Heilung

Geschrieben für El Toro


Das rüde Prügeln hatte eine lange Tradition in Khorinis. Lange bevor die ersten Händler ihre Geschäfte eröffnet hatten und die ersten Schiffe in den Werften erbaut worden waren, hatten sich die Leute in den Hinterhöfen der Stadt schon rüde geprügelt. Sie hatten sich nicht bloß mit Fäusten geprügelt, sondern alles zu Hilfe genommen, das sich anbot als Hilfe beim rüden Prügeln, und sie hatten nicht nur mit den Armen weit ausgeholt, sondern hatten sich getreten, gebissen und gekratzt, waren einander in die Rücken und ins Genick gesprungen, hatten sich die Beine weggezogen, die Zähne ausgeschlagen und die Haare büschelweise herausgerissen, hatten sich angespuckt, versehrt und verstümmelt, hatten sich gegenseitig zum Bluten und Schwitzen und Heulen gebracht, und am Ende hatte einer aufgegeben oder war gleich ganz gestorben, je nachdem aus welchem Holz er geschnitzt war. Einer jedenfalls hatte dem anderen den Sieg überlassen, der aber nicht viel galt, wenn er ein Einzelfall blieb. Nur wer ständig gewann, immer wieder antrat und immer wieder siegte, nur der wurde gefeiert und verehrt, und manche der Namen aus dieser Zeit verblieben tatsächlich für eine Weile in den Köpfen der Menschen von Khorinis. Man erinnerte sich an die harten Hunde, die Bluthunde, wie sie genannt wurden, und bedauerte meist im gleichen Gedanken ihren Tod, denn tot waren sie alle irgendwann. Und als die Körper schon auf dem Friedhof weit außerhalb der Stadtmauern verscharrt waren zwischen den Gebeinen der Schwächeren und Mutloseren, da klammerten sich ihre Namen noch eine Weile lang an der Stadt und ihren Bewohnern fest, so lange es eben ging.
Es kam die kinderlose Zeit über Khorinis, und mit ihr ging die Tradition des rüden Prügelns. Gewöhnliche Schlägereien gab es weiterhin, häufiger sogar als zuvor, aber aus ihnen gingen keine Helden hervor, nur gebrochene Nasen und blau geschwollene Gesichter. Die kinderlose Zeit verschlang drei Jahrzehnte, aber bevor sie die Hafenstadt verschlingen konnte, sorgte man dafür, dass die Kinder zurückkehrten. Die Zukunft von Khorinis war gerettet, und mit den Kindern kehrte auch das rüde Prügeln zurück.
Man beschloss, das große, alte Lagerhaus gleich neben der Werft abzureißen, um Platz dafür zu schaffen, aber die Ungeduld war zu groß, und so umrandeten noch Pfeiler und Bretter als verwittertes Gerippe des eilig gemeuchelten Gebäudes den Kampfplatz, als das rüde Prügeln seine Wiederkehr beging. Schon beim ersten von vielen Zweikämpfen, die noch folgen sollten, bildeten Menschen aus allen Teilen der Stadt einen großen Kreis um die Kämpfenden, dicht an dicht aneinander gedrängt, und dazwischen, in den schmalen Lücken, die noch geblieben waren: Die Kinder. Kleine, grau gewandete Gestalten mit schmalen Augen und wachsamen Blicken, die Hände in die Hose des Nebenmannes oder den Rock der Nebenfrau gekrallt. Viele trugen Mützen, einige Kapuzen, aber alle trugen sie auf ihrer Haut den Staub und den Sand, aus dem sie geboren waren. Sie regten sich selten, jubelten nicht und feuerten niemanden an, tuschelten bloß ab und an leise miteinander, ohne dass die Größeren viel davon mitbekamen. Sie bedauerten keinen Toten und priesen keinen Sieger, aber es war nicht zu übersehen, dass sie die treibende Kraft waren hinter dem rüden Prügeln, und dass es ohne sie nicht wieder hätte Einzug finden können nach Khorinis. Die Erwachsenen kamen und gingen, ihr Interesse war unbeständig. Die Kinder aber waren immer vollzählig. Auf sie konnte man sich verlassen.

