Mann, der im Rollstuhl sitzt und ihrer Pflege bedarf. Er ist ihr alter Onkel.“
Jeanne, dachte Carl, J. wie Jeanne? Nein, das kann nicht sein, das ist viel zu billig!
„Du hast Irenicus' Sohn Percival auf den Kopf geschlagen, und zwar mit einer Eisenstange.“ Melanie sah ihn vorwurfsvoll an.
Carl räusperte sich seinerseits. Nicht ohne Würde erwiderte er:
„Es war ein Rohr. Ein Rohr.“
Melanie ignorierte seinen Einwand und fuhr fort:
„Es gibt so einiges, was einer Erklärung bedarf. Du warst gar nicht in Faring, du warst in Westfeld.“
Carl faltete die Hände auf der hellgrünen Decke und entschied sich, dem Blick seiner Frau lieber nicht zu begegnen.
„Nun ja, es spielt ja auch keine Rolle. Ich wollte nur, dass du Jeanne kennenlernst. Damit alle Missverständnisse ausgeräumt sind.“
„Guten Tag“, sagte Jeanne und streckte ihre Hand aus. Er ergriff sie zögernd. Jeanne schaute mit unsicherem Blick zu Melanie, dann wieder zu Carl. „Wir sind alte Schulfreundinnen. Wir kennen uns seit über fünfundzwanzig Jahren.“
„Verstehe“, sagte Carl. „Aber es tut mir Leid, ich habe gerade ein Schlafmittel bekommen. Wir müssen bis morgen warten, um unsere Bekanntschaft weiter zu vertiefen.“ Er wandte sich an Melanie: „Könntest du bitte der Universität Bescheid geben, dass ich meinen Aufgaben bis, nun, wohl bis in zwei Wochen nicht werde nachkommen können?“
Melanie schüttelte den Kopf und betrachtete ihn stumm. Dann sagte sie:
„Ich möchte, dass du weißt, dass es mir reicht. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“
Sie wandte sich Jeanne Mariska zu und sagte leise, damit er nicht hören konnte, was sie sagte – natürlich hörte er es trotzdem - „Er lebt in der Illusion, dass er noch immer seinen Posten an der Juristischen Fakultät innehat. Es ist ganz gleich, was man ihm sagt.“
Jeanne nickte. Dann stand sie auf, nickte kurz und wandte sich zum gehen. Melanie hatte noch immer die Blumen in der Hand, als sie das Zimmer verließ.
Die sind also doch für jemand anderen bestimmt, habe ich's mir doch gedacht, stellte Carl fest.
Dann spürte er, wie der Schlaf wie eine Flutwelle über ihn kam, und während er in den dunklen, warmen Fluten versank, sah er noch, wie der Mann gegenüber sein Buch weglegte – es handelte sich um ein Exemplar der Irrelevanzen II, wie Carl nun erkennen konnte, ein Titel, der ihm ungemein bekannt vorkam -, sich aus dem Bett erhob und auf ihn zukam. In seinem Blick lag etwas Hinterhältiges, und für einen Moment schien es Carl, dass er nicht in das Gesicht einer fremden Person sah, sondern in einen dunklen Spiegel, und es war seine eigene Hand, die sich nun ausstreckte, um an den Schläuchen zu ziehen...
Hier und jetzt pulsiert das Leben.
Die Dinge nahmen eine Wendung, die nicht geplant war, das spürte Carl eindeutig. Doch seine Lider waren schwer wie Senkbleie, er tastete nach der Klingel, die aber nicht mehr da war. Vielleicht hatte diese Jeanne Mariska sie an sich genommen, diese Person, die all die Missverständnisse erst ausgelöst hatte, weil sie sich am Briefpapier ihres Onkels bedient hatte...
Das Letzte, ein Teil des Letzten, das er in seinem sich verdunkelnden Bewusstsein wahrnahm, war ein kleiner, roter Schmetterling, der seine Tischdecke verlassen hatte und jetzt auf seinem Handrücken saß. Carl achtete gewissenhaft darauf, sich nicht zu bewegen, damit er nicht davonflöge, aber er flog doch davon, und als er nur noch ein winziger Punkt am kühlen blauen Himmel war, spürte Carl, dass nichts mehr pulsierte.