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    Auf eigene Faust

    Senna biss herzhaft in einen kleinen, viel zu sauren Apfel. Zwei davon hatte sie von dem großen Apfelbaum am Friedhof gepflückt, einen für sich und einen für Dorthe. Aber insgeheim hoffte sie, dass Zarias Gastfreundschaft so groß war, dass sie der Kleinen auch etwas Richtiges auftischte. Für Senna war es der erste Imbiss seit zwei Tagen und ihr Magen verlangte nach mehr. Eigentlich war sie es gewohnt, über Tage, manchmal sogar Wochen, ohne regelmäßige Mahlzeiten über die Runden zu kommen. Doch die Zeit bei Ammon und seiner Familie hatte sie schwach gemacht. Die vielen köstlichen Eintöpfe, frisch erlegtes Wild, würziger Käse… sie hatte die Kochkunst der Nord wirklich zu schätzen gelernt.
    Wie es wohl ihrem Liebsten ging? Ammon hatte ein großes Herz, einen starken Geist, aber sein Körper, der war eher schwach. Wie lange würde er in Gefangenschaft überleben? Eine Woche? Einen Monat? Und was, wenn Vega die Schwachen zuerst aussortierte? Oder ihn wegen seiner Magie fürchtete und deshalb tötete? Dass die Schwarzfeuerbande nicht zimperlich agierte, wusste Senna schon lange, sie hätten ja sogar den Tod der kleinen Dorthe billigend in Kauf genommen. Wie man es auch drehte und wendete, es stand nicht gut um Ammon und seine Familie. Senna musste alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn schnell zu befreien. Zur Not musste sie dafür eben ihren Stolz herunterschlucken und ihre Brüder und Schwestern um Hilfe bitten. Einer von ihnen erwartete sie bereits hinter der Halle der Toten, dem normalerweise ruhigsten Plätzchen in ganz Falkenring. Nur nicht heute.
    Nazir war gerade in ein Gespräch mit einem Altmer verwickelt, als Senna am vereinbarten Treffpunkt auftauchte. Als der in eine dunkle Robe gekleidete Hochelf die Rothwardone bemerkte, nickte er ihr freundlich zu und verabschiedete sich von Nazir.
    „Arkay behüte euch, Freund.“
    „Habt Dank, Priester. Seid gesegnet.“
    Der Altmer verschwand in der Halle der Toten und Senna schaute nicht schlecht, als sie um Nazirs Hals ein Amulett von Arkay hängen sah.

    „Ehrlich gesagt hätte ich dich eher für einen Totenbeschwörer gehalten, als für jemanden, der sie bekämpft.“
    „Es kann nie schaden, den Segen Tu’whaccas in sich zu tragen“, erwiderte Nazir mit süßlicher Stimme, „vor allem in einem Gewerbe wie dem unsrigen.“
    „Ja, aber Arkay ist nicht Tu’whacca. Er entspringt dem Pantheon der Kaiserlichen.“
    Nazir schmunzelte und brachte seine schmalen Schlangenaugen so richtig zur Geltung.
    „Entweder handelt es sich um dieselbe Gottheit, da ihre Segnungsbereiche identisch sind oder sie sind gute Nachbarn, die sich die Aufgabe teilen.“
    Senna verschränkte die Arme und beäugte Nazir skeptisch.
    „Nachbarn neigen allerdings auch dazu, sich große Zäune zu ziehen. Aber hey, es ist deine Seele, die auf Irrwege geraten könnte.“
    „Nein, nein, sprich weiter. Mit Irrwegen kennst du dich schließlich bestens aus, habe ich nicht recht?“
    Senna biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste ganz genau, worauf Nazir anspielte. Drei Monate waren bereits vergangen, seit sie mit ihren Brüdern und Schwestern zuletzt gesprochen hatte. Drei Monate, in denen sie ihren Auftrag hätte erfüllen müssen. Und wahrscheinlich drei Monate, in denen Nazir und die anderen sie bereits für tot glaubten.
    „Es gab Komplikationen, aber das spielt nichts zur Sache…“
    „Ohoho, nur nicht so bescheiden“, Nazir ließ sich auf einer der Friedhofsbänke nieder und ließ seine Blicke über die zahlreichen Gräber schweifen. Mahnmale der schweren Vergangenheit Falkenrings.
    „Wir haben schon einiges in Erfahrung bringen können. Deine Taten eilen dir ja geradezu voraus.“
    „So?“, ein mulmiges Gefühl breitete sich in Sennas Magengegend aus und es war kein Hunger.
    „Das Schwarze Sakrament wurde von einer gewissen Psyelle Thramore ausgeführt. Sie hatte sich nicht persönlich gezeigt, doch an der Opferstätte den Auftrag hinterlassen, den Mörder ihres Vaters und ihres Bruders zu töten. Die beiden gehörten zu der Gruppe von Thalmor-Gesandten, die vor einer Weile in einer Schlucht bei Einsamkeit tot aufgefunden wurden. Auf der Suche nach Hinweisen bist du auf einen gewissen Vega gestoßen, der nur kurz nach Bekanntwerden der Morde unehrenhaft aus dem Dienst der Kaiserlichen Armee entlassen wurde. Du hast nach dem Grund für seine Entlassung gesucht und dafür den obersten General beklaut. Doch die Kaiserlichen haben dich kurz vor Falkenring aufgeschnappt und nach Helgen verschleppt. Beinahe hättest du sie in unseren Unterschlupf gelockt.“
    Senna senkte den Blick, als ihr Nazirs scharfer Vorwurf gewahr wurde. Sie hatte sich in der Tat nicht gerade geschickt angestellt. Aber unbemerkter Diebstahl gehörte nicht unbedingt zu ihren Spezialitäten. Sie sorgte lieber dafür, dass keine Zeugen für ihre Taten am Leben blieben.