An dem gleichen Abend, an dem später das grüne Licht über der Hafenstadt erschien, wohnte Hanna zum ersten Mal dem rüden Prügeln bei. Sie wunderte sich selbst ein wenig über diesen Umstand, denn sie hatte in den Jahren zuvor viel Zeit im Hafenviertel verbracht und eine Menge zwielichtiger Gestalten kennengelernt, aber mit den Kämpfen dort hatte sie nie etwas zu schaffen gehabt. Das änderte sich erst an besagtem Abend, und schuld daran waren – natürlich – ihre Kinder, die sie in der Woche davor bekommen hatte, und die sie zu dem Ausflug auf den Kampfplatz überredet hatten. Im ersten Moment hatte sie sich sträuben wollen und es nicht eingesehen, wegen einer Schlägerei in die kalte Dunkelheit hinauszugehen, aber die Kinder hatten nicht aufgehört, sie darum zu beten, und da sie mit ihnen noch nichts anderes anzufangen wusste, hatte sie schließlich nachgegeben. Sie hatte allen Fünfen nacheinander warme Stiefel und flauschige Wolljacken angezogen, dann hatte sie jedem noch eine Mütze über die Ohren gezogen und schließlich, nachdem sie sich selbst angekleidet hatte, mit ihnen das Haus verlassen. Gemeinsam gingen sie schweigend die Straße ins Hafenviertel hinab, auf der noch an den Rändern die letzten zusammengetretenen Reste des am Tage gefallenen Schnees zu erahnen waren, bis sie erste Rufe und Schmerzensschreie vernahmen. Der Kampf hatte schon begonnen, und als Hanna und ihre Kinder einen ersten Blick auf das Geschehen erhaschen konnten, wurde der derzeit geltende Bluthund, ein Mann namens Die Ratte, gerade von einer großen Kiste am Kopf getroffen. Die Kiste hatte ihm sein Gegner, den man nur unter dem Namen Der Brocken kannte, entgegen geschmissen. Einige Leute jubelten, als die Ratte inmitten der berstenden Bretter ins Schwanken geriet, während zeitgleich lauter werdende „Ratte! Ratte!“-Rufe einsetzten. Hannas Kinder waren längst irgendwo in der Menge verschwunden, und da sie sich ihre Gesichter nach der kurzen Zeit ohnehin noch nicht sehr gut hatte einprägen können, versuchte sie gar nicht erst, sie zwischen den vielen anderen stillen Kindergesichtern wiederzuentdecken. Was vom allerersten Moment an entgegen ihrer festen Erwartungen ein großes Interesse in ihr geweckt hatte, das war der Kampf an sich: Wie die Ratte nun schnaufend ihre dunkelgraue, haarige Rattenmaske zurecht rückte und im nächsten Moment mit gezücktem Messer dem regungslosen Brocken entgegen sprang; wie der Brocken die Ratte mitten im Sprung an den Beinen packte und mit ordentlichem Schwung in die begeistert zur Seite springende Menge schmiss; wie sich die Ratte eine fallen gelassene Schüssel schnappte und sie dem heranstürmenden Brocken rücksichtslos in das bärtige Gesicht rammte, das auch zuvor schon geblutet hatte und damit jetzt erst recht nicht mehr aufhören wollte; wie der Brocken nun die Ratte zu Boden warf und ihr eine ganze Reihe kräftiger Kopfnüsse verpasste, die beiden gleichermaßen Schmerzen zu bereiten schienen; und wie der Brocken nach der fünfzehnten Kopfnuss plötzlich umkippte, weil ihm die eigentlich schon sehr zerfleddert wirkende Ratte das Messer in den Wanst gestoßen hatte – das alles entsprach zwar voll und ganz den Vorstellungen, die sich Hanna vom rüden Prügeln gemacht hatte, aber es hatte, da sie es nun selbst mit angesehen hatte, einen neuen Gedanken in ihr wach gerufen, der ihr auf Anhieb sehr gut gefiel: Sie selbst musste am rüden Prügeln teilnehmen.
Das Reizvolle an diesem Gedanken war gar nicht so sehr der Kampf an sich. Hanna hatte schon genug Leichen in ihrem Leben gesehen – die meisten von ihnen Abwasserleichen – um vom Sterben und Töten nicht mehr allzu fasziniert zu sein. Es war auch nicht so sehr die Hoffnung, Eindruck bei ihren Kindern zu schinden, auch wenn diese sicherlich eine Rolle spielte. Und um Ruhm und Bewunderung ging es ihr schon einmal gar nicht. Sie wollte natürlich bewundert werden, das hätte sie nie abgestritten, aber doch nicht dafür, dass sie andere Leute kaputt schlug. So etwas verdiente ihrer Meinung nach keine Bewunderung. Nein, was es war, das ihr so verheißungsvoll erschien an dem plötzlich gefassten Entschluss, eine räudige Hinterhofprüglerin zu werden, das war die Vorstellung, ihren Eltern davon zu erzählen.
Es war natürlich eine gewaltige Unsicherheit mit dieser Vorfreude verbunden. Sie konnte nicht sicher sagen, dass ihre Eltern wie erhofft reagieren würden, oder dass sie überhaupt reagieren würden. Sie hatten nicht reagiert, als sie im Alter von vier Jahren die Feuerwurzeln im Garten zertrampelt hatte, die Vaters ganzer Stolz gewesen waren. Sie hatten bloß mit den Schultern gezuckt, als sie im Alter von sieben Jahren das Kuschelschaf des Nachbarsjungen Jonas ins Meer geschmissen hatte. Sie hatten höchstens ein ganz klein wenig aufgestöhnt, als sie im Alter von neun Jahren das lebendige Schaf des Metzgers Dankwart ins Meer geschmissen hatte. Sie hatten gar nicht richtig zugehört, als sie von Meister Vatras besucht und über das schreckliche Betragen ihrer damals zwölfjährigen Tochter im Unterricht aufgeklärt worden waren – einem Unterricht, dem Hanna darüber hinaus an den wenigsten Tagen überhaupt beigewohnt hatte. Und sie hatten gar nicht richtig hingeguckt, als sie sich als Dreizehnjährige die Haare hatte abrasieren und einen großen billigen Kupferring durch den rechten Nasenflügel hatte bohren lassen. Sie hatten sich nie beschwert, wenn sie mit sechzehn Jahren einen ihrer neuen Freunde mit nach Hause gebracht hatte, und das obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, sich