Gut, dass du das so sagst. Da liegt meines Erachtens schon mal ein ganz dicker Brocken vor uns. Anders als andere bin ich jedoch nicht der Meinung, dass man den mit klassischer Bildung, wie sie heutzutage z.B. an Gymnasien vermittelt wird, gehoben bekäme. Im Gegenteil, die elitäre Blase hat uns damals ganz schön den Verstand vernebelt, und wenn ich mir junge Leute von heute ansehe, so gehen die vergleichsweise noch viel glatter durch die Institutionen, werden mit grünen Ohren Gymnasiallehrer oder höhere Verwaltungsangestellte, ohne auch nur einen blassen Schimmer davon mitbekommen zu haben, wie die Welt für andere Menschen tickt, die sich im gewerblichen Sektor bzw. in der freien Wirtschaft durchschlagen müssen. Für diese Generation an selbsternannten Weltbürgern ist alles ganz easy, sie blicken bemitleidend bis verachtend auf diejenigen herab, welche tagtäglich den Karren aus den Dreck ziehen müssen. Dabei gerieren sie sich noch als "linksliberal", was für eine Heuchelei.
Deren "Wahrheiten" haben mit der Lebenswirklichkeit vieler nichts mehr zu tun. Aber anstatt dem nun etwas Stichhaltiges entgegenzusetzen (es gäbe genug, aber dann würde man wie ein "Linker" argumentieren müssen, was bei manchen verpönt ist), ist es viel bequemer, anderen privilegierten Heuchlern nachzulaufen und deren Einstellungen und Ansichten zu übernehmen, obwohl diese Demagogen vom selben Zuschnitt wie die Angeprangerten sind, mit dem kleinen Unterschied, dass sie sich nur anders geben, um auf Stimmenfang zu gehen, indem sie der geballten Faust die Rechtfertigung anerkennen. Weswegen, wogegen oder wofür sie geballt ist, spielt dabei kaum eine Rolle.
Was erreicht man bei denen jetzt mit klassischer Bildung? Der Pessimist in mir sagt, dass sie dann einfach ebenfalls zu diesen neoliberalen, unempathischen und heuchlerischen Kosmopoliten werden, da sie auch nur eine Seite der Wirklichkeit gezeigt bekommen.
Das halte ich eben für ein ganz großes Problem unserer Bildungssysteme, das sie den Perspektivwechsel nicht vermitteln. Und je erfolgreicher du bist, desto mehr impliziert das, dass du die vorgegebenen Gleise nicht verlassen hast, sondern sie schneller als andere befahren hast und deswegen noch ahnungsloser als der vermeintliche Pöbel bist, da du dich meistens geradeaus fokussiert hast.
Ein Menschenleben hat auch nur Raum für soundsoviel Aufmerksamkeit, was natürlich individuell verschieden ist. Da kann man niemals genug erleben, um kompetent zu werden. Andersherum genügt auch kein soziales Jahr mit Hinternabwischen, um sich ein umfassendes Bild zu machen (wobei das schon mal gut wäre), da es auch nur einen schmalen und ohnehin schon in recht zutreffender Weise klischeebesetzten Teil der Wirklichkeit, welcher zudem institutionell abgesichert und flankiert ist, vermittelt.
Bis jemand Gesellschaft wirklich in Zusammenhängen denken kann, ist es also ein viel weiterer Weg, als nur mal irgendwo hineingeschnuppert zu haben. Natürlich ändert es nichts daran, dass dieses Hineinschnuppern trotzdem eine notwendige Voraussetzung für echte Bildung ist. Lebe mal ein anderes Leben als das, was du geplant hast, vielleicht für drei Jahre, gehe nochmal über Los und sammle dich erneut!