    „Aber was danach geschah, entschließt sich etwas meiner Fantasie“, fuhr Nazir seine Ausführungen fort, „Wir konnten in Erfahrung bringen, dass du aus dem Gefängnis in Helgen ausbrechen konntest - und das schon vor einigen Wochen. Doch seitdem haben wir nichts mehr von dir gehört.“
    „Ich wollte Gras über die Sache wachsen lassen“, erwiderte Senna knapp. Dass sie bei Ammon untergetaucht war, davon brauchte der krummnasige Assassine nichts zu wissen.
    „Doch genug der alten Geschichten. Ich habe Vega in der Zwischenzeit aufspüren können. Und er ist nachweislich derjenige, den diese Psyelle tot sehen will. Doch ich fürchte, ich benötige Unterstützung der Bruderschaft, um ihn zu erledigen. Er hat zahlreiche Verbrecher um sich geschart. Unter ihnen ein hünenhafter Krieger sowie eine ziemlich fähige Attentäterin. Sie haben sich in der Glutsplittermine verschanzt. Wenn Arnbjorn verfügbar ist oder diese kleine Vampirin, könnten wir ihn sicher ohne Probleme…“
    Doch Nazir unterbrach sie wirsch mit einem lauten Zungenschnalzen.
    „Der Auftrag wurde zurückgenommen.“
    „Was?!“
    Nazir zündete sich seelenruhig eine Pfeife an.
    „Wir waren wohl nicht… effizient genug vorgegangen. Uns erreichte während deiner Abwesenheit ein Brief. Psyelle will die Sache nun auf eigene Faust regeln. Ist vielleicht auch besser so. Ich war nie sonderlich scharf darauf, mit der Thalmor-Brut zu kooperieren. Du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, wie du die Angelegenheit Astrid schmackhaft machst.“
    Diese Worte waren für Senna wie ein Schlag ins Gesicht. Die erhoffte Hilfe von Seiten der Bruderschaft konnte sie sich abschminken. Und ob sie dort überhaupt noch eine Zukunft hatte, stand auch in den Sternen.
    „Ich erbitte dennoch eure… deine Unterstützung gegen ihn“, brachte sie gebrochen hervor, „Es ist inzwischen mehr eine… persönliche Vendetta. Und ich fürchte, er hat seine Attentäter auf mich angesetzt.“
    Nazirs Blick verfinsterte sich.
    „Danke für die Warnung. Dann sollte ich mich lieber nicht mehr mit dir blicken lassen.“
    Daraufhin wandte er sich ab. Doch Senna ließ nicht locker.
    „Du willst mich wirklich hier stehen lassen? Eine Rothwardone? Eine Schwester?“
    Er seufzte theatralisch und wandte sich noch einmal zu ihr um.
    „Habe ich dir nicht alle Hilfe bereits auf einem Silbertablett serviert? Anscheinend haben du und Psyelle einen gemeinsamen Feind. Vielleicht solltet ihr euch zusammenschließen, um mit Vega fertigzuwerden. Und bevor du fragst: Ich weiß nicht, wo du sie findest“, Nazir grinste, „Aber vielleicht kann dir der alte Runil helfen. Er stand zumindest früher mal mit den Thalmor in Kontakt.“
    „Du meinst den Priester Arkays?“
    „Genau den. Er hält heute Abend eine Totenwache ab zu Ehren der vielen Helden, die in den Schlachten um Falkenring ihr Leben ließen.“

    „Auch für Hadvar?“
    Senna und Nazir wandten sich überrascht um. Anscheinend war ihr Gespräch doch nicht ganz unbemerkt geblieben. Auf einem großen Ast im Apfelbaum saß die kleine Dorthe. Wie hatte sie es geschafft, von den beiden Assassinen unbemerkt dorthin zu gelangen? Und das mit dem dicken Verband an ihrem Bein.
    „Was hast du hier zu suchen?“, fragte Senna mit etwas mehr Gift in der Stimme, als beabsichtigt, „Bist du mir etwa gefolgt?“
    „Zaria lässt ausrichten, dass du für die Behandlung zahlen sollst.“
    „Die Kleine hat wirklich Potential“, kommentierte Nazir belustigt, „Ein Jammer, dass sie an dich geraten ist. Wenn ihr Vega wider Erwarten überleben solltet, stelle ich sie gern bei Astrid vor.“
    „Wer ist Astrid?“, fragte Dorthe.
    „Niemand, mit dem du etwas zu tun haben willst“, sagte Senna.
    Dorthe zog eine empörte Schnute: „Ach ja? Du klingst schon wie mein Vater.“
    „Tut mir leid, Falke, aber du hast nicht die leiseste Ahnung, in was du da hereingeraten bist. Und das ist auch besser so, glaub mir.“
    „Nein, erzähl es mir! Sonst plaudere ich alles aus, was ich von eurem Gespräch gehört habe! Nanu?“
    „Was ist?“, fragte Senna und erkannte es nur einen Herzschlag später.
    Nazir war verschwunden.

