Vorausschicken möchte ich, dass ich Tyranny auf Normal gespielt habe. Eigentlich erwarte ich von Kämpfen auf Normal, dass die Kämpfe nicht durch simples Reinlaufen in den Gegner gewonnen werden können und dass Bosskämpfe tatsächlich Taktikwechsel und Neuladen erfordern. Das war bei PoE so der Fall, bei Tyranny jedoch ab dem Erlangen gewisser Zauber überhaupt nicht mehr. Während Akt 1 noch relativ fordernd war, hatte ich bei Akt 2 kaum noch Probleme und bei Akt 3 bin ich einfach durchgestürmt und konnte selbst die Bosskämpfe ohne Taktik gewinnen.
Alle Probleme mit der Kampfmechanik lassen sich auf das Learning-by-Doing-System in Tyranny zurückführen. Obwohl dieses eigentlich zu einer größeren Vielfalt von variablen Builds führen sollte, bleiben zum Schluss nur zwei (wenn man nett ist, drei) übrig: Magier und Kämpfer. Man kann Kämpfer nach Rüstungen in zwei Kategorien einteilen, aber letztendlich habe ich meine beiden Magier (den SC und Lantry) und meine beiden Kämpfer (Barik und Lyra) komplett gleich geskillt. Hybriden sind sinnlos oder zumindest nicht die Mühe wert.
Damit wird das Thema Attribute schnell hinter und bringen können: Ja, die sind immer noch doof. Während mir das bei PoE noch nicht so aufgefallen ist, wird es bei Tyranny absolut offensichtlich. Magier skillen nur Verstand, um möglichst viel Wissen anhäufen zu können, und Kämpfer skillen ausschließlich Gewandtheit, um Genauigkeit und Parade/ausweichen zu maximieren. Es ist mir absolut unbegreiflich, warum es überhaupt Attribute gibt, wenn es für jeden Build genau ein Kernattribut gibt und die anderen komplett nutzlos sind.
Das mag vielleicht von Anfang an nicht offensichtlich sein, aber Magier benötigen bei Tyranny nur einen einzigen Stat: Wissen. Wissen erhöht nicht nur den Schaden von allen Zaubern, sondern ermöglicht auch bessere Zauber zusammenzustellen. Da Lantry 30 oder 40 maximale Wissensränge geschenkt bekommt, ist er automatisch der beste Magiergefährte im Spiel. Es ist komplett egal, dass er auf Wurfwaffen geskillt ist und sonst überhaupt nichts draufhat. Das ist nicht seine einzige Stärke, aber dazu gleich mehr. Wissen ist der einzige Stat, den man als Magier benötigt, und daher ist es auch der einzige Stat, den man überhaupt als Magier trainieren sollte. Daher ist ironischerweise das Lazarett, obwohl es sonst vollkommen nutzlos ist, die beste Wahl für den ersten Turm: Weil es dort eine Meisterlehrerin für Wissen gibt.
Bei den Kämpfern ist es genau das gleiche Spiel: Gewandtheit erhöht sowohl den Schaden, den man mit allen wichtigen Waffen anrichtet, als auch die Trefferwahrscheinlichkeit als auch die Defensive. Wie bei den Magiern auch ist Gewandtheit selbst mit den Kosten von 2 Punkten immer noch besser als alle anderen Attribute mit geringeren Kosten. Das geht soweit, dass Lyra bei mir auf 200 Genauigkeit gekommen ist und damit beinahe jeden Gegner automatisch getroffen hat. Barik dagegen hatte dermaßen hohe Parieren-Werte, dass normale Gegner ihn nicht einmal verwunden konnten.
Hier kommen die Zauber der Magier ins Spiel. Es gibt einen Magierzauber, der absoluten Schaden auf jeden Waffenangriff addiert und eine Flammeneruption in einer Linie auslöst: Vampirische Waffen mit einem Spezialsigill. Ich erhielt diese Kombination recht früh und ungefähr gleichzeitig mit Lyras Dreifachschlag. Das bedeutet, zusammengenommen mit ihrer Genauigkeit, einen Dreifachangriff mit tonnenweise magischem Schaden, Heilung und Flächenschaden. Diese Waffenverzauberung ist so mächtig, dass Schadensstats auf Waffen komplett egal sind. Der einzige Wert, der zählt, ist der Genauigkeitsbonus der Waffe. Dadurch sind Dolche und Streitkolben die besten Waffen im Spiel. Lyra konnte bei mir Bleden Mark mit dieser einen Attacke 20% seiner HP abziehen. Und die Waffenverzauberung bleibt ja mit entsprechenden Erweiterungen über eine Minute aktiv.
