Seite 1 von 2 12 Letzte »
Ergebnis 1 bis 20 von 23
  1. #1 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Glutsplitter


    Ammon schürte die Glut. Das große Feuer musste brennen, Tag für Tag. Schwerer, schwarzer Qualm sickerte durch eine große Öffnung in der Höhlendecke hinaus in die klare Luft von Himmelsrand. Die gewaltige Rauchsäule war bis nach Falkenring hin sichtbar. So wusste der Jarl des südlich gelegenen Fürstentums, dass der Bergbau wie planmäßig ablief. Uhland Glutsplitter, Pächter und Namensgeber der Mine, ging dieser Pflicht bereits seit vielen Jahren nach. Das Eisenbergwerk war ein Familienbetrieb. Ammon Glutsplitter war Uhlands einziger Sohn und rechtmäßiger Erbe der Anlage. Sehr zum Leidwesen des alten Uhland, denn Ammon war alles andere als ein großartiger Bergmann. Für einen Nord war er zum Beispiel äußert klein gewachsen. Mit gerade einmal fünf Fuß Länge vom Scheitel bis zur Sohle war er kleiner als so mancher Halbwüchsiger. Und sogar viel kleiner als seine Schwester.
    „Das hat er von seiner Mutter“, pflegte der alte Uhland stets zu sagen. Ammon kannte seine Mutter nicht. Sie hatte sich das Rüttelfieber von seiner kleinen Schwester Toni eingefangen, da war Ammon kaum zwei Jahre alt.
    „Aber jetzt hat es sich ja ausgerüttelt“, fügte Uhland an, wenn er von den guten alten Zeiten berichtete und rieb sich mit der dicken Pranke eine Träne aus den Augen. Dann sah er sich seinen Sohn an, sein rotblondes Haar und die Sommersprossen. All dies hatte Ammon von seiner Mutter geerbt, aber gerade die kleinen roten Pünktchen waren unter den Nord eher etwas für die Frauen.
    „Die bekommen kleine Angsthasen“, wusste Uhland, „Sie bleiben am Körper, wenn man an chronischer Gänsehaut leidet.“
    Natürlich wusste Ammon es besser. Sein Spitznamen Angsthase Ammon haftete ihm jedoch genauso chronisch an wie die Sommersprossen in seinem Gesicht. Toni war in der Hinsicht äußerst kreativ. Sie kam ständig mit neuen Wortkreationen und ihr Einfallsreichtum war erstaunlich. Wenn sie ihn damit nur nicht immer durch den Honigmet ziehen würde.
    Ammon arbeitsscheu, Außenseiter-Ammon und Ammon, der Alphabet - weil Analphabeten die normaleren Nord sind - waren nur einige ihrer Kreationen. Aber ganz Unrecht hatte sie natürlich nicht. Er empfand nicht dieselbe Freude am Zerschlagen von Steinen wie sein Vater oder seine Schwester. Stattdessen grub er sein Gesicht gerne in alte Bücher, die er dann und wann erstanden hatte, wenn er mal in der Hauptstadt war, um einen Erzkonvoi zu begleiten. Und seit er dereinst mit dem Hofmagier Farengar von Weißlauf gesprochen hatte, war es ohnehin um ihn geschehen. Wenn er sich schon nicht körperlich oder verbal gegen andere wehren könnte, wieso denn nicht mit der Macht seines Geistes? Sein Vater war diesbezüglich äußerst skeptisch.
    „Es ist keine Schande, wenn man Bücher lesen kann“, hatte er einmal gesagt, „Wer sich mit Schrift und Arithmetik auskennt, kann ein guter Schatzmeister sein.“
    Uhland sah darin einen Profit für die Geschäfte mit der Mine, also durfte Ammon in seiner Freizeit Bücher lesen. Aber bloß keines über Hokuspokus. Glücklicherweise konnte sein alter Herr die Titel der Bücher selbst nicht lesen und so konnte Ammon seiner Leidenschaft zumindest im Stillen nachgehen und von einer Zukunft außerhalb der Mine träumen, wenn Vater doch nur einen anderen Erben für den Familienbetrieb fand.
    Möglich wäre das sogar. Dafür müsste sein Schwesterherz Toni nur heiraten. Doch das war leichter gesagt als getan. Die anderen Arbeiter in der Glutsplittermine waren hauptsächlich arme Knochen und Tagelöhner; niemand, der Toni das Wasser reichen konnte. Und sie kam ja auch nicht draußen in der Welt herum, um einen richtigen Abenteurer kennenzulernen. So blieb eben alles beim Alten. Ammon schürte das Feuer, Toni schlug das Erz und piesackte ihn dann und wann und Uhland stapfte schwerfällig durch die Kavernen und sinnierte von der guten alten Zeit.

    Doch es gab da noch jemanden in Ammons Leben, eine Rothwardone, die ihm vom ersten Tag ihrer Begegnung an den Kopf verdreht hatte. Senna von Hammerfell. Ammon war natürlich genauso wenig ein Frauenheld, wie Toni elegant war, doch er hatte die Gunst des Zufalls (oder war es die Gunst der Götter?) am Schopfe gepackt, als er ihr eines kühlen abends beim Holzfällen draußen vor der Mine über den Weg gerannt war. Gehüllt in Kerkerfetzen und völlig außer Atem von einer langen Hatz ahnte der junge Nordmann, dass sie womöglich aus den Gefängniszellen des nahegelegenen Ortes Helgen geflohen war. Als sie ihn das erste Mal erblickte, erschien Senna ihm wie eine verschreckte Katze. Wohl wissend, dass in Helgen ein äußerst dünnhäutiger Henkersmeister lebte, hatte Ammon sie besänftigt, ihr gut zugeredet und schließlich Schutz in der Mine angeboten.
    Seinem Vater Uhland hatten sie erzählt, dass Senna eine Arbeit bei ihnen suchte und mit einem halben Gehalt konnte sich der alte Nord an ihr eine tüchtige Hilfskraft erkaufen. Dass sich Ammon und Senna verliebten, schien er zwar nicht gut zu heißen, denn es gehörte sich nicht, Met und Schwarzbier zu vermischen, andererseits hatte er bereits befürchtet, dass Ammon eine einsame Jungfer blieb und er keinen Enkel mehr bekam. So konnte das Erbe der Glutsplitter-Familie am Ende womöglich doch noch gewahrt bleiben und unter all den Umständen war der bereits in die Jahre gekommene Uhland schließlich doch milde gestimmt.

    An einem verhängnisvollen Abend hatte sein Vater Ammon zum Wasserholen geschickt. Die Glutsplittermine besaß ihre ureigene Quelle, welche sich dank einem kleinen Wasserfall in der untersten Minenebene zu einem idyllischen See verwandelte. Der junge Nordmann fühlte sich ausgelaugt von den Strapazen des Tages und überlegte, ob noch Zeit für eine kurze Abkühlung war. Als er mit seinem schweren Metalleimer unten angekommen war, stellte er fest, dass er nicht der Einzige mit dieser Idee war. Seine Liebste Senna schwamm im tiefen Bereich des kleinen Sees, ihr Kopf schaute heraus, doch durch das glasklare Wasser hindurch konnte Ammon selbst bei dem wenigen Licht, das abends noch durch die Höhlendecke drang, die anmutigen Konturen ihres aufregenden Körpers erkennen. Ihr kurzes, schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, während sie zum Wasserfall herüber kraulte. Als sie sich darunter stellte und der Wasserstrahl ihren Körper umspielte, war es um Ammon geschehen. Seine Augen leuchteten auf, sein Mund war plötzlich völlig ausgetrocknet und der Eimer in seiner Rechten schwer wie Blei. Zum Glück war er noch in der Lage, ihn langsam abzusetzen. Hätte er ihn jetzt fallen gelassen, wüsste die ganze Mine Bescheid. Er entschied sich, noch einen Moment zu verweilen und sich an ihrem Antlitz zu ergötzen, ehe er sich zu ihr gesellte. Doch soweit sollte es nicht kommen. Sie waren nicht allein.

    „Ammon, der Anschmachter“, rief Toni den beiden vom Ufer aus zu. Sie erschraken gleichermaßen. Senna blickte finster zu ihr herüber, ohne sich schamvoll ins Wasser zurückzuziehen. Ammon kam sich gleich doppelt ertappt vor. Als hätte Senna die ganze Zeit gewusst, dass er sie beobachtet.
    „Was willst du hier, Toni?!“, rief Ammon seiner Schwester inzwischen genervt zu, „Merkst du nicht, dass du störst?“
    Toni amüsierte sich ganz köstlich an seiner Schmach. Sie wusste genau, wie furchtbar peinlich ihm eine Angelegenheit wie diese war und labte sich daran, als wäre es die größte Belohnung nach einem anstrengenden Tag.
    „Ich habe Hunger, was denkst du denn? Vater sagt, ich soll dir in den Arsch treten, wir brauchen das Wasser zum Kochen.“
    „Wie wär’s mal mit Fasten, Schwesterherz?“
    „Das sind alles Muskeln“, sie spannte ihren vor Schweiß glänzenden Oberkörper an, „Etwas, was dir nie gewachsen ist.“
    „Jaja, du bist der Mann in unserer Familie. Wird Zeit, dass du dir einen Bart wachsen lässt.“
    Senna hatte sich inzwischen wieder angezogen und ging zwischen die beiden Zankäpfel.
    „Da hast du deinen Eimer“, rief sie und drückte Toni das schwere Gefäß in die Hand. Die beiden Frauen schenkten sich herausfordernde Blicke. Die Rothwardone war sogar noch ein wenig kleiner als Ammon und gegen eine Hünin wie Toni fehlte ihr mehr als ein Kopf.
    Genug, um sie während dieser angespannten Szene vor dem Pfeil zu bewahren, der nur haaresbreit an ihr vorbeiging und sich stattdessen in Tonis Schulter bohrte.

    Ammon blickte entsetzt in Richtung des Schützen. Von oben herab kamen mehrere grobschlächtige Männer, die in Felle und Lederrüstungen gekleidet waren. Ihre Köpfe waren von dunklen Kapuzen bedeckt und zwei von ihnen zielten mit Langbögen auf Ammon und die beiden Frauen. Ein eiskalter Schauer überkam den jungen Bergmann, wie Tropfsteinwasser, das seinen Nacken hinabrann. Instinktiv schob er sich selbst schützend vor Senna, in diesem Moment blendete er alle anderen Gedanken und Sorgen aus.
    „Die Flossen hoch und keine falsche Bewegung. Ihr seid jetzt unsere Gefangenen!“
    Die zähe Toni knirschte vor Schmerzen und hielt sich ihre blutdurchtränkte Schulter.
    „Vollidiot! Wie soll das bitte gehen, wenn ihr mir den Arm halb abschießt?!“
    Die Banditen blickten einander an, vermutlich verunsichert von der Aufmüpfigkeit der hünenhaften Nordländerin. Einer von ihnen trat hervor und warf die Kapuze zurück. Er offenbarte ein fürchterlich vernarbtes Gesicht, als hätte man seinen Kopf in die Glut des Höhlenfeuers gedrückt.
    „Cass“, herrschte er einen seiner Kumpane mit einer tiefen Reibeisenstimme an, „Leg sie in Ketten! Die Mine ist unser.“
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.11.2021 um 21:30 Uhr)
  2. #2 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Steckbriefe

    „Junges Frollein, nimm sofort die Finger von dem Schwert!“

    Alvor packte seine Tochter Dorthe am Ohrläppchen und zerrte sie unsanft aus der Reichweite des Schleifsteins. Vor Schmerz und Überraschung schreiend, ließ die Jugendliche die Waffe fallen und begann wie wild um sich zu schlagen. Der Schmied ließ sie los, nur um sie im nächsten Moment an der Schulter zu packen und ihr mahnend seinen vernarbten Finger vor die Nase zu halten.
    „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du noch nicht alt genug für die Arbeit an scharfen Waffen bist?!“
    „Aber Papa!“, protestierte sie und entwand sich mit einer schnellen Drehung seinem Griff, „Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“
    Dorthe war zwölf, auch wenn ihre Statur der einer Zehnjährigen glich. Ihr Körper vollzog den Wandel zur Frau noch nicht, ihr Gemüt aber schon. Alvor hatte sich noch nicht an diese Zickereien gewohnt. Er lebte noch in der Zeit, in der er sein kleines Mädchen mit einer selbstgeschnitzten Puppe beeindrucken konnte. Aber diese Epoche ihres Lebens neigte sich Stück für Stück dem Ende entgegen und das machte dem alten Nordmann Angst. Irgendwann würde sie sich mit Burschen treffen oder selbst in die Welt hinausziehen. Flusswald war ein Dorf für Landliebhaber und alte Veteranen, nichts für die Jugend. Alvor liebte sein Leben in dieser ländlichen Idylle mit seinem Weib Sigrid und Tochter Dorthe. Er hatte alles, was er wollte. Morgens heizte er den Schmiedeofen vor, mittags besserte er die Lederrüstungen der Jäger aus, nachmittags arbeitete er am Amboss und abends erwartete ihn seine Frau mit einem Topf selbstgekochtem Rindergulasch nach Familientradition. Was konnte sich ein alter Nord denn mehr wünschen? Wieso musste sich früher oder später alles ändern?

    „Mit so einer Klinge kannst du dir ganz schnell die Hand abhacken“, erklärte Alvor und hob die Waffe auf. Kein einfaches Eisenschwert wie es die Rekruten zum Beginn ihrer Ausbildung bekamen, sondern ein doppelschneidiges Langschwert aus echtem Himmelsschmieden-Stahl.
    „Hui. Das ist ja eine hervorragende Waffe. Wo hast du die überhaupt her?“
    „Na von Vetter Hadvar“, antwortete Dorthe und verschränkte die Arme, „Er ist vorhin hier vorbei geritten, als du ein Nickerchen gemacht hast.“
    „Was? Und warum erfahre ich erst jetzt davon? Wohin war er denn unterwegs?“
    „Das könnte ich dir sagen“, sie grinste breit, „Aber dafür lässt du mich sein Schwert schärfen!“
    Alvor staunte nicht schlecht darüber, wie kess seine kleine Dorthe ihn zu erpressen versuchte. Mit einer Hand strich sie sich das kastanienbraune Haar zurück, die andere streckte sie nach der Waffe aus. Der Schmied grinste ebenfalls und steckte das Schwert dann selbst ein.
    „Kommt nicht in Frage. Ich finde Hadvar auch alleine“, an einem Pfahl vor der Schmiede erblickte er Möhre, Hadvars Ross, „Kümmere du dich um Möhre.“
    „Aber Papa! Ich wollte ihm eine Freude machen. Er kommt uns so selten besuchen!“
    Alvor strich sich nachdenklich durch den wuscheligen Vollbart.
    „Wenn du brav bist, können wir nachher zusammen neue Hufeisen für sein Pferd schmieden.“
    Er streichelte erst seiner Tochter, dann dem weißbraun gefleckten Rössel über den Kopf und machte sich schließlich auf den Weg. So wie er seinen Neffen kannte, würde er ihn in der örtlichen Kneipe „Zum Schlafenden Riesen“ auffinden. Orgnars hausgemachter Honigmet lockte schließlich jeden Durchreisenden in den Gasthof.

    Tatsächlich erblickte Alvor seinen Neffen nicht unweit des Gasthauses am schwarzen Brett, wo er gerade Steckbriefe aushängte. Hadvar war Soldat bei der kaiserlichen Garde in der nahegelegenen Bergstadt Helgen, der Grenzfestung zwischen Himmelsrand und dem Kaiserreich Cyrodiil. Vor fünfundzwanzig Jahren war Alvors Bruder aus dem Großen Krieg zurückgekehrt, an seiner Seite eine schwangere Kaiserliche, die später seine Schwägerin werden sollte. Entgegen vieler anderer Nord, die eine gewisse Abneigung gegen das Kaiserreich und ihre Politik in Himmelsrand hegten, war Alvors Familie aufgeschlossen gegenüber dem Fortschritt, den die zivilisierten Südländer brachten. Heutzutage kamen mehr Reisende durch Flusswald und damit auch mehr Besucher in seine Schmiede. Und das ganze gute Essen, das jetzt importiert wurde…
    „Hadvar, die Neun zum Gruße!“
    „Onkel Alvor!“
    Der junge Soldat wandte sich um und sogleich erstrahlten seine Augen. Er schien seine Etikette völlig zu vergessen und umarmte seinen Onkel glücklich. Der erwiderte den herzlichen Gruß, klatschte seinem Neffen aber auch kräftig gegen die Schulter.
    „Wieso hast du mich denn nicht geweckt, wenn du schon mal hier bist? Hast du es so eilig?“
    „Entschuldig. Ich dachte mir, schlafende Trolle soll man nicht wecken.“
    „Trolle? Ich werd‘ dir helfen!“
    Sie lachten herzhaft und tauschten noch weitere alte Floskeln aus. Hadvar hatte denselben Humor wie sein Vater. Zwar war Alvors Bruder vor ein paar Jahren verstorben, aber das hatte der Familienbande nicht geschadet. Im Gegenteil, für Alvor war Hadvar der Sohn, den er selbst nie hatte. Mit seiner Frau Sigrid hatte Alvor unzählige Anläufe gebraucht, ehe sie Tochter Dorthe zur Welt bringen konnten. Und mehr als dieses eine Kind schienen ihnen die Götter nun mal nicht zuzugestehen. Eine kleine Familie, aber alles, wovon Alvor je geträumt hatte.

    „Und sonst?“, fragte der Schmied, „Du verteilst Steckbriefe? Ist was passiert?“
    „Nun ja…“, er deutete auf das schwarze Brett. Drei Zettel hatte er hingehangen. Drei Gesichter gesuchter Verbrecher, zwei Männer und eine Frau. Der erste Mann war nur schemenhaft gezeichnet. Die Hälfte seines Gesichtes war von einer Kapuze bedeckt, die andere Hälfte von schweren Brandnarben.
    „Vega, der Verbrannte. Anführer der Schwarzfeuerbande, einer gefährlichen Verbrecherorganisation aus Falkenring“, erzählte Hadvar, „Er war früher Offizier gewesen, unter General Tullius, aber angeblich waren seine Ansichten zu… radikal. Er hat seinen Hass gegenüber den Hochelfen offen ausgelebt, hat sich ihren Befehlen widersetzt und angeblich auch einen von ihnen ermordet. Weil man ihm das aber nicht eindeutig nachweisen konnte, wurde er lediglich gebrandmarkt und aus dem Dienst entlassen. Viele Männer seiner Kompanie mit ähnlichen Ansichten sind ihm gefolgt und ziehen jetzt plündernd und brandschatzend durch Himmelsrand. Einen seiner Männer kennen wir auch namentlich.“
    Hadvar deutete auf das zweite Bild. Ein Mann um die dreißig mit schulterlangen Haaren, kantigem Gesicht und einem Bart, der seinen Mund umrahmte und zum Kinn hin spitz zulief. Seine auffälligste Eigenschaft konnte man auf dieser Zeichnung jedoch gar nicht erkennen.
    „Das ist Cass, ein absoluter Hüne. So einen großen Kerl hast du noch nicht gesehen.“
    Alvors Neffe reckte seine Hand so hoch wie er konnte.
    „Er wurde angeblich von einem der Jäger in der Nähe des Halses der Welt gesichtet. Wo er ist, ist Vega nicht weit. Die Wache von Helgen wird jetzt häufiger Eskorten für die Bauern und Händler der Umgebung stellen.“
    Der Schmied brummte verunsichert. Das klang alles sehr beunruhigend. Hoffentlich würde es nicht zu Lieferengpässen kommen.
    „Und sie?“, Alvor klopfte mit dem Finger auf das dritte Bild, „Gehört sie auch zur Schwarzfeuerbande?“
    Der Steckbrief zeigte eine dunkelhäutige Frau mit kurzem, ungestümen Haar und feinen Gesichtszügen. Eine Rothwardonin. Die sah man hierzulande nicht sehr oft.
    „Mh… nein. Das ist Senna, eine Einbrecherin. Oder besser gesagt Ausbrecherin“, Hadvar wich dem fragenden Blick seines Onkels aus, „Naja, sie ist irgendwie aus den Kerkern von Helgen geflohen. Während meiner Schicht. Ich habe keine Ahnung, wie sie das geschafft hat, aber ich will sie wieder einfangen."
    „Da scheinst du dir ja eine Menge vorgenommen zu haben“, fasste Alvor zusammen, „Aber hier habe ich noch keinen der drei durchreisen sehen.“
    „Das ist doch gut. Ich denke auch nicht, dass sie sich ins Dorf trauen, aber vorsichtshalber sollten wir auch hier einen kleinen Trupp Soldaten stationieren. Sicher ist sicher.“
    Alvor winkte seinen Neffen in Richtung seines Hauses.
    „Willst du nicht noch zum Abendessen bleiben und uns etwas von deiner Verbrecherjagd erzählen? Dorthe würde sich bestimmt riesig freuen.“

    Hadvar lächelte: „Nur, wenn es keine Umstände macht. Ich will nicht, dass du meinetwegen auf Diät gesetzt wirst.“
    Er klopfte sich auf den flachen Bauch und Alvor wusste, dass das eine Anspielung auf seine etwas stattlichere Figur war.
    „Wart’s ab!“, konterte der Schmied, „Wenn du erstmal in mein Alter kommst, dann…“
    Er kniff die Augen zusammen und starrte zu den Bergen empor. Da blieb ihm der Satz im Halse stecken.
    „Dann…?“, hakte Hadvar nach und machte eine kreisende Geste mit der Hand. Der Schmied deutete zu den Gipfeln der westlich gelegenen Bergkette.
    „Siehst du das?“, fragte Alvor, „Kein Rauch.“
    „Kein Rauch?“
    „Die Glutsplittermine. Normalerweise steigt dort über den Bergen jederzeit Rauch empor.“
    „Ach so? Hm…“, Hadvar blickte sich um und zuckte schließlich mit den Schultern, „Vielleicht haben sie heute kein Feuer gemacht. Es war ja auch ein ziemlich warmer Tag.“
    „Ja… vielleicht.“

    Aber innerlich schüttelte Alvor den Kopf. Wenn das Feuer der Mine erlosch, dann lag Ärger in der Luft. Das wusste er.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.02.2017 um 23:06 Uhr)
  3. #3 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Ein frischer Wind

    Cass war ein guter Handwerker. Er wusste, wie man mit einer Zange umging, wie man rostige Nägel aus einem Zaun zog. Doch es machte einen gewissen Unterschied, ob man mit toten oder lebenden Dingen arbeitete. Der Pfeil in Tonis Schulter ließ sich nicht so einfach herausziehen, das lag aber auch daran, dass sich die Gefangene wie eine tobsüchtige Furie verhielt. Sie war zwar an Händen und Füßen gekettet, doch das schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen. Cass kam langsam ins Grübeln darüber, ob sie wohl die Fesseln zu sprengen vermochte. Wenn das passierte, wollte er nicht in ihrer Nähe sein.
    „Halt endlich still, du Tollkirsche“, bat er sie, „Ich will dir helfen.“
    „Du willst mir helfen? Dann öffne die Ketten, damit ich mir diesen Pfeil eigenhändig aus der Schulter ziehen kann. Ist ja nicht zu ertragen, wie lange du herumtrödelst.“
    „Dann entzündet sich die Wunde und du stirbst“, erwiderte er kühl und knipste das hintere Ende des Pfeils ab. Das Geschoss hatte die Schulter der Hünin durchbohrt und war dann im Fleisch steckengeblieben. Tiefrotes Blut zierte Tonis Oberkörper. Da sie so viel herumstrampelte, hatte sie sich von oben bis unten besudelt.
    „So ein Kuhmist! Du könntest es auch einfach zu Ende bringen. Dort liegt ein Messer, hier ist meine Kehle. Worauf wartest du noch?!“
    Der Hüne blickte hinüber auf die Werkbank, wo er seinen stählernen Dolch in das Holz gerammt hatte. Er zuckte mit den Schultern, legte die Zange beiseite und griff nach der Waffe.
    „Na also. Du bist ja doch nicht so blöd, wie du aussiehst!“
    Cass schnaubte auf. So ein Weibsbild hatte er ja noch nie erlebt. Die Straßenhuren von Falkenring rissen sich gegenseitig die Haare aus, um ein Stück vom größten Nord von Himmelsrand zu kriegen, doch diese hier schien überhaupt nicht auf ihn anzuspringen. Irgendwie gefiel ihm das. Er nahm sich einen Apfel und halbierte ihn mit dem Dolch. Die eine Hälfte aß er selbst, die andere streckte er Toni hin.
    „Ich hab mich geirrt. Du bist genauso ein Milchtrinker wie mein Bruder Ammon. Ich werde mich bestimmt nicht füttern lassen!“
    Er schmunzelte wieder nur und legte den Apfel in die Nähe der Ketten. Sie würde ihn um Haaresbreite nicht erreichen, selbst wenn sie es wollte.
    „Wir lassen euch nur am Leben, weil wir euch brauchen. Ihr werdet für uns in der Mine arbeiten.“
    Schon im großen Krieg war die Glutsplittermine ein Arbeitslager für die Waffenproduktion von Helgen gewesen. Daher besaß sie auch eine Menge Zellen, in die Cass und die anderen alle Gefangenen vorläufig hereingeworfen hatten. Damit hatte ihr Anführer Vega wieder einmal einen Geniestreich vollzogen. Nun hatten sie nicht nur ein Versteck, das groß genug für ihre zwölfköpfige Bande war, sondern auch Gefangene, die für sie die Drecksarbeit erledigten. Von hier aus konnten sie perfekt operieren und die Handelsstraßen zwischen Helgen, Falkenring und Flusswald terrorisieren.
    „Warum habt ihr dann auf uns geschossen, wenn ihr uns doch lebend braucht?“, fragte Toni.
    „Dich wollte ich ja gar nicht treffen...“, versuchte er sich zu entschuldigen und fuhr ihr mit seinen großen, dreckigen Fingern durchs Haar. Rothaarige waren ihm die liebsten, vor allem wenn sie wild waren...
    „Cass!“, ein Kumpane klopfte gegen die Zellengitter, „Der Boss will dich sprechen.“
    „Jaja“, raunte er zurück und wandte sich dann noch einmal kurz an Toni, „Wenn du brav bist, werde ich dir beim nächsten Mal die Ketten abnehmen.“
    „Nur zu“, gab sie mit einem Grinsen zurück, „Ich würde zu gern mal in den größten Arsch von Himmelsrand treten.“

    Vega der Verbrannte erwartete Cass vor dem Eingang der Höhle. Stocksteif stand er da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Augen auf den Abhang gerichtet, der zur Straße hinunter führte, zur einzigen Handelsroute zwischen dem nahen Örtchen Flusswald und den Städten Helgen und Falkenring. Wahrscheinlich plante er in Gedanken bereits die ersten glorreichen Beutezüge.
    „Du solltest Dich entspannen Boss“, rief Cass ihm zu. Auf dem Weg hatte der Hüne eine Flasche Schwarzdornmet aus den Lagerräumen der Bergleute mitgehen lassen. Er nahm einen großen Schluck und hielt die Flasche Vega hin.
    „Nimm einen Schluck, mir ist nicht wohl dabei, dich immer nur in Hab-Acht-Stellung zu sehen. Der Überfall war ein voller Erfolg. Das sollten wir feiern!“
    „Trunkenheit, Kurzsichtigkeit, Lethargie. Das kann nur meine rechte Hand Cass sein.“
    Endlich wandte Vega sich ihm zu. Sein Blick war unergründlich, seine Mimik verborgen hinter einer Maske aus Brandblasen. Er nahm Cass die Flasche ab und goss sie über einem Strauch violetter Bergblumen aus. Schade drum, dachte der Hüne und hoffte, dass das Gestrüpp davon einging.
    „Jeder Schluck davon ist wie ein Pfeil auf deinen Körper. Und so groß wie du bist, gibst du eine gute Zielscheibe ab.“
    Cass verdrehte die Augen. Er hatte großen Respekt für seinen Boss, aber seine nüchterne, gefühllose Art bereitete ihm Unbehagen.
    „Du hast nach mir gerufen“, sagte Cass in der Hoffnung, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
    „Sonst wärst du ja wohl kaum aus dem Bierkeller rausgekommen“, Vega blickte zum Himmel empor. Es dämmerte bereits, bald wird es dunkel sein.
    „Du musst dafür sorgen, dass die Bande ihren Pflichten nachkommt. Ich möchte Wachen und Fallen hier am Eingang aufgestellt haben. Falls wir nämlich irgendeinen der dreckigen Bergmänner nicht erwischt haben, rennt der vielleicht geradewegs nach Helgen und mobilisiert die Stadtwache. Wir sollten auf alles gefasst sein.“
    „Geht klar.“
    „Zweitens“, setzte Vega unbeirrt fort, „Sorge dafür, dass das Schmiedefeuer wieder brennt. Sonst merken die Jarl noch, dass etwas nicht stimmt.“
    „Werden sie das nicht ohnehin, wenn der Nachschub erst einmal ausfällt?“, fragte Cass.
    „Wenn die Rauchsäule verschwindet, weiß jedermann sofort, dass in der Mine etwas nicht stimmt. Aber Konvois können wir auch auf anderen Wegen überfallen. Außerdem vergisst du, dass wir gewisse Handelsbeziehungen bestehen lassen werden. Zu neuen Konditionen versteht sich.“
    „Aha“, Cass verstand es nicht, er nickte aber zuversichtlich.
    „Aber das Wichtigste von allem ist jetzt, dass du die Gefangenen zusammentrommelst, damit wir ein Exempel statuieren können“, ein Lächeln breitete sich auf den schmalen Lippen des Verbrannten aus, „Wir werden die Rothwardonin hinrichten.“
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.02.2017 um 23:06 Uhr)
  4. #4 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Fesselspiele

    Ein beißender Schmerz durchfuhr Sennas Handgelenke. Die rauen Stricke, mit denen man ihr die Hände verbunden hatte, saßen viel zu straff. Ihre Finger waren bereits bleich und kribbelten wegen der geschwächten Durchblutung. Die Banditen schienen genau zu wissen, dass sie es mit einer Ausbruchskünstlerin zu tun hatten, die selbst durch stählerne Ketten nicht aufzuhalten war. Ihr Dietrich kribbelte verlockend unter ihrer Fußsohle, doch der half ihr nicht bei diesem Bosmerknoten. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und den dreckigen Strick zu zerkauen.
    „Nicht, Senna. Das… das bringt doch nichts. Außer Mundfäule vielleicht. Die Seile nehmen wir für die Flaschenzüge. Damit werden Kisten voller Erz angehoben. Die kriegst du nie durchgebissen.“
    Ammon saß ihr gegenüber, die Hände ausgestreckt und in rostigen Ketten hängend. Senna hatte gedacht, dass er noch ohnmächtig war. Denn genau das war geschehen, als die Banditen sie fesseln wollten. Senna wusste nicht, ob es eher an dem Pfeil lag, der ihm auf die Brust gerichtet worden war oder eher an der blutigen Wunde, die seine Schwester erlitten hatte. Doch als es hieß, er solle die Hände heben, sackte Ammons ganzer schmächtiger Körper in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Also hatte der hünenhafte Angreifer ihn nicht gefesselt, sondern über die Schulter geworfen und erst in der Zelle festgeschnallt.
    „Du bist ja wach“, sagte die Rothwardonin, „Alles in Ordnung? Ich hab mir Sorgen gemacht. Du…“
    Sie kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf zur Seite, um besser sehen zu können.
    „Was denn?“, fragte Ammon beunruhig.
    „Nix, du… du hast da noch etwas Blut an der Backe.“
    „Bah, igitt! Das ist von Toni“, rief er aus und begann, heftig an den Ketten zu klappern. Seine Mühen, sich mit ausgestreckten Armen die Wange abzuwischen, waren von wenig Erfolg gekrönt. Alles, was er erreichte, war die Aufmerksamkeit einer Wache zu erregen.
    Eine schlanke Frau mit langem, rabenschwarzem Haar, bleicher Haut und schmalen, finsteren Augen schritt vor der Zelle entlang. Vielleicht war sie wunderschön, das konnte man nicht mit Gewissheit sagen, denn Nase und Mund versteckte sie unter einem dunklen Halstuch. Aus ihrem etwas zu lang geschnittenen Ärmel schnellte ein Dolch, den sie langsam an den Stangen des Zellengitters entlangbewegte.