    „Scheiße“, knurrte die Rothwardone. Ihr wurde mehr und mehr Gewahr, dass ihr die ganze Situation aus den Händen glitt. Sie musste mit diesem Runil sprechen, in der Hoffnung, dass der in irgendeinem Kontakt zu ihrer Auftraggeberin Psyelle stand. Gleichzeitig musste sie sich um eine bockige Halbstarke kümmern und als wäre das nicht schlimm genug, saß ihr eine Messermörderin im Nacken.
    Und jetzt knurrte ihr auch noch der Magen. Auch für Senna war es an der Zeit, ihre Probleme selbst anzupacken.
    „Na schön, du willst bei den Großen mitspielen? Du willst wissen, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene? Dann komm runter und ich zeig es dir.“
    „Ehrlich?“
    Ein Strahlen legte sich auf Dorthes Gesicht.
    „Klar, aber eins muss dir bewusst sein. Wenn du dich bei solchen Geschäften erwischen lässt, landest du ganz schnell im Kerker oder am Galgen. Und denk bloß nicht, ich würde dir helfen, wenn es so weit kommt.“
    Nazir war das beste Beispiel dafür, dass es im Ernstfall erst einmal darum ging, seine eigene Haut zu retten.
    „W-was soll ich denn machen?“, fragte sie schließlich und ihre Stimme verlor direkt etwas an Sicherheit.
    „Hast du Hunger?“
    Sie nickte.
    „Und hast du Geld?“
    Sie schüttelte den Kopf.
    „Geht mir genauso. Komm mit, ich zeige dir, wie man an beides herankommt.“
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    Tollwut

    Nach dem Frühstück hatte Ammon die Müdigkeit überwältigt. Oder die Magie. Er war ein Autodidakt, hatte sich die arkanen Kräfte selbst beigebracht und beschrieb sie gern als Munterkeit des Geistes. Als er für Vega den Erzklumpen zu Gold verwandelte, versetzte er seinem ohnehin schon müden Geist einen Knüppelschlag. Er konnte gar nicht mehr selbst vom Frühstückstisch aufstehen und musste von einer genervten Wache in seine Zelle transportiert werden. So tief und traumlos wie diesmal hatte Ammon schon seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen.
    Etwa sechs Stunden später wurde er von dem Aufseher wachgerüttelt.
    „Komm schon, du Zauberkünstler!“
    Doch Ammon war noch immer völlig neben der Spur und konnte sich kaum rühren. Selbst als der Wachmann die Ketten an seinen Handgelenken löste, fühlte er sich eher befreit und bequemer als zuvor. Wenn er jetzt noch in einem richtigen Bett liegen könnte…
    „Los, wir brauchen deine Heilkünste. Deine Schwester dreht durch!“
    „…was…? Toni?“
    Worte, die ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückbeförderten. Erst jetzt bemerkte Ammon, dass ihm von der unbequemen Schlafposition alle Knochen schmerzten. Doch sein Geist war wieder hellauf und alarmiert.
    „Ja, sie ist nicht mehr Herr ihrer Sinne“, plapperte der Bandit, „Oder eher Frau? Bei ihr bin ich mir da nicht sicher.“
    „Bring mich schnell zu ihr!“

    Toni hatte eine Zelle für sich selbst und bei den Göttern, das war auch gut so. Sie randalierte darin wie eine tollwütiger Bache. Die Pritsche hatte sie zerstört, ihr Essen durch die Gegend geschleudert, ja sich sogar das blutdurchtränkte Oberteil vom Leib gerissen, sodass nur noch ihr Unterhemd die nackte und zerschundene Haut verdeckte. Und sie schrie wie am Spieß nach Ammon. Einer der Banditen hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht in einer Ecke und hielt sich augenscheinlich den Unterleib. Er hatte wohl versucht, sie zu beruhigen und wurde von Toni mit einem Tritt in die Weichteile empfangen. Ammon bekam eine Gänsehaut.
    „Hier ist er ja, hier ist dein Bruder“, knurrte der Wächter an Ammons Seite und stieß ihn unsanft gegen die Gitterstäbe.
    „Was soll das jetzt?! Wir sollten die Schlampe einfach kaltmachen“, jammerte der verletzte Kerl.
    „Wenn du sie auch nur anrührst, zieht Cass dir die Haut ab und hängt dich an dem auf, was von deinen Eiern noch übrig ist“, polterte Ammons Wache dem anderen entgegen, „also pass auf, was du sagst!“
    Bei dem Namen Cass klingelte etwas bei Ammon. War das nicht der Hüne, der Toni angeschossen hatte? Doch für Überlegungen blieb keine Zeit. So wie Toni ihren Bruder bemerkte, stürmte sie an das Gitter und zerrte an ihm.
    „Ausreißer Ammon! Endlich bist du da! Du musst mir helfen, die Mistkerle haben mich vergiftet!“
    In ihren weit aufgerissenen Augen brannte der Wahnsinn und ihr feuerrotes Haar stand in alle Richtungen ab. Ammon wurde angst und bange, als sie ihn so packte, doch zugleich wunderte er sich auch, wie viel Kraft sie in ihrem verletzten Arm besaß. Ja, bei genauerer Betrachtung schien die Schusswunde schon recht gut verheilt zu sein. Sie musste einen magischen Heiltrank bekommen haben, eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Aber warum benahm sie sich dann wie ein Berserker? Was für ein Gift hatte eine solche Wirkung?
    „Toni, du musst dich beruhi-“
    Sie zerrte ihn noch einmal näher an sich heran, dass sich sein Kopf fast durch die Gitterstäbe presste. Doch dann tat sie etwas völlig Unerwartetes.