ausschließlich mit den zwielichtigsten und ungepflegtesten Typen des Hafenviertels anzufreunden. Als sie sich an ihrem achtzehnten Geburtstag eine magische Feuerballrune in die rechte Handfläche hatte tätowieren lassen, da konnte sie ihre Eltern nicht einmal zu einem Wutausbruch bewegen, indem sie ihnen versicherte, dass ihr nun niemals wieder jemand die Hand geben konnte, ohne in Flammen aufzugehen. Ihr Vater hatte bloß ein bisschen unsicher gelächelt, und dann hatte er das Thema gewechselt und ihr eröffnet, dass sie den Familienbetrieb, das Hotel Zum schlafenden Geldsack, übernehmen würde, weil sich ein solches Hotel im Alter nicht mehr gut verwalten ließ und Hanna ja als Erwachsene nun reif genug wäre, um für das Einkommen der Familie zu sorgen. Hanna hatte geglaubt, ihre Eltern schockieren zu können, indem sie das Hotel kurzerhand der örtlichen Diebesgilde als Unterschlupf zur Verfügung gestellt und sogar durch ihre Kontakte mit einigen windschiefen Handwerkern den Bau eines Geheimgangs in die Kanalisation veranlasst hatte, in der sich die Diebe der Hafenstadt seit jeher vor den Blicken der Stadtbewohner verbargen. Aber nicht einmal nachdem die Diebesgilde schließlich aufgeflogen war, das Hotel in den Besitz der Stadt und damit der myrtanischen Krone übergegangen und sie selbst im Alter von gerade einmal neunundzwanzig Jahren im Kerker von Khorinis gelandet war, hatte es in den Augen ihrer Eltern das ärgerliche Funkeln gegeben, nach dem Hanna zeit ihres Lebens so begierig gesucht hatte. Nie hatten ihre Eltern sie im Gefängnis besucht, um ihr Vorwürfe zu machen – sie hatten sie überhaupt nicht besucht, außer zu ihren acht in Gefangenschaft verbrachten Geburtstagen, zu denen sie sich nach ihrem Befinden erkundigt und ihr eine baldige Entlassung gewünscht hatten. Hanna hatte, nachdem diese Entlassung erfolgt war, lange über eine letzte Möglichkeit nachgegrübelt, ihre Eltern doch noch gegen sich aufzubringen. Sie hatte nun bereits den Ruf und das Vermögen der Familie ruiniert und im Prinzip alles zunichte gemacht, was frühere Generationen für sie aufgebaut hatten, aber das genügte ihren Eltern nicht. Vielleicht hatte sie zu viel Reue gezeigt. Vielleicht hatte sie die Zeit im Gefängnis zu gut genutzt, um sich zu bilden und ein besserer Mensch zu werden. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, so schnell eine ordentliche Anstellung zu finden und sich zu rehabilitieren. All diese Entscheidungen hatten natürlich völlig falsche Signale an ihre Eltern senden müssen. Was es auch war, eines stand fest: Wenn sie bei ihren Eltern nach vier Jahrzehnten voller Misserfolge noch etwas erreichen wollte, dann musste sie sich etwas einfallen lassen, das alles Vorherige übertraf. Sie wusste nicht, ob eine Teilnahme am rüden Prügeln genügen würde, aber als sie die starrenden Blicke der Ratte erwiderte, die sie durch die Maskenlöcher hindurch erreichten; als sie das in langen Fäden auf das bleiche Gesicht des Brockens herabtropfende Rattenblut betrachtete, das unter der Kinnpartie der Maske hervorquoll; als sie den Blick schweifen ließ und die brüllenden, lachenden, heulenden Leute zwischen den schweigenden Kindern mit ihren glänzenden Augen sah – da wusste sie, dass sie es versuchen musste.

Noch in der gleichen Nacht, als die Kinder in ihrem Zimmer waren und wohl schliefen, begann Hanna mit der Übersetzung ihres Gedankens in die Wirklichkeit. Zuerst kümmerte sie sich um ihren Kampfnamen. Ihr gefiel es, sich nach einem Tier zu benennen, aber die Tiernamen, von denen sie gehört hatte, kamen ihr alle sehr fantasielos vor. Sie wollte nicht bloß eine Ratte sein, oder ein Snapper oder ein Waran. Das kannte man, damit konnte man niemanden beeindrucken: die Leute nicht, aber das war ihr beinahe gleichgültig, und vor allem nicht sich selbst. Der Name musste einer sein, den sie mit Überzeugung tragen konnte.
Sie brauchte eine Weile, bis sie darauf kam, aber dann erinnerte sie sich an das Buch aus Caldera, das eines von vielen Büchern gewesen war, die ihr Vatras ins Gefängnis gebracht hatte, und das sie mehrmals von vorne bis hinten gelesen hatte, bevor es ihr wieder abgenommen worden war. Den Titel des Buches, das in einer fremden Sprache verfasst war, die zu denen zählte, die sie im Gefängnis gelernt hatte, würde niemand verstehen, wenn sie ihn als Kampfnamen trug, aber das machte nichts. Auf den Klang kam es an, und der Klang des Namens war großartig. Sie war so zufrieden mit dem Namen, dass sie noch im gleichen Atemzug die rechte Hand nach der Kiste mit den Stoffresten ausstreckte, um sich eine passende Maske daraus zu basteln. Erst im letzten Moment besann sie sich eines Besseren und packte die Kiste mit der Linken.

Am Tag darauf, als die große Uhr am Marktplatz zehn Minuten vor elf zeigte, traf sich Hanna in einer unauffälligen Ecke hinter dem Gemüsestand mit Attila, den sie noch aus ihrer Zeit mit der Diebesgilde kannte. Attila war keiner der freundlicheren Diebe gewesen, was vielleicht damit zusammenhing, dass er gar kein Dieb, sondern ein Auftragsmörder gewesen war, und Hanna war immer ein wenig angefressen, wenn sie daran dachte, dass er bloß ein knappes Jahr länger im Gefängnis hatte verbringen müssen als sie selbst, obwohl sie niemanden umgebracht hatte und Attila dagegen so viele Leute, dass sich an geschäftigen Tagen manchmal der ein oder andere Abwasserkanal gestaut hatte. Sie empfand das als eine schreckliche Ungerechtigkeit, aber jetzt kam ihr dieser Umstand ganz gelegen, denn Attila sollte ihr Ausbilder und Anleiter sein.