    KLACK-KLACK-KLACK

    Die Botschaft war eindeutig. Zügelt eure Zungen oder sie werden euch herausgeschnitten. Senna und Ammon tauschten verunsicherte Blicke aus. Diese Frau war gruselig; die Tatsache, dass sie nichts sagte, sondern sie nur mit ihren eisigen Blicken durchbohrte, ebenso.
    Plötzlich drang eine tiefe Männerstimme durch die Kavernen: „Hey Lucille! Kannst du mir verraten, wo unser großes Beil geblieben ist?“
    Die Vermummte schien zu lächeln, deutete noch einmal mit ihrer Dolchspitze in Richtung der Rothwardonin und wandte sich dann von der Zelle ab. Senna atmete noch ein-zweimal tief durch, dann versuchte sie aufzustehen. Gar nicht mal so einfach, wenn nicht nur die Hände, sondern auch die Füße fest verschnürt waren.
    „Was hast du vor?“, flüsterte Ammon ihr zu.
    „Na was wohl? Uns hier rausholen. Mit diesen Gestalten ist nicht zu spaßen. Die gehören zur Schwarzfeuerbande, einer der gefährlichsten Verbrecherorganisationen südlich von Weißlauf.“
    „Woher willst du das wissen? Kennst du sie etwa?“
    „Nein“, erwiderte Senna knapp, „Aber im Kerker schnappt man so einiges auf.“
    Ammon wusste, dass seine Liebste keine Heilige war. Aber er hatte nie danach gefragt, warum sie überhaupt auf der Flucht war. Die Wachen der verschiedenen Fürstentümer sind nicht dafür bekannt, sich über gesuchte Verbrecher auszutauschen, zumindest nicht über kleine Fische. So wollte es der junge Bergmann auch handhaben.
    „Hier in der Mine wirst du nur verurteilt, wenn du ein Verbrechen an unserer Familie begehst“, hatte Ammon ihr versprochen. Später, als sie seinem Vater Uhland vorgestellt wurde, drehte er die Worte etwas herum und tauschte ein paar von ihnen aus, bis es hieß: „Wenn du für einen halben Gehalt arbeitest, darfst du hier bleiben und wir verpfeifen dich nicht.“
    Der junge Bergmann hatte nicht den leisesten Schimmer, wer ihr da wirklich zugelaufen war.

    Senna war es gelungen, sich aufzurichten und an der kalten Felswand zu lehnen. Ammons Blick wechselte zwischen ihr und der Kerkertür hin und her, aber bislang war niemand zurückgekehrt. Noch immer juckte der Dietrich in Sennas Schuh und nur damit hätten sie eine Chance, hier herauszukommen. Die junge Rothwardonin machte einen beidbeinigen Sprung in Richtung ihres Freundes und landete nur eine Handbreit von ihm entfernt. Für einen Moment waren sie sich so nah, dass sie sich hätten küssen können, doch die verzwickte Situation, in der sie sich befanden, verlangte andere Prioritäten von ihnen. Stattdessen ließ sie sich auf ihr Hinterteil plumpsen und reckte Ammon die Schuhe entgegen.
    „Zieh sie mir aus“, verlangte sie und ehe er fragen konnte, ergänzte sie flüsternd, „Ich habe einen Dietrich im Schuh. Damit befreie ich dich aus deinen Ketten und du befreist mich dann aus den Fesseln.“
    „Netter Plan, aber mit einem kleinen Haken“, Ammon klapperte mit den Händen, „Ich komm doch gar nicht an deine Schuhe ran!“
    „Du musst nur reinbeißen, den Rest schaff ich selbst.“
    Seine Augen weiteten sich vor Unglauben. Ja, sie meinte das ernst und sie drückte ihm den Schuh bereits so nah ans Gesicht, dass er nur noch den Mund öffnen müsste.
    Doch statt den Mund zu öffnen, begannen Ammons Augen plötzlich weiß zu leuchten. Er biss die Zähne zusammen und murmelte eine seltsame Formel und im nächsten Moment löste sich die Fessel an ihren Füßen, als hätte sie jemand mit den Händen entwirrt. Senna musste sich selbst ein erstauntes Quieken unterdrücken. Als der Zauber vorüber war, sackte Ammon erschöpft in sich zusammen. Die Rothwardonin konnte es kaum glauben. Sie wusste zwar, dass er gelegentlich mal eines dieser Bücher des Hofmagiers gelesen hatte, doch sie hatte ihn noch nie echte Magie anwenden sehen, geschweige denn es ihm überhaupt zugetraut. Es schien so, als wäre sie nicht die Einzige, die Geheimnisse hatte.
    Doch Ammon schien geschwächt. Es sah nicht so aus, als könnte er die nötige magische Kraft erneut aufbringen, um auch die Fesseln an ihren Händen zu lösen. Doch das war auch gar nicht nötig. Mit der gewonnenen Bewegungsfreiheit konnte sie sich die Schuhe auch selbst abstreifen, den Dietrich auflesen und damit Ammon befreien. Im Anschluss konnte er sie von ihren Handfesseln befreien. Die Zellentür selbst war letztendlich das kleinste Hindernis…

    Kurz darauf schlichen sie durch die finsteren Höhlengänge in Richtung der großen Hauptkaverne, in der sich der Wasserfall und die Schmiede befanden. Den Haupteingang konnten sie nicht nehmen, denn den sicherte gerade ein Großteil der Banditen gegen potentielle Eindringlinge. Außerdem wussten sie vermutlich nicht, dass es noch einen zweiten, geheimen Ausgang aus dem Höhlensystem gab. Ammon kannte sich hier natürlich schon viel besser aus als irgendein Bandit und auch besser als Senna. Er gab die Richtung vor, während sie sich um die Sicherheit kümmerte.
    Als erstes erreichten die beiden eine Lagerkammer. Senna drückte ihrem Liebsten einen großen Sack in die Hand und befahl ihm, diesen aufzuhalten, während sie den Proviant hereinwarf. Ein paar warme Klamotten waren genauso nötig, wie eine kräftige Stärkung und eine geeignete Waffe, um draußen in der Wildnis zu überleben.
    „Habt ihr hier auch irgendwo eine Waffenkammer?“, fragte Senna ungeduldig.
    Doch Ammon schien gar nicht zuzuhören. Er war gedanklich ganz woanders.
    „Wir müssen Toni befreien. Und meinen Vater und die anderen Arbeiter…“
    „Ammon!“, zischte sie.
    „Ich meine, Toni ist zwar nicht gerade eine Traumschwester, aber irgendwie wäre es schon fies, sie diesen Wilden zu überlassen, findest du nicht auch?“
    Doch statt ihm zu antworten, packte Senna ihren Freund, warf ihn zu Boden und hielt ihm den Mund zu. Sie hatte Schritte gehört, sie kamen immer näher. Zwei Personen.
    „Geh du in Richtung Schmiede, ich schau mich hier im Lager um. Wenn der Boss merkt, dass die beiden fort sind, können wir unseren Kopf gleich selbst ins Schmiedefeuer legen.“
    „Oh ihr Götter“, japste Ammon, „Sie haben’s bemerkt. Jetzt kriegen sie uns ganz bestimmt…“
    „Nicht wenn du mir sagst, wo ich hier eine verdammte Waffe finden kann!“
    „In einer Kiste da hinten sind ein paar Werkzeuge.“


    Als der kahle Wratch in der Lagerhalle tatsächlich die entflohene Rothwardonin erblickte, konnte er sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.
    „Scheiße noch eins“, gluckste er, „Heute ist mein Glückstag. Vega wird erfreut sein, wenn er hört, dass ich seine Schäfchen zurück in die Koppel gebracht habe.“
    Er war mit einer schweren Eisenkeule bewaffnet, die sein grobschlächtiges Äußeres perfekt abrundete.
    ‚Nicht sonderlich wendig‘, schätzte Senna ihn ein, aber wenn ein Schlag saß, dann würde er ihr den Schädel spalten, so viel stand fest.
    „Hey mein Großer. Alles ist gut. Siehst du? Ich ergebe mich. Keine Tricks.“
    „Das will ich dir auch geraten haben. Und jetzt sag mir, wo der kleine Milchtrinker ist, der vorhin ohnmächtig geworden ist.“
    Sie blickte sich verunsichert um.
    „Wenn ich dir das sage, lässt du ihn dann am Leben?“
    Wratch lachte dreckig: „Ich werde ihn töten, wenn du es nicht tust. Und dich auch. Naja vielleicht schieben wir noch eine kleine Nummer, aber danach wärst du fällig.“
    Senna schluckte: „Er ist da hinten, bei der Werkzeugkiste.“
    Der bullige Bandit packte die federleichte Rothwardonin am Kragen und hob sie mit nur einer Hand an: „Keine Tricks. Du gehst vor!“

    Als sie die Kiste erreichten, war Ammon verschwunden. Bis auf ein paar wild herumliegende Schaufeln und Spitzhacken war keine Spur von ihm zu sehen.
    „Du hast mich verarscht, du dreckige Wüstenschlampe. Niemand verarscht mich!“
    Er wollte zu einem Schlag ausholen, da erwischte ihn im nächsten Augenblick das schwere Blatt eines Spatens direkt am Hinterkopf. Stöhnend ging er zu Boden. Ammon keuchte schwer und warf die Schaufel beiseite.
    „Und da sag noch einer…“, keuchte er, „Ich hätte keine Muskeln.“
    Senna grinste erleichtert. Ihre Taktik war erfolgreich. Sie hatte ehrlich daran gezweifelt, ob Ammon das hinbekam. Doch die Freude war nur von kurzer Dauer.
    „Du schlägst wie meine Mutter“, knurrte Wratch, „Und jetzt wirst du zu spüren bekommen, wie ich meine Mutter geschlagen habe!“
    Der Koloss bäumte sich auf und riss seinen Streitkolben in die Höhe. Ammon war vor Entsetzen wie gelähmt. Der Schlag hätte ihn gewiss erwischt wie die Keule eines Riesen, doch mehr als ausholen konnte Wratch nicht mehr. Im nächsten Augenblick war Senna an ihn herangesprungen, um ihm hinterrücks mit einem Dolch die Kehle aufzuschlitzen.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.02.2017 um 23:08 Uhr)
  5. #5 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Falke und Säbelzahn

    „Onkel, meine Hose rutscht!“

    Hadvar kam an diesem nebeltrüben Morgen mit zerzaustem Haar und locker sitzendem Unterteil in der Schmiede vorbei. Er hatte über Nacht viel von seinem elitären Aussehen eingebüßt, das ihn als Soldaten des Kaiserreichs sonst eher unnahbar erscheinen ließ. So jedenfalls würde er sicher nicht zum befehlshabenden Offizier nach Helgen zurückkehren können. Seinem Onkel Alvor war das klar, aber der erinnerte sich auch daran, wie Hadvar gestern über die angebliche Alterswampe des Schmieds gelästert hatte. Nach dem Abendessen waren die beiden Männer noch auf einen „Verdauungsspaziergang“ in den „Schlafenden Riesen“ gegangen. Bei einer verlorenen Trinkwette gegen den hiesigen Trunkenbold Embry saß Hadvars Mundwerk etwas lockerer und er klagte Onkel Alvor sein Leid, dass er sich in seinem Kettenhemd inzwischen wie ein Weibsbild im engen Korsett fühlte. Und verständnisvoll wie Alvor war, hatte er sich bereiterklärt, ihm das Hemd zu weiten. Da Hadvar jedoch den Schlaf der Nachtschwärmer schlief und Alvor die Maße seines Neffen nicht kannte, hatte er sich kurzerhand dessen Gürtel geschnappt und war schon seit kurz vor Sonnenaufgang in der Schmiede am Werkeln.
    „Bei den Acht, wie kannst du nur so fit sein?“, Hadvar griff sich seufzend an den Kopf, „Haben wir dasselbe getrunken?“
    Alvor lachte beherzt auf: „Wenn du erstmal Kinder hast, wirst du dich an kurze Nächte gewöhnen.“
    „Deine Tochter ist zwölf“, erwiderte Hadvar mit einem Stirnrunzeln, „Sie wird dich wohl kaum noch morgens kreischend aus dem Tiefschlaf reißen.“
    „Na gut“, lenkte der Schmied ein, „Ich hatte gestern ein langes Mittagsschläfchen. Das macht sich auch bezahlt.“
    Hadvar brummte verstehend und begann dann, die Schmiede zu durchstöbern. Dabei wühlte eine Hand durch die Lederreste, während die andere den Hosenbund oben hielt.
    „Deinen Gürtel hab ich über die Wäscheleine geworfen, falls du den suchst“, sagte Alvor beiläufig, während er mit zwei Zangen konzentriert damit beschäftigt war, eine neue Reihe von Kettenringen zu verbinden.
    „Wann hat Siggi den denn gewaschen? Sie hat mir doch gerade erst Frühstück gemacht.“
    Hadvar schnupperte kurz an dem Gürtel und verzog dann eine Miene.
    „Hat sie nicht. Ich hab ihn mir genommen. Ich brauchte die Maße, um dir dein Kettenhemd zu erweitern. “
    Der Soldat rümpfte die Nase und band sich dann seinen müffelnden Gürtel wieder um.
    „Ach ja… mh… danke“, murmelte Hadvar, „Dann mache ich mich erstmal etwas frisch.“
    Alvor sah ihm an, dass er etwas beschämt war und das Thema auf sich beruhen lassen wollte. Der Schmied würde ihn damit auch nicht aufziehen. Er war eher ein Mann der Taten, nicht der Worte. Nichts genoss er mehr, als die monotonen Klänge der Hammerschläge auf dem Amboss und den bleischweren Duft des Schmiedefeuers. Er war sowohl sprichwörtlich, als auch wortwörtlich seines eigenen Glückes Schmied.

    Nach einer weiteren Stunde Arbeit war Alvor mit der Ausbesserung des Kettenhemdes fertig. Stolz musterte er zum Abschluss noch einmal die Reihen auf Lücken und verdrehte Ringe, doch er war so gründlich wie immer gewesen. Zufrieden machte er sich auf die Suche nach seinem Neffen, den er hinterm Haus bei seinen Schwertübungen vorfand. Gekämmt und rasiert und fit wie ein Wanderstiefel.
    „Jetzt siehst du schon fast wieder respekteinflößend aus“, rief Alvor ihm zu und hob dabei das Kettenhemd hoch.
    „Schhht Papa, du bringst ihn ganz aus dem Konzept.“
    Alvor hatte gar nicht bemerkt, dass seine Tochter auch hier war. Sie kauerte unbequem auf der Treppenstufe vom Hintereingang des Hauses, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und gebannt das Training ihres Vettern beobachtend.
    „Schon gut, Falke. Dein Papa hat mir einen großen Dienst erwiesen. Jetzt lass uns doch mal sehen, ob mir das Hemd wieder etwas besser passt.“
    Dankend nahm Hadvar dem Schmied das Rüstzeug ab und probierte es gleich an. Das Kettenhemd saß ausgezeichnet.
    „Du siehst spitze aus, Säbelzahn!“, rief Dorthe begeistert. Hadvar drehte sich ein paar Mal, ließ die Arme kreisen und hob die Knie an, dann nickte er zufrieden.
    „Ja wirklich, viel besser. Meinen allerbesten Dank, Onkel!“
    „Nur ein kleines Detail fehlt noch...“
    Dorthe griff in ihre Hosentasche und holte ein ledernes, mit Muscheln besetztes Armband hervor. Das streifte sie ihrem Cousin über die Hand.
    „Hab ich selbst gemacht“, sagte Dorthe stolz und hob ihren eigenen Arm, „Jetzt haben wir beide eins. Das zeichnet unser Team aus. Säbelzahn und Falke.“
    Hadvar lief ob des Freundschaftsbändchens rot an. Das war schon ziemlich kitschig. Aber Alvor bemerkte das nicht, er war gedanklich noch ganz woanders: „Falke? Säbelzahn? Ich versteh nicht.“
    „Das sind unsere Tierseelen“, erklärte Dorthe altklug und verdrehte dabei die Augen, als wäre sie es bereits leid, so eine dumme Frage beantworten zu müssen, „Ich bin der Falke, weil ich so schlank und agil und aufmerksam bin. Und Hadvar ist wie ein Säbelzahntiger, stolz und charmant, aber auch flink und tödlich. Und manchmal ist er auch niedlich wie ein Kätzchen.“
    Der achtzehnjährige Hadvar zwinkerte seiner zwölfjährigen Base dreimal ungläubig zu, dann wandte er sich beschämt ab und sammelte seine Trainingswaffen ein.
    „Soso, und was ist meine Tierseele?“, fragte Alvor und stemmte die Fäuste in die Hufte, „Ein Bär, weil ich so kräftig bin?“
    „Horker“, sagte Hadvar beiläufig. Dorthe begann zu kichern.
    „Na wartet, euch werde ich helfen, mich mit einem fetten, faulen Walross zu vergleichen!“
    Er packte Dorthe am Latz und kniff sie liebevoll in die Wange. Seine Tochter lachte laut auf, schlug um sich und krähte: „Horker, Horker. Dicker, fetter Horker!“

    Die familiäre Idylle wurde von einem Waldelfen namens Faendal unterbrochen, dem besten Jäger Flusswalds und Alvors langjährigem Lederlieferanten. Er stand in voller Jagdmontur am Zaun und winkte ihnen zu.
    „Grüßt euch, Schmiedemeister“, rief er, „Ich werde heute Abend mein Glück flussaufwärts versuchen. Wie steht es um deinen Ledervorrat?“
    Alvor setzte seine Tochter ab und hob den Finger: „Seht ihr? Schmiedemeister. Faendal weiß, wie man mich respektvoll anspricht.“
    Dann wandte er sich an den Bosmer: „Meine Erzlieferungen müssten heute oder morgen kommen. Dann kann ich neue Rüstungen schmieden. Ich zahl dir zehn Septime für ein Wolfsfell und fünf für jeden Fuchspelz. Damit kann ich einige schöne Lederstücke herstellen.“
    „Alles klar.“
    „Und nochmal fünf, wenn du ein Karnickel erwischst. Du bleibst doch noch eine Nacht, oder Hadvar? Dann macht uns Sigrid noch einen leckeren Hasenbraten.“
    Der junge Soldat seufzte schwer: „Das klingt wirklich gut, aber ich kann es mir nicht erlauben, dass meine Rüstung wieder zu eng wird. Außerdem muss ich noch weiter nach Falkenring ziehen, um dort einige Steckbriefe zu verteilen.“
    „Das liegt auf meinem Weg“, sagte Faendal, „Du könntest mich ein Stück begleiten, wenn du möchtest.“
    Hadvar antwortete mit einem Lächeln: „Einverstanden. Es kann nicht schaden, wenn ich auch mal wieder ein bisschen auf Spurensuche gehe.“
    Da meldete sich erstmals seit ihrem Lachanfall auch Dorthe wieder zu Wort. Sie kam zu ihrem Vater gerannt und zerrte ihn am Zipfel seiner Schmiedekluft.
    „Falke und Säbelzahn auf der Jagd! Das wäre so toll. Darf ich auch mit? Bitte Papa!“
    Alvor blickte verdutzt herab, brummte amüsiert und schüttelte dann entschieden den Kopf: „Nix da, meine Kleine, dafür bist du noch viel zu jung. Wenn du deinem Vettern helfen willst, dann geh und sattele sein Pferd.“
    „Aber Frodnar darf schon mit auf die Jagd gehen und der ist viel kleiner als ich!“
    Frodnar war der Sohn vom hiesigen Schreiner und sie waren eine Familie von Sturmmantel-Sympathisanten. Der Kleine war ein Lausebub und machte ihnen ständig Ärger. Einmal hatte er ein heißes Glüheisen aus der Schmiede geklaut und damit die Kühe gequält. Natürlich sollte Alvor den Bauern für den entstandenen Schaden bezahlen, weil er einen Moment lang nicht auf seine Schmiede aufgepasst hatte.
    „Mit diesem wilden Rotzlöffel vergleichen wir uns nicht“, sagte Alvor jetzt ernst, „Du gehst jetzt und sattelst das Pferd und damit Basta!“
    Jetzt haute sie ihn.
    „Das ist ungerecht! Du blöder, fetter Horker!“

    PATSCH!

    Die Ohrfeige hatte gesessen. Dorthe blieb kurz am Boden liegen, rieb sich die Wange und lief dann mit Tränen in den Augen in Richtung Stall. Alvor seufzte schwer. Hadvar und Faendal hatten das Geschehen beobachtet, waren aber ruhig geblieben. Doch ihre Blicke schienen Alvor zu durchbohren. Sie wollten ihm ein schlechtes Gewissen machen, das war klar.
    „Es ist das Beste für sie“, knurrte er und rieb sich den Bart. Das machte er immer, wenn er genervt war. Dann ließ er die beiden jungen Männer stehen und ging wieder an die Arbeit.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (12.06.2017 um 22:45 Uhr)
  6. #6 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Ammon für alle


    Senna wischte die vor dunklem Blut triefende Klinge sorgfältig am dreckigen Ärmel des toten Glatzkopfes ab. Sie war die Ruhe selbst, kühl und abgeklärt. Eine Seite, die Ammon so noch nie an ihr wahrgenommen hatte, obwohl ihm bewusst war, dass sie Dreck am Stecken hatte. Schließlich hatte er ihr auf ihrer Flucht Asyl gewährt. Doch seine Vermutungen beschränkten sich lediglich auf ihre Ein- und Ausbruchskünste, einen Mord hatte er ihr nicht zugetraut, zumindest keinen so professionell durchgeführten. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte und das schürte sein Unwohlsein ob der brandgefährlichen Situation, in der sie sich befanden, nur noch mehr. Andererseits… war es alles in allem doch gut gelaufen, oder? Immerhin hätte er jetzt auch tot sein können, ein blutiger Rest, der am Schlagstock des Banditen klebte. Senna hatte ihm das Leben gerettet, hatte zu Ende gebracht, was er mit seinem schwächlichen Schaufelschlag nur halbherzig begonnen hatte. Wenn er ihr etwas schuldete, dann gewiss kein Misstrauen!
    Sie blickte zu ihm herüber, doch ihr Blick war kalt. Er konnte ihm nicht standhalten. Die Zweifel würden bleiben. Sie kannte diese Verbrecher? Was, wenn sie eigentlich auf der Flucht vor ihnen war?
    Ammon rieb sich die Schläfen. Sein Kopf hämmerte.
    „Alles in Ordnung mit dir?“, Sennas Blick hatte wieder menschliche Züge angenommen, Sorge, Mitgefühl.
    „Nein, ja… alles gut“, stammelte er, „Das muss eine Schockreaktion sein. Als der Kerl sich plötzlich wieder erhob, hatte ich wohl schon mit mir abgerechnet.“
    Erst jetzt bemerkte Ammon, wie stockend sein Atem ging und wie die kalte Luft durch sein schweißgetränktes Hemd blies.
    „Du warst unglaublich. Wo hast du das Messer her?“
    Senna schnallte sich den Waffengurt des Toten um und steckte den Dolch hinein.
    „Er hing genau hier“, sie deutete auf ihre Hüfte, „Nur eben an dieser fetten Wampe. Herrje, den Gürtel könnte ich glatt doppelt um mich herumschnallen.“
    „Du kanntest ihn… woher?“
    Senna blickte auf. Ammon hatte eine Menge Mut aufbringen müssen, diese Worte über die Lippen zu bringen, aber er musste die Wahrheit wissen. War er mit einer gesuchten Mörderin zusammen, deren Vergangenheit seine Zukunft zerstören würde? Konnten sie jetzt überhaupt noch zusammen sein, wo der dünne Mantel des Schweigens abgelegt war?
    „Alles, was ich von ihm weiß, ist, dass er nicht gerade der Hellste war, wenn er in einer engen Höhle mit einem sperrigen Knüppel kämpft.“
    „Du hattest also noch nie mehr mit der Schwarzfeuerbande zu tun, als dir ihre Horrorgeschichten von Mitgefangenen anzuhören.“
    Senna setzte zur Antwort an, stockte kurz und winkte schließlich ab.
    „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich erzähl dir später gerne alles, was du wissen willst. Aber zuerst müssen hier raus und Hilfe holen!“
    Der junge Bergmann gab sich mit dieser Antwort zunächst zufrieden. Seine Liebste hatte Recht. Es gab andere Dinge, viel weiter oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber noch konnte er nicht einfach verschwinden. Nicht, ohne seinen Vater und seine Schwester.

    Als die Luft rein schien, schlich sich das ungleiche Pärchen aus der Lagerkammer heraus in Richtung des anderen Zellenblocks, in dem Ammon seine Familie vermutete. Sie hatten ihren Häschern gegenüber mehrere Vorteile. Einerseits natürlich die Tatsache, dass Senna eine wahre Expertin der lautlosen Bewegung war – solange sie vorausging, war sichergestellt, dass sie nicht zuerst erwischt wurden. Zweitens kannte Ammon die verwinkelten Gänge und Kavernen der Glutsplittermine wohl besser, als jeder andere hier. Ja, sogar besser als sein Vater, denn vor dem hatte er sich zu Kindertagen immer verstecken müssen, wenn mal wieder langweilige und mühselige Arbeiten anstanden. Und zu guter Letzt vermutete sie auch niemand mehr im Gefängnisteil des Höhlensystems. Jetzt würden die Banditen den Ausgang sichern. Zum Glück kannte Ammon einen geheimen Weg heraus aus der Mine, den sie nehmen konnten. Der Plan klang machbar und wenn sie erst einmal ihre Freunde befreit hatten, konnten sie sich zur Not auch den Weg aus der Mine heraus freikämpfen!
    Plötzlich hielt Senna inne. Dank der Finsternis wäre Ammon beinahe in sie hereingelaufen. Ammon, der Anrempler. So würde Toni ihn jetzt nennen. Er wollte nachfragen, warum Senna so ruckartig anhielt, da hatte sie ihm schon eine Hand auf den Mund gepresst. Mit der anderen deutete sie in den Gang, der vor ihnen eine Biegung machte. Sie hatten die Zellenblöcke erreicht, doch hier ging es nicht so einfach weiter. Einer der Banditen war als Wache eingeteilt worden. Ammon brauchte nicht lange, um ihn zu wiederzuerkennen. Das war dieser hünenhafte Bogenschütze, der ihm um Haaresbreite den Kopf von den Schultern geschossen hätte. Cass, so hatte ihn sein Anführer genannt.
    Sie zogen sich zur Beratung ein paar Schritt weiter zurück.
    „Irgendeine Idee?“, fragte Ammon seine Liebste, „Sollen wir es wie bei dem Glatzkopf machen? Dann lenke ich ihn ab und du überwältigst ihn mit deinem Messer?“
    Sie seufzte leise: „Ich rechne uns hier nicht so viele Chancen aus. Dieser Kerl hat was auf dem Kasten und ich mache mir ehrlich gesagt auch Sorgen um dich.“
    Ammon runzelte die Stirn. Wieder, weil er sich wunderte, dass Senna diese Banditen so gut einschätzen konnte. Aber natürlich auch, weil sich sonst doch nie jemand darum scherte, wie es ihm ging. Mit der Rothwardone hatte er wirklich einen außergewöhnlichen Fang gemacht.
    „Ich habe noch einen anderen Trick auf Lager“, sagte er und verzog die Miene zu einem schelmischen Grinsen, „Einen Zauber, den ich schon lange mal testen wollte. Damit sollte er sich ablenken lassen.“
    „Was für ein Zauber soll das denn sein?“
    Er wollte zur Erklärung ansetzen, nur um einmal mehr unterbrochen zu werden.
    „CASS!?“, rief jemand durch den Gang hinter ihnen und Senna zerrte Ammon instinktiv hinter einen größeren Felsen. Zwei weitere Banditen kamen in Richtung des Zellenblocks und riefen wiederholt nach dem Hünen.
    „Was?“, dröhnte es von drinnen heraus.
    „Wir brauchen dich bei den Lagerräumen. Der Rotschopf und die Rothwardone sind ausgebrochen. Sie haben kurzen Prozess mit Wratch gemacht.“
    „Was, Ammon?“, ertönte auf einmal die tiefe Stimme von Uhland Glutsplitter aus einer der Zellen. Sein Vater war also noch am Leben! Dem jungen Bergmann fiel ein Stein vom Herzen.
    „Papperlapapp“, fuhr Uhland energisch fort, „Mein Sohn mag vieles können, aber einen kurzen Prozess habe ich ihn noch nie machen sehen. Er ist eher einer von der langsamen Sorte und kämpfen kann er auch nicht.“
    Ammon verdrehte die Augen. Das war ja mal wieder typisch für seinen Vater, ihn runterzubuttern, weil er alles etwas zu gründlich machte. Fehlte nur noch, dass er den Banditen sein Weh darüber klagte, dass Ammon ihm immer noch keinen Enkel geschenkt hatte. Doch dazu kam es nicht.
    „Schnauze, Opa“, herrschte Cass ihn an und plötzlich erklang ein sausender Peitschenschlag. Ammon lugte noch einmal vorsichtig um die Ecke, aber anscheinend hatte es sich dabei nur um eine Drohgebärde gehandelt. Uhland und die anderen Gefangenen waren jetzt still.
    „Gut, worauf warten wir dann noch?“, fragte der Hüne harsch und folgte seinen Kumpanen, „Bringen wir unsere Schäfchen zurück in den Stall.“

    Als Cass keine Armlänge weit an dem sich im Schutze der Finsternis versteckenden Pärchen vorbeischritt, konnte Ammon den scharfen Duft von Eismirriam riechen. Hatte sich der Kerl etwa parfümiert? Es war jedenfalls zu seinem eigenen Glück, denn die Panik, die in Ammon aufgestiegen war, als der Hüne mit seiner Peitsche für einen Moment direkt auf ihn zugekommen war, hätte von jedem anderen durch ihren strengen Schweißgeruch wahrgenommen werden können. So aber blieben sie versteckt und als die Luft schließlich rein war, eilten sie zu den jetzt unbewachten Zellen.
    „Ammon! Bei Ysmir, was machst du denn hier? Ich dachte, ihr wärt abgehauen!“
    Uhland kam ans Gitter seines kleinen Privatgefängnisses gehumpelt und streckte die schmutzigen Hände nach ihm aus. Ammon musste schlucken. Sein Vater sah schrecklich aus. Das Gesicht war so blaugeschlagen, dass er sein rechtes Auge nicht einmal mehr richtig öffnen konnte. Das Humpeln war auch nicht normal. So wie Ammon ihn kannte, hatte er es den Mistkerlen nicht leichtgemacht. Sein Vater war eben mit Leib und Seele ein stolzer Nord.
    „Nicht ohne euch“, flüsterte Ammon mit gezwungenem Lächeln. Dabei suchte nach einer Möglichkeit, die Zellentür zu öffnen. Das Schloss hatte schon mal bessere Tage gesehen.
    „Hast du Toni gesehen?“
    Uhland deutete nur mit seinem müden Finger auf die andere Seite des Korridors. Toni saß an die Wand gelehnt in ihrer Zelle und hielt sich instinktiv die blutverkrustete Schulter. Ihre Augen waren nur halboffen, aber als sie Ammon wahrnahm, musste sie kichern.
    „Wenn das nicht Ammon das Affengesicht ist…“
    Die Pfeilwunde sah übel aus, sie entzündete sich bereits. Erste Fiebersymptome machten sich bei seiner zähen Schwester breit, aber sie war zumindest noch gesund genug, um sich freche Spitznamen einfallen zu lassen.
    „Du musst dich verpissen, Brüderchen. Solange noch Zeit ist.“
    „Das kommt nicht in Frage. Ihr braucht medizinische Versorgung. Ich werde euch zu Farengar bringen, dem Hofmagier vom Jarl.“
    „Scheiße“, erklang es plötzlich von der anderen Seite des Raumes. Das kam von Senna, die bereits damit begonnen hatte, die Zellen zu öffnen.
    „Mir ist der verflixte Dietrich abgebrochen. Ich habe nur ein Schloss öffnen können.“
    Sie hatte Raúl befreit, einen von Uhlands Knechten. Ihm schienen sie den Arm gebrochen zu haben, aber immerhin konnte er laufen.
    „Hört zu, ihr macht jetzt Folgendes und das ist ein Befehl“, in Uhlands Stimme spiegelte sich der Ernst der Lage wider, „Ihr drei findet einen Weg raus aus der Mine und geht nach Flusswald. Fragt nach meinem Freund Alvor, er hat Kontakte zur kaiserlichen Garde. Die Soldaten werden uns schon hier rausholen!“
    „Aber solange hält Toni nicht durch!“, schrie Ammon verzweifelt, „Wo ist nur der verdammte Schlüssel?“

    Plötzlich vernahmen sie ein Klirren. Raúl bückte sich herab und hob mit seiner gesunden Hand ein rostrotes Metallteil auf. Einen Schlüssel. Freudestrahlend hob er ihn in die Höhe. Einen Herzschlag später vernahmen sie ein weiteres Geräusch. Ein dumpfes TOCK!
    Es war die Spitze eines Bolzens, die Raul durch den Hals gejagt worden war.
    „Nein…“, hauchte Ammon. Als der Bergmann leblos zusammensackte, erkannten sie, wer ihn gerichtet hatte. Vega der Verbrannte stand seelenruhig am anderen Ende des Ganges und lud seine Armbrust nach. An seiner Seite die vermummte Lucille.
    „Ammon!“, rief Senna und packte ihn am Arm, „Komm, wir müssen hier weg!“
    „Nein!“, stammelte er und starrte dem Anführer der Banditenbande direkt in das entstellte Gesicht. Seine eigenen Hände begannen zu kribbeln, während Vega die Armbrust direkt auf ihn richtete.
    „AMMON!“, schrie seine Liebste nun.
    „Los, lauf! Ich halte ihn in Schach!“
    „Wie…?“
    Dann manifestierte sich langsam in silberblauen Schlieren die Magie, die Ammon wie eine Aura um sich herum hervorrief. Jetzt kam er ja doch noch dazu, ihr den Zauber zu zeigen, von dem er gesprochen hatte. Daran hatte er gearbeitet, seit er einmal beinahe von einem kopfgroßen Felsbrocken erschlagen worden war. Er war kein sonderlich standhafter Kerl, doch mit Hilfe der Magie wollte er lernen, sich selbst abzuhärten. Jetzt würde sich zeigen, ob er mit seinem Selbststudium erfolgreich war.