    „Spiel gefälligst mit!“, flüsterte sie in sein Ohr, nur um ihn im nächsten Moment wieder vom Gitter wegzustoßen. Ammon schüttelte sich kurz und rappelte sich wieder auf.
    „Sie ist tollwütig“, stammelte er, „Lasst mich zu ihr rein, ich werde einen Heilzauber auf sie wirken.“
    „Tollwütig?!“, raunte einer der Banditen, „Ist das… ist das nicht tödlich?“
    „Ja und ansteckend!“, ergänzte der andere.
    „Ganz recht“, Ammon atmete tief durch, „Aber ich kenne eine Behandlungsmethode. Einen Zauberspruch. Ihr müsst mich zu ihr reinlassen und… kommt uns lieber nicht zu nahe, damit die Krankheit nicht überspringt.“
    Die beiden Banditen beäugten sich planlos, zuckten mit den Schultern und folgten schließlich dem Wunsch des Gefangenen. Sie sperrten Ammon zu seiner Schwester und hielten selbst einen respektvollen Abstand von der Zelle.
    „Gut, gebt mir eine Stunde allein mit ihr. In der Zeit solltet ihr vielleicht noch eure Hände waschen gehen“, riet Ammon, „Oder andere Körperstellen, die sie womöglich berührt hat.
    Die beiden folgten seinem Vorschlag und machten sich auf den Weg.

    Dann waren sie endlich allein. Und kaum, dass sie sich unbeobachtet wähnten, fiel Toni ihrem Bruder lachend um den Hals. Ammon hatte sichtlich Mühe, seine größere und deutlich kräftigere Schwester zu halten.
    „Das war voll Hacke! Tollwut-Toni, wie bist du denn darauf gekommen?“
    Ammon grinste verlegen: „Ich musste neulich Senna erklären, warum ich nicht so stark bin wie du, obwohl ich schon mein Leben lang in der Mine arbeite. Da habe ich ihr erzählt, dass ich früher gern mal Erkältungen simuliert habe, um in Ruhe lesen zu können.“
    „Ha! Wir sind eindeutig Geschwister, denn daran musste ich auch denken. Und diese Trottel haben es uns voll abgekauft. Jetzt nichts wie raus hier!“
    Ammon kratzte sich durch den strubbeligen Bart. Wann hatte er sich eigentlich zuletzt rasiert?
    „W-was meinst du mit raus hier?“
    „Na was wohl? Ich habe dich hierhergelockt, damit du uns mit deinen Zaubertricks aus dieser Zelle holst und wir gemeinsam fliehen können.“
    „Äh und wie kommst du darauf, dass ich so etwas kann?“
    Es mochte manchem Veränderungsmagier möglich sein, ein einfaches Zellenschloss zu knacken. Doch zu einem solchen Zauber hatte er noch nie etwas gelesen.
    „Verarsch mich nicht!“, sie boxte ihn freundschaftlich gegen die Schulter, „Du hast doch auch mit deiner kleinen Freundin das Zellenschloss geknackt.“
    „Das war ihr Verdienst“, musste Ammon gestehen. Er selbst wusste, dass Senna früher hin und wieder einen Diebstahl begangen und eine Meisterin des Ein- und Ausbrechens war. Ihrer Familie jedoch hatte er noch nie etwas davon erzählt.
    „Sie hatte einen Dietrich“, ergänzte er.
    Da staunte Toni nicht schlecht: „Du hast dir eine kleine Diebin angelächelt?! Ausgefuchster Ammon, wann wolltest du da mal mit der Sprache herausrücken?“
    Er zuckte mit den Schultern und fing sich einen weiteren Boxhieb. Dieser war nicht mehr so freundschaftlich.
    „Scheiße. Dann war das wohl umsonst“, sie ließ sich auf die halbzerstörte Pritsche fallen, „Dein Glück, dass ich noch einen Plan B habe.“
    „Du hängst hier den ganzen Tag nur herum und schmiedest Ausbruchspläne?“, fragte Ammon überrascht.
    „Klar, was sonst? Arbeiten muss ich ja nicht, die Idioten denken, ich wäre halbtot. Und ihr bekloppter Oberaufseher hat sich in mich verguckt, kannst du dir das vorstellen? Der Riese von Himmelsrand persönlich, tahaha!“
    Ammon konnte sich das erschreckend gut vorstellen. Bisher war es noch keinem normalen Mann gelungen, das Herz der wilden Toni Glutsplitter zu gewinnen. Sie schwärmte ja auch immer davon, dass der Mann ihrer Träume das genaue Gegenteil von Ammon sein müsste. Groß, muskulös und durchsetzungsfähig.
    „Na ja, das ist Glück für uns, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn um den Finger wickeln kann. Für eine Chance auf den Hauptgewinn würde der doch alles machen. Und irgendwann wird er unvorsichtig und wir machen uns aus dem Staub.“
    Ammon wusste ihren Eifer zu schätzen, trotzdem war der Plan noch längst nicht im Detail ausgetüftelt.
    „Was ist mit Vater und den anderen Bergarbeitern? Wenn wir nicht alle retten können, werden Vega und die anderen ein Exempel an ihnen statuieren.“
    „Hey, ich hab nicht gesagt, dass mein Plan perfekt ist. Und überhaupt… normalerweise bist du doch der mit den cleveren Ideen.“
    Der junge Bergmann sammelte während ihres Gesprächs die Brotreste ein, die Toni wild verstreut hatte und scheute sich auch nicht davor, die dreckigen Stücke zu essen. Die Suppe am Morgen war leider nicht sehr sättigend gewesen, obgleich er einen doppelten Schlag bekommen hatte.