Attila wollte zunächst nur über das grüne Licht reden, von dem Hanna zuvor noch gar nichts mitbekommen hatte, das sie aber auch nicht sehr interessierte, da sie es bei Tag ohnehin nicht sehen und sich auch nichts Besonderes darunter vorstellen konnte. Nachdem sie Attila davon überzeugt hatte, ihr zu helfen – sie versprach ihm ein Drittel ihres Wochenlohns für jeden Kampf, bei dem er ihr beistand – nahm sie ihn mit in ihr Haus, zeigte ihm die Maske und besprach ihre Kampfstrategie mit ihm. Beide waren sich einig, dass Hannas wirkungsvollste Waffe in ihrer Tätowierung bestand, denn obwohl der Einsatz von Magie beim rüden Prügeln nicht verboten war, da überhaupt nichts verboten war beim rüden Prügeln, hatte bisher noch nie ein Magier daran teilgenommen, sodass keiner der Kämpfer auf einen unvermittelt hervorgezauberten Feuerball vorbereitet sein würde. Uneinigkeit bestand allerdings darin, zu welchem Zeitpunkt Hanna auf diese Waffe zurückgreifen sollte: Während Attila dafür plädierte, jeden Gegner schon in der ersten Sekunde des Duells mit einem gut gezielten Feuerball außer Gefecht zu setzen und sich mit weniger effektiven Methoden des Kampfes gar nicht erst aufzuhalten, konnte sich Hanna mit einem solchen Vorgehen nicht anfreunden. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Geheimwaffe, ihren großen Trumpf, nicht leichtfertig offenbaren durfte: Denn wenn er erst einmal eingesetzt worden war, dann würden ihre Gegner von ihm wissen und ein Gegenmittel finden.
„Ich muss es auf die übliche Weise versuchen“, sagte sie zu Attila, „solange es eben geht.“ Erst wenn sie einmal am Boden liegen und mit der drohenden Niederlage konfrontiert sein würde, dann wollte sie von ihrer Tätowierung Gebrauch machen. Attila sagte nichts mehr, sondern reichte Hanna eine Waffe, die er ihr für die Verwendung im Kampf überlassen wollte. Hanna wusste nicht sogleich etwas damit anzufangen, aber Attila erklärte ihr in knappen Worten, wie es seine Art war, dass sie die abgeschnittene Klaue einer toten Harpyie in den Händen hielt, die man in flüssiges Silber getaucht und auf dem Schleifstein geschärft hatte. Die Waffe kam Hanna viel zu wertvoll vor für das, was sie Attila zahlte, aber er versicherte ihr, dass derartige Waffen in seiner Heimat keine Seltenheit wären, und dass sie sich nicht sorgen bräuchte, wenn etwas bräche oder splitterte. Er hätte Ersatz.

Es dauerte eine Woche, bis Hannas erster und einziger Kampf zustande kam. Die Ratte hatte einen prall gefüllten Terminplan, und gegen jemand anderen als die Ratte wollte Hanna nicht antreten. Attila hielt es für übermütig, gleich im ersten Kampf gegen den Bluthund anzutreten, aber sie ließ sich nicht umstimmen. Die Ratte oder keiner, das war ihre Überzeugung. Ihren Kindern gegenüber gab sie vor, sich nicht wohlzufühlen, und eröffnete ihnen, dass sie heute einmal alleine zum Kampfplatz gehen müssten. Kaum hatten alle Fünf das Haus der Reihe nach verlassen, wickelte sie vorsichtig einen Streifen weißen Stoffs um ihre rechte Hand, zog sie sich die Maske über das Gesicht, warf sich einen dunklen Umhang über und ging mit der Klaue in der Hand durch die Hintertür nach draußen. Auf den Straßen kam ihr niemand entgegen, denn die Leute waren um diese Zeit entweder in ihren Heimen oder aber beim Kampfplatz, wo schon alles auf die Herausforderin der Ratte wartete. Hanna wusste, dass sie nicht die erste Frau war, die je am rüden Prügeln teilgenommen hatte, aber die letzten Prüglerinnen hatte es in den Tagen vor der kinderlosen Zeit gegeben, und niemand erinnerte sich mehr an ihre Namen. Bloß dass es sie gegeben hatte, das war noch bekannt, aber weder wie gut sie sich geschlagen hatten noch wie zahlreich sie gewesen waren. Hanna machte sich nicht viele Gedanken darüber. Was sich heute zwischen ihr und der Ratte ereignen würde, das hatte mit den Prügeleien längst vergangener Zeiten ohnehin nichts zu tun.
Dutzende gespannte Blicke richteten sich auf sie, als sie die Menge am Kampfplatz erreichte. Einige Leute klatschten begeistert in die Hände, andere betrunken. Die Kinder rückten ihre Mützen gerade, und ihre Gesichter versteiften sich. Und in der Mitte des Platzes stand schon die Ratte, der Bluthund, in lauernder Pose, als wollte er die Gegnerin bereits anspringen, noch bevor sie den eng gezogenen Ring der Zuschauer durchstoßen hatte.