    Als Senna endlich die Flucht ergriff, sauste der Bolzen von Vegas Armbrust auch schon direkt auf ihn zu. Ammon konnte ihn für den Bruchteil einer Sekunde sogar sehen, dann schlug er gegen seinen magischen Schutzzauber und prallte daran ab, wie an einer stählernen Platte. Doch die Wucht des Aufschlags brachte den jungen Magienovizen aus der Fassung. Er ließ zu früh von seinem Zauber ab und konnte daher den Rückstoß nicht zu Genüge abfangen. Er fiel rückwärts zu Boden und schnappte nach Luft. Die Magie hatte ihn total verausgabt. Er blickte zu Senna, doch sie war verschwunden. Sie würde es schaffen, da war er sich sicher. Dann wurde mal wieder alles schwarz um ihn herum…
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.11.2021 um 21:29 Uhr)
  7. #7 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Dickicht


    Hadvar und Faendal hatten die Fährte eines Wildschweins aufgenommen. Eine frische Suhle und mehrere Buchen, deren Stämme bis auf Kniehöhe abgewetzt waren. Die Sonne stand hoch am Zenit und trocknete die Fährten des Tieres, das erst vor wenigen Augenblicken den Schlamm verlassen hatte.
    „Wir sind nah dran“, sagte Faendal leise und schlich sich mit seiner elfischen Leichtfüßigkeit durch das Unterholz, ohne auch nur das leiseste Rascheln zu verursachen. Hadvar war leider nicht so galant und hinterließ mit jedem Schritt seine eigenen Spuren. Vermutlich war er der Grund, warum Faendal das Tier noch nicht erwischt hatte. Aber der Elf war die Ruhe selbst. Jegliche Hektik würde sie nur noch weiter von ihrem eigentlichen Ziel entfernen. Das Geheimnis lag im richtigen Timing. Sobald ihnen das Tier vor die Augen geriet, mussten die Bögen bereits gezückt sein. Hadvar hatte seinen schon ewig nicht mehr im Einsatz gehabt. Mit seinem Schwert fühlte er sich wesentlich wohler, doch er würde sich nicht beklagen. Ein echter Soldat musste auch wissen, wie er sich sein Essen erlegte, wenn er mal auf einem längeren Einsatz in der Wildnis war. Oder er musste sich von Schlammkrabben und Caniswurzel ernähren. Aber dafür war er viel zu sehr Feinschmecker.
    „Es ist dort entlang verschwunden“, Hadvar deutete auf einige zerknackte Stöcke am Boden, „Los, hinterher.“
    „Warte noch“, zischte Faendal und winkte ihn zu sich herüber, „Hier sind noch mehr Spuren. Mindestens drei und sie sind frisch. Wir sind nicht die Einzigen, die hinter der Bache her sind.“
    „Andere Jäger?“, fragte Hadvar.
    „Ja. Vierbeinige. Vielleicht solltest du lieber dein Schwert bereithalten. Nur für den Fall…“
    Hadvar seufzte. Sie hatten vor dem Aufbruch ins Jagdgebiet noch ein paar Zielübungen an einer Scheibe gemacht. Faendal wollte es ihm zeigen, aber Hadvar hatte in seinem Übermut direkt den Bogen zur Hand genommen und geschossen. Die Sehne war ihm beim Schuss gegen das Ohr geklatscht und der Pfeil war hinter der Zielscheibe im Futternapf seines Pferdes gelandet. Möhre war daraufhin wild geworden und musste eine ganze Weile lang beruhigt werden. Kostbare Zeit, die ihnen für die eigentliche Jagd verloren gegangen war. Klar, dass Faendal gewisse Zweifel an Hadvars Einsatzfähigkeit hegte, zumindest am Bogen.

    Wenige Schritte weiter hielt Faendal erneut inne und deutete auf den trockenen Boden unter ihnen. Blutspuren. Sie mussten in unmittelbarer Nähe sein. Der Blick des Elfen richtete sich gen Baumkronen.
    „Warte hier, ich kundschafte das schnell aus. Nicht dass wir uns zu viel vornehmen...“
    Was der Elf jetzt tat, hatte Hadvar noch nie zuvor jemanden tun sehen. Faendal griff an den Ast eines knorrigen Baumes und zog sich mit einer Hand nach oben. Mit animalischer Geschwindigkeit hangelte er sich an den nächsten und übernächsten Ast und hatte katzengleich in wenigen Herzschlägen die Spitze des Baumes erklommen. So schnell er nach oben gekraxelt war, so schnell war er auch wieder unten, nicht ohne sein Können noch mit einem Salto abzurunden. Was für ein Aufschneider. Hadvar war schwer beeindruckt.
    „Und?“
    „Die Sau können wir vergessen. Da laben sich bereits drei Wölfe dran.“
    Hadvar seufzte. Drei waren einer zu viel. Das Risiko wollte er wirklich nicht eingehen, da konnte Faendal noch so gut mit dem Bogen schießen. Der junge Soldat wollte sich schon auf den Rückweg machen, aber der Jäger hielt ihn an der Schulter.
    „Wir gehen trotzdem, komm!“
    „Zu riskant“, stöhnte Hadvar, „Außerdem wird es bald dunkel und ich will mein Pferd nicht zu lange allein herumstehen lassen.“
    „Aber wir müssen die Wölfe erlegen“, rief Faendal jetzt mit Nachdruck, „Denn wir sind nicht die einzigen Beobachter.“
    „Was meinst du?“
    „Deine Cousine Dorthe und ihr kleiner Freund toben gerade mutterseelenallein durch den Wald.“

    Jetzt war es keine Frage des Risikos mehr, jetzt ging es ums Prinzip, um die Achtung seiner Familie und vor allem die – platonische – Liebe zur kleinen Dorthe, die gerade unwissend in Lebensgefahr schwebte. Hadvar zückte sein Schwert und herrschte Faendal an, ihm zu zeigen, in welcher Richtung er am schnellsten zu seiner Cousine kam. Der Elf deutete gen Norden, doch jede Mahnung zur Vorsicht wurde überhört. Er sprintete mit klappernder Rüstung durch das Dickicht und scheuchte wohl so ziemlich alles auf, was größer als eine Feldmaus war. Dass er die Wölfe dadurch provozierte, war ihm gleich. Ja, vielleicht konnte er ihre Aufmerksamkeit ja auf sich lenken, Hauptsache weg von Dorthe und Frodnar. Und wenn sie die Flucht antraten, auch gut.
    „DORTHE!“, schrie er laut, wieder und wieder. Es zahlte sich aus.
    „Säbelzahn! Wie hast du mich gefunden?“
    Da war sie. Mit einem Kranz im Haar und verschmutzten Rockzipfeln.
    „Den Acht sei Dank, dir geht es gut!“, er rannte auf sie zu und nahm sie in den Arm. Dorthe blieb stocksteif, sie lief sogar rot an.
    „Alles in Ordnung mit dir? Bist du etwa ganz allein hier draußen?“
    „E-e“, sie schüttelte den Kopf und deutete in ein Gebüsch hinter ihnen, „Frostwolf Frodnar ist gerade pinkeln.“
    Dann verschränkte sie eingeschnappt die Hände vor der Brust: „Natürlich sind wir allein. Wir können selbst auf uns aufpassen.“
    Just in diesem Moment vernahmen sie ein animalisches Knurren, direkt aus Richtung des Busches, in dem Frodnar seinen Geschäften nachging. Und einen Schrei…
    „Bleib hier. Klettere auf einen Baum, wenn du kannst“, befahl Hadvar seiner Cousine streng, dann rannte er mit gezückter Waffe in die Richtung, aus der Frodnar geschrien hatte.

    Der blonde Junge stand mit dem Rücken an einem Baum, die Hose noch halb heruntergelassen. Die Wölfe, so schwarz wie Pech umkreisten ihn. An ihren Mäulern klebte noch das Blut des Wildschweins. Vielleicht hatten sie den Jungen deshalb noch nicht angegriffen, weil sie eigentlich bereits satt waren. Als Hadvar durch das Unterholz gestürmt kam, hatten sie jedenfalls endgültig von dem Jungen abgelassen. Erschreckt wandten sie sich zu ihm und begannen zu Knurren. Der Leitwolf, der Kräftigste von ihnen, beobachtete den Soldaten mit seinen eisblauen Augen. Es war ein älteres Tier, erfahren genug, um sein Rudel durch die gefährliche Wildnis zu geleiten, wo die Wölfe selbst hinter Bären und Trollen noch die kleinste Gefahr waren.
    Hadvar schluckte schwer. Das Schwert lag wie Blei in seiner Hand. Er wusste nicht, wieviel er damit ausrichten konnte, vor allem bei diesen wilden Bestien. Da nützte ihm eine geschickte Parade gar nichts, hier galt nur, sich nicht umwerfen zu lassen und die Kehle zu schützen. Der Kloß in seinem Hals wurde größer. Er entschied, sein Schwert gegen den Leitwolf zu heben. Konnte er ihn zur Strecke bringen, würden die anderen beiden das Weite suchen. Aber er hatte nur eine Chance und die musste sitzen.

    Aber soweit sollte es nicht kommen. Faendal hatte sich in seiner gewohnten bosmerschen Leichtfüßigkeit an sie herangeschlichen und die Hände zu den Wölfen ausgestreckt. Weiß der Geier, warum er sich nicht seinen Bogen gegriffen und damit dem Rudelführer einen Loch ins Herz geschossen hatte. Doch als er auftauchte, ließ das Knurren plötzlich nach und die Wölfe entspannten sich. Wachsam folgten sie seiner Handbewegung, als wären sie seine Haushunde, die auf ihr Fressen warteten. Der Waldelf streckte den Zeigefinger aus und deutete in Richtung des Waldes. Der Leitwolf wandte sich gehorsam um und leitete sein Rudel zurück ins Unterholz. Erst als sie außer Hörweite waren und Faendal seine Hand wieder senkte, entspannte sich auch Hadvar etwas. Für einen kurzen Augenblick herrschte anerkennende Stille.
    Dann begann Frodnar zu grölen: „Das war ja unglaublich! Bist du ein Hundeflüsterer oder sowas?“
    „So etwas in der Art“, Faendal schmunzelte kurz, dann wurde sein Blick wieder ernst, „Wo ist Dorthe?“
    „Hier oben, huhu!“, ihre Stimme kam von weit oben aus den Baumwipfeln. Ähnlich weit oben, wie der Elf vorhin auch geklettert war. Wie schafften die das nur? Hadvar blickte an sich herab und seufzte. Nun, Hauptsache, die Kinder waren in Sicherheit.
    Ronsen ist offline
  8. #8 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Zank und Zauselbart

    Ein Rascheln im Gebüsch. Alvor zuckte zusammen. Instinktiv griff er nach seinem Hammer, wohl wissend, dass er mit so einer klobigen Waffe im Falle eines Banditenüberfalls äußerst schlecht aufgestellt war. Daher setzte er alle Hoffnung auf seine fürchterliche Gestalt, sein breites Kreuz, die vom vielen Hämmern aufgedunsenen Arme und seinen wilden Zauselbart. Konnte er seinen Gegner schon so einschüchtern, würden seine mangelhaften Fähigkeiten als in die Jahre gekommener Kämpfer gar nicht in Erscheinung treten.
    Was musste er auch allein durch den Wald streifen? Seine Tochter Dorthe war ausgebüxt, das musste kurz nach ihrem heftigen Streit geschehen sein. Einerseits war Alvor schwer enttäuscht von seiner einst so braven Kleinen, die sich immer mehr von ihm zu entfernen schien – sinnbildlich und wortwörtlich. Andererseits überwog die Sorge um seine kleine Dorthe. Die Vorstellung, dass sie allein und völlig verängstigt durch den Wald irrte, ließ ihn schaudern. Er hoffte inständig, dass sie einfach nur Hadvar gefolgt war und er auf sie aufpasste. Hoffnung war gut, aber Gewissheit war besser. Und darum war er jetzt hier draußen, auf der Suche nach ihr, doch vielleicht wäre es schlauer gewesen, ein paar Knechte zur Unterstützung anzuheuern. Jetzt drohte Alvor selbst ein Schicksal, das er seiner Tochter um jeden Preis ersparen wollte.

    Noch ein Knistern, diesmal lauter, näher. Alvor spannte die Muskeln an, bereit, jeden Augenblick einem ungehobelten Grobian den Schädel einzuschlagen. Doch aus dem Unterholz sprang kein Bandit, sondern....
    „WÖRF WÖRF!“
    Ein Hund, ein schwarzer Wolfshund. Alvor erkannte ihn sogar; das war Stump, der Köter vom Müller aus Flusswald. Und wo der auftauchte, konnte sein Herrchen nicht weit sein.
    „Nicht so schnell Stump!“, hörte Alvor die kratzige Stimme von Müller Hod, die ihm sogleich säuerlich aufstoßen ließ. Als der Mistkerl dann auch noch hinter seinem blöden Vierbeiner durch das Geäst gestrauchelt kam, wollte Alvor seinen Hammer am liebsten doch noch zum Einsatz bringen.
    „DU!“, grölte der Schmied, „Das hat mir ja gerade noch gefehlt.“
    „Mein Hund hat ein totes Tier gewittert und kommt zu dir. Was für eine Überraschung.“
    Hod rümpfte die krumme Nase und sah abschätzig zu Alvor auf. Der Müller war etwas kleiner als er, aber nicht viel. Sie waren die beiden wichtigsten Männer in Flusswald und spielten sich dann und wann auch so auf. Doch sie waren vom Scheitel bis zur Sohle verfeindet.

    Dabei war es nicht immer so gewesen. Ganz im Gegenteil, die Familien von Hod und Alvor gelten als Gründungspfeiler der jungen Gemeinschaft von Flusswald. Ihre Väter waren sogar gemeinsam in den Krieg gezogen und hatten noch im hohen Alter die Dorfbewohner mit ihren immer wilderen und verlogeneren Abenteuermärchen unterhalten. Hod und Alvor waren damals junge Männer und Alvor hatte auf Bitten des Müllers hin erst das Schmiedehandwerk erlernt. Gemeinsam haben sie Häuser und Brücken gebaut, heute zogen sie bestenfalls den Gartenzaun noch höher. Schuld daran waren nach Alvors Meinung die verdammte Sturmmantel-Rebellion. Sie war der Grund, dass das Dorf verkommen war. Alle Wirtschaft wurde in den Krieg gegen das Kaiserreich gesteckt. Sicher, als Schmied konnte Alvor daran verdienen, aber so viele Soldaten kamen nun auch nicht nach Flusswald. Die Handelsbeziehungen nach Cyrodiil stagnierten. Was brachte es dem Schmied also, die armen Dorfbewohner ausnehmen? Mehr als ein paar Rüben konnte er von ihnen nicht ertauschen. Auf der anderen Seite versprach Großkönig Torygg, dass das zivilisierte Kaiserreich Reichtum und Wohlstand nach Himmelsrand bringen würde, wenn man ihre Sitten und Gebräuche achtete. Alvor war vor vielen Jahren schon einmal mit seinem Bruder in der Kaiserstadt gewesen und es hatte ihm gefallen. Volle Marktplätze, importiertes Bier, schneefreie Landschaften. Vielleicht sollte Alvor mit seiner Familie umziehen, wenn es im hügeligen Himmelsrand noch weiter bergab ging…
    Hod hingegen war ein Sturmmantel-Sympathisant der ersten Stunde. Traditionell und götterfürchtig, selbst dem verbotenen Talos gegenüber. Das hatten ihm seine Schwiegereltern und sein Hausdrache eingeredet. Seine Frau war eine richtige Furie und zu allem Übel auch noch die Verwalterin von Flusswald. Dabei hatte sie nicht einmal ihren eigenen Mann im Griff. Hod gewährte Raufbolden und Tagedieben einen Platz in ihrer Gemeinschaft, wie dem Trunkenbold Embry, der ihm beim Holzfällen helfen sollte. Zum Dank pöbelte der Säufer die Kinder an und hinterließ mehr Dreck als sein Hund Stump.
    Das Schlimmste jedoch war Hods Sohn Frodnar, der kleine Sheogorathbraten. Wie oft hatte Alvor ihn schon beim Klauen in seiner Schmiede erwischt oder bei dem Versuch, ihm Knisterholz ins Feuer zu werfen? Der Junge hatte keine Erziehung genossen, keinen Respekt gegenüber den Erwachsenen und keine Angst vor Konsequenzen, immerhin war seine Mutter ja die Dorfoberste. Und zu allem Überfluss steckte er Dorthe mit seinem Chaos an. Noch eher würde Sovngarde einfrieren, als dass Alvor seine Tochter mit diesem Bengel verkuppelte.

    „Was führt dich überhaupt hier raus?“, fragte Alvor den Müller mit schroffem Tonfall, „Spionierst du mir etwa nach?“
    Hod verdrehte die Augen: „Das würde dir gefallen, was? Aber tatsächlich habe ich es dir zu verdanken, dass ich hier durch das Unterholz kriechen muss, anstatt es mit meiner Axt kleinzuschlagen. Dir und deiner schlechten Erziehung.“
    Das war ja wohl die Höhe. Alvor bekam den Mund nicht mehr zu: „Wie bitte?!“
    „Ja, deine Tochter hat meinen Sohn angestiftet, mit ihm in den Wald zu gehen. Ich muss ihn finden, bevor sie ihm noch was von Mondblumen und Glühwürmchen erzählt.“
    „Hüte deine Zunge!“, Alvor trat einen Schritt näher an Hod heran und tippte ihm mehrfach energisch mit dem Finger auf die Brust, „Wenn hier einer seinen Nachwuchs unter Kontrolle bringen muss, dann ja wohl du. Erinnere dich mal an die Sache mit dem Bienenkorb.“
    Frodnar hatte Alvor einmal während seines Mittagsschläfchens Honig um den Mund geschmiert.
    „Haha! Ja, seitdem hast du dich nicht mehr rasiert oder?“
    „Oh, ich wird dir helfen, du Hakennase!“, polterte Alvor.
    „Fettes Walross!“, konterte Hod.
    „Alter Säufer!“
    „Fauler Skeever!“
    „Milchtrinker!“
    „WÖRF WÖRF WÖRF!“

    Die beiden Streithammel wandten sich zu Stump um. Der Hund hatte offensichtlich eine Spur entdeckt, während sie sich nur gegenseitig bei der Suche behinderten.
    „Na sieh mal an, was hat denn mein Stumpi aufgespürt?“
    Alvor bückte sich nach dem Hund herab und tätschelte ihm über den Kopf. Das Tier spuckte etwas aus, einen Stock… nein, eine Mohrrübe.
    „Oh, ich glaube, ich weiß, woher die kommt“, murmelte Alvor.
    „Die Kinder?“, fragte Hod besorgt. Der Schmied nickte: „Möglich.“
    „Los Stumpi, zeig uns, woher du die Karotte hast.“
    „WÖRF!“
    Und während sie dem Vierbeiner im Eiltempo folgten, fragte sich Alvor, ob das Tier genauso einen Schaden im Kopf hatte, wie sein Herrchen. Er hatte zumindest noch nie einen Hund erlebt, der so neben der Spur bellte.
    Zumindest gelang es Stump, die beiden zielgerichtet zur Quelle der Karotte zu führen. An einer Lichtung am Waldrand an einen großen Baum gebunden stand ein braun-weiß geflecktes Pferd mit langer Mähne und einem Eimer voller Mohrrüben.
    „Das ist Möhre“, rief Alvor aufgeregt, „der Hengst meines Neffen Hadvar.“
    Das Pferd glotzte sie kurz an, vergrub sein Maul aber kurz darauf wieder in dem Eimer mit den Karotten.
    „Möhre, wirklich? Was ist denn das für ein Name?“
    „Halt mal den Hammer flach. Das ist immer noch besser als ein Hund, der ständig WÖRF bellt.“
    Hod überging den Spruch: „Und was hat das zu bedeuten? Wo sind denn nun die Kinder?“
    „Hadvar wollte auf die Jagd. Ich hoffe, dass sie bei ihm sind. Er kann jedenfalls nicht weit sein, wenn er Möhre hier zurückgelassen hat.“
    „Oder die Kinder sind ganz woanders und wir laufen planlos ins Jagdgebiet…“, seufzte Hod.
    „Tja, ich wüsste einen einfachen Weg, das herauszufinden.“
    Alvor bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund, holte tief Luft und schrie mit aller Kraft in den Wald hinein.
    „DOOOORTHE! HADVAAAR!“
    Hod packte ihn am Ärmel: „Bist du des Wahnsinns?! Du lockst noch sonst wen zu uns!“
    Aber Alvor ignorierte den feigen Müller und schrie weiter nach seiner Tochter. Hod schlug die Arme über den Kopf zusammen: „Wenn überhaupt, dann musst du schon lauter und kräftiger Brüllen. Pass mal auf: FROOOOODNAAAAAR!“
    „Hmpf…“, Alvor räusperte sich und bereitete einen Schrei aus tiefster Kehle vor, „DOOOOOORTHEEAEAEEEE! HAAAAAVAAAA!“
    „WÖRF WÖRF WÖRF!“
    Und tatsächlich. Ihr an das Brunftgeschrei wilder Hirsche erinnernde Duett brachte Erfolg. Nur wenige Augenblicke später kamen Dorthe, Frodnar, Hadvar und der Elf Faendal durch das Unterholz auf die Lichtung spaziert.
    „PAPA!“, schrien beide Kinder fast zeitgleich und kamen ebenso synchron in die Arme ihrer Väter gerannt. Alvor fiel ein Stein vom Herzen, als er erkannte, dass sein kleiner Sonnenschein wohlauf war. Aller Ärger über das Weglaufen war in diesem Moment vergessen.
    „Eigentlich wollten wir ja noch einen Wolf erlegen“, witzelte Hadvar, „Aber bei dem Geschrei verkriechen sich ja sogar die Bäume wieder unter der Erde.“
    „Wir sollten uns auf den Heimweg machen“, schlug Faendal vor, „Wer weiß, ob der Lärm nicht doch etwas angelockt hat. Etwas Schlimmeres als Wölfe meine ich.“
    „Ja“, entschied Alvor laut, „Lasst uns zuhause über alles reden.“

    Der Elf sollte Recht behalten. Keine dreißig Schritt entfernt irrte eine verwundete junge Rothwardonin durch das Dickicht, ächzend und keuchend und mit der Kraft völlig am Ende. Sie war einen ganzen Tag lang gerannt, durch eine Höhle, einen Berg hinab, über einen Fluss und jetzt noch durch den Wald. Sie hatte die Hoffnung schon aufgegeben, das Örtchen Flusswald noch lebend zu erreichen. Doch als sie die Stimmen aus der Ferne hörte, hatte sie noch einmal alle Kraft mobilisiert.
    Als Senna durch das Unterholz brach, gaben ihre Beine nach und sie fiel völlig erschöpft auf den knorrigen Boden. Alles, was sie noch hörte, bevor sie einschlief, war ein seltsames Bellen: „WÖRF WÖRF!“
    Ronsen ist offline
  9. #9 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Der Suppencasspar


    Im tiefsten Erzstollen der Glutsplittermine herrschte reges Treiben. In einer Kakophonie des Krachens trafen schwere Spitzhacken auf unnachgiebiges Felsgestein. Arbeiter schleppten Kisten und Säcke mit dem kostbaren Metall durch schmale Gänge, während die Aufseher ihnen mit Peitschen in der Rechten und Bierkrügen in der Linken über die Schultern blickten. Einer der Obmänner war so groß gewachsen, dass er sich nur langsam und gebückt durch die Kavernen bewegen konnte. Dennoch zollte man ihm alle Aufmerksamkeit, wenn er den Raum betrat und augenblicklich wichen auch die widrigen Klänge der Spitzhacken einer erstickenden Stille. Es war der frisch ernannte „Oberaufseher“ Cass und er brachte eine wichtige Botschaft für die Banditen und ihre Sklaven.
    Mit einer Handbewegung deutete er den Gefangenen an, die Kisten und Säcke zur Inspektion zu ihm zu bringen, es war die bescheidene Ausbeute der ersten Schicht. Ohne wirklich zu zählen ließ Cass seinen Blick über das abgebaute Erz schweifen, dann winkte er einen seiner Kumpane zu sich, ihm einen Krug Bier zu reichen. Er trank das schale Gesöff ohne einmal abzusetzen aus. Dann warf er den Becher auf den Boden und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Nach wie vor erwarteten alle sehnsüchtig seine Botschaft und Cass grinste sich einen, weil es so viel Spaß machte, den Pöbel zappeln zu lassen. Genug der Qual.
    „Mittagspause!“, rief er laut und alle ließen erleichtert ihre Werkzeuge fallen. Sie hatten die erste Schicht ihres neuen Lebens überstanden und Oberaufseher Cass war für den Anfang zufrieden. Das mochte seiner neuen Stellung geschuldet sein, denn er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Nur eine Sache bereitete ihm Unbehagen und das war die Abwesenheit der rothaarigen Walküre mit Namen Toni Glutsplitter. Vielleicht konnte er bei einem hauseigenen Eintopf etwas mehr über sie in Erfahrung bringen.