    „Tut mir leid, so weit bin ich noch gar nicht. Ich habe meine eigenen Probleme zu lösen…“
    Er berichtete Toni von dem Illusionszauber, mit dem er Vega vorgegaukelt hat, dass er Erz in Gold verwandeln könnte und dass er nun binnen 24 Stunden einen weiteren goldenen Gegenstand brauchte, um die Täuschung fortzusetzen. Ansonsten würde Vega sich seiner entledigen. Toni verstand, war aber auch ziemlich verstört über die Tatsache, dass er Vaters Ehering zerstört hatte.
    „Lass das mal meine Sorge sein. Ich beschaffe dir schon irgendwie dein Gold, ohne weitere Familienerbstücke zu vernichten. Denk du dir derweil einen geeigneten Zauberspruch aus, mit dem wir hier alle heil herauskommen.“
    Wenn das so einfach wäre, hätte er einen solchen Zauber schon längst gewirkt. In Gedanken hoffte er vielmehr darauf, dass Senna einen Weg fand, die Soldaten zu informieren und sie zu befreien. Doch das könnte sich bei ihrer kriminellen Vergangenheit als schwierig herausstellen. Vielleicht war sie nicht mal mehr am Leben. Toni hatte vermutlich recht. Es half nichts, auf Unterstützung von Außerhalb zu hoffen. Wenn er hier rauswollte, musste er selbst einen Weg finden. Und für Ammon führte der Weg in die Freiheit zweifelsohne über Vega den Verbrannten. Wenn er dessen Schwachstelle aufdecken konnte, wären sie auch in der Lage, ihn zu überlisten.

    Ihr Gespräch wurde jäh von einem Tumult unterbrochen. Aus der Hauptkaverne waren laute Rufe und zahlreiche Schritte zu vernehmen. Es schien erst so, als hätten die Bergarbeiter ihre Schicht beendet und sollten in ihre Zellen zurückkehren, doch die Leute, die da plötzlich vor ihnen auftauchten, hatte Ammon noch nie gesehen. Sie sahen auch durchaus schick aus, nicht wie Arbeiter, eher wie Händler. Was hatte das zu bedeuten?
    „Los Bewegung! Ab in die Zellen mit euch!“
    Peitschenhiebe waren zu vernehmen und aus den Schatten tauchten der Hüne und eine Frau mit Kriegsbemalung auf.
    „Sieht so aus, als wäre dein Liebhaber zurückgekehrt“, meinte Ammon verbittert, „Und wir sind wohl nicht die einzigen Opfer der Schwarzfeuerbande.“
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    „Leihst du mir mal deinen Kamm?“
    Cass lehnte an der Kutsche und betrachtete sein Antlitz in einem vergoldeten Handspiegel, den er in Artus Gabelbarts persönlicher Kiste gefunden hatte. Er empfand es als äußerst faszinierend, sein eigenes Gesicht so klar vor sich zu sehen. Normalerweise sah er sich nur als Reflexion im Waschwasser oder auf einer glatt polierten Klinge. Er wusste nicht einmal, dass er ein Muttermal am Hals besaß oder wie weit seine Geheimratsecken bereits reichten. Mit diesem Spiegel und ein bisschen Unterstützung von Shotzi würde er sicher bei Toni landen können.
    „Wenn du glaubst, dass ich einen Kamm besitze, nur weil ich’n Mädel bin, dann bist du schief gewickelt. Aber wenn du willst, dass ich dir’n Scheitel ziehe, dann brauchst du dich nur mal kurz zu bücken.“
    Darauf würde Cass nicht noch einmal hereinfallen. Die Beule spürte er noch Wochen danach. Shotzi hatte einen äußerst kräftigen Schlag drauf.
    „Ist das der Grund für deine kurzen Haare? Werden die bei dir auch immer so strohig?“
    Shotzi verdrehte die Augen.
    „Ich trage sie kurz, weil lange Haare im Kampf nur hinderlich sind. Ehrlich, manchmal frage ich mich, wer von uns hier das Mädel ist.“
    „Pah. Ich bin mehr Kerl als alle anderen hier“, Cass richtete sich seine Hosen, „Muss ich erst blankziehen, bis du mir das glaubst?“
    „Nur, wenn du mich vorher zum Essen ausführst.“
    Die wilde Kriegerin zwinkerte ihm lasziv zu, doch Cass‘ Reaktion beschränkte sich auf eine leichte Schamesröte. Er widmete sich lieber wieder seinem neuen Spiegel und entschied sich schließlich, die Haare zu einem Zopf zu knoten. Er hatte schon öfter darüber nachgedacht, sie einfach abzuschneiden, sich aber nie dazu überwinden können. Er war halt ein Gewohnheitstier.

    In der Zwischenzeit meldete Ramirez, dass sämtliche erbeuteten Waren in die Lagerräume der Mine verfrachtet worden waren. Lediglich zwei Kisten waren noch übrig, die mit Artus privaten Schätzen und die mit seinem abgetrennten Kopf. Cass würde beide persönlich seinem Boss präsentieren. Doch zuvor wollte er nachsehen, ob es seiner rothaarigen Walküre gutging. Sein Weg führte den Oberaufseher ohnehin zu den Zellen der Gefangenen.