Hanna war jetzt sehr aufgeregt und gleichzeitig entschlossen, mit der Ratte kurzen Prozess zu machen. Bevor sie sich einen Weg durch die Zuschauermenge hatte bahnen können, passte sie Attila ab und gab ihr einige letzte Instruktionen, von denen sie aber die allermeisten nicht mitbekam. Die Leute um sie herum grölten und brüllten immer lauter, und die Ratte malte mit den Füßen ein großes X in den Sand, während sie Hanna fest im Blick behielt. Hanna wusste nicht, was es mit diesem X auf sich hatte, aber sie vermutete, dass es ihr Angst einjagen sollte. Angst jedoch hatte sie noch keine große. Womöglich war ihr die Ratte körperlich überlegen, aber darauf wollte sie es erst einmal ankommen lassen. Und für den Notfall hatte sie dann immer noch ihre Tätowierung, die der Ratte nicht bloß Angst eingejagt, sondern sie in blanke Panik versetzt hätte, wenn sie denn etwas davon hätte erahnen können. Die Ratte hatte ihr X im Sand, Hanna hatte ihre Tätowierung. Sie fühlte sich klar im Vorteil.
Das rüde Prügeln kannte nicht besonders viele Regeln, aber die wichtigste und in vielen Köpfen einzige Regel besagte, dass ein Duell im rüden Prügeln immer in drei Runden stattfinden musste. Zwischen den Runden wurde den Kämpfern die Gelegenheit zur Erholung und zur Heilung gegeben. Diese Regel gab es schon sehr lange, und man wollte damit erreichen, dass die Kämpfe möglichst lange andauerten und nicht schon nach wenigen Minuten vorüber waren, nachdem sich so viele Menschen den ganzen Tag darauf gefreut hatten. Hanna wusste, dass die erste Runde beginnen würde, sobald sie den Kampfbereich betreten hatte, und dass sie vorher ihre Gedanken sammeln und sich vorbereiten sollte, aber da ihr beides inmitten der vielen Menschen um sie herum nicht möglich war, schob sie Attila entschlossen zur Seite und zwängte sich zwischen den letzten paar Leuten hindurch auf den offenen Platz hinaus.
Attila rief wie vereinbart mit kräftiger Stimme ihren Kampfnamen aus, und sogleich wurde es ruhiger. Hunderte Augen schauten auf Hanna und tausende Gedanken dahinter versuchten abzuschätzen, wie weit sie es bringen würde. Nur die Augen der Kinder waren wie immer undurchdringlich. Hanna hörte sie leise flüstern, gleich neben ihrem Ohr wisperte es: „Thandron“ und „Inumina“ und „Tenion ak Hal“. Sie konnte nicht sagen, ob die Stimmen ihrer eigenen Kinder darunter waren. Zischend sog die Ratte die kalte Abendluft ein, was die aufgeklebten Schnurrbarthaare ihrer Maske zum Zittern brachte. Noch hatte sie sich nicht gerührt. Noch wartete sie darauf, dass Hanna den ersten Schritt tat.
Und sie tat ihn. Sie ging auf die Ratte los, und aus einem Gefühl heraus benutzte sie nicht ihre Harpyienklaue, sondern biss der Ratte in den Hals. Es war ein sehr blutiger Beginn des Kampfes, und viele waren im ersten Moment enttäuscht, weil sie glaubten, dass der Abend ein schnelles Ende nehmen würde – manche auch entsetzt über die Leichtigkeit, mit der die Debütantin den Bluthund überrumpelt hatte, der ja schon so viele Kämpfe überstanden hatte. Aber diese Leute hatten die Ratte unterschätzt. Es wurde kein kurzer Abend, und schon in der ersten Runde prügelten sich Hanna und die Ratte so ausdauernd miteinander, wie sich zwei Leute beim rüden Prügeln nur miteinander prügeln konnten. Die Ratte verpasste Hanna einen kräftigen Kinnhaken, der ihren Schädel zum Dröhnen brachte. Hanna drehte der Ratte den Arm um, dass es knackte. Die Ratte stieß Hanna ihr Messer in die Schulter, und das so tief, dass sie es gar nicht mehr herausbekam. Hanna stahl einer Zuschauerin den Apfel aus der Hand und pfefferte ihn der Ratte an den Kopf. Die Ratte schleuderte Hanna zu Boden und sprang auf ihren Rücken. Hanna warf die Ratte ab, umklammerte sie und versetzte ihr einen Schlag in den Bauch, bevor beide dazu übergingen, sich gegenseitig totzuwürgen, was aber keinem gelingen wollte. Und schließlich, als sich beide hustend und keuchend in gebückter Haltung gegenüberstanden, fuhr Hanna mit der Harpyienklaue über das Gesicht der Ratte, dass sie jaulend in die Hocke ging und das blutende Fleisch, das unter der zerfetzten Maske aufgetaucht war, mit beiden Händen umfasst hielt. Das war der Moment, in dem die Leute davon überzeugt waren, dass die Ratte nur noch mit einem Crawlerfaden an ihrem Leben hing, und dass es dringend an der Zeit war, das Ende der ersten Runde auszurufen.
Hanna hätte sehr zufrieden mit ihrer Leistung in dieser ersten Runde sein können, denn sie hatte sich der Ratte als klar überlegen gezeigt, aber gerade als sie sich abwenden wollte, um sich mit Attila zu besprechen, löste die Ratte ihre Finger aus dem Gesicht, und Hanna konnte erkennen, wer sich dahinter verbarg. Und diese Erkenntnis schmerzte sie mehr als alles, was ihr die Ratte in den vergangenen zehn oder fünfzehn Minuten angetan hatte.