    Vega hatte nach „dem Vorfall“ mit dem Ausbruch der Rothwardonin seine neuen Regeln und Aufgabenbereiche für die Banditen und Sklaven in der Glutsplittermine umgesetzt. Dazu gehörten unter anderem eine strengere Bewachung der Arbeiter durch den Oberaufseher Cass sowie die Verfolgung der flüchtigen Rothwardonin durch eine Eskorte von Jägern, angeführt von der gnadenlosen Lucille. Die meisten Sklaven wurden zum Schürfen und Holzhacken verdonnert, nicht aber die Mitglieder von Familie Glutsplitter. Für den kleinen Zauberkünstler Ammon hatte Vega seine ganz eigenen Pläne, von denen er selbst seinem Oberaufseher nichts preisgab. Der alte Uhland hingegen, Familienoberhaupt und vormaliger Besitzer der Mine, machte sich ganz fabelhaft als neuer Suppenkoch. Nur für die kesse Toni gab es noch keine Aufgabe, denn sie befand sich nach wie vor in ärztlicher Behandlung – wenn man das tägliche Wechseln eines blutigen Verbands und Fieberträume auf einem Feldbett schon so nennen konnte.
    Cass hatte sich eine große Schüssel geschnappt und sich zum Anfang des Ausschanks vorgedrängelt, um dem alten Herrn von Toni mal ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Doch zuerst gönnte er sich eine große Kelle seiner köstlichen Suppe.
    „Kartoffel-Kohl-Eintopf“, stellte der Oberaufseher entzückt fest und schaufelte sich ein Stückchen vom Erdapfel auf seinen Löffel. Unter dem abschätzigen Blick von Uhland schmatzte er ihm etwas vor.
    „Das ist gut Opa, wirklich“, sagte er mit einem breiten Grinsen und deutete mit dem Löffel erst auf den Koch und dann auf seine Schüssel.
    „Ist ein altes Familienrezept“, entgegnete Uhland zögerlich, „Den hat meine gute Frau schon gemacht. Und ihre Mutter vor ihr. Das Geheimnis liegt in der Würze. Wir haben früher ganz fabelhafte Senfgräser angebaut.“
    „Ist mir scheißegal“, unterbrach Cass ihn harsch, „Ab sofort wirst du nur dann etwas sagen, wenn ich es dir befehle, klar?!“
    Uhland nickte.
    „Außerdem fehlt Fleisch drin. Wir sind schließlich Nordmänner, wir brauchen unser tägliches Fleisch. Also sag mir, wo bekommt ihr es her?“
    Der Alte seufzte: „Wir bestellen es, tauschen mit Händlern und Jägern aus den umgebenden Ortschaften.“
    „Und von wem bekommt ihr euer bestes Zeug, hm? Los, ich will ein paar Namen!“
    „Damit ihr sie überfallen könnt, so wie uns auch? Vergiss es.“
    „Oho!“, Cass machte eine theatralische Geste, „Da beweist einer Rückgrat. Ich bin überrascht. Hast ja doch noch Eier in der Hose.“
    Der Hüne nahm einen weiteren großen Löffel seiner Suppe. Die Senfnote war wirklich nicht zu verachten, so etwas Gutes hatte er wirklich schon ewig nicht mehr gegessen. Wenn er nur an die dutzenden stinkigen Skeever dachte, die er in letzter Zeit gebraten hatte. Dagegen war diese Suppe eine wahre Götterspeise.
    „Du gefällst mir, alter Mann, darum will ich über deinen Ungehorsam diesmal hinwegsehen. Vergiss aber nicht, dass du hier mit dem neuen Oberaufseher sprichst. Ich muss nur mit dem Finger schnippen und du landest zum Hungern in der Zelle. Das muss doch nicht sein, gib mir einfach einen Namen.“
    Schweigen. Cass schlürfte weiter an seiner Suppe. Einen Löffel, zwei,…
    Dann brüllte er drauf los: „Schluss mit Lustig. Vergiss mal nicht, dass wir auch deinen Sohn und deine Tochter in Gewahrsam haben. Eine Geste reicht und…“
    Cass strich sich mit dem Löffel über die Kehle. Nicht so bedrohlich wie ein Messer, aber Uhland verstand es trotzdem.
    „Sie könnten beide schon längst tot sein“, erwiderte der Alte resigniert, „Ich habe sie seit dem Ausbruch nicht mehr gesehen.“
    „Gutes Argument“, gab Cass kopfnickend zu, „Was deinen Sohn angeht, kann ich dir tatsächlich nichts versprechen. Aber deine Tochter lebt noch, auch wenn ihre Schulter schon ziemlich hässlich aussieht.“
    „Bei Arkay, sie braucht einen Heiler. Gebt ihr doch einen Heiltrank, ich habe noch welche in der Mine versteckt.“
    Hellhörig blickte Cass von seiner Schüssel auf: „Ach? Ein Geheimversteck, das wir noch nicht gefunden haben sollen?“
    „Hinter dem Wasserfall in der Hauptkaverne“, seufzte Uhland, „Da bewahre ich ein paar… private Dinge auf. Auch meine eigene Medizin. Du weißt schon, damit die alten Knochen auch noch das tun, was sie sollen.“
    „Erspar mir die Details.“

    Das war hochinteressant. Wer weiß, was Uhland da noch alles gebunkert hatte. Mit einem kleinen Schatz hätte Cass garantiert noch ein Stein im Brett bei seinem Boss. Oder er verhökerte den Kram selbst. Er träumte ja schon lange von einer eigenen Plantage für gewisse… Gräser. Wenn man hier in der Gegend gut Senfgras anbauen konnte, warum nicht auch härteren Stoff? Mit ein bisschen mehr Gold konnte er den Grundstein für seinen eigenen Garten legen. Zufrieden schlürfte er den letzten Rest der Suppe aus.
    „Also gut. Ich bin gewillt, deine Tochter zu versorgen. Im Gegenzug will ich sofort die drei Namen deiner wichtigsten Handelspartner wissen. Und das ist schon ein großzügiges Angebot. Irgendjemand in der Bande wird auch ein paar Wörter lesen können und wenn du dich weigerst zu kooperieren, werden wir eben selbst deine Aufzeichnungen durchstöbern. Du siehst, ich bin ein netter Kerl, der dir nur ungern die faltigen Eier quetscht. Und jetzt spuck’s aus!“
    Uhland zögerte, man konnte förmlich erkennen, wie die kleinen Zahnrädchen in seinem kahlen Schädel zu rattern begannen.
    „Na gut, na fein. Ich sag es. Wir beziehen unsere Waren von den drei nahegelegenen Ortschaften Falkenring, Helgen und Flusswald. Aus Falkenring bekommen wir Feuerholz von den Brüdern Solaf und Bolund. Die betreiben einen Gemischtwarenladen. Aus Helgen beziehen wir Nahrung und Stoffe von einem Adeligen namens Artus Gabelbart. Aus Flusswald bekommen wir Waffen und Werkzeuge vom örtlichen Schmied.“
    „Der Name des Schmiedes!“, drängte Cass mit Nachdruck.
    „Aber es waren doch schon drei Namen.“
    Der Oberaufseher schloss kurz die Augen, sammelte sich und gab dem Alten dann die Schüssel zurück.
    „Gute Suppe. Zu schade, dass deine Tochter keine Gelegenheit mehr bekommen wird, noch eine Schüssel zu essen.“
    „Schon gut!“, endlich gab sich Uhland geschlagen, „Ich verrate seinen Namen, aber tut ihm bitte nichts Unrechtes. Er hat auch eine Familie zu ernähren und ist ein guter Kerl. Sein Name ist... Alvor, Alvor Hammerhand.“
    Ronsen ist offline
  10. #10 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Von Schlössern und Wüstenkatzen


    Der Disteltee, den man Senna gegeben hatte, schmeckte ausgezeichnet. Wohlig warm durchdrang er ihren Körper, beruhigte ihre angespannten Muskeln und wog sie in eine betörende Sicherheit. Ihre dünnen Finger umklammerten die Tasse mit einem unnahbaren Beschützerinstinkt. Dies war jetzt ihr Tee, sollten die Daedra doch kommen, sie würde ihn nicht kampflos hergeben. Eine Waffe hatte sie zwar nicht, aber immerhin noch den Löffel zum Umrühren in ihrem Mund und sie würde ihn schon irgendwie zur Selbstverteidigung verwenden können. Er war voll mit Honig gewesen. Sie versuchte nach Minuten tiefster Konzentration noch immer, dem Löffel die letzten Tropfen der köstlichen Süße zu entziehen. Erst als sie den Krug restlos geleert hatte, lockerte sich auch ihre Haltung und sie lehnte sich ein wenig zurück. Der Rhythmus ihres Herzschlags normalisierte sich langsam. Sie hatte wider Erwarten die Flucht aus der Mine und durch das tiefste Dickicht überlebt und war vorerst in Sicherheit. Doch frei war sie deswegen noch lange nicht, ganz im Gegenteil.

    Senna befand sich im Werkzeugkeller einer kleinen Dorfschmiede. Eine Gruppe von Bewohnern aus Flusswald hatte sie am Waldrand aufgelesen und mitgenommen. Anfangs erschienen sie so nett und aufgeschlossen, dass es bereits irreal wirkte. Sie erinnerten Senna an den Tag, an dem sie aus dem Gefängnis von Helgen ausgebüchst war und so herzlich bei Ammon und seiner Familie aufgenommen wurde. Für einen kurzen Augenblick hatte sie die Freiheit geschmeckt, doch dann ertönte die Realität wieder in der Stimme eines übereifrigen Soldaten, den sie nur zu gut kannte. Hadvar Hammerhand.
    „Das ist Senna, eine Verbrecherin!“, hatte er gesagt, „Ich verfolge sie schon seit mehreren Monden.“
    Dann hatte er ihre bereits zerschundenen Handgelenke gefesselt, sie auf ein Pferd gesetzt und ins Dorf gebracht. In der Hütte des Schmieds hatte sie ihm Rede und Antwort gestanden und als er endlich nach dem Ort fragte, an dem sie sich versteckt hatte, konnte sie ihm alles von dem Überfall auf die Glutsplittermine erzählen. Sie hatte all ihre Hoffnung darauf gesetzt, sich freihandeln zu können, wenn sie ihm nur genug Details über die anderen gesuchten Verbrecher gab, doch bis auf ein müdes Lächeln und eine „angemessene Strafmilderung“ hatte sie nichts erreicht. Hadvar wollte sie allen Warnungen zum Trotze dennoch nach Helgen überführen, das Problem mit den Banditen könnte er dann mit gesammelter Mannschaft angehen. Zumindest für die eine Nacht sollte sie erst einmal zur Ruhe kommen. Man hatte ihr die Fesseln abgenommen, ihr etwas Brot, Eintopf und Tee gegeben und sie in den Keller gesperrt. Hier lag sie nun, in einer mit Pferdedecken und Stroh ausgekleideten Ecke und versuchte, die Geschehnisse der letzten Tage zu sortieren.

    Sie musste Ammon retten. Obgleich sie ein Leben lang eine Einzelkämpferin gewesen war und es ihrer eigentlichen Aufgabe gar nicht zuträglich war, sich um andere zu kümmern, war er ihr mehr als nur ans Herz gewachsen. Er hatte ihr eine Familie gegeben, die ihr selbst immer fehlte, er hatte sie in sein einfaches, aber glückliches Leben integriert und sie hatte sich damit bereits abgefunden, mit ihm womöglich sesshaft zu werden. Auch hatte sie das Gefühl, für sein Schicksal und das der Mine irgendwie verantwortlich zu sein. Womöglich waren Vega und seine Bande nur ihr gefolgt und erst dadurch geriet die arme Familie Glutsplitter in den ganzen Schlamassel.
    Aber sie konnte ihn nicht retten, solange sie hier im Keller oder gar wieder im Kerker von Helgen eingesperrt war. Auch konnte sie sich nicht darauf verlassen, dass die Soldaten einen Finger krumm machten wegen der Mine. Sie würde Hilfe eines alten Freundes aus Falkenring in Anspruch nehmen müssen.
    ‚Eins nach dem anderen‘, dachte sie und blickte sich in ihrem kleinen Privatgefängnis um. Der Keller hatte ein schmales vergittertes Fenster und eine morsche alte Holztür. Außerdem lagen noch eine Menge Werkzeuge hier herum. Irgendeinen Weg heraus würde sie schon finden, notfalls könnte sie sich auch einen neuen Dietrich basteln. Eine Zange und eine Kiste mit Kettenhemdringen hatte sie dafür schon ins Auge gefasst.
    Von draußen drang Gelächter und Lallen durch das Fenster und ein schwerer, rauchiger Geruch lag in der Luft. Der Keller lag in der Nähe einer Taverne, schloss Senna und entschied sich daher, ihren Ausbruch noch ein paar Stunden aufzuschieben, bis die Straßen in ruhiger Finsternis lagen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war die Aufmerksamkeit eines laut grölenden Trunkenboldes zu erregen. Stattdessen konnte sie die Zeit nutzen, um sich tatsächlich einmal etwas auszuruhen. Sie fühlte sich, als hätte sie drei Tage nicht geschlafen und das notdürftige Bett fühlte sich im Vergleich zum harten Waldboden wie ein Himmelbett an. Sie schloss die Augen und vertraute auf ihre innere Uhr, nicht bis zum Morgengrauen durchzuschlafen.

    Zwei Stunden später wurde Senna durch ein Rütteln an der Tür aufgeschreckt. Ihre Hand griff zuerst nach dem Teekrug als Wurfgeschoss, entschied sich dann aber für die schwere Zange, die sie sich vorsichtshalber direkt neben das Bett gelegt hatte.
    „Mist“, zischte es von der anderen Seite der Tür. Senna bezog Stellung im toten Winkel und hielt den Atem an. Das Rütteln ließ schnell nach und wurde von einem leise klackernden Geräusch ersetzt. Die Rothwardonin kannte es nur zu gut, wie das Rattern eines Uhrwerks. Jemand wollte das Schloss von außen knacken. Aber dieser jemand stellte sich nicht gerade professionell an.
    „Scheiße“, flüsterte es von der anderen Seite. Die Stimme war hoch, weiblich, aber nicht fraulich. Eher kindlich. Konnte das denn sein?
    „Hey Kleine, was machst du denn?“, zischte Senna von drinnen. Schweigen. Die junge Tochter des Schmiedes war wie zur Salzsäule erstarrt.
    „Das ist ein simples Schloss mit nur einem Zahn“, fuhr die Rothwardonin unbeirrt fort, „Führe deinen Stift vorsichtig herein und taste nach einer lockeren Stelle.“
    Keine Antwort, doch das Klackern begann aufs Neue.
    „Du musst den richtigen Druckpunkt finden“, spornte Senna sie an, „Bei diesen alten Schlössern geht es meistens etwas schwerer. Führe ihn langsam am Rand entlang und drück‘ in einem möglichst großen Winkel dagegen, sonst bricht dein Dietrich ab.“
    Ein Knirschen.
    „DA!“, hauchte Senna, „Das ist es! Du drückst dagegen und ich drücke die Klinke von der anderen Seite.“
    Und tatsächlich. Nach nur wenigen Versuchen unter Sennas Leitung war es der kleinen Nordländerin gelungen, das Schloss zum Keller zu öffnen. Die Kleine erstrahlte vor stolz, nicht ahnend, dass Senna sie jeden Augenblick mit der Zange niederschlagen und die Flucht antreten konnte. Früher wäre ihr so etwas zuzutrauen gewesen, doch etwas hatte Sennas Neugier geweckt. Warum hatte die Kleine – offensichtlich gegen den Willen ihres Vaters – einen Einbruch unternommen. Was wollte sie von Senna?

    „Das war gute Arbeit“, lobte die Ausbruchsexpertin ihren jüngsten Lehrling anerkennend, „Aber ist dir auch klar, dass du dafür ziemlichen Ärger bekommen wirst?“
    „Ist mir doch egal“, antwortete die Kleine kühl, „Mein Vater würde mir auch nicht erlauben mit Messern zu spielen, aber ich geb nichts auf den alten Horker.“
    Das Mädchen hatte ein langes Nachtkleid an, das mit einem einfachen Knoten gebunden war. Doch das Band hielt nicht nur das Kleid fest, sondern auch einen langen Dolch, den sie hinter ihrem Rücken versteckt hatte und jetzt hervorzog. Senna war schwer beeindruckt. Die Kleine erinnerte sie an sich selbst in ihrer Jugend. Mit der Ausnahme, dass die Kleine einen Vater hatte.
    „Wie heißt du?“, wollte Senna wissen.
    „Falke“, antwortete sie, „Und du?“
    „Panther“, erwiderte Senna instinktiv. Einen Decknamen konnte sie eigentlich ganz gut gebrauchen. Ihr war in letzter Zeit so, als kenne jeder Hinz und Kunz ihren Namen.
    „Was für ein Tier soll das sein?“
    „Eine Raubkatze. Sie leben in der schwarzen Steppe im Hammerfell, in der südlichen Alik’r-Wüste.“
    „Was macht eine Wüstenkatze im kalten Himmelsrand?“, fragte der Falke, ohne sein wachsames Auge von Sennas Blick abzuwenden. Das Messer lag zitternd in der Hand der Kleinen, doch sie bemühte sich, taff zu wirken.
    „Ich bin auf der Jagd“, sagte Panther.
    „Und deine Beute findest du im Wald?“
    „Nein... weißt du, manchmal, da wird der Jäger zum Gejagten. Wir Panther sind Einzelgänger und meiden die Menschen für gewöhnlich. Sie jagen uns wegen unserem… schönen Fell. Unserer Anmut. Und weil wir so selten sind. Besonders hier im Himmelsrand. Ich selbst jage einen Menschen, der einem geliebten Kater Schmerzen zugefügt hat.“
    „Kann ich dir helfen?“
    Senna lächelte: „Das hast du bereits, als du die Tür geöffnet hast. Jetzt gib mir den Dietrich, ich will es so aussehen lassen, als sei ich selbst ausgebrochen.“
    Falke tat wie ihr geheißen und Senna präparierte das Schloss der Tür von innen. Dann streckte sie die Hand nach dem Messer aus. Die Kleine zögerte kurz, überließ es ihr dann aber.
    „Gehst du jetzt deinen Liebsten retten?“
    „Ja.“
    „Darf ich mitkommen?“
    Senna staunte nicht schlecht über diese Frage.
    „Ich mag dich, Falke. Aber du bist auch ein Lockvogel. Deine Familie würde uns nachstellen und nicht locker lassen, bis sie uns gefunden haben. Dann kriegen wir beide Ärger.“
    „Das kann schon sein“, sagte die Kleine, „Oder aber ich schreie so laut, dass mein Vater aufwacht und dich wieder in Ketten legt.“
    Sennas Atem blieb kurz stocken. Geschah das gerade wirklich? Wurde sie von einer Halbstarken erpresst? Die Kleine war wirklich wie sie. Eiskalt und abgebrüht. Senna musste sich etwas einfallen lassen, aber viele andere Chancen, als sie direkt auszuschalten, blieben ihr nicht. Doch das brachte sie nicht übers Herz. Vielleicht konnte sie die Kleine ja später abschütteln.
    „Na schön Falke“, sagte der Panther, „Dann lass uns jagen gehen.“
    Ronsen ist offline
  11. #11 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Am Kaminfeuer


    Uhland Glutsplitter besaß einen schönen, antiken Schaukelstuhl. Er hatte eine für seinen Sohn Ammon unvergessliche Geschichte, die mit einem Familienausflug in die Hauptstadt begann.
    Ammon war damals vielleicht acht, neun Jahre alt und gerade dabei, die magischen Kräfte zu begreifen, die in ihm schlummerten. Die kindliche Naivität beeinflusste dabei die Entwicklung seiner arkanen Künste stärker, als es konventionelle Lehrbücher taten. Meistens lief es darauf hinaus, dass er mit telekinetischen Kräften Süßigkeiten stibitzte. Toni hingegen war gerade in ihrer „Haben Haben“–Phase, warf sich dann und wann einfach auf den Boden und schrie so lange herum, bis sie ihren Willen bekam. Papa Uhland war das so peinlich, dass er ihr all ihre Wünsche erfüllte, solange er sie damit ruhig stellen konnte.
    An jenem milden Vormittag, es mochte im Monat Regenhand oder Zweite Saat gewesen sein, war Uhland mit seinen beiden Kindern auf dem Marktplatz von Weißlauf, um neue Vorräte zu einzukaufen. Der alleinerziehende Vater war wieder einmal völlig überfordert von den Wünschen seiner kleinen Prinzessin und ihrem irgendwie seltsamen Bruder. Er hatte mehr damit zu tun, seine Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, als tatsächlich einzukaufen.
    Ein Marktschreier hatte ihre Aufmerksamkeit auf eine Tombola gelenkt, die vor einer alten, baufälligen Villa stattfand. Die letzte Bewohnerin war verstorben, das Haus wurde ausgeräumt. Weil sie sich zeitlebens mit ihren Nachkommen verstritten hatte, verweigerte sie ihnen das Erbe. Stattdessen besagte ihr Testament, dass sie all ihre Besitztümer an die fleißigen Bewohner der Stadt im Rahmen einer großzügigen Feier verschenken wollte, in einer lustigen Tombola, bei der all ihre Besitztümer zufällig ausgelost wurden. An jenem Tag fand die Verlosung statt, weswegen der Marktplatz noch überlaufener war als ohnehin. Verlost wurden unter anderem Möbel, Gemälde, Schmuck, kostbare Kleider und – zu Tonis Freude – eine Sammlung handgefertigter Puppen.
    „DIE WILL ICH!!!“
    Mit ausgestrecktem Finger deutete Toni auf eine Nachbildung von Prinzessin Elisif der Liebreizenden. Die Puppe war – für das Kind, das sie darstellen sollte – völlig überschminkt und in ein seltsam geschnittenes, blaues Blümchenkleid gehüllt. Trotzdem war sie einst mehr wert gewesen, als eine Monatsration Hafergrütze.
    „Ach mein Sonnenschein“, hatte Uhland mit seiner tiefen Bärenstimme gesagt und seiner Tochter das Haar getätschelt, „was ist denn mit dem Püppchen, das ich dir neulich geschnitzt habe?“
    „Hat Ammon kaputt gemacht!“
    Das stimmte sogar, wenigstens zur Hälfte. Ammon hatte auch damit spielen wollen, aber als Toni ihn damit gesehen hatte, war sie zu ihm gestürmt und hatte nach der Puppe geschnappt. Damals waren sie noch ungefähr gleichstark und Ammon wollte nicht klein beigeben. Also hatten sie so lange daran gezerrt, bis sie plötzlich zwei halbe Puppen besaßen. Und nach Kinderlogik gab es nur einen möglichen Ersatz: eine neue, bessere Puppe.
    „Es tut mir Leid, aber wenn ich ein Los in den Topf werfe, heißt das nicht, dass ich genau diese Puppe bekomme. Es könnte auch etwas ganz anderes sein. Und ich will mein Gold nicht für Plunder ausgeben.“
    In der Hinsicht war er ein sehr pragmatischer Mensch. Doch Toni war auf ihre Art überzeugend. Ihr Geschrei war lauter und durchdringender als das Paarungslied der Hexenraben. Ammon fand das unausstehlich und doch war es äußerst effektiv. Uhland versuchte schließlich, seine Verbindungen spielen zu lassen, immerhin war er dank seines kostbaren Erzes ein sehr bekannter Mann in der Stadt. So steckte er dem Helfer beim Ziehen der Losnummer ein paar Münzen extra zu, dass dieser ihm besagte Puppe zuwies. Ammon hatte das spitz gekriegt und sich spontan dazu entschieden, mit seiner Magie etwas nachzuhelfen. Mit einem Fingerschnippen konnte er die Losnummer verändern. Und wäre er schon so weitsichtig wie ein Erwachsener gewesen, hätte er sich auch überlegt, in welche Zahl er das Los veränderte. Ihm war es egal gewesen, Hauptsache Toni bekam nicht schon wieder ihren Willen.
    Und so war Uhland schließlich an den Schaukelstuhl gekommen, den das neue Los ihm zugeordnet hatte. Toni hatte den Göttern sei Dank auch irgendwann mit ihrem Geheul aufgehört. Danach hatte leider ihre „Hau“-Phase begonnen, die bis dato andauert.

    Heute stand der Schaukelstuhl in Uhlands Quartier, einem fein ausgebauten Raum in der obersten Ebene der Glutsplittermine. Der alte Bergmann hatte sich sogar einen Kamin in dem Quartier angelegt, vor welchem er es sich dann und wann gemütlich machte, mit einem Glas Cyrodiilischen Wein und einem guten Buch. Das Buch hatte Ammon ihm meistens vorgelesen, wegen seiner schlechten Augen. Inzwischen war der junge Mann davon überzeugt, dass sein Vater gar keine Augenprobleme hatte, sondern einfach nicht so gut lesen konnte, wie er. Aber das hatte Ammon auch nie gestört, im Gegenteil. Die Abende mit seinem Vater vor dem Kaminfeuer gehörten zu seinen schönsten Kindheitserinnerungen.
    Doch jetzt saß Vega der Verbrannte in dem Schaukelstuhl. Ammon konnte seine Verachtung nicht verbergen, als er den Banditenanführer vor dem Kamin sitzend sah, ein Glas Branntwein auf dem Beistelltisch und eines von Ammons wertvollen Büchern in der Hand.
    „Ammon, der Arkanist. Was für eine Ehre! Komm, leiste mir Gesellschaft.“
    Vega winkte den Handlanger heraus, der Ammon zu ihm geführt hatte. Der junge Bergmann blieb wie angewurzelt stehen. Aus der Nähe konnte man sehr gut erkennen, warum man ihn Vega, den Verbrannten nannte. Sein halbes Gesicht war grässlich entstellt. Die fleischig-rote Haut der linken Gesichtshälfte hing wie ein blasenübersäter Lappen an seinem Wangenknochen. Die Brauen hatte er sich abrasiert, vermutlich weil eine einzelne Braue albern aussah. Und auch das dunkle Kopfhaar hatte er sich kurzgeschoren. Doch bis auf das entstellte Gesicht machte Vega einen stilvollen Eindruck. Dem Namen seiner Bande gerecht, war er sich in einen schwarzen Mantel gekleidet, den er über einem reich verzierten Wams trug.
    Na los, wirst du dich jetzt endlich setzen? Ich werde dich nicht noch einmal bitten.“
    Ammon nahm auf einem Schemel am Kamin Platz. Wie er Vega so gegenüber saß, erkannte Ammon jetzt erstmals auch ein grün funkelndes Amulett, das dem Verbrannten um den Hals hing.
    „Ein Antimagie-Medaillon“, kommentierte Vega den Blick seines Gegenübers und schmunzelte, „Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ich war nämlich äußerst überrascht, als ich dich neulich habe zaubern sehen. Das hat mich doch glatt eiskalt erwischt. Und jetzt ist deine kleine Freundin sogar entkommen. Aber keine Angst, du wirst sie schon bald wiedersehen. Ich habe meine beste Häscherin auf sie angesetzt.“
    „Lasst sie doch in Frieden. Sie kann Euch nichts anhaben und Ihr habt längst, was Ihr wolltest.“
    „Du irrst dich, aber das wundert mich nicht. Die Kleine redet nicht über ihre Vergangenheit, nicht wahr? Nun, Senna und ich sind alte Bekannte. Und ich habe noch eine kleine Rechnung mit ihr offen. Über mehr brauchst du dir dein Gehirn nicht zu zerbrechen. Dafür habe ich eine ganz andere Aufgabe.“
    Ammon blinzelte. Seine Befürchtungen waren also berechtigt gewesen. Womöglich war es wirklich so, dass Vega und seine Bande vor allem hinter Senna her waren. Was hatte sie nur getan? War sie etwa für die Verunstaltung des Mannes verantwortlich, der Ammon gerade gegenüber saß?
    „Einen Schluck Wein vielleicht?“
    Vega hielt ihm den Krug mit dem scharfen Branntwein hin. Die Flasche hatte er aus Uhlands Weinregal geklaut. Es war eine dieser Flaschen, die man nicht trank, sondern einfach nur besaß. Ein seltenes Geschenk eines Freundes aus der Kaiserstadt, gut und gerne 20 Jahre alt.
    „Ich trinke nichts“, antwortete der junge Bergmann knapp. Er wurde früher immer von Toni und den Knechten zum Trinken gezwungen und hatte damit schlechte Erfahrungen gemacht. Es gab nichts Gefährlicheres als betrunken einen Zauber zu wirken. Da stehen Explosionen auf der Tagesordnung.
    „Erstaunlich“, erwiderte Vega und erhob sich aus dem Schaukelstuhl.
    „Ich vermeide auch jeden Tropfen. Alkohol macht einen blind, übermütig und dumm. Zu schade, dass ich die Flasche jetzt umsonst geöffnet habe. Tja…“, der Verbrannte trat einen Schritt zum Kamin und schüttete den teuren Branntwein ins Feuer. Das Gesöff zischte, als wäre der Weingeist endlich aus seiner zwanzigjährigen Gefangenschaft erlöst worden. Ammon war verstört. Wie konnte der Kerl es wagen, einfach den teuren Trunk seines Vaters zu verschwenden?
    „Ist dir der Name Sanguine ein Begriff, Ammon?“
    „Ja“, erwiderte dieser verwirrt, „Er ist einer der Daedrafürsten, nicht wahr?“
    „Richtig“, Vega klatschte sich freudig in die Hände, „Ich bin begeistert. Endlich mal jemand, der etwas von dem Pantheon versteht. Du kannst dir sicher vorstellen, dass diese Bande von Säufern nur den Gott in der Flasche anbeten.“
    Vega schenkte sich nach und setzte sich wieder in den Stuhl.
    „Sanguine gilt als Fürst der Ausschweifung. Die Nachtschwärmer behaupten, er könne Wein in Wasser verwandeln. Hältst du das für möglich?“
    Ammon runzelte die Stirn.
    „Naja ich… keine Ahnung, wie es der Daedra macht, aber die Magie selbst ist ja auch nur eine Umformung der gegebenen Materie. Nehmt zum Beispiel diesen Wein. In ihm haust das Wasser Seite an Seite mit dem Schnaps und ein paar Fruchtstoffen. Es wäre sehr einfach möglich, mit einem Veränderungszauber die Bestandteile zu trennen und aus dem Wein Wasser zu machen. Umgekehrtes ist schwieriger, aber nicht unmöglich.“
    „Zeig es mir!“
    „Was?“
    „Du hast mich schon verstanden. Verwandle den Wein in Wasser!“
    Der junge Magier zuckte zusammen. Nicht, dass er das nicht schon einmal gemacht hätte – man konnte sich mit so einem Trick einer Menge erzwungenem Alkoholkonsum entziehen. Aber er verstand einfach den Sinn dahinter nicht. Wollte Vega von ihm einfach nur unterhalten werden? Und dann noch der gute Branntwein seines Vaters. Das kam ihm falsch vor.

    Ammon seufzte und legte seine Hände um den Kelch. Er schloss die Augen, konzentrierte seine magischen Fähigkeiten auf die Flüssigkeit im Gefäß und führte eine astrale Trennung der Bestandteile durch. Alles, was kein Wasser war, ließ er entweichen, sodass am Ende nichts übrig blieb, als eine stille, kristallklare Flüssigkeit.
    Vega wirkte zufrieden.
    „Trink davon.“
    Der junge Mann zuckte mit den Schultern und trank den Kelch aus. Ja, Wasser. Etwas fad vielleicht, aber durchaus durststillend.
    „Fantastisch“, freute sich Vega, „Du hast dich bestimmt bereits gefragt, was das soll. Ich werde es dir verraten. Wir kommen jetzt zu deiner eigentlichen Aufgabe.“
    Vega griff nach seinem Gürtel und zog einen kleinen, ledernen Beutel hervor. Darin befand sich ein graumelierter, funkelnder Eisenerzbrocken von der Größe eines Hühnereis.
    „Lektion Zwei“, sagte der Verbrannte und drückte Ammon den Stein in die Hand, „Verwandle diesen Eisenbrocken zu Gold!“
    Ronsen ist offline
  12. #12 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Die Kreuzung

    Die letzte Nacht hätte, wenn es nach Hadvar ginge, noch ein paar Stunden länger andauern können. Das Gästebett, welches er bei seinem Onkel bezogen hatte, war viel gemütlicher, als die harte Pritsche in der Mannschaftsunterkunft von Helgen. Eine Schande, dass er sich bereits vor Sonnenaufgang herausquälen musste. Aber so war es abgemacht. Alvor und er wollten heute abwechselnd schlafen. Die Gefangene war ihnen nicht geheuer und der Schmied bestand darauf, dass irgendjemand immer die Kellertür im Auge behalten sollte. Und jetzt würde Hadvars Schicht beginnen.
    Heute sollte ein guter Tag werden, das hatte Hadvar im Gespür. Er würde die Gefangene zurück nach Helgen bringen und ein sattes Kopfgeld einheimsen. Das sollte Kommandant Eisenzahn zufriedenstellen. Vielleicht würde man ihm dafür sogar das Kommando über eine eigene Division geben, mit der er dann die verdammte Banditenhöhle komplett ausräuchern konnte. Das wäre sein Sprungbrett bis ganz nach oben!

    Hadvar gähnte herzhaft und schlurfte die Treppe herunter ins Erdgeschoss. Das schwache Schimmern eines halb erloschenen Kaminfeuers wies ihm den Weg. Ein süßer Honigduft lag in der Luft und vermengte sich mit dem Bratendunst vom gestrigen Abendschmaus. Sogleich meldete sich Hadvars Magen zu Wort. So ein kleiner Nachtimbiss wäre jetzt genau das Richtige, um gut gestärkt in den Tag zu starten. Er schlich sich in Richtung Essecke und konnte seinen Augen kaum glauben, als er da seinen Onkel regungslos am Tisch sitzen sah. Der erste Schock verging aber schnell, als ihm auffiel, dass Alvors Hand noch um seinen Metkrug geschlungen war und er einen leisen, aber eindringlichen Schnarchrhythmus von sich gab.
    „Das glaub‘ ich ja jetzt nicht“, fluchte Hadvar leise, um nicht seine Tante oder Cousine aufzuwecken. Umso bestimmter zog er seinem Onkel dann am Ohr, um ihn so unsanft wie möglich aus seinem Tiefschlaf zu wecken. So viel hatten sie letzte Nacht ja nun wirklich nicht getrunken und wie Hadvar sah, war der Metkrug des Schmieds erst halb geleert.
    „Einbrecher!?“, grunzte Alvor verträumt und verschüttete sein Gefäß über dem kleinen Tisch, „Oh verflucht!“
    Hadvar konnte der Metpfütze gerade noch ausweichen, sonst wäre sie über seine frisch geputzten Stiefel gekleckert.
    „Sag mal, was soll denn das?!“, herrschte er seinen Onkel an, der sich verdattert die Augen rieb, „Ich dachte, du wolltest den Keller im Auge behalten!“
    Alvor streckte sich und gähnte herzhaft. Dann erhob er sich, kratzte sich den Rücken und tapste in Richtung Kellertür hinüber.
    „Jetzt mach‘ mal halblang. Ich hab höchstens mal kurz die Augen ausgeruht. Unser Gast wird sicher auch schlafen.“
    „Das ist kein Gast, sondern eine gesuchte Verbrecherin! Ich muss sie unbedingt zurück in den Kerker nach Helgen bringen. Sie hat es schon einmal geschafft, aus einer Zelle zu entkommen und sie wird es wieder tun, wenn wir sie nicht Rund um die Uhr im Auge behalten. Sag mal hörst du mir überhaupt zu?“
    Doch Alvor reagierte nur mit einem verdutzten Brummen und langte zum Tisch nach seinem Hammer.
    „Was ist denn?“, intuitiv fuhr Hadvars Hand zum Schwertknauf.
    „Die Tür wurde aufgebrochen.“
    „NEIN!“, zischte der Soldat verzweifelt, „Gib mir Deckung!“
    Dann stürmte er den Keller, nur um festzustellen, dass seine böse Vorahnung eingetroffen war. Senna war ihm schon wieder entkommen. Diese Ratte! Doch es sollte noch schlimmer kommen. Ein Schrei aus dem Obergeschoss fuhr ihm durch Mark und Bein. Durch ihren Krach war Tante Sigrid aufgewacht. Als Hadvar wieder oben war, packte sie ihn direkt an seiner Rüstung und schüttelte auf Nordart durch.
    „Wo ist sie? Wo ist meine Kleine!? Du solltest doch auf sie aufpassen!“
    Dorthe war verschwunden. Der selbsternannte Falke hatte wieder einmal einen Abflug gemacht. Hadvar schluckte schwer.
    „Hast du auch ganz genau geschaut?“, fragte Alvor, „Vielleicht hat sie sich wieder im Schrank versteckt. Oder sich rausgeschlichen zu diesem verlausten Nachbarsjungen.“
    „Sie wurde bestimmt als Geisel genommen. Lass mich durch, ich muss ihr hinterher!“
    Alvor hatte sichtliche Mühe, seine Frau davon abzuhalten, barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet in die Nacht hinaus zu stürmen, um nach ihrer Tochter zu suchen. Hadvar musste für Ruhe sorgen.
    „Beruhige dich, Tantchen. Das ist bestimmt nur ein dummer Zufall. Unsere Gefangene – Senna – ist eine Einzelgängerin, für sie wäre jeglicher Anhang nur Ballast. Und außerdem ist sie harmlos, eine Taschendiebin, nichts weiter. Ich werde mich sofort auf den Weg machen und nach ihr suchen. Und du Onkel, du solltest dich in Flusswald umschauen. Irgendjemand hat sie bestimmt gesehen. Dieser Frodnar vielleicht.“
    „Ja, wenn ich den Lausebengel in die Finger kriege!“, Alvor ballte die Fäuste und blickte zu Hadvar, der sich seinen Mantel überzog, „Pass auf da draußen. Die ist vielleicht doch nicht so harmlos, wie du denkst…“
    „Keine Sorge. Ich bin Soldat. Kleinkriminelle einfangen ist mein täglich Brot. Heute Abend werden wir drüber lachen.“
    Und mit diesen Worten sprag er hinaus in die Nacht und auf den Rücken seines Pferdes Möhre. Weit konnte Senne noch nicht gekommen sein und er hatte so eine Ahnung, wohin es sie zog. Er würde auf direktem Wege in Richtung Falkenring reiten.