    Er zückte seine Peitsche und stellte sich vor den Gefangenen auf, die aneinandergefesselt in Reih und Glied vor ihm standen.
    „Ist das nicht ein herrlicher Tag?“, Cass breitete die Arme aus und genoss die wenigen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg am Bergmassiv vorbei und durch das dichte Gehölz bahnten, „Saugt die frische Luft noch einmal tief ein und behaltet sie gut in Erinnerung. Da, wo ihr jetzt hinkommt, atmet ihr nur noch Staub und Dreck. Ihr werdet für uns Erz schürfen bis euch die schlaffen Ärmchen abfallen.“
    Einem der Gefangenen schien diese Zukunft nicht zu behagen. Er hatte anscheinend auf dem ganzen Marsch seine Zähne im Seil verbissen und nutzte diese letzte Gelegenheit dazu, sich loszureißen und sein Heil in der Flucht zu suchen. Doch Cass quittierte den Fluchtversuch nur mit einem Pfeifen, das Ramirez galt. Der beste Jäger der Bande schickte den Flüchtigen mit einem gezielten Pfeilschuss zwischen die Schulterblätter ins Reich des Vergessens.
    „Wie ihr seht, sind Fluchtversuche zwecklos“, fuhr Cass unbekümmert fort, „Aber um euch nicht alle in den Selbstmord zu treiben, habe ich einen kleinen Ansporn für euch. Diejenigen, die sich der Sache mit besonderer Leidenschaft hingeben, die die größten Mengen an Erz schürfen und mich nicht mit dummen Fragen löchern, die bekommen attraktive Vorteile. Das kann von Extrafleischportionen zum Abendessen bis hin zur Beförderung zum Aufseher ausfallen. Wir wollen hier eine starke, verlässliche Truppe aufbauen, also gebt euch Mühe und findet euch einfach mit eurem neuen Leben ab.“
    Zum Ende seiner Ansprache ließ Cass schließlich die Peitsche knallen, „Und nun setzt euch in Bewegung!“

    Der Stollen für die Gefangenen umfasste mehr als ein halbes Dutzend Zellen, die meisten davon nah beieinander und groß genug für zwei bis drei Insassen. Cass empfand es als äußert praktisch, dass die Mine bereits für die Sklavenarbeit ausgelegt war; das ersparte ihnen, die Gefangenen ständig zu fesseln oder in Ketten zu legen. Die Zellen waren jedoch völlig verstaubt; vor der Übernahme der Mine durch Vegas Bande mussten sie schon ewig nicht mehr in Benutzung gewesen sein. Die Bergarbeiter besaßen ihren eigenen, wesentlich gemütlicheren Stollen, in welchem es sich Cass und die anderen inzwischen gemütlich gemacht hatten. Doch jetzt, da sich ihre Riege an Arbeitern vergrößert hatte, würde es eng in den Gefängniszellen werden. Vielleicht musste sich Cass seine Walküre mit in die eigene Schlafstatt nehmen.
    Zu seiner Überraschung war Toni nicht allein in ihrer Zelle. Ihr winziger Bruder, dieser Möchtegern-Zauberlehrling, stand wie ein aufgeschrecktes Eichhörnchen neben ihr.
    „Hallo Süße! Was macht denn mein zukünftiger Schwager hier, hm?“
    „Ä-ärztliche Versorgung“, stammelte Ammon und schluckte, als der mindestens zwei Kopf größere Hüne die Zellentür öffnete und ihn wie ein lästiges Spinnennetz einfach wegschob. Toni verschränkte die Arme vor der Brust und starrte abschätzig zu ihm auf.
    „Dir scheint es ja wieder besser zu gehen“, fuhr Cass seelenruhig fort, „Mein Heiltrank hat dir wohl gutgetan.“
    „Du meinst den Heiltrank meines Vaters, den du aus seinem Privatversteck gestohlen hast?“, erwiderte sie kühl, „Der hat tatsächlich das Loch in meiner Schulter geschlossen. Aber da ist noch ein großes Loch in meinem Magen, das gefüllt werden will. Also, hast du ein Wildschwein erlegt?“
    Cass fuhr sich verlegen über die hohe Stirn. Wie clever, sie hatte die Abmachung nicht vergessen.
    „Ich habe etwas Besseres!“, er grinste und holte hinter seinem Rücken die Flasche mit dem Wacholderbranntwein hervor, „Der edelste Tropfen, nur für dich. Und keine Sorge, wir haben Essen im Überfluss. Käse, frisches Brot, Fleisch…“
    „Wildschweinfleisch?“, wiederholte Toni fordernd.
    „Das nicht, aber... ich kann ein Muli schlachten lassen oder ein Pferd.“
    Sie riss ihm die Flasche aus der Hand.
    „Komm mit Wildschweinfleisch zurück, dann können wir uns die Flasche teilen und sehen, was passiert“, sie nahm einen kräftigen Schluck, „Aber beeil dich besser, sonst bleibt für dich nix übrig.“
    Da blieb dem Oberaufseher wirklich die Spucke weg. Dieses Weib hatte echt Eier, mehr als Shotzi, vielleicht sogar mehr als er selbst!

    Ein Räuspern lenkte die Aufmerksamkeit der beiden zu dem unscheinbaren Ammon, der Cass‘ erfolglose Anmachversuche die ganze Zeit mit einem krampfhaft kontrollierten Blick beobachtet hatte.