„Das ist Monty“, zischte sie Attila erregt ins Ohr, während der mit Schweißperlen auf der Stirn das Messer aus ihrer Schulter hebelte. „Die Ratte ist Monty.“
Attila verstand nicht sofort, also fügte sie hinzu: „Das ist einer meiner Schüler!“
Tatsächlich war Monty sogar einer ihrer besten Schüler, der ihr höchstens dann und wann ein wenig durch eine ausgeprägte morgendliche Unausgeschlafenheit aufgefallen war, für die sie gerade eine einleuchtende Erklärung erhalten hatte. Insbesondere das Erlernen der schwierigen sechssilbrigen Vokabeln beherrschte Monty wie kaum ein zweiter ihrer Schüler, und mit der Grammatik hatte er ebenso keine Probleme, die einer Erwähnung wert gewesen wären, sah man einmal von der Konjugadronsreihe der F-Konjugadron ab, von der Hanna allerdings glaubte, dass die alten Erbauer sie selbst nicht richtig verstanden hatten. Monty war so gut, dass er nach nicht einmal einem Jahr des Unterrichts kurz vor seiner Abschlussprüfung stand, also nur noch wenige Wochen vom Erhalt des großen Jharkendron entfernt war. Er hatte schon damit begonnen, ein Zimmer für seine Kinder freizuräumen, das hatte er Hanna einmal zwischen zwei Unterrichtsstunden im Vertrauen erzählt. Monty war auch gar nicht so unleidlich wie die meisten anderen Schüler, was wahrscheinlich daran lag, dass er einige Zeit in der Gefangenschaft von Banditen verbracht hatte und weitaus Schlimmeres als den Jharkendarisch-Unterricht gewohnt war. Vor allem aber wirkte er im Großen und Ganzen harmlos und, so fand Hanna, nett. Er war niemand, dem sie zugetraut hätte, abends als Ratte auf Fremde einzudreschen. Aber vielleicht ging ihm das umgekehrt ja genauso – und genau dieser Aspekt machte Hanna Angst. Was, wenn Monty ihre eigene Maske zerstören würde? Für Hanna stand fest, dass er auf gar keinen Fall herausfinden durfte, wer seine Gegnerin war. Die Geschichte würde sich in Windeseile an der Schule herumsprechen, und selbst wenn die Wassermagier sie weiterhin als Lehrerin behalten würden – wovon sie beinahe ausging, denn Vatras hatte sich schließlich bereits in der Vergangenheit sehr nachsichtig mit ihr gezeigt – so würde sie doch in jeder einzelnen Unterrichtsstunde von den Nachfragen ihrer Schüler gelöchert werden. Der Gedanke machte sie wahnsinnig, aber Attila wollte von ihren Bedenken nichts wissen.
„Sieh zu, dass du die Maske anbehältst“, sagte er ihr, „und ansonsten: Mach weiter wie bisher.“
Und dann, zum Schluss, klopfte er ihr auf die kaputte Schulter und sagte: „Mach die Ratte platt.“
Als Hanna zurück auf die Kampffläche trat, musste sie feststellen, dass sich im Gesicht der Ratte einiges zum Besseren verändert hatte. Zwar war es noch immer ein wenig blutverschmiert, aber die Wunden, die Hanna mit der Klaue geschlagen hatte, waren verwachsen und beinahe verheilt. Sehr verwundert war sie darüber nicht, denn es war bekannt, dass die Ratte zwischen den Runden Heiltränke zu sich nahm, um sich wiederherzustellen, und nicht zuletzt durch diese alchemistische Unterstützung einen Vorteil gegenüber vielen ihrer weniger gut betuchten Gegner gewann. Hanna verstand nun, woher sie das Geld für all diese Tränke hatte, denn als Besitzer der großen Werft am Hafen war Monty einer der wohlhabendsten Männer der Stadt. Diese Erkenntnis allerdings beschäftigte Hanna nicht lange. Sie spielte mit dem Gedanken, die Ratte durch den Einsatz der Tätowierung gleich zu Beginn der Runde zu vernichten, um gar nicht erst in Gefahr zu geraten, von ihr erkannt zu werden. Viel Zeit zum Überlegen hatte sie jedoch nicht, denn die wütende Ratte stürmte schon auf sie zu, und in den wenigen kurzen Momenten, die ihr zum Denken noch blieben, bevor das Prügeln wieder begann, entschied sich Hanna dagegen. Sie hatte das Gefühl, die Ratte auch ohne die Tätowierung schlagen zu können und wollte sich die Überraschung für einen späteren, stärkeren Gegner aufheben. Außerdem wären die Leute sicher enttäuscht gewesen, wenn sie den Kampf bereits vorzeitig entschieden hätte; und sie wollte keinen schlechten ersten Eindruck bei ihnen hinterlassen.