    Bei Sonnenaufgang erreichten Reiter und Pferd eine große Kreuzung, deren Trampelpfade zu den vier wichtigsten Örtlichkeiten des südlichen Himmelsrandes führten. Im Nordosten lag Flusswald, Heimat von Onkel Hadvar, Tante Sigrid und der entlaufenen Dorthe. Dem Uhrzeigersinn folgend ging es im Südosten zur Grenzfestung Helgen, wo der junge Soldat Hadvar stationiert war. Im Südwesten erreichte man nach einem langen Ritt am Ufer des Ilinaltasees das Fürstentum Falkenring. Nach Nordosten schließlich führte ein schmaler Steig in Richtung der Glutsplittermine.
    Hadvar war nicht allein. Er war ein paar Fußspuren gefolgt, die die Nässe der Nacht in der aufgewühlten Erde konserviert hat. Zwei Spuren, schmale Füße, vermutlich Frauen. Ein kalter Schauer lief dem Soldaten über den Rücken. Hatte Senna seine Cousine doch mitgenommen? Oder war die Kleine gar freiwillig bei ihr?
    Ein Rascheln im Unterholz ließ ihn aufschrecken. Routiniert schwang er sich vom Rücken des Pferdes und griff nach seinem Schwert.
    „Im Namen des Kaisers, ihr seid umstellt! Kommt heraus, dann muss es kein Blutvergießen geben!“
    Das war die Standardfloskel. Normalerweise sollten die Wachtruppen aus jeweils drei bis vier Soldaten bestehen. Doch seit sich der Konflikt mit den Sturmmänteln verstärkt hatte, waren die meisten Männer an den Grenzposten stationiert, nicht im Hinterland. Hadvar sollte ja auch lediglich die Steckbriefe verteilen, man hatte gar nicht von ihm erwartet, dass er sich allein den Verbrechern stellte. Umso mehr Eindruck konnte er schinden, wenn er sie tatsächlich überwältigte. Zumindest Senna musste er erwischen, sonst würde man ihn nie ernst nehmen.

    Aus dem Unterholz trat eine verschmutzte Dorthe, die Hände abwehrend vor sich haltend und sichtlich um Fassung ringend.
    „Säbelzahn…“, japste sie.
    „Bei den Göttern, Dorthe! Geht es dir gut? Was ist passiert?“
    Er wollte zu ihr herüber gehen und sie in die Arme schließen, da bemerkte er ein Funkeln an ihrem Hals, ein Messer, das ihr an die Kehle gedrückt wurde.
    „Keinen Schritt weiter!“, ertönte eine harsche Frauenstimme, dann erkannte er die gesuchte Rothwardonin Senna, die hinter seiner kleinen Cousine aus dem Dickicht trat. Sie machte einen ähnlich zerschundenen Eindruck, als wären sie vor jemanden davongerannt. Natürlich, dieser jemand war er, Hadvar. Nervös blickte Senna sich um.
    „Das verstehst du unter umstellt? Da steht ein einzelnes Pferd herum, du bist allein!“
    Möhre ignorierte das Geschehen gelangweilt und knusperte stattdessen an einem abgeholzten Baumstumpf. Hadvar versuchte den letzten Satz von Senna zu ignorieren, wenngleich er sich immer unwohler fühlte.
    „Lass sofort das Mädchen gehen! Sie hat dir nichts getan!“
    „Ach ja? Sie verfolgt mich schon den ganzen Morgen. Ich will nichts lieber, als wieder allein unterwegs zu sein. Aber du würdest mich gleich wieder in Ketten legen und der Gedanke gefällt mir nicht.“
    Hadvar biss sich auf die Unterlippe. Hier war Diplomatie gefragt. Er musste Dorthe um jeden Preis in Sicherheit bringen. Seine Mission, Senna gefangen zu nehmen, musste er wohl oder übel vertagen.
    „In Ordnung. Du lässt Dorthe frei und ich lasse dich laufen. Du hast mein Wort.“
    „Darauf gebe ich nichts“, herrschte sie ihn an, „Gib mir lieber dein Pferd, das finde ich einen fairen Tausch!“
    Möhre hatte sich inzwischen auf den Boden geworfen und suhlte sich im Dreck wie ein Schwein. Hadvar liebte dieses Pferd und in seinem Inneren begann eine tiefe Wut auf die Halsabschneiderin zu kochen. Doch die Sicherheit seiner Cousine ging vor.
    „Wenn’s sein muss. Was willst du noch? Meinen Geldbeutel?“
    Senna zuckte mit den Schultern: „Klar, warum nicht? Wirf ihn mir herüber!“
    Das war dämlich gewesen, dachte sich Hadvar und knöpfte seinen Goldsäckchen vom Gürtel. So wechselten Pferd und Pfifferling den Besitzer und endlich ließ die Verbrecherin von Dorthe ab. Hadvar ging auf die Knie, um sie in die Arme zu schließen.
    „Säbelzahn!“, rief sie.
    „Komm her, du kleiner Falke!“
    Als er sie endlich in den Armen hielt, fühlte er einen dumpfen Schmerz in seinem Rücken. Instinktiv stieß er sie von sich ab und starrte sie mit geweiteten Augen an.
    „Was… was hast du?“, stammelte Dorthe erschrocken.
    Hadvars Mund füllte sich mit Blut, sein Atem ging plötzlich nur noch stoßweise, röchelnd. Er konnte keine Luft mehr holen. Ein Messer hatte sich tief in seinen Rücken gebohrt. Sein panischer Blick wanderte zu Senna, die ihn ebenso entsetzt anstarrte. Sie hielt ihr Messer noch in der Hand und sie war weit von ihm entfernt. Sie waren in einen Hinterhalt geraten!
    „… lauf...“, gluckste Hadvar und besudelte dabei Dorthes Kleid. Dann sackte er zusammen, zuckte und spürte, wie sich die Kreuzung mit seinem Blut tränkte.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (12.06.2017 um 22:45 Uhr)
  13. #13 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Lucille


    Der Schrecken über das Attentat auf den Soldaten brachte selbst die hartgesottene Senna für einen Augenblick aus der Fassung. Sie war gerade dabei, das eingetauschte Pferd zu satteln, als das schrille Quieken von Dorthe das Unheil durch die Berge echote. Hadvar brach vor den Augen seiner Cousine zusammen, ein silbernes Messer spiegelte das Morgenrot zwischen seinen Schulterblättern. Noch während der junge Mann sein Leben aushauchte, trat der feige Angreifer aus seinem Hinterhalt hervor, ein zweites Messer bereits in der Hand.
    „Du…“, zischte Senna, die die Gestalt gleich erkannte. Eine junge Frau, vielleicht in ihrem Alter, aber das konnte man nicht genau sagen, denn ihr Gesicht war bis auf die Augen in einen dunklen Schleier gehüllt. Es war die Wächterin aus dem Minengefängnis, eine von Vegas engsten Vertrauten. Ihr Name war Senna kein Unbekannter: Lucille, die Menschenjägerin.

    Hinter ihr kam noch ein weiterer Bandit aus dem Unterholz geprescht. Ein kleinerer Kerl mit Glatze und Rattenschwanz, der direkt zu dem gefallenen Soldaten flitzte. Er trug einen gespannten Bogen, dessen Pfeilspitze ihre Richtung hektisch zwischen Dorthe und Hadvar wechselte. Als er sich mit einem Fußtritt in die Seite versichert hatte, dass von dem jungen Mann keine Gefahr mehr ausging, entspannte sich seine Haltung ein wenig.
    „Wieder ein ausgezeichneter Wurf, Lucille. Dem Kerl hat nicht einmal sein Kettenhemd geholfen.“
    Senna überlegte kurz, ob die Banditen sie bereits gesehen hatten oder sie sich einfach aus dem Staub machen konnte.
    „Versuch’s nicht einmal!“, ein dritter Angreifer schien ihre Gedanken gelesen und gleich beantwortet zu haben. Der schäbige Kerl war mit einem Krummsäbel bewaffnet, dessen Klinge er Senna direkt unter die Kehle hielt. Es handelte sich um einen Nord, woher bei den Zwölf hatte er sich eine Waffe der Rothwardonen geangelt? Dann fiel es der jungen Wüstenfrau wie Schuppen von den Augen. Das war IHRE Waffe! Das Schwert hatte sie ja schon seit Monaten nicht mehr gesehen.
    „Ha! Das war fast schon zu einfach“, posaunte er zufrieden, „Wir hatten schon befürchtet, dich aus den Händen einer ganzen Brigade von Soldaten befreien zu müssen, aber anscheinend interessieren sich die Kaiserlichen gar nicht sonderlich für deinen Kopf. Ganz im Gegensatz zu unserem Boss. Der will dich unbedingt lebend haben… das heißt, er will dir gerne selbst den Garaus machen.“
    Er rotzte ihr vor die Füße.
    „Ich übrigens auch. Du blöde Schlampe hast meinen Kumpel Wratch auf dem Gewissen. Keiner hat so guten Schnaps gebrannt wie Wratch…“
    Sennas Blick blieb kühl. In der Hand hinter ihrem Rücken hielt sie noch immer das Messer, das sie Dorthe abgenommen hatte. Sie brauchte nur eine Sekunde der Unachtsamkeit, dann könnte sie zum Befreiungsschlag ausholen. Doch da war auch noch Dorthe. Die Kleine kauerte noch immer wie versteinert vor dem Leichnam ihres Vetters.
    „Was machen wir mit ihr, Boss?“, fragte der Rattenschwanz mit dem Bogen. Lucille kam zu ihm herangetreten und ließ sich ihr Messer geben. Sie sagte kein Wort, doch ihre Geste sprach Bände. Mir der Klinge des Dolches strich sie sich symbolisch über die Kehle. Jetzt wollten sie also auch noch dem Mädchen an den Kragen. Senna fühlte sich furchtbar. Das war ihre Schuld, aber warum musste das Gör sie auch unbedingt begleiten? Der Rattenschwanz zuckte die Schultern und steckte den Bogen weg.

    „Für dich reicht ein Messer. Tut mir Leid, Kleines. Mach einfach die Augen zu, es geht auch schnell und schmerzlos.“
    Wie er das sagte, hatte er sich zu Dorthe heruntergebückt und ihr direkt ins Gesicht geschaut. Die hatte sich geistesgegenwärtig mit zwei Händen voll Sand bewaffnet und diese der Glatze direkt ins Gesicht geklatscht.
    „Argh, du Mistkröte!“, schrie er und packte sie an der Hand. Dorthe konnte sich mit einem Biss in seine Hand befreien, doch verlor sie bei der Aktion ihr Muschelarmband.
    Der andere Bandit wandte sich zu seinem Kumpel um: „Was ist denn da los, Rick?“
    RATSCH!
    Blitzschnell hatte Senna dem Kerl mit dem Krummschwert ihr Messer durch den Unterkiefer gerammt. Noch während dieser gurgelnd zusammenbrach, riss sie ihm ihre Waffe aus der Hand und schwang sich auf den Rücken des Pferdes. Der Rest ging unglaublich schnell. Dorthe war schon am Wegrennen, da hatte Lucille schon wieder ein Messer gezückt. Es traf das Mädchen direkt in die rechte Wade. Kreischend ging Dorthe auf die Knie und streckte die Arme hilfesuchend nach Senna aus. Die war bereits bis zu ihr herangeritten, packte sie mit aller Kraft und hievte das Kind auf den Rücken des Pferdes. Es war ein gewagtes Manöver und die Pfeile und Messer, die man ihnen mitschickte, verfehlten das panische Pferd nur um Haaresbreite. Doch irgendwann – sie hatten bereits die Ausläufer des Ilinaltasees erreicht – fühlte sich Senna sicher, dass sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatten, zumindest für den Moment.

    Am Ufer des Sees bemühte sich die Rothwardonin um eine Erstbehandlung von Dorthes Wunde. Sie war keine Ärztin, hatte sich aber vor ihrer Ankunft in Himmelsrand ein wenig mit den heimischen Pflanzen auseinandergesetzt. Sie gab Dorthe ein paar violette Beeren, die beruhigende und schmerzlindernde Wirkung hatten, ehe sie ihr das Messer aus der Wade entfernte, säuberte und schnell mit einem Stück ihres Ärmels abband. Die Kleine war tapfer und gab während der notdürftigen Behandlung keinen Mucks von sich. Erst als Senna fertig war und die beiden einen Moment innehielten, konnte sie sich ein leises Schluchzen nicht verkneifen. Die Rohrdommel sang ihnen ein Klagelied.
    „Das wird sie uns büßen…“, zischte Dorthe und wischte sich die Tränen aus den Augen, „Ich werde dir helfen, Panther. Zusammen befreien wir deine Freunde aus der Mine und rächen Hadvar, den Säbelzahn.“
    „Halt den Mund“, entgegnete Senna ihr wütend, „Das alles wäre nicht passiert, wenn ich allein gereist wäre. Dein Vetter könnte noch leben und du wärst nicht schwer verletzt. Ich werde dich zu einem Arzt bringen und dann trennen sich unsere Wege auf der Stelle. Ich will nicht auch noch für deinen Tod verantwortlich sein.“
    „Geht’s noch?! Ohne mein Ablenkmanöver hätte dich der Säbelheini doch auch erwischt. Ich werde dir ganz bestimmt keine Last sein. Ich bin ein Falke.“
    Auch wenn sie nicht ganz unrecht hatte und sich in der Situation clever angestellt hatte, als manch ein Erwachsener, so wollte Senna sie wirklich nicht weiter in Gefahr bringen. Sie wollte ihr nicht ein Leben wie das ihre auflasten, also musste sie Härte zeigen.
    „Du bist verflixt noch mal kein Falke, Mädchen. Du gehörst auf ein Rübenfeld, nicht auf ein Schlachtfeld.“
    „Ach ja? Und was ist mit dir? Wenn ich auf die Felder gehöre, dann gehörst du genauso an den Herd. Ich dachte du als Kriegerin würdest verstehen, wie schwer es als Mädchen ist, eine Abenteurerin zu werden, aber da habe ich mich wohl geirrt. Du redest genau wie mein Vater…“
    Ein Knacken im Gebüsch ließ sie zusammenzucken. Senna hatte bereits ihr Schwert gezückt, doch es war nur ein verträumtes Wiesel, das die beiden nicht bemerkt hatte. Beim Anblick des kleinen Nagers erinnerte sie sich wieder an ihre Mission.
    „Wir sollten uns auf den Weg machen, bevor du zu viel Blut verlierst.“
    „Wir reiten nach Falkenring, nicht wahr?“
    Senna seufzte: „Ja. Ich kenne dort jemanden, der uns gegen die Banditen helfen kann und einen Arzt werden wir dort auch auftreiben können.“
    „Falkenring, ja, der Ort passt zu mir. Von dort wird unser Abenteuer erst richtig beginnen.“
    Dorthe lächelte schwach und Senna tat es ihr gleich. Der Kampfgeist, den die Kleine ausstrahlte, war ansteckend. Und sie hatte Recht. Es war an der Zeit, der Schwarzfeuerbande zu zeigen, was es bedeutete, sich mit Senna, einem Mitglied der Dunklen Bruderschaft, anzulegen. 
    Ronsen ist offline
  14. #14 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Waidmannsheil


    Cass fühlte sich elend. Ein ungewohntes Schwindelgefühl hatte sich in seinem Kopf eingenistet und sein Schädel hämmerte, als würde ein Specht darin nach Futter suchen. Normalerweise suchten ihn solcherlei Beschwerden nur nach einer stark durchzechten Nacht heim, doch daran konnte es heute nicht liegen. Er war doch die letzten drei Stunden völlig nüchtern gewesen. Und so einen Kater würde er normalerweise auch einfach verschlafen. Er hatte sich extra hingelegt, aber auch das schien nur marginal zu helfen. Denn es war kein Bett, auf dem er lag, zumindest keines, das für Menschen gemacht war.
    Er war auf einen Baum geklettert. Eine gewaltige Eiche, die mitten im Buchenwald stand und sich dort monumental wie ein König unter den Bäumen gegenüber ihren Konkurrenten abhob. Uralt und mit knorrigen Ästen übersät, die gewaltigen Krallen gleich nach dem Wind haschten. Und das Schwindelgefühl, was ihn hier oben in der Baumkrone überkam, war nicht dem Rausch des Alkohols verschuldet. Es waren die Ferne vom Boden und das unheilgebarende Knarzen des Astes, auf dem er bäuchlings lag. Er musste sich diese absurde Schwäche einfach eingestehen. Cass, der größte Nord von Himmelsrand, dessen Kopf immer über den Wolken zu hängen schien, hatte doch tatsächlich Höhenangst.
    „Und jetzt muss ich auch noch pissen“, grummelte er säuerlich. Der Griff um seinen Bogen wurde fester. Er lag hier oben auf der Lauer und fühlte sich wie ein überdimensionales Eichhörnchen, das nach Nüssen Ausschau hielt. Wenn es doch nur so einfach wäre… unterhalb des Baumes befanden sich Nüsse in Hülle und Fülle. Eicheln und Bucheckern und dazu ein großer Haufen Mais und Bohnen. Cass hatte das Futter ausgestreut. Das war die Kirrung, die Lockfütterung für seine eigentliche Beute. Wäre doch gelacht, wenn er kein Schwarzwild erlegen konnte, ha! Tja, mit dieser Einstellung war er jedenfalls mitten in der Nacht aufgebrochen, selbstbewusst, sich als großer Jäger profilieren zu können. Tagsüber ging das nicht, da war er schließlich der Oberaufseher. Doch jetzt hatte es bereits zu dämmern begonnen und so langsam knurrte ihm der Magen lauter als das Heulen eines Wolfes. Wie sollte er so nur ein Wildschwein anlocken?

    „Na, wie ist die Luft da oben?“
    Erschrocken fuhr er herum und richtete seinen Pfeil in die Richtung, aus der er die fremde Stimme vermutete. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass sich sein Gesprächspartner direkt unter ihm befand, gemütlich an den Stamm der Eiche und in seinem toten Winkel lehnend.
    „Wer ist da? Ramirez, verarschst du mich schon wieder?“
    Ramirez der Penner hatte ihn ausgelacht, als er hörte, was Cass vorhatte. Er war der beste Jäger der Bande, aber diese Aufgabe musste er heute dem Oberaufseher überlassen, was er nur mit Hohn quittierte. Der würde sein Fett schon noch wegbekommen, dafür würde Cass sorgen.
    „Ich kenne keinen Ramirez“, antwortete die Stimme unter ihm, „Ich bin ein einfacher Jäger. Wenn du deinen Bogen entspannst, zeige ich mich dir.“
    Widerwillig tat Cass wie ihm geheißen.
    „Wenn’s sein muss. Aber ich warne dich, Fremder! Wer mich verschaukeln will, der muss schon früher aufstehen. Jetzt zeig dich!“

    Bei dem Versteckspieler handelte es sich um einen Bosmer, ein kleingewachsener Waldelf mit gebrechlicher Statur, aschgrauem Haar und daedrisch anmutenden Augen – zu einem Schlitz verengt und mit einer schwarzen Iris. Als Cass sah, dass der Fremde ebenfalls einen Bogen bei sich trug, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Vielleicht hätte er sich doch nicht allein auf die Jagd machen sollen. Denn trotz seiner mickrigen Statur strahlte dieser Bosmer eine gefährliche Selbstsicherheit aus. Cass war nicht blöd, er wusste, dass man sich mit so einem Kerl in diesem Revier nicht anlegen sollte. Aber was bei den Göttern hatte ein Waldelf im Reich der Nord verloren?
    „Gestatten, Faendal“, stellte er sich vor, noch ehe Cass ihn dazu auffordern konnte, „Ich bin der Jäger von Flusswald. Du kannst froh sein, dass meine Augen so scharf sind. Ein anderer hätte dich vielleicht für einen Bären gehalten und vom Baum geschossen.“
    „Die Bären von Himmelsrand klettern nicht auf Bäume“, erwiderte der Hüne, „Ein richtiger Jäger sollte das wissen.“
    Ein Lächeln schmiegte sich auf die dünnen Lippen des Elfen: „Darum habe ich ja auch nicht geschossen. Und du bist…?“
    „Björn“, war die erstbeste Antwort, die Cass in den Sinn kam. Aus steckbrieflichen Gründen nannte er nie seinen echten Namen. Auch wenn das nicht wirklich eine Rolle spielte, immerhin fielen sieben Fuß Körperlänge vermutlich jedem auf.
    „Wie passend“, sagte der Elf, „Dann bist du ja doch ein Bär auf einem Baum.“
    Für einen Augenblick herrschte angespannte Stille. Während Cass versuchte, seine ungemütliche Position auf dem Ast zu korrigieren, stand Faendal einfach nur auf einer der großen Eichenwurzeln und ließ seinen Blick über den Boden wandern, auf dem der Bandit Nüsse und Mais verstreut hatte.

    Nach einer unerträglichen Minute brach der Elf die Stille: „Ich würde noch ein paar Trüffel dazulegen.“
    „Hä?!“
    „Du willst doch ein Wildschwein fangen oder irre ich mich da etwa?“
    „Nene, Wildschwein ist richtig.“
    Ohne Vorwarnung ging der Elf plötzlich in die Knie und sprang mit zwei gewaltigen Sätzen auf den Ast vor Cass. Wie ein Frosch. Weder musste er sich festzuhalten, noch hinsetzen. Er hatte die Balance einer Balkentänzerin, dagegen fühlte sich der Hüne wie ein Sack Reis, der kurz davor war, von einer Kutsche zu plumpsen. Instinktiv wollte er nach seinem Messer greifen, doch der gesunde Nordverstand hielt ihn zurück. Stattdessen brachte er sich in eine halbaufrechte Position und lehnte sich mit dem Rücken an den Hauptstamm der Eiche. Ein Bein winkelte er dabei an, um wenigstens eine halbwegs lässige Pose einzunehmen.
    „Was wird das, wenn’s fertig ist?“, fragte Cass.
    „Ich dachte, ich leiste einem Waidmannskollegen ein wenig Gesellschaft, wenn ich schon mal hier bin. Bis die Schweine hier sind, dauert es noch eine gute Stunde. Die sind noch in ihrer Suhle, drüben am Watzstein.“
    Faendal hängte sich den Bogen über die Schultern und griff nach einem von dutzenden kleinen Säckchen, die an seiner Schärpe hingen. Den warf er Cass zu, welcher ihn gerade so fangen konnte und dabei fast das Gleichgewicht verlor. In dem Säckchen befand sich eine kristalline, weiße Kugel.
    „Was ist das? Doch nicht etwa Medizin?!“
    „Probier es. Das steigert die Konzentration und schärft die Augen.“
    Erst nachdem Faendal sich selbst eine dieser Kugeln in den schmalen Mund schob, tat Cass es ihm gleich. Was hatte er auch zu verlieren? Ein Gift war das bestimmt nicht. Wenn der Elf ihm hätte schaden wollen, dann hätte er ihn auch erschießen können. In dieser unbequemen Position war Cass dem Kerl ausgeliefert.

    Die Kugel zerfloss ihm zwischen Zunge und Gaumen und verbreitete einen fruchtig süßen Geschmack in seinem Mund. Cass kannte das Aroma nur zu gut. Er hatte schon öfter mal einen Schluck Skooma getrunken und wusste, dass es sich hierbei nur um dessen Grundzutat handeln konnte – Mondzucker.
    „Ich dachte immer, das Zeug kriegt man nur als Pulver“, überlegte Cass laut. Ein angenehmes Gefühl der Leichtigkeit überkam ihn. Er fühlte sich auch gleich viel sicherer auf seinem Ast.
    „Ist eine Spezialität aus Valenwald. Wir vermengen ihn mit einigen Kräutern, lösen ihn in Milch und karamellisieren ihn. So ein Sack voll Kügelchen lässt sich viel besser transportieren als eine Flasche.“
    „Gefällt mir“, sagte Cass anerkennend und spürte, wie seine Zunge lockerer wurde, „Weißt du, ich will mir nämlich auch eine Plantage anlegen. Mondzucker steht ganz oben auf meiner Liste.“
    „Da hast du dir aber was vorgenommen. Bei dem Klima hier in Himmelsrand wird das nicht einfach.“
    „Drüben in Reach, da ist es wärmer. Da hab‘ ich einen Kumpel, der mit dem Zeug äh… Geschäfte macht.“
    Faendal nickte verstehend. Wieder vergingen einige Minuten, aber diesmal viel angenehmer als vorhin. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und tunkte den Waldrand in ein sattes Goldgrün. Ein paar Vögel gesellten sich zu den beiden Männern auf den Baum und es schien, als wären sie in einen lautstarken Streit um einen saftigen Wurm verwickelt. Das Männchen hatte ihn gegessen und das Weibchen regte sich darüber auf. So war das, ganz bestimmt. Wirklich herrlich diese Natur.

    „Du bist echt total kurz geraten, Kumpel“, bemerkte Cass schließlich und begann dabei zu lachen, „Was macht einer wie du überhaupt in Himmelsrand? Hier ist doch alles viel zu groß für dich!“
    Endlich machte es sich auch Faendal gemütlich und setzte sich auf einen Ast neben ihm.
    „Frauengeschichten“, gab er zu, „Ich habe mich in die Schwester eines Handelsmannes verguckt. Hab sie von meiner Heimat bis hierher verfolgt und mich jetzt hier niedergelassen.“
    „Und hast sie dir gefügig gemacht?“, hakte Cass nach. Faendals düsterer Blick sprach Bände.
    „Es gibt noch einen anderen…“
    „Wenn du willst, knöpf ich mir den mal vor“, bot der Hüne an und ließ dabei seine Muskeln spielen.
    Faendal schmunzelte: „Nein danke. Ich werde mir die Liebe meiner Holden ehrlich verdienen. Sie wird bald erkennen, dass an diesem hohlen Gefasel des Kerls nichts dran ist. Sie braucht einen schlauen Mann, der sie versorgen kann, keinen oberflächlichen Nord-Barden… Nichts gegen dich.“
    „Schieb mal noch so eine Kugel rüber“, forderte Cass, „Ich bin ein großer Kerl, ich brauche mehr als du.“
    Sie gönnten sich beide noch einen Konzentrationsstärker, dann erwiderte Faendal endlich die Frage.
    „Und du Björn? Was treibst du hier? Ich sehe dir doch an, dass du kein Jäger bist.“
    Erwischt, aber das spielte nicht mehr wirklich eine Rolle.
    „Aber siehst du mir auch an, dass ich gar nicht Björn heiße, hm? Eigentlich heiße ich nämlich Cass aber das erzählst du nicht weiter, sonst muss ich meine Bande auf dich hetzen, du verstehst? Hahaha…“
    Beide verfielen in herzliches Gelächter, dabei machte Cass gar keine Scherze.
    „Keine Sorge, ich schweige wie ein Grab.“
    Wie er das sagte, spitzte Faendal die Lippen und drückte sie mit seinen dünnen Fingerchen zusammen.
    „Also, ich bin eigentlich auch wegen einer Weibergeschichte hier auf‘m Baum…“, erzählte Cass und erinnerte sich an die letzte Nacht.