Generell sind die Zauberkombinationen in Tyranny irgendwann einfach so stark, dass man überhaupt keinen Schaden mehr auf den Nahkämpfern braucht. Während Barik die Gegner einfach nur verspottet und beschäftigt gehalten hat, habe ich mit diversen Flächenangriffen meiner Magier (Es gibt einen Ketten-Feuerball) alle Gegner innerhalb weniger Sekunden umgelegt. Dabei war deren hoher Magierwiderstand egal. Auch Crowdcontrol ist dermaßen einfach verfügbar, dass man die Hälfte aller Feinde mit dem gefrorenen Boden dauerhaft niederwerfen kann. Den Rest der Feinde kann man durch einen Feuerball gleichzeitig einfrieren und anzünden.
Das Learning-by-Doing-System hat außerdem die merkwürdige Folge, dass meine Magier zum Schluss 3-4 mehr Level hatten als meine Kämpfer. Das liegt ganz einfach daran, dass viel mehr unterschiedliche Skills trainiert werden. Alle Magiearten allein sind schon mehr Skills und somit Erfarungspunkte als alle Fähigkeiten meiner Kämpfer zusammen, und als Kämpfer benutzt man darüberhinaus auch maximal zwei Waffentypen, eher nur einen. Lantry, der Passiv Boni auf diverse Fähigkeits-XP bekommt, hat meinen SC sogar überholt und hat das Spiel als Level 17 abgeschlossen.
Dazu kommen noch diverse kleine Ärgernisse im Bereich Gameplay:
- Schwere Rüstungen haben, wenn nicht vom SC getragen, überhaupt keinen Wert, sind jedoch in Hülle und Fülle vorhanden, während gute Stoffkleidung extrem selten ist. Bei Zweihandwaffen gibt es beinahe das gleiche Problem, wenn man nicht gerade die Tiermenschenbegleiterin exzessiv nutzt.
- Es gibt nur 10 Schnellplätze, dabei hat man gerade als SC so viele Fähigkeiten, dass man 30-40 Plätze füllen könnte.
- Die ganzen Artefaktfähigkeiten sind komplett nutzlos, da die Zauber einfach schon viel stärker sind, wenn man sein erstes Artefakt erhält. Auch die Gefährtenkombinationen, die am Anfang enorm overpowered sind (vor allem Lyras Flammenwirbel und Bariks Steintürme), können aber später kaum mit der Macht der Magier mithalten.
- Das Rasten ist überhaupt nur bei Türmen sinnvoll und daher stapeln sich die Rastvorräte überall, man kann sie jedoch nicht verkaufen. Dafür sind die Rastboni in Türmen dermaßen übertrieben, dass eine Rast in der Wildnis selbst mit Wunden immer nachteilig ist.
- Die Türme kommen viel zu spät im Spiel, ich konnte gerademal drei Artefakte schmieden, da war das Spiel auch schon zu Ende.
- Die Talentbäume des SCs sind einfach unfassbar beliebig.
- List, Athletik und Wissen dienen ja auch als Dialogoptionen, bis auf ganz wenige Ausnahmen konnte ich jedoch beinahe alle derartige Dialogoptionen wählen und auch alle Schlösser knacken, obwohl ich einen Vollblutmagier gespielt habe. Wozu dann überhaupt spezielle Optionen, wenn ich sie sowieso ohnehin wählen kann?
- Die Gegnervielfalt im Vergleich zu PoE hat extrem abgenommen. Man bekämpft tatsächlich nur drei Gegnertypen: Kämpfer, Magier, Zwischending. Es gibt keine Drachen, keine Tiere, und selbst die Geister gibt es nur in drei Geschmacksrichtungen.