Im Laufe der zweiten Runde begann sie jedoch, an ihrer Entscheidung zu zweifeln, denn die Ratte leistete nun nach ihrer Demaskierung größere Gegenwehr als zuvor und entwickelte erstaunliche Kräfte, obwohl sie unbewaffnet war und neben der Harpyienklaue auch ihr eigenes Messer gegen sich hatte, das Hanna nun in ihrer linken Hand führte. Nach einigen Minuten angestrengten Ringens schaffte es die Ratte erneut, Hanna zu Boden zu schleudern. Als ihr Kopf auf den harten Stein unter dem Sand aufkam, verlor sie für einen kurzen Moment das Bewusstsein, erlangte es aber zurück, nachdem die Ratte ihr ein paar Zähne ausgeschlagen und ihr die Nase gebrochen hatte. Hanna fühlte sich davon nicht entmutigt und holte gerade mit der Klaue aus, als sich die Miene der Ratte wandelte und Hanna von den geröchelten Worten „Frau Hanna?“ zum Erschaudern gebracht wurde. Mit zittrigen Fingern ertastete sie die schäbigen Reste ihrer Maske auf dem demolierten Gesicht und hatte Gewissheit: Was sie nach der ersten Runde nur befürchtet hatte, war in der zweiten Runde wahr geworden. Die Ratte hatte sie erkannt. Hanna reagierte auf diesen Schock, indem sie mit Klaue und Messer auf die Ratte losging, die wimmernd zusammenbrach und einen so jämmerlichen Eindruck auf die Leute machte, dass hastig das Ende der zweiten Runde ausgerufen wurde. Während die Kinder nur schauten, traten zwei bullige Männer auf den Kampfplatz und schleiften die Ratte über den Sand in die Publikumsmenge hinein, wo vermutlich jemand mit den Heiltränken auf sie wartete.
Hanna hingegen war mit ihren Gedanken natürlich ganz bei ihrer Enttarnung. Sie wusste nicht, ob einer der Umstehenden sie erkannt hatte – zwar hatte sie noch keinen ihrer früheren Schüler in der Menschenansammlung gesehen, doch es war natürlich nicht auszuschließen, dass einer von ihnen hier war, vielleicht mitgeschleift von seinen Kindern – aber dass jedenfalls die Ratte nun wusste, gegen wen sie kämpfte, das war nach ihrem Ausruf am Ende der zweiten Kampfrunde gar nicht anders zu deuten. Erfasst von blinder Panik drückte Hanna ihre Waffen Attila in die Hand. Sie hörte nicht auf das, was er sagte, und nahm den Stoff von ihrer rechten Hand ab, den sie sich anschließend so um den Kopf wickelte, dass Augen und Mund ausgespart blieben. Schließlich war es geschafft, trotz der brüllenden Leute, die sie anrempelten, und Attila half ihr dabei, den Stoff am Hinterkopf zusammenzuknoten.
„Ich benutze die Tätowierung“, flüsterte sie ihm ins Ohr, während ihr irgendein angetrunkener Zuschauer von hinten auf den Rücken schlug und ein Kind mit schwacher Hand nach ihrem Umhang griff. „Ich warte jetzt nicht mehr länger. Ich muss ihn erledigen, bevor er etwas ausplaudern kann.“
Sie wartete Attilas Antwort nicht ab, dachte auch gar nicht daran, ihre Waffen zurückzunehmen, die sie ja ohnehin nicht mehr brauchen würde, sondern stolperte sofort zurück auf den Kampfplatz, die offene Hand bereit zur Entfesselung des Feuerballs. Diesmal war sie vor der Ratte dort, aber sie wusste, dass die Ratte nicht zu lange auf sich warten lassen durfte, weil sie sonst von den Leuten auf den Platz geschubst werden würde. Hanna freute sich nicht besonders darauf, was sie gleich tun würde, denn ihr wären aus dem Stand heraus dutzende Schülernamen eingefallen, deren Träger sie lieber verbrannt hätte als Monty, aber es ging ja nicht anders. Vielleicht war Monty tatsächlich der einzige, der sie bisher erkannt hatte, und dann war es einfach das Vernünftigste, ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Aber Monty, die Ratte, der Bluthund, kam nicht zurück. Dass es so lange dauerte, das jagte Hanna Angst ein. Konnte es sein, dass er gar nicht vorhatte, weiterzukämpfen? War er schon auf dem Weg zu den Wassermagiern, um ihnen von seiner Entdeckung zu berichten? Sollte sie ihm nacheilen, auch auf die Gefahr hin, dass er doch noch irgendwo im Publikum war und sie den Kampf verlieren würde?
Die Entscheidung wurde Hanna abgenommen. Attila rief ihr etwas zu, das sie nicht verstehen konnte, und im nächsten Moment entsprang die Ratte hinter ihrem Rücken dem Publikum und hieb, noch bevor sie sich ganz zu ihr hatte umdrehen können, mit einem großen Säbel auf ihren rechten Arm ein. Damit hatte der blutigste und unappetitlichste Teil der Veranstaltung begonnen, denn wie sich rasch herausstellte, hatte die Ratte mit ihrem Schlag Hannas ganzen rechten Arm abgetrennt, und als sie sah, dass sich Hanna danach bückte und ihn mit der linken Hand greifen wollte, schnappte sie ihn sich und warf ihn weit fort, tief ins Publikum hinein, wo sich viele andere Hände nach ihm ausstreckten.
Hanna verstand noch nicht ganz, was geschehen war, aber dass sie ihrer Geheimwaffe, ihrem größten Trumpf, ihrer Siegesversicherung beraubt worden war, das war ihr unmittelbar bewusst. Zu allem Übel stand sie der Ratte nun auch noch ohne Waffe gegenüber, während ihr Gegner mit dem bedrohlichen Säbel, den er in der Erholungspause von irgendwoher genommen hatte, die Luft vor ihr zerschnitt. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass sich der Kampfverlauf gerade zu ihren Ungunsten entwickelt hatte, aber die Zuschauer waren begeistert darüber, dass sich nun endlich ein Kampf auf Augenhöhe entwickeln konnte. Dazu jedoch sollte es nicht kommen. Als die Ratte mit dem Säbel nach ihr hieb, flüchtete sich Hanna in die Menschenmenge, bis sie Attila erreicht hatte und die Harpyienklaue mit der linken, schwitzigen Hand aus der seinen riss. Sie drehte sich um, hatte die Ratte vor Augen und reagierte sofort.