    ***

    Etwa acht Stunden zuvor stand Cass breit grinsend mit einem runden Fläschchen gefüllt mit einer zinnoberroten Flüssigkeit vor Tonis Zellengitter. Er hatte seinen zweiten Mann Ramirez als persönliche Wache für das feurige Nordblut aufgestellt und als er ihn ablöste, schien dem jungen Mann ein Stein vom Herzen zu fallen.
    „Endlich kommst du. Mit der ist ja echt nicht gut Kirschen essen oder so.“
    „Was war denn los?“
    Ramirez winkte ab: „Ach ich wollte ihr nur so ein bisschen Wasser geben, weil sie hat ja so viel Blut verloren. Und dann hat die so nach meinem Hut gegrabscht und den mir so um die Ohren geworfen.“
    „Das ist ja auch ein hässlicher Fetzen, den du da trägst, haha.“
    „Du weißt, dass ich immer schnell so ‘nen Sonnenbrand krieg und das muss ja nicht jeder sehen. Aber die hat auch nix getrunken, einfach ausgekippt hat die das Wasser. Ich hab’s extra so aus der Regentonne geholt, wie du gesagt hast. Nicht aus der Grube wie bei den anderen Gefangenen. Dumme Gans.“
    „Jaja, jetzt verzieh dich schon“, herrschte Cass ihn an, „Du hast halt keine Ahnung, wie man mit echten Frauen umspringt.“
    „Ha! Wenn du meinst. Ich sag dir, bei der beißt du soooowas von auf Granit. Aber bitte, nur zu.“

    Der Oberaufseher nahm seinem Kumpel die Schlüssel ab und verschaffte sich Zugang zu Tonis Privatgemach. Er hatte es ihr so angenehm wie möglich machen wollen. Die anderen Gefangenen mussten sich für ihren Komfort sogar zu viert in eine Zelle quetschen. Auch hatte Cass dafür gesorgt, dass sie ein paar mehr Laken für ihre Pritsche bekommt, aber Toni hatte sich gar nicht erst auf das Bett gelegt. Stattdessen lehnte sie schwer atmend an der kalten Felswand und hielt sich die verletzte Schulter. Als sie Cass sah, legte sich ein zynisches Grinsen auf ihre Lippen.
    „Na wer kommt denn da? Der schielende Schisser.“
    „Du hast auch immer wieder einen neuen Spitznamen auf Lager, was?“, bemerkte Cass.
    „Frag mal meinen Bruder Ammon den Angsthasen.“
    „Du redest mit dem größten Nord von Himmelsrand. Ich bin ganz sicher kein Schisser! Und meine Augen sind schärfer als deine spitze Zunge.“
    „Dann frage ich mich, warum mich dein Pfeil nicht getötet hat. Entweder du wolltest nicht oder du konntest nicht.“
    „Ich wollte nicht. Ich erschieße keine wehrlosen Damen.“
    Plötzlich begann Toni zu prusten, ein Lachanfall ob der ernst gemeinten Worte des Kavaliers. Doch ihr Lachen ging in ein geschwächtes Husten über. Die Wunde hatte sich entzündet. Es stand nicht gut um sie.
    Cass bückte sich zu ihr herab und legte eine Hand auf ihre Stirn, nach der sie sofort griff.
    „Pack mich nicht an!“
    „Ich pack dich gleich wo ganz anders an, du Furie“, er schüttelte ihren Griff rüde ab, „Du hast Fieber und brauchst Medizin. Ich hab hier diesen Heiltrank. Damit sollte es dir rasch besser gehen.“
    „Willst du mich vergiften? Das versteh ich. Dir fehlen die Eier in der Hose, um mich wie ein Mann zu töten.“
    „Das Tonikum habe ich auf Anraten deines Vaters genommen. Aus seiner geheimen Vorratskammer.“

    Als die Sprache auf ihren Vater Uhland kam, brachte Toni keine schnippische Antwort hervor. Und ihr bissiger Blick wurde auch etwas klarer, sanfter.
    „Geht es ihm gut? Wenn du ihm auch nur ein Haar gekrümmt hast, dann breche ich dich auf wie einen Hirsch!“
    „Er spielt den Koch und das gar nicht mal so übel, also halt die Luft an. Allerdings fehlt dem Essen das Fleisch.“
    „Ha! Wenn ihr nicht in der Lage seid, mehr als ein paar stinkende Ratten zu fangen, dann wundert mich das nicht.“
    Cass verschränkte die Arme vor der Brust: „Du wirst es kaum glauben, aber ich werde morgen früh persönlich auf die Jagd gehen. Mit einer Keule von mir geht es dir gleich viel besser.“
    Wortspiel gekonnt platziert. Toni patschte sich beschämt auf die Stirn.
    „Wenn du mich beeindrucken willst, dann musst du schon ein bisschen mehr auspacken, als einen Hasen oder ein Huhn.“
    „Was dein Herz begehrt.“
    „Wildschwein“, seufzte Toni, „Ich hatte schon ewig keinen Wildschweinbraten mehr. Wenn du mir das bringst, lass ich dich vielleicht sogar mal anfassen.“
    Bei diesem Satz durchfuhr Cass ein Donnerblitz der Vorfreude.
    „Das wäre doch gelacht.“
    „So lachhaft wie du, Lulatsch?“
    Cass stellte ihr den Trank hin und wandte sich ab zum Gehen.
    „Ich erlege dir ein Wildschwein und du trinkst die Medizin. Wenn nicht für mich, dann wenigstens für deinen Vater und deinen Bruder, klar?“

    ***

    „… und darum bin ich jetzt hier“, endete Cass seine Erzählung mit einem Seufzen.
    „Also die Frau hat dich am laufenden Meter beleidigt und du willst ihr trotzdem einen Gefallen tun, was? Ihr Nord seid schon ein verrückter Haufen.“
    Faendal streckte sich und erhob sich wieder. Wie war es nur möglich, dass der Baum bei keiner seiner Bewegungen wackelte? Aber wann immer Cass tief durchatmete, zitterte das Laub.
    „Ich bin es nicht gewohnt, dass sich ein Weib so widersetzt. Das gefällt mir. Aber ich misshandle sie auch nicht. Ich bin charmant, weißt du?“
    „Wenn du das unter charmant verstehst… ja, dann bist du das wohl.“
    „Gut. Also wo sind die verdammten Schweine nun? Ich hab ja selber schon Kohldampf ohne Ende.“
    „Ich gebe ihnen noch zehn Minuten“, sagte Faendal. Dann sprang er genauso unerwartet, wie er gekommen war, auch wieder vom Baum herab.
    „Was denn, jetzt willst du gehen? Willst du mir nicht bei meinem Triumph beistehen?“
    Der Bosmer winkte ab: „Ich will die Tiere nicht verstören. Sie reagieren… sensibel auf mich. Außerdem habe ich ein Dorf zu ernähren. Wenn ich alles diesen fahrenden Händlern überlasse, kann ich nie genug Geld verdienen, um meiner Holden einen schicken Ring zu kaufen.“
    ‚Und uns nennst du oberflächlich‘, dachte Cass bei sich und hob die Hand zum Abschied. Einen Wimpernschlag später war der Elf verschwunden und hatte dabei nicht einmal einen Grashalm zerknickt.

    Die Sau, die wie vorhergesagt nur wenige Augenblicke später auftauchte, war nicht allein. Sie hatte eine ganze Horde von Frischlingen bei sich. Genüsslich machte sich das Rudel über die ausgelegten Nüsse und den Mais her. Cass hatte längst den Bogen zur Hand genommen, doch wie er da von seiner erhöhten Position aus auf das Muttertier zielte, wurde ihm klar, warum Faendal nicht mehr da war. Er hatte Cass schon längst durchschaut und ihm war klar, dass er kein so harter Hund war, wie er immer vorgab. Und damit dieser sich nicht vor ihm blamierte, war Faendal einfach gegangen.
    Cass ging ebenfalls. Er steckte das Säckchen mit den Mondzuckerkügelchen, das der Elf ihm gegeben hatte, weg und ließ die hungrige Familie Wutz ihr Frühstück genießen. Jetzt war ihm klar, was zu tun war. Er würde sich sein Essen auf die traditionelle Art und Weise beschaffen.

    Bei einem Überfall.
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (30.06.2017 um 10:26 Uhr)
  15. #15 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Das Heulen des Horkers

    „Eidarer Blauschimmelkäse…“
    Alvor drehte sich verwirrt zu Hod um. Der Müller trödelte, gähnte und jetzt schien er auch noch Selbstgespräche zu führen. Es war dem Schmied ein Elend, mehr Zeit als nötig mit diesem Taugenichts zu verbringen. Aber blieb ihm eine andere Wahl? Hod besaß nun mal den einzigen fähigen Spürhund in Flusswald. Wenn Alvor seine Tochter Dorthe und seinen Neffen Hadvar finden wollte, war Stump die beste Hilfe. Ein Jammer, dass es den Hund nur mit Anhang gab. Hod traute ihm nicht und deswegen folgte er Alvor. Und um ihm den letzten Nerv zu rauben, da war sich der Schmied sicher.
    „… gesalzenes Brot aus dem Marschland…“
    „Was soll das Geschwätz?“, brummte Alvor miesgelaunt. Sein Magen knurrte längst. Sigrid hatte ihn ohne Frühstück aus dem Haus gescheucht. Ihre schrille Stimme klingelte Alvor noch in den Ohren.
    „Du bekommst erst wieder was zwischen die Zähne, wenn unsere Tochter wohlbehalten zuhause ist!“
    Dabei war Hadvar längst aufgebrochen, um sie zu finden. Wenn ein Soldat auf einem Pferd es nicht schaffte, sie einzuholen, wie sollte das dann einem behäbigen Kerl wie Alvor gelingen? Auf der anderen Seite war Suchen immer noch besser, als tatenlos daheim zu hocken und darüber zu grübeln, was diese kleinkriminelle Rothwardone mit seiner Tochter vorhatte. Ob es um ein Lösegeld ging? Er hatte vorsorglich ein Säckchen Goldmünzen mitgenommen. Immerhin war er auch ein Geschäftsmann und konnte verhandeln. Doch Alvor wusste nicht, ob er in Gegenwart von Hod einen kühlen Kopf bewahren konnte.
    „Ich zähle nur auf, was für Leckereien daheim zum Frühstück auf mich warten“, erwiderte der Müller süffisant und fuhr unbeirrt fort: „Hmm… Rührei und fetter Schinken…“
    Bei dem Gedanken daran, lief Alvor das Wasser im Mund zusammen.
    „Du hast warme Milch vergessen, Milchtrinker!“, raunte der Schmied ihn an, „Und jetzt gib endlich Ruhe, ich muss mich konzentrieren, sonst verlaufen wir uns noch.“
    „Verlaufen? Du wirst langsam blind, alter Mann! Wir spazieren doch die ganze Zeit auf der Hauptstraße entlang.“
    Damit hatte er nicht ganz unrecht. Alvors Augen waren nicht mehr die Besten und obgleich er stundenlang ins Schmiedefeuer schauen und die Klingen messerscharf schleifen konnte, wurde sein Blick in die Ferne immer trüber. Einen guten Bogenschützen würde er wohl nicht mehr abgeben.
    „Ich bin zumindest noch so ortskundig, dass ich weiß, dass sich der Weg bald gabelt. Vielleicht sind sie nach Helgen unterwegs, vielleicht auch nach Falkenring. Ich kann nur hoffen, dass die Spürnase deines Hundes noch etwas taugt. Nicht dass wir völlig auf dem Holzweg sind.“
    „Da mach dir mal keine Sorgen. Stump kann Feiglinge auf zehn Meilen gegen den Wind riechen.“
    „Das ist mir bewusst, immerhin hat er dich als Herrchen.“
    Das hatte gesessen. Hod blieb für einen Augenblick die Spucke weg und er wusste sich wohl nicht anders zu wehren, als Alvor einen heftigen Schubs zu verpassen. Der Schmied taumelte und verlor beinahe das Gleichgewicht.
    „Das sieht dir ähnlich, mich heimtückisch anzugreifen, weil du weißt, dass du mir körperlich nicht gewachsen bist!“
    „Pah! Ich hacke den ganzen Tag über Holz und schleppe Baumstämme. Ich bin kräftiger, als du buckeliger Schmied es je sein wirst.“
    Alvor breitete herausfordernd die Arme aus.
    „Vielleicht sollten wir das ein für alle Mal klären. Hier und jetzt!“
    „Nichts lieber als das!“
    Hod krempelte sich die Ärmel hoch. Sie würden ihre Differenzen wir erwachsene Nord klären. Durch einen Ringkampf. So war es der Brauch. Wer den anderen zu Fall brachte, war der Sieger, das Alphamännchen. Der Unterlegene musste mit der Schande leben.
    „Lass es uns doch noch etwas spannender gestalten“, schlug Hod vor, „Wenn ich gewinne, wirst du mir alle meine Schuhe neu besohlen.“
    „Einverstanden. Und wenn ich gewinne…“, Alvor rieb sich nachdenklich durch den wuscheligen Vollbart, „Ich weiß! Wenn ich gewinne, dann bekomme ich den Hund!“
    „Stump?“, Hod kniff verunsichert die Augen zusammen, „Na schön. Es spielt keine Rolle. Ich werde ohnehin nicht verlieren.“
    Die beiden Nord tauschten bedrohliche Blicke aus und umkreisten sich angriffslustig wie zwei hungrige Wölfe verschiedener Rudel. Es war der etwas kleinere, aber auch breitere Alvor, der in die Offensive ging. Seine kräftigen Finger bohrten sich in die Oberarme des Holzfällers und einem Stier gleich schob er ihn vor sich her. Hod stemmte sich zähneknirschend dagegen und vergrub dabei seine eigenen Hände in dem massiven Schultern des Schmieds. Mit einer krachenden Kopfnuss konnte er sich aus Alvors Griff befreien. Jener wich zurück und hielt sich dabei den dröhnenden Schädel. Das würde eine dicke Beule geben. Hod ließ ihm jedoch keine Armlänge Abstand und nahm ihn direkt in einen Schwitzkasten. Es dauerte nicht lange, da lief das Gesicht des Schmieds rot an und der Atem blieb ihm weg. Wenn er sich nicht schnell befreien konnte, würde er das Bewusstsein verlieren und - noch viel schlimmer - seinen Stolz! Einige gezielte Schläge in die Rückenpartie halfen wahre Wunder. Das war eine deutliche Schwachstelle des Holzfällers. Hod ließ für einen kurzen Augenblick locker, nur um im nächsten Moment umso kräftiger an Alvors Bart zu ziehen. Was für ein feiges, verzweifeltes Manöver und dennoch sehr geschickt. Hod setzte weiter nach und ließ sein Knie gegen das Kinn des gebeugten Schmieds krachen. Alvor taumelte zurück und wäre sicher gefallen, hätte ihn nicht einer er Bäume gestützt. Ein Backenzahn saß locker. Er stöhnte vor Schmerzen, spuckte Blut. Und Hod lief grinsend auf ihn zu.
    „Hast du noch immer nicht genug? Leg dich doch einfach hin und gestehe deine Niederlage ein.“
    „Mit solch schmutzigen Tricks kannst du mich nicht beeindrucken“, er spuckte erneut aus. Der Zahn kam direkt mit.
    „Danke. Ich wollte eh nicht zum Zahnarzt.“
    „Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du ohnehin nur noch Suppe schlürfen!“
    Hod setzte zu einem rechten Haken an, doch Alvor konnte sich rechtzeitig wegducken und sich mit seinem ganzen Körper gegen den ungedeckten Brustbereich des Holzfällers stemmen. Er hob ihn von den Beinen und warf ihn von sich. Hod landete schmerzhaft mit seinem Steiß auf einem Felsen. Jetzt hatte Alvor die Oberhand. Er musste sich nur noch auf ihn werfen und zu Boden drücken. Doch ein lautes Bellen ließ ihn innehalten.
    „WÖRF! WÖRF!“
    Stump, der sich bis noch mit dem Verfolgen der Fährte beschäftigt war, kehrte aufgeregt zu den beiden Streithähnen zurück. Alvor zuckte zusammen. Würde er ihn angreifen, weil er sein Herrchen umgeworfen hatte? Nein. Der Wolfshund schien sich überhaupt nicht für den Zweikampf zu interessieren. Aber er bellte lauter und schriller als sonst und er drehte sich im Kreis, als wolle er etwas signalisieren.
    „Was ist mit ihm los?“, fragte Alvor.
    Hod mühte sich langsam wieder auf, hielt sich dabei die schmerzende Hüfte.
    „Er scheint was gefunden zu haben…“, keuchte der Holzfäller. Und da wurde es Alvor wieder klar. Der Hund musste Dorthe gefunden haben! Aber warum war sie nicht bei ihm? War sie in Gefahr? Wie konnte er nur so dumm sein und einen Ringkampf anzetteln, während seine eigene Tochter womöglich um ihr Leben bangte. Er war ein furchtbarer Vater.
    „Unentschieden?“, bot er Hod an und reichte ihm die Hand. Der Holzfäller winkte nur ab.
    „Soll mir recht sein. Aber wir setzen den Kampf später auf dem Dorfplatz fort. Dann versohl ich dir vor all unseren Freunden den Arsch!“

    Hod klatschte zweimal in die Hände. Das schien das Signal für Stump zu sein, sich wieder in Bewegung zu setzen. Der alte Hund konnte plötzlich ein unerwartetes Tempo vorlegen. Alvor war ihm auf den Fersen, aber Hod konnte mit seinem wunden Hintern nur schwerlich folgen. Stump führte den Schmied an die Weggabelung, die nach Helgen und Falkenring führte. Dort verschwand er plötzlich im Unterholz. Alvor musste kurz zu Atem kommen und senkte dabei den Blick zum Boden.
    Eine Blutspur.
    Er zuckte zusammen und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Er beugte sich herab und betastete die blutverkrustete Erde. Ein bisschen eingetrocknet war sie schon, hinterließ aber durchaus noch leichte, rote Spuren auf seinen Fingern. Und die Spur verlief genau in das Unterholz, in welches Stump gesprungen ist.
    Alvor zückte seinen Hammer. Gegen einen bewaffneten Gegner hatte er wenig Chancen, da blieb ihm vielleicht ein einziger Treffer. Aber der konnte sitzen, das wusste Alvor. Der Beinamen „Hammerhand“ kam schließlich nicht von irgendwo. Mit klopfendem Herzen kämpfte er sich durch das Gestrüpp. Allmählich nahm er auch einen modrigen Gestank wahr. Stump bellte ihm die Richtung. Das beruhigte ihn etwas, denn wenn der Angreifer noch in der Nähe war, hätte er sich bestimmt längst um den Hund gekümmert. Er mühte sich weiter einen seichten Hügel hinab und endlich lichtete sich das Buschwerk. Alvor verlor den Halt und rutschte ein paar Schritt weit, doch er konnte sich wieder fangen. Er hatte Stump erreicht. Und seinen Fund. Ein lebloser Körper war respektlos den Abhang hinuntergeworfen worden. Und als Alvor erkannte, um wen es sich bei der Leiche handelte, wurde er kreidebleich und fiel auf die Knie.
    „… H-Hadvar?“
    Seine Stimme war nur ein Hauchen. Mit zittrigen Fingern umklammerte er die kalten Arme des Toten und drehte ihn auf den Rücken. Das war er wirklich. Das aschblonde Haar, die hellblauen Augen. Sein Neffe, sein geliebter Neffe. Der Sohn, den er nie hatte.
    „Ihr Götter!“
    Alvor fasste die Hände des Toten und legte seine Stirn auf dessen Brust. Stump saß neben ihm und gab ein leises Fiepen von sich, während sich das leise Weinen des Schmiedes allmählich in das klagende Heulen eines Horkers verwandelte.
    In der Zwischenzeit hatte auch Hod die Kreuzung erreicht und dem Klageschrei folgend, war es ihm ein Leichtes, seinen Hund und den Schmied zu finden. Er hatte die Situation schnell erkannt und sich jeden Kommentar verkniffen. Er beugte sich nur zu seinem Nachbarn herab und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter.
    „Es war meine Schuld“, schluchzte Alvor und drehte Hadvar vorsichtig ein Stückchen auf die Seite, damit Hod die Wunde erkennen konnte, die zu Hadvars Tod geführt hatte. Eine tiefe Stichverletzung, mitten durch einen der Ringe seines Kettenhemdes.
    „Ich habe die Rüstung erst gestern ausgebessert. Es war nicht mein härtester Stahl. Ich hätte den härtesten Stahl nehmen müssen!“
    Er vergrub die Hände im Gesicht. Hod versuchte gar nicht erst, ihn davon zu überzeugen, dass es nicht seine Schuld war. Er musste ihn auf andere Gedanken bringen. Hier waren sie nicht sicher.
    „Deine Tochter“, erinnerte er Alvor, „Irgendeine Spur von ihr?“
    Alvor schüttelte den Kopf.
    „Das Pferd ist auch fort.“
    „Vielleicht ist sie in Sicherheit. Vielleicht ist sie demjenigen, der Hadvar auf dem Gewissen hat, nie begegnet.“
    „Das muss die Rothwardone gewesen sein.“
    „Ich sage ja immer: Dieses Gesocks hat nichts in Himmelsrand verloren“, schimpfte Hod, „Alles Kriminelle.“
    Darauf ging Alvor nicht ein. Stattdessen wischte er sich den Rotz aus dem Vollbart und hob seinen Neffen an. Hod kam ihm nach kurzem Zögern zu Hilfe.
    „Ich muss ihn nach Hause bringen. Er verdient ein würdevolles Begräbnis.“
    Sie wuchteten Hadvar bis zur Kreuzung zurück und mussten beschämt feststellen, dass sie beide schon völlig entkräftet waren. So würden sie die Leiche nie bis nach Flusswald bringen. Sie brauchten ein Pferd oder wenigstens einen Karren.
    „Helgen ist nicht weit von hier“, sagte Hod, „Vielleicht kann uns dort jemand helfen.“
    „Die Soldaten. Natürlich. Hauptmann Kaegan wird davon erfahren wollen.“
    Die Kaiserlichen mussten ihnen einfach zur Seite stehen. Mit ihrer Unterstützung würden sie Dorthe finden und Hadvar rächen.
    Ronsen ist offline
  16. #16 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Narben

    Ammon stand unter Strom, so als hätte er versehentlich einen Funkenzauber auf sich selbst gewirkt. Er war unglaublich müde, hatte die letzte Nacht jedoch kein Auge zugetan. Stundenlang brütete er über den wenigen Büchern und Notizen über Magie, die er im Laufe seines Lebens bei dubiosen Händlern gekauft oder aus Selbstversuchen abgeleitet hatte. Vega hatte ihm die Aufgabe gegeben, Erz in Gold zu verwandeln und der junge Bergmann fürchtete um sein Leben und das seiner Familie, wenn er bis zu den Morgenstunden keinen Erfolg verbuchen konnte. Er liebte Rätsel, doch je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er hier nach der Quadratur des Kreises suchte. Eine unlösbare Aufgabe war das, denn sollte es tatsächlich schon einmal jemandem gelungen sein, aus Erz Gold zu machen, so musste dies die reichste und bekannteste Persönlichkeit von Himmelsrand sein. Jedenfalls so bekannt, dass selbst er von ihr gehört haben musste. Doch dem war nicht so, denn selbst die Magie unterlag gewissen Grenzen der Naturgesetze und eines davon besagte, dass Materie nicht aus dem Nichts erschaffen werden konnte. Aus Wein kann reines Wasser extrahiert werden, doch aus Wasser allein kann niemals Wein werden, wenn die Inhaltsstoffe nicht in irgendeiner Form zugefügt werden. Und solange im Erz kein Gold vorhanden war, welches er vom restlichen Gestein trennen konnte, würde er niemals Vegas Wunsch erfüllen können. Es war zum Verzweifeln.
    So saß er stundenlang allein im Kerzenschein der Kaverne und lauschte seinem eigenen Herzschlag. Und wann immer sein Kopf dann doch mal so schwer wurde, dass die Erschöpfung ihn zu übermannen drohte, wurde er von äußeren Einflüssen wachgehalten. Einmal begann die Kerze von einem Luftzug zu flackern und in ihrem Schein bildete sich ein riesiger Schatten. Ammon blinzelte und als sich der Schatten plötzlich bewegte, schreckte er hoch. Doch was ihn wachhielt, war nichts als eine winzige Ratte, die sich zu nah an das Licht wagte und einen riesigen Schatten warf. Er hasste Ungeziefer. Doch die Begegnung mit der Maus hatte auch etwas Gutes, denn sie brachte ihm einen Geistesblitz. Das wirklich Fantastische an der Magie war nämlich, dass sie nicht nur auf Heilung, Zerstörung oder Veränderung begrenzt war. Es gab auch eine Schule der Magie, die sich selbst solche Menschen aneignen konnten, die nicht einmal den kleinsten Funken astraler Energie ihr eigen nannten. Die Magie, wegen der es noch immer viele Menschen gab, die Zaubereien lediglich als Sinnestäuschung interpretierten.
    Die Illusionsmagie.
    Wenn es keine Möglichkeit gab, das Erz in Gold zu verwandeln, dann bestand die einzige Lösung dieses Problems darin, Vega glauben zu machen, dass sein Zauber erfolgreich war. Das war ebenfalls eine hohe Kunst, zumal der Anführer der Schwarzfeuerbande auch noch ein Antimagie-Medaillon trug. Doch je länger Ammon darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, wie er ihn dennoch täuschen konnte. Noch fehlte ihm eine entscheidende Zutat für seinen Zauber, das Element der Ablenkung sozusagen. Es sollte allerdings nicht so schwer sein, daran zu gelangen. Jetzt war es jedenfalls die Vorfreude auf das Testen seines Zaubers, die ihn die restlichen Stunden bis zum Frühstück wachhielt.

    Vega suchte ihn in den Morgenstunden persönlich auf, um sich ein Bild über die Ammons Fortschritte zu machen. Und der konnte ihm ohne viel zu stammeln klarmachen, dass er für das Wirken seines Zaubers reichlich Energie benötigte. Und die würde er sich bei einem kräftigen Frühstück holen.
    Am Ausschank herrschte bereits reger Betrieb, denn die Arbeit als Bergarbeiter gehörte zu den wohl anstrengendsten Tätigkeiten, mit denen sich ein Mensch seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Noch dazu in Himmelsrand, wo die kostbaren Bodenschätze von der unnachgiebigen Pranke der Kälte unter der Erde gehalten wurden. Manchmal konnte man froh sein, wenn man am Ende des Tages einen halben Sack Erz gefüllt hatte. Uhland wusste um die Schwere der Arbeit und war bei den Essensrationen für seine Arbeiter entsprechend großzügig. All dies hatte sich nun geändert, da Vega die Arbeiter wie Sklaven hielt und ihre Rationen halbierte, während sich seine eigenen Raufbolde die Mägen vollschlugen. Die wenigen Reserven gingen rasant zur Neige und inzwischen wurden die Arbeiter lediglich mit einer Schale Suppe und altem Brot abgespeist. Ammon konnte beim Anblick der anderen Gefangenen sehen, dass die Moral am Boden war. Vega ließ es sich trotzdem nicht nehmen, beim Suppenkoch zwei große Portionen zu bestellen. Eine für sich und eine für Ammon. Der junge Magier spürte geradezu, wie ihn die neiderfüllten Blicke der anderen Sklaven durchbohrten. Womöglich hielten sie ihn sogar für einen Verräter. Das war ganz bestimmt auch die Absicht des Bandenführers, aber darüber durfte er sich jetzt keine Gedanken machen. Er hatte immer noch eine Aufgabe zu erfüllen. Und bei der musste ihm sein Vater Uhland helfen, der zum Küchendienst verbannt worden war. Doch bevor er mit ihm sprechen konnte, war eine kleine Ablenkung vonnöten.
    Hier in den Stollen erreichte sie nur wenig Tageslicht. Fackeln, Öllampen und das Feuer der Kochnische mussten den Arbeitern genügen. Viele von ihnen waren die schwachen Lichtverhältnisse gewohnt, ganz anders als die Banditen, so vermutete Ammon zumindest. Während er sich sein Essen abholte, wirkte er daher so unauffällig wie möglich einen Windzauber, der die meisten Lichtquellen zum Erliegen brachte und die Höhle in tiefste Finsternis hüllte. Unmittelbar darauf brach ein Tumult aus, den er sich zunutze machen musste.
    „Vater!“, flüsterte er dem Suppenkoch zu und Uhland bemerkte erst jetzt, dass sein Sohn der nächste in der Schlange war.
    „Ammon! Den Göttern sei Dank, du lebst. Bist du wohlauf? Wie steht es um Toni?“
    „Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Von Toni weiß ich leider nichts.“
    „Macht hier mal jemand die scheiß Fackeln wieder an?!“, tönte es durch die Finsternis.
    „Hast du etwa eben den Windstoß hier durchgejagt?“, fragte Uhland, „Das muss doch Magie gewesen sein. Ich kenne die Höhlen in- und auswendig. So ein Luftzug ist hier unten unmöglich!“
    „Ja, kann schon sein, dass ich das war. Hör zu, wir haben nicht viel Zeit zum Reden. Ich brauche deine Hilfe! Hast du deinen Ehering noch bei dir.“
    „Was… n-natürlich. Das ist mein kostbarstes Stück“, flüsterte er, „Den habe ich mir in die Schuhe gesteckt, damit die Mistkerle ihn nicht in ihre dreckigen Finger kriegen.“
    „Gib ihn mir!“
    „Du wirst ihn denen doch nicht etwa verkaufen oder?“
    „Keine Zeit für Erklärungen, aber er könnte unser aller Leben retten. Vertrau mir bitte einfach!“
    „Mir soll alles recht sein, was uns aus dieser misslichen Lage befreit“, brummte Uhland und zog sich im Schutze der Dunkelheit den Schuh aus.
    Inzwischen kam einer der Banditen mit einer Fackel herum und zündete nach und nach sämtliche Lichtquellen wieder an. Uhland musste sich beeilen, doch ehe jemand etwas bemerken konnte, legte er den Ring in seine Suppenkelle. Und schenke Ammon damit seine Portion ein.
    „Hey du!“, bellte Uhland den Kerl mit der Fackel an, „Mach auch mal das Kochfeuer wieder an! Die Suppe wird doch kalt!“