Ja, ich weiß nicht, wie wir das auch nur ansatzweise erreichen können. Die Schülerpraktika sind jedenfalls zu kurz, wobei Praktika gerade bei den Oberen innerhalb einer Blase arrangiert werden, z.B. in der Firma des Onkels oder so, was natürlich fast gar nichts bringt. Und selbst bei sozialer Arbeit bist du kein echter Kollege, sondern stets mit der Perspektive behaftet, bald wieder deine sicheren Gleise zu befahren.
So ganz ohne Maßnahmen zur echten Bildung überlassen wir es jedoch dem Zufall, wann und inwieweit jemand zu einem mündigen und urteilsfähigen Bürger wird. Also sollte auf diesem Gebiet etwas passieren. Es wäre schön, wenn die Schulen einen Beitrag leisten könnten, doch sehe ich das derzeit als kaum gewährleistet an. Es ist mitnichten so, dass jemand eine bessere Note im Geschichtsunterricht bekäme, indem er versucht, in Zusammenhängen zu denken. Im Gegenteil, wenn er dabei ein paar unwesentliche Jahreszahlen vergisst, gibt das Punktabzug. Wenn man diskutieren will, anstatt die platte Antwort zu geben, ist man unbequem, weshalb du nicht mehr drangenommen wirst und deine mündliche Leistung abgewertet wird. Jedenfalls ist das während meiner gymnasialen Zeit durchweg so gewesen und nicht nur in Geschichte. Das hohe Ideal der Bildung habe ich jedenfalls selten hervorblitzen sehen. Erst auf der Berufsschule änderte sich ein wenig daran, da man es auch mit Praktikern zu tun hatte, denn Praxis erzeugt Relevanz und belohnt dich, wenn du richtig liegst und straft dich Lügen, wenn deine Annahmen irrig sind.
Wo arbeiten heutzutage Menschen noch derart selbständig bzw. eigenverantwortlich, dass dieses Konzept, dass deine irrigen Annahmen durch die macht des Faktischen falsifiziert werden, durchschlägt, indem du morgen nicht weißt, wovon du leben sollst, wenn du falsch liegst?
Wo du Schienen befährst, die andere für dich verlegt haben? Wo du delegierst und anderen die Schuld gibst, wenn etwas nicht klappt? Im gesellschaftswissenschaftlichen Elfenbeinturm?
Also nicht. Aber ich weiß, wo es mit Sicherheit so ist, nämlich beim kleinen Handwerker, der noch selbst etwas zusammenklöppeln muss, dem sog. "ungebildeten Pöbel", welcher mit seinen Maschinen, Vorrichtungen, Geräten, wie auch immer, ständig die Empirie abklopft, denn wenn er sich irrt, funktioniert das nicht. Das ist also wissenschaftlicher als was viele andere betreiben, die sich ach so gebildet gerieren und gar nicht postfaktisch.
So, nun habe ich den Bildungsbegriff mal eben auf den Kopf gestellt. Und wie wir längst sehen, kann es zwar helfen, das Gymnasium zu besuchen, doch genügt es nicht, um Menschen urteilsfähig werden zu lassen. Deswegen wird auch so viel dummes Zeug in den Talk Shows geschwätzt und leider manchmal auch von Journalisten (obwohl einige gut sind). Wenn diejenigen, die es besser können müssten, nicht mehr in kausalen Zusammenhängen argumentieren (allenfalls in denjenigen, welche ihnen passen), dann legitimieren sie damit anderen ebenfalls ihre Realitätsverzerrungen. Unsere Gesellschaften sind seit Jahrzehnten postfaktisch. Du hast in gewöhnlichen Berufen nicht mehr Erfolg, wenn deine Version stimmt (sondern eher in altmodischen) und was du in der Schule gelernt hast, ist auch nur auswendiggelernt und geglaubt, anstatt dass es sich mal an der Realität hätte reiben müssen. Das heißt ja nicht, dass man Lügen lernt, sondern dass etwas ein ganz anderes Gewicht und eine andere Farbe bekommt, wenn es diesen Bewertungsfilter der Realität durchlaufen ist.