    „W-wenn ich dazu vielleicht auch etwas sagen dürfte?“
    Toni und Cass starrten auf ihn herab, als hätte er sich gerade bereitgestellt, selbst den fehlenden Wildschweinbraten zu spielen.
    „Schwesterherz, du solltest dich dem netten Aufseher nicht so respektlos verhalten.“
    „Oberaufseher!“, korrigierte Cass ihn scharf.
    „O-Oberaufseher, natürlich. Verzeiht, das hätte mir natürlich sofort ins Auge stechen müssen bei Eurer Aufmachung. Toni, dieser Mann ist kein gewöhnlicher Bergarbeiter, er ist von hohem Rang. Er trägt die Haare ordentlich, hat einen exquisiten Geschmack für Getränke und ist von reichem Stande. Ich meine, er hat einen vergoldeten Spiegel in seiner äh… Tasche.“
    Cass zog den Spiegel hervor, der zwischen Hosenbund und nackter Arschbacke einen Platz ganz nah an seinem Körper gefunden hatte.
    „Wenn so ein hoher Herr mit dir anbandelt, kann das doch nur gut für unsere Familie sein.“
    Der Hüne musste lachen.
    „Ha! Ich weiß, du schmierst mir nur Honig ums Maul, um deinen eigenen Arsch zu retten, Kleiner. Aber Recht hat er. Ich bin der Hauptgewinn, Süße.“
    Toni musterte ihren Verehrer noch einmal ausgiebig als feilsche sie beim Stallmeister um den besten Gaul. Wenn es an diesem etwas auszusetzen gab, dann anscheinend seine Mähne.
    „Aber schau dir doch mal diese dünnen Haare an! Die fallen ihm schon aus! Kurz geschoren wäre er eindeutig attraktiver. Und würde um Jahre jünger aussehen.“
    Cass Herzschlag stockte für einen Augenblick, doch er brachte keine Widerworte über die Lippen.
    „Aber der Spiegel, der ist prächtig. Den hätte ich wirklich gern.“
    Sie wollte danach schnappen, aber Cass war flink genug, ihn zurückzuziehen.
    „Und was krieg ich dafür, hm?“, fragte er schelmisch.
    Sie grinste und winkte den Hünen zu sich heran. Dann packte sie ihn am Kragen und zog ihn zu sich herab. Cass konnte ihren warmen Atem an seinem Ohr spüren und bei ihren geflüsterten Worten wurde sein ganzer Körper von einer Gänsehaut überzogen.
    „Bring mich zu einem Ort, an dem wir ganz für uns sein können, dann bekommst du, was dir zusteht.“
    Mit diesen Worten riss sie ihm den Spiegel aus der Hand, gerade rechtzeitig, denn er hätte ihn vor Zittern beinahe fallengelassen. Geschah dies gerade wirklich? Hatte er die störrische Toni gerade mit Gold erobert? Ein bisschen sauer stieß ihm das schon aus, aber von seinem Charakter würde er sie auch später noch überzeugen können. Er hatte sie erst einmal am Haken und malte sich schon eine prächtige Zukunft vor seinem inneren Auge aus.
    „Nichts leichter als das“, erwiderte er und griff nach ihrer Hand, um mit ihr gemeinsam diese trostlose Zelle zu verlassen. Doch ausgerechnet Shotzi war es, die sich ihm breitbrüstig in den Weg stellte.
    „Was?!“, raunte Cass ihr entgegen. Das war vielleicht etwas unangemessen, immerhin hatte sie ihm den Weg in Tonis Herz gepflastert, doch gegenwärtig dachte er nicht rational.
    „Vega verlangt nach dir“, keifte sie ähnlich bissig zurück, „Du sollst sofort zu ihm kommen.“
    „Scheiße, das kannst du doch machen! Oder Ramirez. Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“
    Shotzi warf Toni einen abschätzigen Blick zu und lachte kurz hämisch auf. Irgendwie genoss sie es doch, dass das Schicksal es Cass ähnlich schwermachte, bei seiner Flamme zu landen, wie ihr bei ihm.
    „Das muss warten. Er sagt, es ist dringend. Und du sollst die Leiche vom Gabelbart mitbringen.“
    „Na schön“, grummelte Cass und wandte sich wieder an seine Liebste, die sich noch ein Weilchen gedulden musste.
    „Du hast ja jetzt den Spiegel. Hübsch dich noch ein bisschen auf und ehe du dich versiehst, bin ich wieder da.“

    ***

    Mit zwei großen Kisten unter den Armen - den Schätzen und dem Kopf des Gabelbarts - spazierte Cass in den obersten Stollen der Mine. Am Eingang zu Vegas Gemach rannte er beinahe seinen Kameraden Rick um, der anscheinend ebenfalls eine Audienz beim Boss hatte. Wenn er sich recht erinnerte, war der rattenschwänzige Kerl mit Lucille unterwegs gewesen, um der flüchtigen Rothwardonin nachzusetzen. Ob ihre Mission erfolgreich verlaufen war? Nun, das würde er vermutlich gleich erfahren, aber Cass wollte keine Zeit mit Nebensächlichkeiten verlieren, er hatte es schließlich eilig. Wie selbstverständlich schob er sich vor Rick durch die Tür, der keine Anstalten machte, dem Oberaufseher im Weg zu stehen.
    Drinnen knisterte ein kleines Feuer im Kamin und es war angenehm warm. Vega saß im Schaukelstuhl, den Blick in die Flammen gerichtet. Wobei Cass nie genau sagen konnte, ob er ihn nicht doch durch das halbverbrannte linke Auge sehen konnte.