    Ammon stahl sich derweil davon und folgte Vega zu seinem Tisch. Der Kopf der Schwarzfeuerbande wirkte gelassen, dem plötzlichen Einbruch der Dunkelheit zum Trotz. Er war sich sicher, die Situation unter Kontrolle zu haben und dass Ammon es nicht wagen würde zu fliehen. Ein Blick an den Ausgang des Schachtes bestätigte dem jungen Magier, dass er spätestens an zwei in schwere Rüstungen gekleideten Wachen mit Speeren nicht vorbeigekommen wäre. Aber das war zum Glück auch gar nicht sein Ziel.
    „Na dann… guten Appetit“, wünschte ihm der Schwarzhaarige und nahm selbst einen Löffel von der Suppe. Ammon murmelte ihm ein leises „Danke gleichfalls“ entgegen und begann ebenfalls zu essen. Die Suppe war zwar stark verdünnt, trotzdem schmeckte er noch die Gewürznoten darin, die so typisch für die Küche der Familie Glutsplitter waren. Vor allem ein Hauch von Wacholderbeeren ließ sich ganz herausschmecken. Das war noch ein überliefertes Rezept von Ammons Mutter und wurde von Uhland als ihr Andenken gehütet. Genau wie der goldene Ring, der jetzt in Ammons Süppchen schwamm. Der junge Mann verfiel in Gedanken. Ob sein Zauber wohl funktionieren würde? Und wie lange musste er Vega etwas vortäuschen? Ob es Senna wohl gelungen war, Flusswald zu erreichen und dort nach Hilfe zu suchen? Was hatte Vega nur gemeint, als er sagte, er hätte noch eine Rechnung mit ihr offen? Woher kannten sich die beiden? Hatte Senna etwas damit zu tun, dass Vega so fürchterlich entstellt war? Die Brandnarben in seinem Gesicht sahen wirklich scheußlich aus, als hätte sich die ganze linke Gesichtshälfte für einen Augenblick verflüssigt, verformt und wieder verfestigt.
    „Hey du Träumer, was starrst du so? Wolltest du nicht essen, damit du genug Kraft für deinen Zauber hast?“
    Er zuckte zusammen und nahm noch einen Löffel. Er sollte sich eigentlich glücklich über diese große Portion schätzen, aber er verspürte einfach keinen Hunger. Sein Magen war wie zugeschnürt.
    „Du hast auf meine Narben gestarrt, ist es nicht so?“
    „Ich habe mir nur überlegt, ob ich sie nicht mit einem Heilzauber behandeln könnte“, log Ammon.
    „Da gibt es nichts zu behandeln“, erwiderte Vega kühl, „Diese Narbe erzählt eine Geschichte und ist Teil meines Lebens. Soll ich sie dir erzählen?“
    „Gern“, sagte Ammon. Alles, was ihm und Senna Zeit verschaffen konnte, war ihm recht. Zumal es ihn wirklich interessierte, mit was für einer Art Mensch er es zu tun hatte. Es half immer, seine Feinde zu kennen, wenn man ihre Schwachstellen aufdecken wollte.
    „Vor dreißig Jahren habe ich als Söldner für das Kaiserreich im großen Krieg gekämpft“, begann Vega und offenbarte damit ein Alter, das Ammon ihm nicht zugetraut hätte. Er musste um die fünfzig sein, aber von der Statur und Fitness wirkte er wie Mitte dreißig.
    „Ich stand an der Seite von Tullius, der sich inzwischen einen General schimpft. Als Grünschnäbel wurden wir in Bravil stationiert, dem widerlichsten Dreckloch von ganz Cyrodiil und haben dort eine Horde von Schmugglern und Trinkern gegen die makellos gerüsteten Krieger der Thalmor unterstützt.“
    Die Erwähnung der Hochelfen von Summerset brachte Vega nur äußerst verbissen über die Lippen. Ammon konnte sich schon denken, was passiert war, immerhin waren ihm zumindest die Eckpfeiler des Großen Krieges bekannt. Der Großteil der Ländereien im südlichen Kaiserreich, zu dem auch Bravil gehörte, wurde im Krieg von den Hochelfen geradezu überrannt.
    „Wir haben uns gut geschlagen, nicht so wie die Schwachköpfe aus Anwil oder Leyawiin. Dutzenden dieser götzenähnlichen Spitzohren habe ich die persönlich den Schädel gespalten. Aber als die Lage aussichtslos wurde, haben wir unsere Kräfte weiter nach Norden verlegt. Drei Jahre lang reiste ich von einem Schlachtfeld zum nächsten, verlor Brüder, Schwestern und Kameraden in der Schlacht. Und wofür? König Titus ist letztlich doch unter den Bedingungen des Aldmeri-Bundes eingeknickt und seit einigen Jahren laufen die verfluchten Thalmor sogar frei durch Himmelsrand. Das habe ich nicht akzeptieren können.“
    Plötzlich zückte Vega einen Dolch aus seiner Tasche und ließ die Klinge in das morsche Holz des Esstischs schnellen.
    „Also habe ich mit einigen von ihnen kurzen Prozess gemacht.“
    „Ich verstehe. Die Thalmor haben Euch diese Narben verpasst.“
    „Nichts verstehst du!“, blaffte Vega ihn plötzlich an, „Diese Narben sind eine Zeichnung. Ich war noch im militärischen Dienst, als ich nebenbei meiner Leidenschaft nachgegangen bin und Thalmor aufknüpfte. Nur leider hat einer dieser Windhunde anscheinend überlebt und mich auffliegen lassen. Mein Freund Tullius war davon überhaupt nicht begeistert. Der Frieden sei ohnehin schon brüchig blablabla… für meine Taten hätte ich gehängt werden sollen, aber meine guten Beziehungen sorgten schließlich dazu, dass sie mich nur brandmarkten und aus Einsamkeit verbannten.“
    „Und aus Verbitterung darüber zieht ihr jetzt durch Himmelsrand und greift unschuldige Bergarbeiter an“, konstatierte Ammon.
    Darüber lachte Vega nur heiser.
    „Das hat auch noch andere Gründe. Zum Beispiel, dass ich dringend mehr Geld brauche. Womit wir wieder bei dir wären, Magier. Wie sieht es aus? Fühlst du dich inzwischen gestärkt genug oder brauchst du nach dem Zuckerbrot doch noch die Peitsche?“
    Ammon schluckte. Nein, die wollte er wirklich nicht spüren. Schnell setzte er die ganze restliche Schüssel Suppe zum letzten Schluck an und ließ dabei unbemerkt den Ring in seinem Mund landen. Und wie von einem plötzlichen Husten befallen beförderte er ihn in seine Hand. So weit, so gut.
    Vega wies derweil mit einer Geste einen seiner Handlanger an, ihm einen Sack mit Erz zu bringen. Der Bandit brachte nicht nur einen faustgroßen Klumpen, den er auf den Tisch fallen ließ, sondern auch eine Nachricht.
    „Cass steht am Eingang der Mine. Er sagt, er braucht mindestens ein halbes Dutzend Männer für die… Jagd.“
    Das letzte Wort betonte der Bote so gezwungen unauffällig, dass Ammon klar war, dass die Banditen nicht wirklich jagen gehen würden. Zumindest keine Tiere.
    „Vier kann er haben und wenn nötig noch ein paar Eier, die ihm anscheinend abhandengekommen sind.“
    „Verstanden.“
    Vega seufzte, während er sich wieder setzte.
    „Jetzt muss ich wohl selbst den Aufpasser spielen. Als hätte ich nichts Besseres zu tun.“
    ‚Wieso lässt du mich dann nicht einfach zurück in die Zelle, Mistkerl?‘, dachte sich Ammon, aber so einen Gedanken würde er sich nie auszusprechen trauen. Die Hoffnung, dass Vega ihn nicht weiter behelligte, war ebenfalls vergebens. Stattdessen drückte er ihm den schweren Erzklumpen in die Hand.
    „Jetzt zauberst entweder du oder ich zaubere dir ein blaues Auge.“
    Ammon fuhr ein eisiger Schauer über den Rücken. Er nahm den Erzklumpen in die Linke, während in seiner rechten Faust der goldene Ring verborgen lag. Ein Stoßgebet zu den Göttern folgte und schließlich legte er auch die Rechte auf den Erzbrocken. Einige Herzschläge lang geschah nichts und Vega starrte nur ungeduldig auf den langweiligen grauen Klumpen, den Ammon mit angestrengter Miene hielt und dabei leise Zauberformeln murmelte. Dann schließlich, als dem Verbrannten schon fast die Hand ausrutschen wollte, begann der Klumpen unter Ammons rechter Hand plötzlich zu funkeln. Der goldene Glanz war unverkennbar und im Nu hatte er aus dem Erzklumpen einen Goldklumpen gemacht. Vegas Augen wurden bei dem Anblick größer und größer und selbst seine entstellte Gesichtshälfte brachte eine gewisse Begeisterung zum Ausdruck.
    „Unglaublich! Und dabei hätte ich dir wirklich gern die Fresse poliert!“, lachte er, „Wirklich gut. Jetzt mach am besten gleich den ganzen Sack zu Gold!“
    „Das… schaff ich nicht“, keuchte Ammon, „So ein Zauber kostet mich viel Kraft. Ich muss erst einmal ruhen…“
    Vega begutachtete den Goldklumpen.
    „Der ist mindestens 500 Septime wert. Dann machst du eben ab sofort jeden Tag einen, dann bin ich in ein paar Wochen reich. So viel Zeit sollten wir haben.“
    Er gab einem der Handlanger einen Wink, Ammon wieder in die Zelle zu bringen. Da würde er vierundzwanzig Stunden Zeit haben, um sich zu überlegen, wo er einen weiteren goldenen Gegenstand herbekam, den er zur Umwandlung des Erzes zu Hilfe nehmen konnte. Und eine Entschuldigung dafür, dass er Uhlands Ehering zerstört hatte…
    Ronsen ist offline
  17. #17 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Rothwardonen

    Als Senna und Dorthe auf dem Rücken von des Hengstes Möhre die Schlucht von Falkenring erreichten, hatte sich eine trostlose, graue Wolkendecke vor die Sonne geschoben. Auch der bis eben noch farbenfrohe Mischwald wich allmählich einer langweiligen Auswahl an Nadelbäumen und jeder Menge Totholz. Ein angemessenes Bild für Falkenring, einer Stadt, die den Beinamen „Friedhof von Himmelsrand“ trug.
    Dorthes Gedanken waren bei ihrem Cousin Hadvar. Ihr noch kindlicher Verstand verarbeitete erst allmählich, dass er tot war. Sie wusste, dass die tapfersten Krieger nach ihrem Tod nach Sovngarde einkehrten, aber zählte Hadvar dazu? Er war nicht einmal mit seinem Schwert in der Hand gestorben, sondern heimtückisch ermordet worden. Was, wenn er im Großen Nichts gelandet war? Würde sie ihn dann jemals wiedersehen?
    Senna bemerkte, dass ihre abenteuerlustige Begleiterin ruhiger wurde. Die Kleine saß hinter ihr auf dem Pferd und klammerte sich nun fester um den Bauch der Rothwardonin. Senna war so, als hörte sie ein leises Wimmern.
    „Wir sind gleich da. Wie steht es um dein Bein?“, fragte Senna.
    Dorthes Wade schmerzte bei jedem Schritt, den Möhre über das unwegsame Gelände zurücklegte, doch sie ertrug es tapfer.
    „Alles gut“, schnäuzte sie, „Du sag mal Panther… da wo du herkommst… kommen eure Toten auch nach Sovngarde?“
    Senna schwieg für einen Moment. Diese Frage hatte ihr hier oben in Himmelsrand noch nie jemand gestellt. Die meisten Nord waren so engstirnig in ihren Ansichten, dass sie nicht weiter als bis zum Ende ihres Axtblatts denken konnten. Der kleine Falke jedoch besaß noch die kindliche Neugier. Ein offener Geist, der schon viel zu lang in einem kleinen Dorf gefangen war.
    „Nein“, antwortete sie schließlich, „Unsere Toten kehren an einen Ort, den wir die Fernen Ufer nennen. Du kannst ihn dir wie eine Oase des Lebens inmitten einer endlosen Sandwüste vorstellen. Es gibt dort ein riesiges Meer, Palmen, Tempel zu Ehren der Götter… und jede Menge Abenteuer zu erleben.“
    „Das klingt schön“, erwiderte Dorthe, „Ob Hadvar wohl auch dort ist?“
    „Wenn es ihm in Sovngarde zu kalt ist, dann wäre das der beste Platz für ihn.“
    „Dann will ich auch einmal dort landen“, sagte Dorthe, „Aber was ist eine Oase?“

    Noch bevor Senna antworten konnte, presste sie ihre Beine in Möhres Seiten, damit der Hengst anhielt. Sie konnten inzwischen die hölzernen Palisaden von Falkenring ausmachen und auch einige Soldaten der Kaiserlichen, die das Stadttor bewachten. Normalerweise würde Senna, wenn sie denn überhaupt mal eine Stadt betrat, im Schutze der Nacht über die Palisade klettern. Doch jetzt hatte sie die Kleine bei sich und mit ihrer Verletzung bestand keine Chance, dass sie über den Zaun kam. Sie würden wohl oder übel an den Stadtwachen vorbeimüssen und hoffen, dass sie noch nicht die neusten Steckbriefe mit Sennas Gesicht besaßen. Doch das Risiko war der Flüchtigen zu groß, auch wenn sie schon so manchen Kerker überwunden hatte. Sie musste für eine Ablenkung sorgen.
    „Du magst doch Rollenspiele, nicht wahr Falke?“
    Die Kleine nickte.
    „Gut, folgender Plan…“

    Wer als Wachposten in Falkenring stationiert war, verbrachte zwar kein Leben als Held, doch dafür konnte man in dem Dorf die meiste Zeit hinweg eine ruhige Kugel schieben. Der Schrecken vergangener Schlachten und der riesige Friedhof galten auch über die Ortsgrenzen hinaus als Mahnmal und bescherten den Menschen ein frommes, ruhiges Leben. Eine nicht minder wichtige Rolle spielte aber auch der junge Jarl der Stadt, dessen ganzes Interesse dem Genuss des feinen Lebens galt und weniger der Nöte der Bürger. So hatten die Soldaten ziemlich freie Hand und konnten nach eigenem Ermessen entscheiden, wen sie in die Stadt ließen und wann sie mal wieder einen Banditenunterschlupf räumen wollten. Das Interesse daran hielt sich überwiegend in Grenzen und so ging jeder seinen eigenen Geschäften nach und das funktionierte erstaunlich gut.
    Als an diesem Vormittag zwei fremde Gestalten mit humpelnden Schritten das Stadttor erreichten, hatte Wachmann Miikka längst einen Met gekippt und hielt seinen Speer dabei nicht mehr sonderlich gerade.
    „Moment mal! Was soll das werden?!“
    Die größere Gestalt hatte ihr Gesicht mit einem Schal umhüllt, während sie die kleinere, ein Mädchen mit einer übel aussehenden Beinverletzung, stützte.
    „Lasst uns durch!“, rief die Vermummte, „Wir müssen schnell zur Heilerin.“
    „Gebt euch erstmal zu erkennen“, brummte Miikka und wollte nach dem Schal der Älteren greifen, doch sie schlug ihm die Hand weg.
    „Kommt nicht zu nah! Sie wurde von einem kranken Skeever gebissen. Sie hat vielleicht die Hirnfäule. Ihr wollt euch doch nicht anstecken!?“
    „Was, Hirnfäule?!“, Miikka zuckte zurück und wischte sich unwillkürlich die Hand am Oberschenkel ab. Dann musterte er die Kleine, deren Augen blutunterlaufen waren.
    „Scheiße, so kann ich euch nicht reinlassen!“
    Er stapfte zu einer nahegelegenen Kiste und kramte einen Stofffetzen heraus.
    „Hier, bind dir das um, Kind. Und dann geht unverzüglich zu Zaria, unserer Alchimistin. Kennt Ihr den Weg?“
    „Gewiss“, erwiderte die Vermummte, „Sie ist eine alte Freundin von mir. Hab tausend Dank.“
    Sie streckte die Hände wie zu einer Umarmung nach ihm aus, aber Miikka stolperte nur rückwärts und fuchtelte mit den Armen.
    „Geht schon! Aber fasst um der Acht willen niemanden an, na los!“
    Miikka ließ sie passieren und glotzte zu dem anderen Wachmann herüber, der die ganze Zeit nur tatenlos zugeschaut hatte und an seinem Krug mit Met nippte.
    „Wenn dich jemand fragt, bei uns sind die nicht vorbeigekommen, verstanden?!“

    Nur wenig später erreichten Senna und Dorthe die Hütte der Heilerin, auf deren Eingangsschild in gusseisernen Lettern „Gruftiges Gebräu“ stand. Es war eine Tradition in Falkenring, die Geschäfte nach kirchlichen oder dem Friedhof nahen Dingen zu benennen. Das mochte für manche Besucher eigenartig anmuten, aber Dorthe gefiel der Gedanke. Sie saugte gerade all das Neue um sich herum auf, von dem sie ihr Vater ihre ganze Kindheit lang abgeschottet hatte.
    Bevor sie den Laden betraten, beugte sich die Rothwardonin zu dem Kind herab und wischte ihr mit einem Tuch den roten Beerensaft aus den Augenwinkeln.
    „Dem Wachmann haben wir einen schönen Bären aufgebunden.“
    „Das war toll, er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen“, erwiderte Dorthe lachend, „Kann ich denn jetzt meinen Schal wiederhaben?“
    „Kannst du. Ich habe eben am Schwarzen Brett geschaut. Es sieht nicht so aus, als ob man hier schon nach mir sucht. Das ist beruhigend.“
    „Was hast du überhaupt angestellt?“, wollte die Kleine wissen.
    „Erzähl ich dir später. Jetzt müssen wir uns erstmal um deine Wunde kümmern.“
    Sie wollte gerade die Tür zum „Gruftigen Gebräu“ öffnen, da trat im gleichen Moment jemand heraus. Es war auch ein Rothwardone, ein Mann mit einem dunklen Spitzbart und rotem Turban auf dem Kopf. Senna erkannte ihn sofort. Das war Nazir, ein Mitglied der Dunklen Bruderschaft. Und auch er schien Senna wiederzuerkennen.
    „Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Wenn das nicht unsere verschollene Wüstennatter ist“, er grinste breit und offenbarte dabei eine Reihe makellos weißer Zähne, „Hätte nicht gedacht, dich noch mal lebend zu sehen.“
    „Sie ist ein Panther, keine Natter“, mischte sich Dorthe ein. Nazirs schiefer Blick wanderte zu dem Mädchen herab.
    „Und wer ist der kleine Sandteufel? Sag nicht, du hast dich um die Frau im Waisenhaus gekümmert und hast jetzt eins ihrer Kinder an der Backe. Das war nicht dein Auftrag.“
    „Nein, ich bin immer noch hinter dem Verbrannten her. Sie ist mir eher zufällig über den Weg gelaufen. Bist du noch eine Weile in der Stadt? Wir müssen reden, aber vorher braucht die Kleine einen Arzt.“
    Nazir kniete sich zu Dorthe herab und betrachtete die Wunde an ihrer Wade.
    „Hmm… Ein sauberer Schnitt, extrem scharfe und dünne Klinge. Könnte von meiner Waffe sein. Doch es sieht so aus, als wäre sie nur ins Fleisch gegangen. Da ist keine Sehne gerissen. Sie hat Glück gehabt.“
    Er drehte den Kopf hin und her, als wägte er seine weiteren Worte wohlüberlegt ab.
    „Nun gut, weil du es bist, meine Liebe. Ich wollte eigentlich nur ein bisschen Gift abholen für… ein anderes Projekt. Aber das hat Zeit, ich bin schließlich neugierig. Ich warte drüben am Friedhof auf dich. Da sind wir ungestört… Panther.“
    Er zwinkerte ihr mit seinem sinisteren Blick zu und verschwand dann lautlosen Schrittes in einer der Seitengassen. Dorthe bekam eine Gänsehaut.

    Zaria, die Heilerin von Falkenring, war von einem völlig anderen Schlag. Sie war ruhig, freundlich und hatte eine fast schon mütterliche Ausstrahlung. Doch eins hatte sie mit Senna und Nazir gemeinsam und das war die Tatsache, dass auch sie zum Volk der Rothwardonen gehörte. Für Dorthe eine völlig neue Erfahrung, hatte sie in ihrem ganzen Leben doch kaum mehr als eine Handvoll der dunkelhäutigen Wüstenbewohner gesehen und wenn, dann nur aus der Ferne, denn es waren meist Jäger, Abenteurer oder bewaffnete Söldner. Niemand, mit dem ihr Vater sie hätte reden lassen. Sie hatte so viel nachzuholen.
    „Du musst jetzt kurz tapfer sein, hörst du meine Kleine?“
    Zaria beugte sich zu ihr herab und blickte ihr tief in die Augen. Ihre Pupillen waren von einem tiefen Ziegelrot und ihr krauses Haar trug sie zu einem lockeren Zopf. Und sie roch so gut… als hätte sie ein Bad in Mandelmilch genommen.
    Dorthe nickte.
    „Was hast du da? Medizin?“
    Zaria hielt einen Flakon mit einer nahezu klaren Flüssigkeit in der Hand.
    „So ähnlich. Das ist zum Reinigen deiner Wunde. Es wird brennen, also versuch an etwas Schönes zu denken.“
    Das war nicht so leicht nach allem, was geschehen war.
    „Du kannst mich auch etwas fragen, wenn du möchtest“, bot Zaria an. Das wollte sie in der Tat.
    „Hier sind so viele Rothwardonen. Gehört Falkenring etwa schon zu Hammerfell?“
    Senna musste bei der Frage grinsen, aber Zaria blieb gelassen.
    „Du bist noch immer in Himmelsrand, aber Elinhir, die nordöstlichste Stadt von Hammerfell, ist gerade mal zwei Tagesmärsche entfernt. Wenn du aber ins Herzland der Rothwardonen willst, musst du erst einmal durch die Alik’r Wüste.“
    „Warum seid ihr hier? Seid ihr auch von zuhause weggelaufen?“
    „Das kann man so sagen“, erwiderte Zaria mit einem Lächeln und durchtränkte ein sauberes Tuch mit der Flüssigkeit. Damit tupfte sie über Dorthes Wunde. Das Mädchen musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu quieken.
    „Die meisten Rothwardonen hier in Himmelsrand sind Weltenbummler oder große Abenteurer. Ich persönlich bin hier in Falkenring, weil mich hier niemand bei meiner Arbeit behelligt. Als Alchimistin kenne ich mich nämlich nicht nur mit Heiltränken aus, sondern auch mit Giften. Und hier in Himmelsrand wachsen einige seltene Kräuter, an die ich zuhause nie herangekommen wäre.“
    Als nächstes griff sie nach einem Näpfchen mit einer weißen Paste. Davon strich sie reichlich auf die Wunde. Die Creme war viel angenehmer, sie hatte eine kühlende Wirkung. Zum Abschluss bekam Dorthe noch einen ordentlichen Verband umgewickelt.
    „Und was ist mit dir Panther?“, fuhr Dorthe unbehelligt fort, „Was hat dich nach Himmelsrand gelockt?“
    „Panther ist mal etwas Neues“, lachte Zaria. Diesmal blieb Sennas Blick kühl.
    „Wenn du es genau wissen willst… aber das bleibt unter uns, ja? Ich bin ein Assassine. Ich bin hier, um den Mann töten, der meinen Freund in der Mine gefangenhält. Aber das hat sich als schwieriger herausgestellt, als ich dachte, denn er hat eine ganze Horde Banditen um sich geschart.“
    „Etwa auch die Messerwerferin?“
    Senna nickte.
    „Die ist besonders gefährlich. Allein schaffe ich das nicht, daher werde ich Nazir um Hilfe bitten. Eine glückliche Fügung des Schicksals, dass ich ihn hier antreffe und nicht im Unterschlupf… Bleib du hier und ruh dich aus. Ich sehe später nach dir.“
    Und mit diesen Worten verließ Senna das Gruftige Gebräu.
    „Weg ist sie“, seufzte Zaria und wandte sich an ihre junge Patientin, „Du hast nicht zufällig zwanzig Septime zum Bezahlen der Behandlung bei dir oder Kleine?“
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (21.11.2021 um 21:27 Uhr)
  18. #18 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Die Reise des Artus Gabelbart

    „Hinreißend, einfach hinreißend!“
    Artus betrachtete sich von allen Winkeln, die ihm sein rundlicher Körper zu erkennen vermochte, in dem mannshohen Spiegel seines Ankleidezimmers. Es hatte fast eine Stunde gedauert, doch endlich war er zufrieden mit seiner Optik und bereit für die Reise. Statt des üblichen Ausgehrocks war er heute in feinen Hosen und robusten Stiefeln unterwegs. Über dem Leinengewand trug er einen mit dem Wappen des Hauses bestückten Wams, darüber wiederum einen Mantel gegen Kälte und Regen. Sein schulterlanges, weißgoldenes Haar war frisch gewaschen und gekämmt und wurde von dem mit einer roten Feder verzierten Dreispitz auf seinem Kopf gebändigt. Das Gesicht war natürlich gepudert, immerhin wollte er in der Sonne nicht glänzen wie der gemeine Pöbel. Und sein Markenzeichen, der zu beiden Seiten dreifach gezackte Schnurbart, hielt dank einer großzügigen Menge an Bartwachs auch jedem Wetter stand.
    „Artus Gabelbart, der eitelste Mann in Helgen“, seine Frau Bella wollte zu ihm herantreten und ihm einen Kuss auf die Wange geben, doch der reichte ihr nur die Hand, „Du weißt, ich liebe deine roten Lippen, aber du hast nicht die leiseste Vorstellung, wie schwer es ist, den Kussmund wieder abzuwischen. Dann kann ich mich ja gleich neu pudern.“
    „Na dann lass den Knutschfleck doch dran“, erwiderte sie kess, „Ist doch nicht so, als wolltest du einem anderen Weibsbild auf deinen Reisen schöne Augen machen, oder?“
    „Selbstverständlich nicht!“, rief Artus mit gespielter Empörung, „Aber denk nur mal an unseren Jungen. Was soll er denken, wenn er seinen Vater so begleiten müsste? Du weißt doch, wie pikiert die Jugend von heute ist. Vom Hohn der Händlergilde ganz zu schweigen.“
    Bella seufzte: „Ich wünschte nur, du würdest dich auch mal für mich so in Schale schmeißen.“
    „Wenn du das wünschst, können wir das arrangieren“, sagte Artus mit einem süffisanten Grinsen, „Dann klage aber nicht darüber, dass ich dir nicht spontan genug wäre.“

    Die beiden Adeligen wurden bei ihrem Geplänkel jäh vom ältesten Sohn Gabelbarts unterbrochen, der ungestüm und mit nackten Füßen das Ankleidezimmer betrat. Die Hausangestellte schleppte ihm mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck die Schuhe hinterher.
    „Vater, ich bin empört!“, echauffierte er sich und deutete auf seine Füße, deren Fersen rot angelaufen waren, „Von diesen - entschuldige meinen schroffen Ton - Lederlatschen bekomme ich Ausschlag! Und dann die plumpe Form erst…“
    „Das sind feine Wanderschuhe, Philipp, solche hat schon König Torygg auf seinen Jagden getragen“, erklärte der weise Händler, zu dessen Expertise auch der Verkauf von Stoffen und Kleidung gehörte, ruhig, „Und das ist gewiss kein Ausschlag, sondern Blasen. Hatte ich dich nicht schon vor ein paar Tagen gebeten, die Schuhe einzulaufen?“
    Philipp verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Der Junge von fünfzehn Sommern war es nicht gewohnt, die Wünsche seines Vaters zu erfüllen. Bei seiner Erziehung war Artus ein wenig nachlässig gewesen, aber er konnte sich auch nicht um alles kümmern. Das Geschäft ging nun mal vor und als wohlhabender Händler hatte man eine Menge wichtige Termine wahrzunehmen.
    „Ich ging wohl nicht davon aus, dass Ihr mich tatsächlich durch das Unterholz scheucht wie ein Wildschwein.“
    „Das tun wir auch nicht. Wir nehmen die Kutsche nach Weißlauf.“
    „Dann erkläre mir freundlicherweise diesen modischen Fauxpas!“
    Artus blickte unsicher seiner Frau herüber.
    „Du wirst vielleicht reiten müssen, darum die festen Schuhe“, sagte sie.
    „Tatsächlich? Aber doch nicht etwa auf einem der stinkenden, alten Lastenmulis!“
    „Nein nein, auf einem richtigen Pferd“, stammelte Artus zusammen.
    „Wie komme ich zu der Ehre?“, fragte Philipp, doch die Antwort konnte er selbst erschließen, „Moment… ich habe nächste Woche Geburtstag. Kaufst du mir etwa endlich ein Ross zum Geburtstag?!“
    Damit war das Pferd aus dem Sack. Artus tupfte sich nervös mit einem Tuch über die Stirn.
    „Nun, die Bilanzen im letzten Jahr waren gut und du musst allmählich mobil werden und die Geschäfte im Umland übernehmen, also ja, richtig geraten, wir kaufen dir ein Pferd. Aber nur, wenn du jetzt deine Schuhe trägst. Melinda, legt ihm Verbände um die Fersen, damit sie nicht so scheuern.“
    „Sehr wohl, Herr“, antwortete die Hausangestellte und machte einen Knicks. Philipp fiel derweil seinen Eltern vor Freude um den Hals und zerstörte dabei die Perfektion in Artus‘ Garderobe.

    Gegen Mittag verließ die Kutsche des wohlhabenden Gabelbarts die Stadt Helgen. Zum Tross gehörten der Kutscher, zwei Söldner und zwei große Lastenkarren, die von den Mulis und einigen Helfern transportiert wurden. Sie hatten feine Kleider geladen, die Artus‘ Frau Bella selbst entworfen und in Auftrag gegeben hatte. Im Wolkenbezirk von Weißlauf gab es sicher einige interessierte Abnehmer, immerhin entstammen die Ideen der Kleider den neusten Moden aus Cyrodiil, von denen man an der Grenzfestung Helgen als erstes Wind bekam. Außerdem hatten sie ein Dutzend Fässer des berühmten Helgener Wacholderbranntweins geladen, sowie Gewürze aus dem Süden. Für das leibliche Wohl sorgten Käseräder und feines Gebäck.
    Artus und Philipp winkten Bella und den anderen Kindern zum Abschied aus der Kutsche heraus mit ihren Taschentüchern und der emotionale Gabelbart musste sich eine Träne wegtupfen. Er liebte seine Frau einfach abgöttisch und es war vor jeder größeren Reise eine einzige Heulerei. Wenn es nach ihr ginge, würde sie ihn gar nicht ziehen lassen, aber nach ein bisschen gutem Zureden und dem Versprechen, dass er ihr etwas Schönes und Funkelndes mitbrachte, ließ sie ihn ziehen.
    Philipp hingegen war nicht besonders traurig, den alltäglichen Trott in Helgen für eine Weile zu verlassen. Doch glücklich war er auch nicht, was aber vor allem an dem holprigen Pfad lag, über den sie sich fortbewegten.
    „Diese Straße ist eine einzige Zumutung!“, schimpfte er.
    „Wenn wir im Tal angelangt sind, wird es besser“, beschwichtigte Artus seinen Sohn, „Und obendrein gibt es auf diesem Weg zumindest keine Schlammlöcher.“
    „Ich hoffe nur, das Pferd, das Ihr mir vermacht, ist diese Tortur wert, Vater!“
    „Gewiss…“, seufzte Artus. Auch für ihn würde es eine anstrengende Reise werden, so viel stand fest.

    Dann stoppte der Tross plötzlich, dabei waren sie kaum eine Meile aus Helgen heraus. Lautes Gebell war zu vernehmen.
    „Den Neun sei Dank“, keuchte Philipp und machte sich zum Aussteigen bereit.
    „Warte, wir sind noch längst nicht da“, wies ihn sein Vater zurecht und steckte seinen Kopf aus dem Fenster, „Was ist denn los? Warum geht es nicht weiter?“
    „Herr, auf ein Wort!“
    Zwei Landstreicher und ein Hund ruhten sich am Wegesrand aus, beides kräftige und bärtige Nordmänner. Einer von ihnen trug etwas über der Schulter, was entweder ein Verletzter, wenn nicht gar ein Toter war. Bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass der Leblose die Rüstung eines Soldaten trug. Artus‘ Herzschlag ging schneller.
    „Was hat das zu bedeuten? Identifiziert Euch!“
    „Seid gesegnet, Herr. Ich bin Alvor Hammerhand und das ist mein Nachbar Hod. Wir kommen aus Flusswald.“
    Artus beruhigte sich ein wenig. Das waren nur einfache Dorfbewohner, keine Banditen. Alvor berichtete in kurzen Sätzen, was mit seinem Neffen, dem toten Hadvar, geschehen ist und dass sie auf dem Weg nach Helgen sind, um Hauptmann Kaegan um Hilfe zu bitten.
    „Könnt Ihr uns vielleicht einen Eurer Karren oder ein Maultier leihen, damit wir meinen Neffen transportieren können?“
    „Oh, ich bin untröstlich über Euren Verlust“, sagte Artus, „Aber wir sind voll beladen und zu einer gewissen Pünktlichkeit verpflichtet.“
    „Bitte Herr, wir zahlen es Euch auch aus.“
    Bei den Worten wurde Artus hellhörig. Als Geschäftsmann musste er immer an seinen Profit denken, also rechnete er bereits im Kopf zusammen, was ihn diese Dienstleistung wert war, doch er hatte die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht. Philipp steckte ebenfalls den Kopf aus der Kutsche.
    „Habt Ihr meinen Vater nicht verstanden, Bauerntölpel? Ich wiederhole es gerne, damit euresgleichen es auch versteht: Macht euch vom Acker, wir haben es eilig!“
    Der Hund begann ihn anzuknurren.
    „Und schlachtet bei Gelegenheit diesen Flohteppich. Ist ja widerlich. Kutscher! Es geht weiter, hopphopp!“
    Der Konvoi setzte sich allmählich wieder in Bewegung und ließ zwei desillusionierte Männer zurück.