Obwohl der Kampf ein Ende gefunden hatte, zog sich die dritte Runde noch eine ganze Weile lang hin. Die Ratte kauerte schwer atmend am Boden und konnte den Umstand, dass sie gerade ihres Unterkiefers beraubt worden war, nicht verwinden. Hanna hingegen machte der Verlust ihres Armes zunehmend stärker zu schaffen, und so hockten sie – bald lagen sie – nebeneinander, gemeinsam am Boden inmitten der Zuschauer. Es war offensichtlich, dass sich keiner der beiden mehr prügeln wollte, aber sterben wollte auch niemand, und so gab es nur noch eine letzte Art und Weise, auf die der Kampf enden konnte.
„Jemand muss aufgeben“, sagte Hanna, und als die Ratte darauf nicht reagierte, wurde sie deutlicher und wies sie mit der bestimmtesten Lehrerinnenstimme, zu der sie noch fähig war, an: „Gib auf, Montgomery.“
Aber Monty schüttelte widerspenstig den Kopf und nuschelte etwas Ablehnendes.
„Einer von uns beiden muss aufgeben“, fuhr sie fort. „Das weißt du doch. Wir können nicht beide gewinnen.“
Daraufhin sagte niemand etwas, und sie lagen so lange regungslos und schwer atmend nebeneinander, dass die Zuschauer sich an den grotesken Verletzungen allmählich satt gesehen hatten und begannen, unruhig zu werden. Zunächst forderten sie die beiden bloß mit deutlichen Worten zu einer Entscheidung auf, aber bald gingen sie dazu über, die Versehrten mit Stöcken zu piksen und mit dem Fuß anzustupsen. Schließlich fasste sich Hanna ein Herz und sagte zu Monty: „Weißt du was? Wir können zwar nicht beide gewinnen, aber verlieren können wir beide. Wir geben auf und verlieren gemeinsam. Was sagst du?“
Monty sagte nichts, weil er nur noch nuscheln konnte, aber sein Nuscheln klang jetzt so zustimmend, dass sich die Leute damit zufrieden gaben und der Kampf kurzerhand zum ersten Kampf in der Geschichte des rüden Prügelns erklärt wurde, an dessen Ende es keinen Sieger gab. Manche beklagten sich darüber, dass der Abend auf diese Weise ein sehr langweiliges Ende genommen hatte, aber sie änderten ihre Meinung, als der erste Feuerball detonierte.

In dieser Nacht hatte Hanna zunächst das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben. Sie hatte aber schon häufiger festgestellt, dass sich nicht immer auf Anhieb die richtigen Schlüsse aus den Ereignissen ziehen ließen. Als sie ein Jahr später am Jahrestag des Kampfes an den Abend zurück dachte, da kam sie zu dem Schluss, dass ihre Idee goldrichtig gewesen war. Zwar hatte sie ihren Eltern nicht rechtzeitig ihren grässlich geschundenen Körper zeigen können, bevor die Wassermagier ihn wieder auf Vordermann gebracht hatten. Sie war auch nicht ganz zufrieden mit ihrem neu gewachsenen Arm, der ein bisschen schief an der Schulter hing und ab und zu etwas zwickte. Leider war auch Vatras diesmal nicht so nachsichtig gewesen wie gewohnt, sodass sie ihre Anstellung als Lehrerin eingebüßt hatte. Das alles verblasste jedoch gegen das schöne Gefühl, jemanden gefunden zu haben, den sie gerne heiraten wollte: In den Wochen nach dem Kampf hatte sie sich nämlich, nachdem sie Monty einmal von einer so völlig anderen Seite kennen gelernt hatte, allmählich in ihn verliebt. Sie wusste zwar nicht, wie er auf den Vorschlag reagieren würde, sie zu heiraten und fürchtete, dass dieses Unterfangen leicht zu einem noch schwierigeren geraten konnte als der gescheiterte Versuch, ihn umzubringen, aber sie tröstete sich damit, dass sie zumindest seinen Unterkiefer schon einmal in ihrem Besitz hatte. Der Rest würde folgen, da war sie guter Dinge. Noch am Jahrestag des Kampfes kaufte sie an einem Hafenstand zwei schöne Kupferringe und beschloss, Monty gleich am nächsten Morgen aufzusuchen, um ihre Verlobung vorzuschlagen. Sie würden natürlich nicht umgehend in ein gemeinsames Haus ziehen können, denn zusammen würden sie neun Kinder haben, und die wiederum würden nicht in ein einzelnes kleines Haus passen. Aber alles Weitere ergab sich bestimmt, und Monty würde es hoffentlich verstehen.
So dachte Hanna an diesem Abend, doch sie irrte. Denn es war der gleiche Abend, an dem das grüne Licht Khorinis vollends verschluckte, und an dem alle Kinder mitgenommen wurden und den Menschen der Hafenstadt nichts verblieb als eine Nachricht, welche die Wassermagier in den Sternen gelesen hatten. Es war eine Zeile auf Jharkendarisch: Die Totenwache ist vorüber. Und darunter die Zeile: Die Heilung hat begonnen.