    „Du hast nach mir gerufen, Boss?“, räusperte sich Cass.
    „Ihr könnt ruhig beide hereinkommen. Diese Angelegenheit betrifft uns alle.“
    Rick schob sich an Cass vorbei und blickte verlegen zu Boden. Irgendetwas war schiefgelaufen, das war offensichtlich.
    „Man hat mir gesagt, ich solle die Leiche von Artus Gabelbart mitbringen… nun, hier ist sein Kopf.“
    Cass präsentierte die beiden Kisten kurz, dann drückte er sie Rick in die Hände, welcher sie wiederum leicht angewidert auf einem Tisch abstellte.
    „Der Überfall auf seinen Konvoi war ein voller Erfolg“, fuhr er fort, „Wir haben Vorräte für mindestens zwei Wochen geplündert und ein Dutzend Sklaven gemacht.“
    „Wer hat dir gesagt, dass du ihn umbringen sollst?“, fragte Vega in einer nüchternen Seelenruhe, die sogar den selbstbewussten Cass beunruhigte.
    „Ich habe an ihm ein Exempel statuiert. Damit die anderen nicht aufmucken“, erklärte sich Cass.
    „Du hast einen der reichsten Männer Helgens umgebracht. Jemanden, der über ganz Himmelsrand vernetzt ist und weiß Talos was für mächtige Freunde hat. Wenn herauskommt, dass er tot ist und wo dies geschehen ist, sind wir hier nicht mehr sicher.“
    „Niemand sonst weiß, dass er tot ist!“, platzte es aus Cass heraus, auch wenn er nicht sicher war, wen oder was er nach dem Überfall in den Baumkronen gesehen hatte.
    „Von unseren Leuten wird uns bestimmt niemand verraten“, fuhr der Oberaufseher fort, „Und wir haben ja immer noch seinen Sohn!“
    Jetzt blickte Vega ihn erstmals direkt an und runzelte dabei die Stirn. Dann umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen.
    „Das ist gut. Dann haben wir ja doch noch ein Druckmittel. Sieh zu, dass er am Leben bleibt und sorg dafür, dass mehr Wachen an den Eingängen der Mine postiert und Fallen bereitgestellt werden.“
    Cass nickte.
    Vega erhob sich und lief gemächlichen Schrittes zu der Kiste mit Artus‘ Kopf.
    „Hast du den Rest der Leiche noch?“
    „Nein, wurde mit den anderen Leichen verbuddelt. Warum fragst du?“
    Aber der Verbrannte winkte ab.
    „Spielt keine Rolle.“
    „Wenn das alles war…“, Cass setzte schon langsam zum Gehen an, doch Vega stellte sich zwischen ihn und die Tür.
    „Das war es noch nicht. Mir ist durchaus zu Ohren gekommen, dass du nicht mehr mit voller Konzentration bei der Sache bist, Cass! Wenn du den Aufgaben als Oberaufseher nicht gewachsen bist, kann ich diesen Posten auch gern neu besetzten.“
    „Nicht doch!“, erwiderte er kleinlaut, „Ich bin voll bei der Sache.“
    „Gut. Wir wandeln seit der Übernahme der Mine nämlich auf sehr dünnem Eis. Die Streitkräfte des Kaisers und die der Sturmmäntel beharken sich unablässig in dieser Region, weswegen wir hier einigermaßen sicher sind. Dennoch müssen wir unsere Spuren so gut wie möglich verwischen.“
    Jetzt wandte sich Vega an Rick.
    „Wie ihr wisst, ist uns eine der Gefangenen entkommen. Eine Rothwardone, nach der ich schon lange suche. Und nicht nur ich…“
    Rick reichte ihm einen Zettel, genauer gesagt einen Steckbrief.
    „Senna von Hammerfell, gesuchte Diebin“, las Vega aber was nicht auf dem Steckbrief steht… sie ist ein Assassine der Dunklen Bruderschaft. Ihr wurde der Auftrag erteilt, mich umzubringen. Ich wäre ihr gern zuvorgekommen…“
    Er zuckte mit den Schultern.
    „Lucille ist jetzt auf der Jagd nach ihr, doch Senna hat sich bereits nach Falkenring abgesetzt, ist es nicht so?“
    Rick nickte.
    „Wir haben sie und einen Milizen an der Kreuzung gestellt. Von ihm haben wir auch den Steckbrief. Nun, den Soldaten konnten wir töten, aber Senna hat einen unserer Jungs erledigt und ist entkommen.“
    „Moment mal“, mischte sich Cass ein, „Dunkle Bruderschaft? Ich dachte die gibt es gar nicht mehr.“
    „Gerüchten zufolge formieren sie sich in Himmelsrand neu“, sagte Vega, „Das kann für uns Fluch und Segen zugleich sein. Wir müssen in Erfahrung bringen, wer sie auf mich angesetzt hat, deswegen brauchen wir sie lebend. Wenn sie stirbt, wird nur ein anderer Assassine auf mich angesetzt. Aber wenn ihr Auftraggeber stirbt, hat sich das Problem erledigt. Cass, ich will, dass du die anderen Gefangenen nach Senna befragst. Finde heraus, warum sie hier war und wohin es sie ziehen könnte. Und vor allem, wer ihr Auftraggeber war. Jede noch so kleine Schwachstelle kann uns nützlich sein.“
    „Du kannst dich auf mich verlassen, Boss.“
    Cass wusste auch schon, bei wem er mit seiner Befragung beginnen würde.
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