    „Dein Engagement in allen Ehren, Philipp“, sprach Artus nach einer Weile, als sich der Weg allmählich besserte und sie ein ungestörtes Gespräch führen konnten, „Aber du solltest dich vorsehen, nicht meine Autorität zu untergraben.“
    Der Knabe war anderer Meinung.
    „Dieser Pöbel war es, der Eure Autorität untergraben hat, Vater. Außerdem werde ich mich hüten, wegen solcher Belanglosigkeiten eine Verspätung in Kauf zu nehmen. Je schneller wir in Weißlauf sind, desto schneller bekomme ich mein Pferd.“
    „Alvor Hammerhand ist ein geschätzter Handelspartner aus Flusswald“, erklärte Artus ruhig, „Es war nicht richtig, in derart brüsk abzuweisen. Wir müssen auch eine gewisse… Kompetenz wahren. Und unseren Ruf. Sonst kauft am Ende niemand mehr bei uns ein, verstehst du?“
    „Mit Verlaub, aber der sah nicht so aus, als ob er sich auch nur eine Flasche von unserem guten Branntwein leisten könnte“, spottete Philipp weiter, „Wenn wir nicht exklusiv auftreten, werden wir immer nur vom Geld des Pöbels leben können. Das mag dir vielleicht genügen, Vater. Aber ich habe Größeres vor! Ich plane, dereinst ein Geschäft am Hofe von Königin Elisif zu betreiben.“
    Artus betrachtete seinen Sohn mit einem lächelnden und einem weinenden Auge. Philipp war aus dem richtigen Holz geschnitzt, hatte große Ambitionen. Aber er hatte absolut kein Gefühl dafür, wie es wirklich in der Welt zuging. Wie sollte er auch, hatte er doch sein gesamtes Leben behütet hinter den dicken Mauern der Festung Helgen verbracht.
    Ein dumpfer Stoß war plötzlich von draußen zu vernehmen, kurz darauf stoppte der Kutscher die Pferde. Philipp verdrehte die Augen.
    „Was ist denn jetzt wieder? So kommen wir ja gar nicht voran!“
    Es gab einen weiteren Stoß und einen dritten. Dann einen Schrei. Artus schielte nach draußen und konnte gerade erblicken, wie der Kutscher schwer blutend und mit einem Pfeil im Herzen vom Kutschbock in den Dreck fiel. Weitere Schreie waren zu vernehmen, die beiden Soldaten riefen die Helfer zu den Waffen.
    „Duck dich, schnell!“, befahl Artus seinem Sohn und stellte sich beschützend zwischen ihn und die Tür der Kutsche. Das Intermezzo war kurz und blutig, nach wenigen Herzschlägen streckten die Mitglieder des Konvois die Hände zur Aufgabe.
    „Papa, ich habe Angst“, japste Philipp panisch.
    „Bleib dicht hinter mir“, gab Artus zurück. In diesem Moment wurde die Tür der Kutsche aufgerissen und ein hünenhafter Bandit stand vor ihm. So einen großen Menschen hatte Artus in seinem Leben noch nicht gesehen und dabei kam er viel herum.
    „Hier sind noch zwei!“, rief der Riese, packte Artus an seinem Kragen und zerrte ihn mit einer Gewalt aus der Kutsche, die ihm die Luft zum Atmen raubte. Er landete im Dreck der Straße und fand sich neben einer Hand voll seiner Begleiter wider, die wie Hühner zusammengedrängt wurden. Der Kutscher war tot, einer der Söldner lag mit einem Schwert im Rücken keine fünf Schritt neben Artus und rührte sich nicht mehr. Der andere kniete neben ihm und hielt die Hände hinter dem Kopf verschränkt, genau wie alle anderen Überlebenden. Philipp wurde kurz darauf ebenso unsanft aus der Kutsche befördert.
    Bei den Attentätern handelte es sich um eine Gruppe von fünf Banditen, darunter eine in wilder Kriegsbemalung auftretende Frau, ein Kerl mit Langbogen, der mit seiner Waffe direkt auf Artus zielte und der Hüne, der den ganzen Trupp anführte.
    „Ach du scheiße, ach du scheiße“, japste Philipp neben ihm und hatte anscheinend eine Panikattacke. Artus versuchte seinen Sohn zu beruhigen, er sollte ja keinen Laut von sich geben und alles tun, was die Banditen verlangten.
    „Das sollten alle sein, Cass“, rief die Frau mit der Kriegsbemalung und grinste dabei dreckig, „Was für ein gefundenes Fressen.“
    „Was habt Ihr geladen?“, wollte der Hüne wissen und packte Artus erneut am Kragen, um ihn anzuheben.
    „I-ihr k-könnt alles haben. Kleider und Käse und…“, er schluckte, „… und viel Branntwein.“
    „Habt Ihr kein Fleisch? Meine Lady daheim will Fleisch!“
    „Leider nein, i-ihr könnt die Mulis schlachten oder die Pferde. Nehmt euch alles, was ihr wollt, aber lasst mich und meinen Sohn bitte in Frieden. Ich flehe Euch an!“
    „Wir könnten auch ihn schlachten, an dem ist viel Speck dran!“, schlug die Wilde ihrem Kameraden vor.
    „Scheint mir so irgendwie so ein bisschen zu fettig zu sein oder so“, lachte der Bogenschütze.
    „Lasst meinen Vater in Frieden, ihr räudigen Hunde!“, schrie Philipp plötzlich und verpasste Cass einen Tritt mit seinem derben Schuhwerk, der genau gegen das Schienbein ging. Die Wilde war sofort zur Stelle und keulte Philipp mit einem schweren Ast besinnungslos. Artus zappelte immer noch im Griff des Hünen, weinte und flehte.
    „Dein Junge hat Eier, das muss ich ihm lassen“, lachte Cass, „Trotzdem wird bei uns so ein Verhalten mit Blut bestraft. Weil ich nett bin, lass ich dich wählen, wie er sterben soll.“
    „Um der Götter Willen, er ist doch nur ein Kind!“, schnäuzte Artus, „Habt Erbarmen! Nehmt mich, wenn es sein muss.“
    „Ach verdammt, ich hasse diese Heulerei“, seufzte Cass und legte einen Arm um Artus, „Können wir unsere Differenzen nicht in Ruhe beilegen?“
    Artus nickte, sein schwabbeliges Kinn lag im Unterarm des Hünen, der Angstschweiß hatte ihm das ganze Puder vom Gesicht gewischt. Er dachte an die Kinder, an seine liebste Bella und schloss die Augen.
    „Danke“, sagte Cass und brach dem Händler mit einer schnellen, routinierten Bewegung das Genick.
    Ronsen ist offline
  19. #19 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Mörder

    Der Wacholderbranntwein, den Artus Gabelbart geladen hatte, schmeckte exquisit. Es war das beste Gesöff, das Cass seit Jahren getrunken hatte. Fruchtig und feurig, aber nicht zu süß. Wie flüssiger Honig floss es ihm in den Brustkorb, von da aus verbreitete es eine wohlige Wärme in seinem ganzen, riesigen Körper. Es beruhigte ihn, beendete das Zittern in seinen Händen. Er musterte sie, diese unheilvollen Pranken. Die Nägel voller Dreck, die Knöchel traten weiß hervor. Sie waren kräftig, waren harte Arbeit gewohnt. Sie konnten das Genick eines gewöhnlichen Menschen mit einem einzigen, kräftigen Ruck brechen und sein Leben beenden. Es waren die Hände eines Mörders. Er war nicht stolz darauf, er empfand keine Freude am Töten. Diese Hände waren einmal für etwas anderes bestimmt gewesen, doch diese friedliche Zeit schien schon so lange her zu sein…
    Seine Familie besaß eine Apfelplantage in Drachenbrügge. Er liebte es dort, die Arbeit in der Natur, das Holzfällen, das Ernten der Äpfel. Seine Geschwister brauchten dafür immer den langen Kescher, er aber war so groß, dass er die meisten Früchte einfach so pflücken konnte. Er hatte ein Händchen für den Garten, manchmal hatte er Stunden damit verbracht, die Bäume vor hungrigen Krähen zu verteidigen. Erst mir der Schleuder und später mit dem Bogen. Man nannte ihn auch Cassady die Vogelscheuche. Aus seinem Äußeren machte er sich nichts, er war ja ohnehin ein Monster, aber ein friedliches. Bei der Dorfjugend war er gefürchtet und bei sportlichen Wettbewerben immer auf der Siegerseite. Er hatte eine gute Kindheit.
    Die Probleme begannen, als er langsam erwachsen wurde. Der Hof warf zwar nach wie vor gesegnete Erträge ab, doch die meisten Vorräte wurden inzwischen von der Armee abgeholt und an die Grenzen verfrachtet. Es dauerte nicht lange, bis einer der Milizen auf den riesigen Cass aufmerksam wurde. Kurze Zeit später wurde er vom Hof abgeholt und zum Dienst eingezogen, für die lächerliche Summe von 200 Septimen, die der Familie als Entschädigung gezahlt wurden. In Einsamkeit wurde er für den Krieg ausgebildet, lernte den Kampf mit Schwert und Schild. Er verstand nicht, wozu das nötig war, immerhin war der Große Krieg seit Jahren vorbei, schon ehe er geboren wurde. Wie er später erfuhr, galten Unruhen in den Fürstentümern als Ursache und der Name Ulfric Sturmmantel wurde ihm zum Feindbild erklärt.
    Es ereignete sich in seinem zweiten Jahr als Rekrut, dass er einen seiner Kameraden in einem Übungskampf versehentlich umbrachte. Cass trug nicht die alleinige Schuld daran, denn es fiel seinen Trainingspartnern nicht leicht, jemanden von seiner Größe und Kraft zu entwaffnen. Und dieser übermütige Kerl hatte halt seine Deckung völlig aufgegeben und war dabei in das Schwert des Hünen gelaufen. Das war nur einer von vielen Unfällen beim Training, aber es war der schlimmste. Zudem hagelte es Kritik von den anderen Jungspunden, er wäre nicht diszipliniert genug und eine Gefahr für andere. Daraufhin wurde Cass nach Cyrodiil versetzt, in die Hauptstadt des Kaiserreiches. Hier sollte er an einem besonders intensiven Trainingsprogramm teilnehmen, welches darauf spezialisiert war, den „wilden Rassen“ - Orks, Khajiit, Argoniern und Nord - den disziplinierten Kampfstil der Kaiserlichen beizubringen. Aber wie sich herausstellte, war der dafür zuständige Kasernenmeister zugleich einer der größten Sponsoren der dortigen Arenakämpfe. Und in Cass sah er viel mehr Potential innerhalb der Arena, als in einer Truppe von Soldaten. Sein Trainingsprogramm lautete letztlich, sich im Zweikampf auf Leben und Tod zu beweisen. Hier schärfte Cass zwar seine Kampfkünste, doch innerlich stumpfte er ab. Immerhin überlebte er. Das gelang nun wirklich den wenigsten Arenakämpfern über eine längere Zeit und so machte er sich einen Namen und verdiente sogar ein wenig Geld damit.
    Irgendwann hatte Cass jedoch die Schnauze voll davon, für sein Gold über Leichen zu gehen. Das lag vor allem daran, dass die meisten Gegner, die ihm vor die Füße geworfen wurden, nicht freiwillig in der Arena kämpften, sondern als Sklaven um ihre Freiheit rangen. Einige von ihnen flehten um Gnade, andere waren fast noch Kinder. In einer Nacht- und Nebelaktion verschwand Cass aus der Arena und kehrte ihr und dem ganzen Kaiserreich den Rücken zu. Mit seinem angesparten Geld wollte er wieder auf den Hof seiner Eltern zurückkehren. Doch der war längst verwüstet worden, die meisten seiner Verwandten tot oder auf der Flucht. Inzwischen bebte der Kampf zwischen Kaiserlichen und Sturmmänteln in ganz Himmelsrand, doch wer von ihnen für die Zerstörung seines elterlichen Hofes verantwortlich war, blieb ungewiss.
    Ohne eine Bleibe oder handwerkliche Ausbildung, entschied er sich schließlich dafür, seine kämpferischen Dienste als Söldner anzubieten. Und dadurch wurde vor einigen Monden auch Vega auf ihn aufmerksam und bot ihm einen Platz in seiner Bande an. Er verdiente sich schnell die Position als rechte Hand des Bosses und die Ehrfurcht seiner Kumpane. Besonders aber genoss er die Freiheit, die ihm ein Leben in der Wildnis bot. Nur das Morden hörte nicht auf, denn es war das einzige, das er wirklich gut beherrschte.

    „Hier steckst du also! Hast dich mit dem Schnaps allein ins Gebüsch geschlagen. Oberaufseher müsste man sein…“
    „Hey Shotzi… ich brauche nur einen Moment für mich.“
    „Ich auch“, sagte seine Kameradin zwinkernd und setzte sich neben ihn auf den umgestürzten Baumstamm. Cass reichte ihr seufzend die Flasche mit dem Branntwein.
    „Ah, es geht doch nichts über einen Siegestrunk, was Knochenbrecher?“
    Shotzi war die Art Mensch, die jemanden mit ihrer direkten Art überrollen konnte. Ein exzentrisches Plappermaul. Aber auch furchteinflößend und brutal. Wo andere Frauen sich die Haare hübsch zurechtmachten, schmierte sich Shotzi ihre wilde Kriegsbemalung aufs Gesicht.
    „Mensch, du schaust ja drein wie drei Tage Scheißwetter. Isses wegen der Kleinen?“
    „Hä?“
    Sie stieß ihm den Ellenbogen unangenehm hart in die Seite.
    „Na wer wohl? Dein Honigtöpfchen, dem du eine Portion Fleisch mitbringen wolltest. Die wirste sicher auch mit einem guten Tropfen rumkriegen. Und wenn sie nicht will, schieb ich mich gern dazwischen.“
    ‚Uff‘, dachte Cass. Er war es gewohnt, dass die Frauen ein Auge auf ihn warfen, schlecht sah er ja nicht aus. Aber die wenigsten waren so indiskret wie Shotzi. Es war ihm selbst nicht ganz klar, warum er noch allein war. Für ihn gehörte einfach die Eroberung dazu. Seine Liebste musste widerspenstig sein, wild. Das traf auf Shotzi vermutlich auch zu, aber… nein, dafür hatte sie sich schon zu vielen der anderen Banditen um den Hals geworfen. Das war nicht böse gemeint, im Kampf schätzte er sie durchaus mehr als die meisten männlichen Kameraden, aber ihre körperliche Nähe war einfach zu erdrückend.
    „Nun… nichts gegen dich, aber…“
    Ehe er etwas sagen konnte, brach sie in schallendes Gelächter aus.
    „Scheiße, du müsstest dein Gesicht mal sehen! Eine Kirsche verblasst gegen dich. Mensch ich mach doch bloß Spaß.“
    Sie klatschte ihm derb gegen den Rücken. Er nickte nur, obwohl ihm klar war, dass sie ihm etwas vormachte. Er war nach einer durchzechten Nacht schon einmal neben ihr aufgewacht, obwohl er sich todsicher war, dass er sich allein schlafengelegt hatte.
    „Aber warte, da fällt mir etwas ein, was dir helfen könnte. Hier!“
    Sie reichte ihm ein ledernes Armband. Daran waren Muschelschalen aufgefädelt worden.
    „Hab ich an der Kreuzung gefunden“, sagte Shotzi, „Das sieht kitschig genug aus, als ob es deinem Herzblatt gefallen könnte. Wenn schon mein Parfum nicht gewirkt hat.“
    „Oha… ja… danke“, erwiderte Cass etwas verwirrt und nahm das Armband ehrlich dankbar und überrascht entgegen. Shotzi war irgendwie unberechenbar. Sie unterstützte ihn bei seinen Bemühungen mit Toni, obwohl sie selbst am liebsten an ihrer Stelle wäre. Er hatte nie viele Freunde vom anderen Geschlecht, aber diese hier schien trotz ihrer Grobschlächtigkeit doch ehrlich freundlich zu sein. Und sie lenkte ihn von seinen düsteren Gedanken ab, zumindest für eine Weile.

    Wenig später hatten sich die beiden zum Platz des Überfalls zurückbegeben. Die anderen Banditen genossen ebenfalls eine Flasche Schnaps und den würzigen Käse, den Artus geladen hatte. Doch so wie sie ihren Oberaufseher sahen, beendeten sie ihre Pause.
    „Sind wir abmarschbereit?“, fragte Cass.
    „So gut wie“, bestätigte Ramirez, seine rechte Hand, „Die Gefangenen sind gefesselt und die Toten verscharrt, so wie du es wolltest.“
    „Und Gabelbarts Kopf?“
    „In einer der Kisten verstaut. Aber sag mal so… was hast du mit dem vor?“
    „Wir sollten den übrigen Familie Gabelbart eine Nachricht schicken. Dass wir ihren Sohn als Sklaven haben. Sie sollen uns weiter mit Essen versorgen und ja nichts Unüberlegtes unternehmen, sonst ist ihr Sohnemann auch tot.“
    Der junge Philipp saß zwischen den anderen Gefangenen, sein leerer Blick war auf den Boden gerichtet. Cass fand in der Kutsche ein kleines Finanzbuch, das Artus mit sich geführt hatte und riss eine Seite davon heraus.
    „So, Ramirez, dann schreib mal auf: Liebe Frau Gabelbart…“
    „Äh, wie kommst du so darauf, dass ich schreiben kann?“
    „Kannst du nicht?“
    Ramirez schüttelte den Kopf. Das war vielleicht auch besser so, immerhin hatte er schon einen leichten Sprachfehler.
    „Na gut, dann… Shotzi?“
    Doch auch sie zeigte ihm nur einen Vogel.
    „Ich weiß bloß, wie man Scheiße schreibt. Mit Eszett.“
    „Was soll das nun wieder sein?“, doch Cass winkte ab, „Ich will es gar nicht wissen. Mist, kann denn hier niemand schreiben? Ich meine, ich muss sowas nicht können, ich bin immerhin schon der Oberaufseher.“
    Die Banditen glotzten sich nur schulterzuckend gegenseitig an.
    „Ich kann schreiben…“, kam es von unerwarteter Stelle. Philipp Gabelbart blickte Cass herausfordernd an, „Ich schreibe Euch Euren verfluchten Brief, wenn Ihr mich gehen lasst.“
    Cass musste grinsen.
    „Du machst mir Spaß. Dich können wir nicht gehen lassen, du bist immerhin die Geisel hier. Na kommt, gehen wir erst mal zurück zur Mine. Wenn es sonst niemand kann, dann zumindest Vega.“
    „Nehmen wir die Kutsche mit?“, wollte Shotzi wissen.
    „Klar Prinzessin, schwing dich rein. Ramirez, du wirst den Kutscher spielen.“
    „Stark!“
    Cass wollte sich dagegen selbst auf den Rücken eines Pferdes schwingen. Seine letzte Reitstunde lag schon einige Jährchen zurück, doch so etwas verlernte man nicht. Einem Nord lag das ohnehin im Blut.
    Kaum hatte er sich auf den Rücken des Rappen geschwungen, da vernahm er plötzlich ein Säuseln im Geäst. In den Baumkronen entdeckte er zwei schmale, finstere Augen, die ihn aufmerksam beobachteten. Cass schluckte. War das Waldelf von heute Morgen?
    „Machen wir, dass wir hier fortkommen“, sagte er und gab seinem Pferd ein entsprechendes Kommando.
    Der ganze Tross setzte sich in Bewegung. Cass blickte noch einmal zu seinem Beobachter hinauf, doch er war verschwunden. Vielleicht hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt. Und wenn nicht… spielte es wirklich eine Rolle?
    Ronsen ist offline Geändert von Ronsen (08.10.2021 um 20:00 Uhr)
  20. #20 Zitieren
    Auserwählter Avatar von Ronsen
    Registriert seit
    Jul 2005
    Beiträge
    6.192
    Kantig und kernig

    Alvor, Hod und Stump erreichten die Grenzfestung Helgen am frühen Nachmittag. Normalerweise bräuchten sie für einen Ausflug von Flusswald bis hierher nur einige Stunden, doch das Tragen von Hadvars Leiche war eine körperliche, wie auch seelische Last, die dem Schmied schwer zusetzte. Dazu kam die Verbitterung gegenüber der Händlerkarawane, die sie wie Diebe oder Khajiit behandelt hatte und keinerlei Hilfe zukommen ließ.
    „Möge Talos Zorn sie strafen“, hatte Hod gebrummt, nachdem die Karawane weitergezogen war, „Echte Nord hätten einander geholfen! Seit die Kaiserlichen hier sind, geht es allen nur noch um das große Geld.“
    Alvor war zu müde, um mit seinem patriotischen Nachbarn über das Für und Wider der Kaiserlichen in Himmelsrand zu diskutieren. Im Stillen war er glücklich darüber, dass Hod ihn begleitete. Dass er beim Tragen von Hadvar half. Dass er da war. Ihr ganzer Zank schien in dieser schwierigen Stunde vergessen und die Gedanken des Schmiedes drehten sich nur noch darum, seine Tochter zu finden. Wenn sie noch bei dieser flüchtigen Rothwardone war, dann gewiss nicht in Helgen, immerhin war sie aus den hiesigen Kerkern ausgebrochen. Doch vielleicht hatte der Hauptmann der Grenzfestung eine Idee, wo sie zu finden war. Oder konnte ihnen zumindest Unterstützung zukommen lassen.
    Als sie die Stadttore endlich erreichten, hielt Hod plötzlich inne. Alvor drehte sich fragend zu ihm um, konnte dem Müller aber bereits an der verbitterten Visage ansehen, dass er die Stadt nicht betreten wollte. Helgen gehörte schließlich ins Machtgebiet der Kaiserlichen.
    „Du schaffst den Rest des Weges allein, oder?“
    „Sicher“, Alvor nickte und kniff die Augen zusammen. Sie brannten schrecklich, er hatte zu viel geheult. Was sollten die Wachen nur von ihm denken?
    „Willst du dich etwa schon auf den Rückweg machen?“, fragte der Schmied.
    „Ich gehe runter an den Bach und mache erstmal eine Pause. Aber ja, danach werde ich wohl nach Flusswald zurückkehren. Und die anderen warnen.“
    „Sei bloß auf der Hut.“
    „Du machst dir doch nicht etwa Sorgen um mich? Es braucht mehr als den Dolch einer Frau um einen alten Haudegen wie mich zu überrumpeln. Wir echte Nord sind schließlich zäh.“
    Ein unnötiger Seitenhieb, aber Alvor ignorierte es.
    „Kannst du… würdest du bitte meiner Frau sagen, sie solle sich keine Sorgen machen? Ich werde nicht ohne Dorthe zurückkehren.“
    Hod nickte. Die beiden wandten sich voneinander ab, doch schließlich war es der Müller, der noch einmal zurückkehrte. Er reichte Alvor die Leine des Hundes. Stump und er starrten einander verwirrt an.
    „Er soll deine müden Augen bei der Suche unterstützen. Der Köter kommt bei mir ohnehin nicht oft genug raus. Hat sich schon einen richtigen Wanst angefressen.“
    „Hod… mir fehlen die Worte.“
    „Spar sie dir. Ich borge ihn dir nur! Unseren Ringkampf habe ich nicht vergessen. Den holen wir nach, also komm bloß heil wieder zurück, damit ich dir in den Arsch treten kann.“
    „Werde ich.“
    Mit diesen herzlichen Worten trennten sich die Wege der beiden Nachbarn fürs Erste.

    Wenig später betrat Alvor die schützenden Mauern der Festung Helgen mit der Hundeleine in der rechten Hand und der Leiche seines Neffen über der linken Schulter. Als die Wachen ihn bemerkten, beäugten sie ihn zunächst misstrauisch und mit den Händen an den Waffen, doch so wie sie den Toten als einen der Ihren erkannten, fielen ihre strengen Gesichtszüge in sich zusammen.
    „Hadvar! Bei den Acht, was ist geschehen?“
    Der Schmied erklärte sich kurz und bat um eine Audienz beim Hauptmann, um ihn um Unterstützung bei der Suche nach seiner Tochter zu helfen.
    „Da kann ich euch nur viel Glück wünschen. Hauptmann Kaegan ist in letzter Zeit äußerst kurzangebunden.“
    „Ich werde ihn nicht lange belästigen.“
    „Na schön. Dann kommt mit mir.“
    Der Soldat pfiff einen weiteren Kollegen zu sich heran, der mit einem Handkarren geeilt kam, um Hadvar abzutransportieren.
    „Noch einer? Da hätte ich das Feuer ja gar nicht erst löschen müssen.“
    „Moment, was soll das heißen, noch einer?“, wollte Alvor wissen.
    „Das heißt, dass wir in letzter Zeit nur Ärger mit den Sturmmänteln in der Region haben. Aber General Tullius hat sich bereits persönlich angekündigt. Der wird hier hoffentlich mit einer ganzen Legion aufmarschieren und die Grenzfeste sichern. Darf ich mal?“
    Der Soldat nahm ihm die Leiche von Hadvar ab und wollte sie wegkarren, doch Alvor hielt ihn noch für einen Augenblick zurück. Er nahm das Schwert seines Neffen und legte es ihm in die Arme, immerhin sollte er in Sovngarde nicht unbewaffnet ankommen. Doch wie er Hadvars Hand hob, bemerkte er, dass daran ein Armband geknüpft war. Ein Muschelarmband. Das musste Dorthe ihm vermacht haben. Alvor nahm es behutsam an sich. Vielleicht bestand die Chance, dass der Hund sie daran erschnüffeln konnte. Es war eine geringe Hoffnung, aber alles, was er momentan von seiner Kleinen bei sich trug.
    Dann ließ er den Soldaten seine Arbeit verrichten und folgte seinem Kollegen zur Burg und der darin befindlichen Kommandantur des obersten anwesenden Truppenführers.

    Hauptmann Kaegan war ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn aus einem Soldat ein Bürokrat wird. Er besaß eine kantige Erscheinung und einen kernigen Charakter, das erkannte selbst der kurzsichtige Alvor. Er begrüßte den Schmied in voller Rüstung, obwohl er ganz offensichtlich gerade dabei war, Papierkram zu erledigen. Sein Händedruck war so kräftig, wie seine Worte knapp waren. Man merkte ihm an, dass er die Angelegenheit um Hadvar zügig über die Bühne bringen wollte und dass er eigentlich gerade ganz andere Probleme hatte.
    „Mein Beileid zu Eurem Verlust, Schmied“, sprach er, ohne dass seine Tonlage anders klang, als wenn er einen Trupp Rekruten über die Burgmauern scheuchte, „Wenn Ihr gekommen seid, um Hadvars Besitztümer mitzunehmen, so wendet Euch an den Lagermeister. Seinen ausbleibenden Sold kann ich Euch nicht auszahlen, da er zum Zeitpunkt seines Todes außer Dienst gestellt war.“
    Alvor musste sich kurz sammeln, um diese neuen Informationen zu verarbeiten.
    „Eigentlich bin ich gekommen, um Euch um Eure Mithilfe bei der Suche nach der Rothwardonin zu bitten. Dass Hadvar außer Dienst war, davon wusste ich nichts.“
    Kaegan, der bis eben noch einen Federkiel in den Händen hielt, legte diesen nun beiseite und fuhr sich müde mit der Hand durchs Gesicht. Dann wühlte er durch einen Stapel mit Steckbriefen und suchte einen heraus, der Alvor sehr bekannt vorkam.
    „Ihr meint diese Rothwardonin?“
    „Senna von Hammerfell“, las Alvor stockend, „Ja, das ist sie. Sie hat meine Tochter entführt und Hadvar womöglich umgebracht.“
    „Es war ihm zu verschulden, dass Senna aus dem Kerker entkommen konnte. Dann hat der Jungspund sie also auf eigene Faust aufgespürt. Und es schließlich mit seinem Leben bezahlt.“
    Hadvar erwähnte zwar, dass er irgendwie mit dem Ausbruch von Senna zu tun hatte, jedoch hatte er seinem Onkel verschwiegen, dass er vom Dienst suspendiert war. Bestimmt schämte er sich dafür und wollte seinen Fehler selbst wiedergutmachen. Warum hatte er das nur getan, Alvor hätte ihm doch auch eine Arbeit geben können.
    „Ich bitte Euch, Herr, einen Suchtrupp auszusenden, um sie zu finden, Hadvar zu rächen und meine Tochter zu retten.“
    Aber an seiner steinernen Miene konnte Alvor schnell sehen, dass er mit seinem Anliegen bei ihm auf Granit biss.
    „Das ist leider unmöglich. Ich habe in letzter Zeit ohnehin schon zu viele Soldaten eingebüßt. Wir erwarten bald hohen Besuch und müssen deshalb in voller Mannschaftsstärke auftreten.“
    Dabei sprach er natürlich von General Tullius, ohne ihn beim Namen zu nennen. Für Alvor war diese Antwort ein Schlag ins Gesicht. Seine Beine wurden schwach, er war kurz davor, auf die Knie zu gehen.
    „Ich flehe Euch an, Herr! Könnt Ihr nicht wenigstens zwei fähige Krieger entbehren? Hadvar hat uns auch erzählt, dass eine üble Verbrecherbande seit Kurzem hier in der Gegend ihr Unheil treibt. Flusswald ist solchen Gefahren nicht gewachsen! Wir brauchen die Unterstützung der Soldaten.“
    „Dann wendet Euch an die Jarl in Weißlauf oder Falkenring. Ich kann Euch momentan nur in meine Gebete einschließen!“
    Alvor musste einsehen, dass er in dieser Angelegenheit auf sich allein gestellt war. Es schmerzte ihn tief, hatte er doch die Kaiserlichen bis zuletzt immer verteidigt. Gut, dass Hod nicht hier war. Er würde womöglich nicht so gefasst reagieren können und dann waren sie es selbst, die im Kerker landeten. Doch auch Alvor besaß die Sturheit eines Nords. Er würde nichts unversucht lassen, um seine Chancen zu erhöhen, Dorthe zu finden und sicher nach Hause zurückzubringen.
    „Wenn das so ist…“, begann er also vorsichtig, „Dann gebt mir bitte zumindest alle Informationen, die Ihr über die Rothwardonin habt. Woher sie kommt, was sie gestohlen hat, wie sie entkommen konnte, jede noch so kleine Information könnte nützlich sein.“
    „Ihr habt wirklich Nerven, mich derart zu behelligen“, seufzte Kaegan und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen, „Aber ich kann Euch verstehen. Es gibt genug Morde, die ich selbst liebend gern aufgeklärt wüsste. Schön, ich werde Euch sagen, was ich weiß, aber diese Informationen sind streng vertraulich zu behandeln, habt Ihr verstanden?“
    Alvor nickte. Sein Herz machte plötzlich einen aufgeregten Hüpfer.
    „Wir haben verlässliche Informationen darüber, dass die gesuchte Senna von Hammerfell ein Mitglied der Dunklen Bruderschaft ist. Einer Gruppierung geheimer Auftragsmörder, die eigentlich als ausgelöscht galt. Darum traue ich es ihr durchaus zu, dass sie Euren Neffen überwältigen konnte.“
    Eine Auftragsmörderin? Dann war sie durchaus in der Lage, ihn zu überwältigen.
    „Also hatte sie es auf ihn abgesehen? Aber wer sollte einen Groll gegen Hadvar hegen?“
    „Nein, ich glaube, der Fall liegt anders. Hadvar ist womöglich nur ein Opfer der Umstände. Wisst Ihr, wir hatten Senna nicht wegen Mordes festgenommen, sondern wegen Diebstahls. Sie hat persönliche Dokumente von General Tullius gestohlen. Es geht dabei um eine Reihe von ungeklärten Morden an Mitgliedern des Thalmor-Ordens. Die Dokumente sind für die Thalmor, ja für die ganze Diplomatie zwischen Kaiserlichen und Altmer von bedeutender Wichtigkeit.“
    „Die Hochelfen?“, fragte Alvor. Er hatte mit den goldenen Geschöpfen noch nie etwas am Hut gehabt, doch sie waren in weiten Teilen Himmelsrands verhasst, weil sie den Glauben an Talos unterdrückten und damit den Konflikt zwischen Kaiserlichen und Sturmmänteln aufheizten.
    „Genau. Ich gebe mich keinen Spekulationen hin, mein Auftrag bestand darin, die gestohlenen Dokumente sicherzustellen. Leider hatte Senna sie nicht mehr bei sich, als wir sie vor einigen Monaten aufgriffen.“
    „Und wo war das?“
    „Falkenring. Genauer gesagt in der Nähe des Ilinaltasees. Wir haben schon jeden Stein umgedreht, doch die gesuchten Dokumente blieben verschollen. Wenn es Euch gelingen sollte, Senna zu erwischen, dann wäre es ein ebenso großer Erfolg, wenn Ihr auch diese Dokumente in Euren Besitz bringt.“
    Wie auch immer er das allein bewerkstelligen sollte, dachte Alvor verbittert. Doch nun hatte er immerhin eine Spur. Er würde sich auf den Weg nach Falkenring machen. Vielleicht hatte Senna dort einen Zwischenstopp gemacht. Vielleicht hatte irgendjemand in dem Ort seine Tochter gesehen. Er war so voller Tatendrang, dass er gar ein erleichtertes Lächeln über die Lippen brachte.
    „Ich danke Euch, Herr. Wenn ich etwas in Erfahrung bringen kann, lasse ich es Euch wissen.“
    „Tut das. Aber bewahrt Stillschweigen darüber. Wenn General Tullius davon erfährt, dass diese Informationen an die Bevölkerung gelangt sind, macht er mich einen Kopf kürzer. Aber davor mache ich Euch einen Kopf kürzer, verstanden?“
    „Verstanden.“
    „Gut. Wegtreten.“

    Alvor war froh, als er die Kommandantur wieder verlassen konnte. Er wollte auch gar nicht mehr länger als nötig in Helgen bleiben, wenn schon bald dieser General Tullius hier aufschlagen würde. Eine innere Stimme sagte ihm, dass auch die hohen Tiere der Kaiserlichen Legion Dreck am Stecken hatten.
    Ronsen ist offline
Seite 1 von 2 12 Letzte »

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •