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nomina nuda tenemus
Der Torwächter hatte an den zwei Reisenden nichts auszusetzen. Nach kurzem Palaver mit dem üblichen woher und wohin ließ er sie durch, denn keiner der beiden machte einen bedrohlichen Eindruck.
Auf die Frage, ob sich Händler in der Burg befanden, zuckte er nur desinteressiert mit den Schultern und meinte »Die gleichen wie immer.«
Esteban sah schon, dass er hier nicht weiter kommen würde.
»Schauen wir selbst«, meinte er zu Murielle und beide durchschritten das Tor und betraten den Burghof.
Viel war nicht los in dem weiten Areal. Vor ihnen lag der Palas, das Hauptwohngebäude. Daneben einige Seitenflügel und die Umfassungsmauer war durch einige Türme unterbrochen. Zwei, drei Händler hatten ihre Karren auf den Hof geschoben und warteten auf Kundschaft.
»Ah, gut. Dort drüben scheint ein Bauer etwas Obst und sonstige Sachen seiner Ernte anzubieten. Um diese Jahreszeit findet man ja nichts mehr draußen«, bedauerte er.
Ein anderer schien ein Krämer zu sein und bot alle möglichen Dinge des täglichen Bedarfs an.
»Wir werden überall schauen. Braucht ihr etwas? Sicher ein wenig Nahrung oder? Ich habe nicht gesehen, dass ihr noch irgendetwas bei Euch habt«, merkte er an.
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Alles, was sie dabei gehabt hatte, hatte sie längst gegessen. Unter dem Baum. Ihrem Baum. Das Einzige, was noch halbwegs als Vorrat durchgehen könnte und sich noch in ihrem Besitz befand, war eine einigermaßen nennenswerte Menge getrockneter Kräuter verschiedenster Art und Herkunft. Aber nun gut, davon wurde man nicht satt.
"Nein.", antwortete sie, "Ich habe nichts mehr dabei. Schon lange aufgebraucht." Verlegen blickte sie ihn an und fügte hinzu: "Ich habe ja auch nicht damit gerechnet, jemals nochmal etwas zu benötigen."
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nomina nuda tenemus
Esteban nickte.
»Auch wieder wahr«, bestätigte er dann ihre Antwort. »Betrachtet es als reine Höflichkeitsfrage. Doch jetzt benötigt Ihr wieder etwas.«
Sie traten an den ersten Stand heran. Esteban begutachtete das Angebot und kaufte dann etwas von den Knollen, die in einem Korb aufgeschichtet waren. Sie hielten sich auch auf Reisen eine Weile. Dazu noch einige Winteräpfel. Vielleicht nicht die schmackhaftesten, aber sie hatten keine Stellen und waren gut lagerbar. Er sah sich noch einiges anderes an und kaufte dies und das, bis seine Tasche wieder prall gefüllt war. Und dann bot der Bauer noch Trockenpflaumen an. Esteban nahm auch davon einen kleinen Beutel.
»Schauen wir, was der Krämer zu bieten hat«, schlug er dann vor und wechselte den Stand und auch dort wechselten noch einige Kleinigkeiten, darunter einige Bögen dieses neuartigen Papiers den Besitzer. Aber Esteban suchte andere Sachen, die er hier leider nicht fand.
»Ein Dreibein habt Ihr nicht anzubieten? Nein? Und Kupferröhren, zwei Zoll im Durchmesser und mindestens zwei Fuß lang? Auch nicht. Ah, verstehe, in Stewark. Thorniara? Nein, Das liegt nicht auf meinem Weg.«
Zuletzt deckte er sich am Stand eines Bäckers mit Brot ein.
»Ich glaube, ich habe alles«, bekundete er Murielle dann.
»Habt Ihr irgendwelche Wünsche?«
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Murielle schüttelte den Kopf.
"Nein, aber ich kann Euch etwas von dem ganzen Zeug abnehmen. Es ist noch ein wenig Platz in meiner Tasche. Sie ist erheblich geräumiger als sie von außen wirkt und so müsst Ihr nicht alles alleine schleppen.", bot sie ihm an. "Oh!", rief sie plötzlich aus, ohne seine Antwort abzuwarten, als ihr Blick auf einen Brunnen fiel. "Wartet kurz", bat sie ihn im Fortgehen. Endlich würde sie sich wenigstens die Hände und das Gesicht waschen können. Seit dem letzten Mal waren inzwischen Wochen vergangen.
"So, nun aber! Also, soll ich auch etwas tragen?", lächelte sie vergnügt.
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nomina nuda tenemus
»Ja ... sicher«, antwortete er ihr, erstaunt über das Angebot.
Aber da war Murielle schon davon gelaufen, geradewegs zum Brunnen im Burghof, dessen auf dem gemauerten Brunnenrand stehenden Eimer sie sogleich zu ihrer Waschschüssel umfunktionierte. Gut gelaunt kam sie nach Kurzem wieder mit vor Nässe glänzendem Gesicht.
»Etwas Tragen, ja. Hier, dies. Und dies noch.« Esteban gab Murielle einige von den Dingen, die er erstanden hatte. Er hatte gar nicht gefeilscht, wie es sonst üblich war und die Händler hatten deshalb vermutlich ein überraschend gutes Geschäft gemacht. Aber das war ihm heute egal.
Mit einer etwas leichteren Tasche voller Dinge als eben noch verließ Esteban zusammen mit Murielle nun die Burg wieder, ohne sich länger als nötig aufzuhalten.
»Wir gehen direkt am Nordufer des Sees entlang zum Tor, das uns ins Umland von Stewark führt«, erklärte er den weiteren Weg.
»Von dort aus gelangen wir direkt nach Stewark hinein. Dort herrscht König Ethorn über den kümmerlichen Rest seines Reiches und wir finden vielleicht ein Schiff, das uns nach Bakaresh trägt.«
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Ein sachter, nächtlicher Wind brachte die Glut am Ende des Krautstängels zum knistern. Der entstandene Lichtschein erhellte für wenige Augenblicke die Konturen eines einseitig von Haaren umschmiegten Gesichtes. Der Mann zu dem das Gesicht gehörte; ein stämmiger, doch verhältnismäßig kleiner Nordmarer; saß im Schneidersitz am Ufer des Silbersees, die linke Hand vergraben im Fell eines schlafenden Wolfes. Sowohl die Augen des Tieres als auch die seines Halters waren geschlossen. Die einzigen ersichtlichen Bewegungen der beiden waren deren Atmung, sowie vereinzelte Rauchschwaden die von den Mundwinkeln des Sitzenden ausgingen.
Eine ganze Weile noch verweilte das ungewöhnliche Duo so auf dem Kiesboden des Ufers, ehe es sich, wie eine lange verbundene Einheit, im Einklang erhob, sich schüttelte, und gemächlich den Weg entlang des Sees schritt. Zwischen seinen Schritten ließ der Wandersmann seinen abgebrannten Glimmstängel zu Boden fallen, wo er ihn, ohne zu halten, in der nächsten Bewegung zerstampfte.
Gedanken kreisten unentwegt durch den Kopf des Bärtigen.
Was ist nur aus uns beiden geworden, Arsorn? Seit wie vielen Jahren leben wir nun hier am Silbersee, entziehen uns jeglicher Verantwortung und meiden gar meine alten Mentoren? Weder Sarpedon noch Turang hatten wir die letzten Jahre besucht. Geschweigedenn nach ihnen gesucht. Stattdessen verschanzten wir uns hier in unserer Hütte und führten ein ruhiges Familienleben, als gingen uns die Sorgen der restlichen Bevölkerung nichts, aber auch garnichts an.
Sechs Jahre. Seit sechs Jahren haust Armon nun auf dieser Welt. Der Kleine macht sich gut. Er ist gesund, und desöfteren interessierter an meinen magischen Zaubereien als ich es je war. Durch meine Erzählungen brennt er zudem darauf, Turang eines Tages kennenzulernen. Womöglich sollte ich Cilie dazu überreden, den Wassermagiern nachzureisen, um Jahre verspätet. Wer weiß was aus meinem Lehrmeister wurde?
Und ob Fenris noch am Leben ist? Du vermisst deinen tierischen Kameraden doch sicherlich auch, Arsorn.
Seines Daseins bewusstwerdend richtete Brom seinen Fokus auf die kleine Holzhütte, die er vor vielen Jahren in schwerster, umständlicher Handarbeit zwischen dem See und dem angrenzenden Wald errichtet hatte. Durch die kleinen Fenster drang das sanfte Glimmen des erlöschenden Kamins, als er seine Hand um den Türknauf legte und mit seinem dunklen Wolf in sein Zuhause eintrat.
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Vor den Mauern von Burg Silbersee
„Shish! Das ist ein verdammt großes Haus.“
Mit anerkennendem Blick und verschränkten Armen legte Kisha den Kopf in den Nacken und blickte die hohe Mauer hinauf. Gerard trat an ihre Seite.
„Genau genommen ist es eine Burg. Sie ist der Hauptsitz der Baronie Silbersee.“
„Silber?“ Sie hob die Augenbrauen. „Liegt das hier einfach so im Wasser rum?“
„Ich gehe davon aus, dass es sich bei der Namensgebung um eine künstlerische Umschreibung von Lichtspiegelungen auf der Wasseroberfläche handelt. Ob man hier jemals Edelmetalle abgebaut hat, ist mir nicht bekannt. Falls dem so ist, dann aber vermutlich in Minen am Fuß des Weißaugengebirges.“
Kisha zeigte ihre Zähne. „Schöne Namen.“
Nach den eher pragmatischen Bezeichnungen der Umgebung, wie etwa ‚Der Sumpf‘ oder ‚Der Orkwald‘, die den Süden der Insel geprägt hatten, waren die geradezu künstlerischen Ortsnamen wie Silbersee und Weißaugengebirge eine willkommene Abwechslung. Kisha kannte beides von daheim, denn die Kizalongwe waren zwar ein sehr direktes Volk, aber sie wussten auch die Schönheit von Mungus Schöpfung und den Wohlklang treffender Bildmalerei zu schätzen.
Schließlich senkte sie den Kopf wieder und sah ihren Begleiter an, der sich gerade durch den gepflegten Oberlippenbart fuhr.
„Hast du dich denn nicht vorhin lange genug um deinen Bart gekümmert? Wie kann man denn so besessen von Haaren über seinem Mund sein?“
Der große Mann fuhr sich direkt noch einmal über seine Gesichtshaarpracht. „Ein guter Bart muss gepflegt sein.“
Sie schüttelte den Kopf, musste aber doch lächeln. Gerard war ein seltsamer Kerl und legte oftmals eine noch seltsamere Sprache an den Tag, die ganz anders war als die der anderen Waldbewohner. Doch er war nicht nur eine wahre Augenweide (was auf einer langwierigen Reise ein vorzüglicher Bonus für die allgemeine Stimmung sein konnte), sondern auch ein starker und erfahrener Führer. Mittlerweile aber befanden sie sich in einem Gebiet, in dem der zumeist recht wortkarge Mann sich nach eigenem Bekunden weniger gut auskannte. Den Orkwald hatten sie hinter sich gelassen, ohne einem der Bewohner zu begegnen, und schmerzenden Herzens hatte sie den wunderschönen, urtümlichen Wald gegen die weitläufige Seelandschaft der Baronie eingetauscht. Nun waren sie im Gebiet der Könige von Argaan, wie Gerard ihr erklärt hatte. Das bedeutete mehr Sicherheit und ein schnelleres Vorankommen, doch von nun an würden sie nicht mehr so frei sein wie noch zuvor in der Wildnis des Südens.
„Wofür ist das Haus denn da?“, fragte Kisha frei heraus.
„Du meinst sicher die Burg“, berichtete Gerard sie trocken, doch nicht ohne ein schalkhaftes Funkeln in den Augen. „Die Silberseeburg ist der Sitz von Lord Gawaan, dem Bruder des amtierenden Königs Ethorn VI. Sie dient zur Befestigung der Region und beherbergt das Archiv des Königreiches. Außerdem wüsste der Adel nicht, wohin mit sich, wenn er nicht ab und an zu einer Festung ausreiten und jagen oder Kriegsherr spielen darf.“
Kisha sah Gerard mit gerunzelter Stirn an. Hatte er die letzte Bemerkung ernst gemeint? Sein Gesichtsausdruck war jedenfalls ungerührt wie immer.
„Was ist ein Aschief?“, fragte sie. Ein schwieriges Wort.
„Ein Ort, an dem Schriftstücke der Vergangenheit aufbewahrt werden, um sie bei Bedarf wieder hervorholen und daraus lernen zu können. Wenn man Informationen über Vergangenes benötigt, wird man an einem solchen Ort suchen.“
Kishas Augen weiteten sich. „Ein Mahali pa kumbukumbu! Djarar, lass uns da rein gehen!“
„Ich würde es bevorzugen, wenn du mich Gerard nennst“, sagte er.
„Dein Name ist schwer für mich, sawa? Was ist nun?“
„Leider muss ich deinen Vorschlag verneinen.“
„Samahani nini?“
Gerard sah sie ungerührt an.
„Es ist das königliche Archiv. Man kann nicht einfach hineingehen und um Informationen bitten. Was die Voraussetzungen sind, wird man dir wohl nur in Stewark sagen können.“
„Aber ich-“ Sie unterbrach sich und presste die Kiefer aufeinander. Kishas Nasenflügel weiteten sich wie die eines schnaubenden Bullen. „Sawa. Chafu Königreich. Ich find schon raus, wie ich da rein komme!“
Gerard nickte. „Ist mir die Frage gestattet, welche Information du darin zu finden hoffst?“
Kisha schüttelte den Kopf mit gerunzelter Stirn. „Bila shaka kannst du fragen!“
Warum nur mussten die Argaaner immer solche überflüssigen Einleitungsfragen stellen, anstatt einfach ihre tatsächliche Frage auszusprechen?
Als beide auf eine Antwort des Anderen warteten, kehrte einen Moment lang Stille zwischen ihnen ein. Dann begriff Kisha, dass es an ihr war, auf die indirekt bereits ausgesprochene Frage zu antworten.
„Ich suche meine Tochter. Philile müsste jetzt dreizehn Sommer alt sein. Sie ist von einer Gruppe von Piratinnen entführt worden, die Sturmkrähen genannt werden. Und ich will herausfinden, ob man hier weiß, wo diese Vipunda sind.“
„Und was wirst du tun, wenn du das herausgefunden hast?“
Kisha zuckte die Schultern. „Ich fahre hin, bringe Eine nach der Anderen um und fahre mit Philile wieder nach Hause.“
In Gerards Blick mischte sich etwas wie Sorge oder Mitleid, sie konnte es nicht recht deuten. Doch er fragte nicht weiter nach. Stattdessen schulterte er sein Bündel, an dem die außen befestigte Pfanne scheppernd hin und her schwang.
„Wohlan, dann sollten wir dich nach Stewark bringen, damit du einen Weg finden kannst, dieses Archiv zu betreten.“
Kisha strahlte und klatschte in die Hände. „Ndiyo kweli!“
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Was ist es, dass den Wechsel herbeiführt? Welche Einflüsse sind es, die mich zwingen zu vergessen, was es bedeutet ,Ich' zu sein? Bin ,Ich' überhaupt das Bewusstsein, welches diese Fragen stellen sollte? Vielleicht bin ich nur entsprungen der Not, entstanden um der Fragen eine Stimme zu verleihen, die schon lange all die Seelen plagten, deren Körper diese Worte schreibt.
Chala legte das Buch beiseite und betrachtete es eingängig. Der Einband war vergilbt und stark abgegriffen, sodass die ursprüngliche Farbe nur noch erahnt werden konnte. Die Seiten waren ganz unterschiedlich erhalten, so als hätte der Besitzer seine Gefühle nicht nur in Worten, sondern auch im Zustand des Papiers ausdrücken wollen. Es waren beinahe alle Seiten gefüllt, einige mit enger, platzsparender Schrift, andere mit Krakeleien und kindlichen Zeichnungen, die sich auch auf den Seiten wiederfanden, welche leserliches Skript enthielten und wieder andere mit pompösen Redewendungen, deren Schnörkel so unnötig erschienen wie der Inhalt. Erst die letzten zwei Dutzend Seiten etwa handelten von einem Thema, das die Aranisaani zum Denken anregte.
Sie seufzte leicht, nahm die kalte Frühjahrs Luft in ihre Lunge auf, während ihre Beine von der Mauer der Arena baumelten, die sie geholfen hatte aufzubauen. Doch was war daraus geworden? Ohne Joe, der die Visionen dieses Ortes gehabt hatte, war der Bund langsam zerbrochen. Zuerst waren es die kleinen Fische, Männer und Frauen, die auf Gold aus waren. Sie verließen ihre Posten, brachten keine Informationen mehr ein und verschwanden schließlich auf die ein oder andere Weise. Mehr als einen hatte Chala selbst jagen müssen, um sicher zu gehen, dass Geheimnisse nicht ausgeplaudert wurden. Schließlich gaben auch Eingeweihte wie Gunnar die Idee auf etwas Großes zu erreichen und kehrten dem Bund den Rücken, um ihrer alten Gewohnheiten nachzugehen. Zugegeben, einen kräftigen Kerl wie ihn konnte man immer als Söldner gebrauchen.
Pete war der letzte, der sich abwandte. Er versicherte ihr, dass wenn Joe zurückkehrte, er wieder mit an Bord sei, doch ohne ihn würde er keinen Sinn in ihrem Vorhaben sehen. Natürlich beteuerte er, dass er sich im Schatten umhören würde und ihr sofort Bescheid geben würde, wenn er etwas mitbekäme.
,,Verdammte Schlange", spie Vered aus und spuckte die ihr aufkommende Galle in den von Unkraut überwucherten Arenaboden.
Jahre waren vergangen seit sie das letzte Mal von Pete gehört hatte, doppelt so lang seit Joe ihr den Weg gewiesen hatte. Chala schaute sich um. Das Gebäude, welches sie zusammen errichtet hatten, war dem Verfall der Zeit zum Opfer gefallen wie auch der Bund selbst. Moos und Algen wuchsen zwischen den Steinen und brüchige Stellen erweckten den Anschein einer Ruine. Wenn sie so darüber nachdachte, stellte der ehemalige Unterschlupf des Bundes eine gute Metapher für sie selbst dar. Gemäuer, welches dem Verfall der Zeit und mangelnder Pflege zum Opfer fiel, während ein klaffendes Loch in der Mitte ihrer Seele glich, in der ebenso viel Kampf herrschte wie einst in der Arena.
Tiefe Furchen fraßen sich in die Stirn der ehemals ihrer Schönheit wegen gepriesenen Frau, als ein allzu bekanntes Gefühl in ihr aufwallte. Stechender Schmerz entlud sich hinter ihren Augäpfeln und ein lautes Klingeln wie das Schlagen hunderter Glocken betäubte ihr Gehör. Sie presste beide Hände an den Kopf, biss die Zähne zusammen und zischte einem verletzten Raubtier gleich, um der Qual ein Ventil zu geben. Wie Stunden fühlte es sich an, als der Anfall nach einigen Augenblicken nachließ. Sehr langsam nahm die Aranisaani ihre Hände vom Kopf, öffnete vorsichtig die Augen und lauschte auf den kalten Wind, der über den Silbersee zog. Beinahe unbedacht griff Chala nach dem Buch, welches neben ihr auf der glitschigen Steinmauer ruhte und schlug eine der letzten Seiten auf, die sie sich mit einer umgeklappten Ecke markiert hatte. Ihre langen Finger strichen über das raue Papier, ehe sie zu lesen begann.
Meine Beobachtungen der Menschen um mich herum und Gespräche mit ihnen, was ‚mein‘ Verhalten anging, erbrachten eindrucksvolle Einsichten, die ich kaum in Worte zu fassen vermag. Nicht wenige von ihnen waren abgeneigt sich mit mir auseinanderzusetzen, sprachen von etwaigem Schaden, den ich ihnen zugefügt oder angedroht hatte. Wieder andere begrüßten mich freundlich, erkundigten sich nach diesem oder jenem Thema, welches wir wohl bei einem früheren Treffen besprochen hatten, an das ich natürlich keinerlei Erinnerungen hege. Am interessantesten waren jedoch die Unterhaltungen, wo mein Gesprächspartner sehr überrascht schien, dass ich überhaupt einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen vermochte. Auf Nachfrage beschrieben sie mich dann meist als einfältig und sprunghaft, wenn sie von unserer letzten Begegnung ausgingen. Einige vermuteten sogar, dass ich verflucht worden sei und die Magier um Hilfe ersuchen sollte. Ein Vorschlag, den ich als Überlegung wertschätze. Doch sollte ich die Wassermagier aufsuchen? Würden sie mich überhaupt empfangen?
Der letzte Satz versetzte Chala einen Stich, denn sie wusste, dass sie dem Königreich nur wenig von dem geboten hatte, was sie einst dem König geschworen hatte. Sie hatte keine Gefallen offen, keine Verbindungen mehr, die sie nutzen konnte, hatte vielleicht nie selbst ihren Platz in den Reihen des Königreichs eingenommen. Nicht damals in Setariff und auch nicht am Silbersee war sie den Erwartungen an die Krieger des Königs gerecht geworden. Warum also sollte sie erwarten Hilfe zu erhalten? Sie war die letzten Jahre ein Schmarotzer gewesen, hatte von dem gelebt, was für sie abgefallen war ohne etwas Nennenswertes beigetragen zu haben.
„Doch will ich das wirklich ändern?“, fragte sie den grauen Himmel, der einem Spiegel ihrer Stimmung glich.
Geändert von Chala Vered (15.02.2024 um 13:41 Uhr)
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So wie die Wolken über den winterlichen Himmel zogen, streiften auch Chalas Gedanken durch ihren Kopf. Wenn sie entschied den Worten in dem Buch, das sie mit sich trug, seit sie sich erinnern konnte, Glauben zu schenken, was wären ihre nächsten Schritte? Es gab nicht viel Anlass dafür, daran zu zweifeln, dass die Seiten von ihr selbst – oder einem anderen ‚Ich‘ – gefüllt wurden. Sie war sich sicher, dass ihr das Buch niemals entwendet worden war, schon gar nicht regelmäßig. Außerdem gab es mehr als eine Erinnerung, in der sie plötzlich an einem Ort oder in einer Situation war, die sie sich nicht erklären konnte. Menschen, die sie zu kennen glaubten, obwohl sie keinerlei Zusammenhang zwischen sich und ihnen erkennen konnte, gab es ebenfalls.
Wenn sie den Worten des Buches also Glauben schenkte – und wenn sie ehrlich zu sich war, tat sie es bereits – galt es herauszufinden, wie sie vorgehen sollte. Die Magier wie es das Buch, beziehungsweise die Menschen mit denen ihr anderes ‚Ich‘ gesprochen hatte, vorschlugen? Seit sie damals mit Turang gesprochen hatte, sah sie, dass Magie existierte und auch, dass die Götter eine plausible Realität waren. Doch war sie bereit dieser Macht, die sie nicht verstand, ihren Geist anzuvertrauen?
Damals im Sumpf, als ich auf Ryu und Dennik traf…gab es dort nicht auch magisch Begabte?, kam es Chala in den Sinn.
Die Erinnerung an diese Zeit entrann ihr, so als würde sie versuchen einen Bachlauf mit bloßen Händen aufhalten zu wollen.
„Wenn doch nur jemand hier wäre, der sich besser mit Magie auskennt“, presste Vered durch zusammengebissene Zähne hervor, ehe sie ihr Gesicht in ihren Händen begrub, um die aufsteigende Wut mit der Kühle ihrer Handflächen abzumildern.
Es half jedoch nichts und so erhob sie sich mit einem frustrierten Stöhnen, den Blick in die Tiefe der Arena gerichtet. Ein Sturz von dieser Höhe auf den verhältnismäßig weichen Sand wäre nicht genug, um ihr jegliche Entscheidungen abzunehmen. Dessen war sie sich ganz sicher und doch trug es noch dazu bei, dass ihr Zorn anstieg. Sie bückte sich nach ihrem Buch und verstaute es in ihrem Lederbeutel. Dabei wurde sie wieder einmal daran erinnert, dass ihr das Sumpfkraut vor Wochen ausgegangen war. Ihre Hände begannen zu zittern, nicht etwa aufgrund von Entzugserscheinungen, sondern aus Frustration und mentaler Paralyse, mit der sie nun schon so lange rang.
Sie stieg von der Mauer in Richtung Zuschauerränge herunter, und marschierte auf einen der Eingänge zu den inneren Fluren zu, die sie schlussendlich aus dem zerfallenen Gebäude führen würden. Keine Fackeln brannten in den Haltern an den Wänden und die Teppiche, welche sie irgendwann ausgelegt hatten, waren modrig und zerfressen. Der Geruch von Schimmel und feuchtem Staub schwängerte die Luft des Komplexes.
Chalas Stiefel erzeugten schmatzende Geräusche, als sie schnellen Schrittes durch die Gänge lief, erpicht darauf diesen verfluchten Ort für den Moment hinter sich zu lassen. Die Treppe nach unten war mit Vorsicht zu genießen, da sie rutschig und an einigen Stellen brüchig war. Doch die ehemalige Kriegerin wusste darum und schlängelte sich geschickt zum Fuß des Abstiegs, ehe endlich der Ausgang in Sichtweite rückte.
Die Dunkelhäutige atmete auf, nachdem sie unbewusst die Luft angehalten hatte, um dem widerlichen Gestank standzuhalten. Sie schaute hinab zum See, der so grau war wie der Himmel darüber. Der Anblick des aufgewühlten Wassers verhalf nicht dabei die Wut in ihr zu besänftigen. Ihre Wangen waren heiß und ihr Atem kam in kurzen Intervallen, während sie nach einem Ausweg suchte. Doch wie lief man vor etwas davon, dass sich in einem selbst abspielte?
Sie erblickte ein nahes Wasserfass, welches von den Regenfällen der letzten Nächte randvoll gelaufen war. Wenige Schritte später spähte sie in das trübe Wasser, erkannte die Umrisse ihres verschwommenen Gesichts, welches ihrer Wut nur weiteren Zunder bot. Mit einem verzweifelten Ausruf schlug sie die Wasseroberfläche ein, zerstörte das Bild, welches ihr entgegenstarrte. Ihre Hände umklammerten den Rand des Fasses, ihr Rücken war gebeugt und ihr Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell. Chala spürte wie sich ein weiterer Schmerzanfall anbahnte, doch bevor er sie übermannen konnte, tauchte sie ihren Kopf in das viel zu kalte Wasser des Regenfängers. Sie hielt den Atem an, zählte langsam von eins bis zehn, wobei sie die Augen geschlossen hielt. Sie spürte die Flüssigkeit, wie sie in ihre Nase kroch, ihre Ohren blockierte und ihre Haut mit Eiseskälte biss. Als sie die Zehn erreichte zog sie ihren Kopf wieder aus dem Fass, holte tief Luft und starrte hoch Richtung Himmel.
Sie spürte, wie die Tropfen aus ihrem Haar über ihr Gesicht, ihren Hals und Nacken, über ihren Rücken und die Brust unter die Kleidung floss, doch sie rührte sich nicht.
Endlich ließ sie den Rand des Fasses los, ihre Knöchel weiß von der Anstrengung, die sie in den Griff gelegt hatte. Ihre Hände fanden ihr klatschnasses Haar, welches wie gewohnt in enge Zöpfe geflochten war, die sie nun zu lösen begann. Schleppend ging es voran, denn die Kälte des Wassers hatte das Gefühl aus ihren Fingern verbannt. Zudem war ihr Haar störrisch und hatte Pflege nötig, die es lange Zeit nicht erhalten hatte. Viele Strähnen fielen dem rigorosen Öffnen der Zöpfe zum Opfer, doch am Ende war davon nichts zu sehen. Wie gewohnt lockte sich ihr Haar und stand in nahezu alle Richtungen ab. Dies war der Grund, weshalb sie seit ihrer Kindheit straffe Zöpfe geflochten hatte, doch diese Zeit war vorbei.
Sie spähte erneut in das Regenfass, musterte ihr Spiegelbild in der erneut ruhigen Wasseroberfläche. Ihre Augen waren rot unterlaufen, ihre Wangen etwas eingefallen, fast hager und ihr Haar lockig, störrisch und pitschnass. Dennoch war der Zorn aus ihrem Gesicht gewichen.
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Kling Kling Kling
Chala hielt ihren Münzbeutel fest und ließ ihn einige Male auf- und abhüpfen. Der Klang des Goldes darin verhieß nichts allzu Gutes, doch sie hatte einen Entschluss gefasst, an dem es nun festzuhalten galt. Sie schlenderte an den Händlerständen der Silberseeburg entlang, die im Inbegriff waren für den Tag zu schließen. Die Sonne hatte sich längst über dem Horizont verabschiedet und der langsam steigende Mond war schwach in der Ferne zu erkennen. Die von Fackeln beleuchteten Straßen waren kurz vorm Ende des Tages noch rege besucht, auch wenn es längst nicht mehr so überfüllt war wie noch vor einigen Jahren kurz nach dem Drachenangriff. Die eher magere Präsenz der Krieger, die für Ordnung sorgten, war ebenfalls ein Indiz dafür, dass der Nabel des Königreiches sich gen Stewark verlagert hatte.
An einem Stand, der Kleidung darbot, blieb die Aranisaani stehen, erhaschte einen Blick auf sich selbst in einem polierten Stück Metall, welches ihr Spiegelbild etwas verzerrt wiedergab. Ihre grobe Wollhose war von Löchern durchzogen, ihr Leinenhemd unter der Lederrüstung zerrissen und unwiderruflich verschmutzt. Auch ihr weiter Mantel mit der großen Kapuze bot einen kläglichen Anblick, da sie ihn an vielen Stellen hatte nähen und flicken müssen.
Sie seufzte, als sie einsah, dass ihr keine andere Wahl blieb, als einige Dinge zu ersetzen.
Augenscheinlich desinteressiert stöberte sie in der Auslage des Standes, welcher diverse Kleidungsstücke anbot. Ihren Lederüberwurf würde sie nicht ersetzen müssen, wohl aber den Rest.
„Sucht Ihr nach etwas bestimmten, gute Frau?“, fragte der Verkäufer sie mit verschlungenen Händen und einem müden Lächeln, während sein Blick zu einem weiteren Kundenpaar huschte, das angeregt die Ware begutachtete.
Chala warf dem Händler einen Blick zu. Untersetzt, schütteres Haar und Kleidung, die ihrerseits mehrfach angepasst worden war, was auf mehr Körpermaße schließen ließ, die sich zusammen mit den guten Zeiten verabschiedet hatte. Sie warf ihm ein gewinnendes Lächeln zu, was jedoch den gewohnten Charme vermisste.
„Ich suche nach einem guten Leinenhemd und einer Hose für die kälteren Tage, werter Herr.“
Der Händler schien ihre Maße per Auge zu nehmen, ehe er ihr mit einer Handbewegung einen Bereich seiner bescheidenen Auswahl präsentierte.
„Hier solltet Ihr alles finden, was Ihr benötigt“, ließ er sie wissen, ehe er sich mit einem knappen Nicken vergewisserte, dass sie ihn verstanden hatte.
Während sich der Geschäftsmann seinen anderen Kunden zuwandte, gab Vered vor sich die Ware genauer anzusehen, die ihr gezeigt worden war. Tatsächlich hatte sie schon vorher ausgewählt, was sie kaufen würde. Nun jedoch nahm sie einen der weiten Umhänge, die am Rand des Standes aufgehangen waren, in einem Moment vom Haken, in dem das Kundenpaar die Aufmerksamkeit des Händlers gebannt hatte. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihr auch, dass keiner der Wachsoldaten in ihre Richtung schaute.
Mit geschickten Fingern faltete sie das große Stück Stoff zu einem kleinen Bündel, legte es auf den Wollhosen ab und versteckte es mit ihrem ausgewählten Hemd und der Hose, die sie zu bezahlen plante.
„Werter Herr? Ich habe mich entschieden“, rief sie dem Händler zu, der sogleich in ihre Richtung kam.
„Diese beiden Teile sollen es sein?“, fragte er und schaute auf das Hemd und die Hose.
Chala nickte und sie verhandelten einen annehmbaren Preis. Gold wechselte den Besitzer und die gekaufte Kleidung wurde von der Aranisaani gefaltet und so wieder auf den Stand gelegt, dass der Umhang darunter nicht sichtbar war. Dann griff sie das Bündel und presste es sich gegen die Mitte ihres Körpers, den Umhang zu Unterst.
„Danke für Ihren Kauf“, verabschiedete sie der Händler, der keinen Verdacht geschöpft zu haben schien.
Schnellen Schrittes verließ Chala die Mauern der Silberseeburg, kehrte zum ehemaligen Unterschlupf des Bundes zurück, in dem sie noch immer Quartier bezog. Es war zwar heruntergekommen, doch aus ihren Räumen hatte sie den Schimmel und Gestank fernhalten können. Außerdem konnte sie ihre Tür abschließen und es gab nicht mehr viele Menschen, die sich in die unteren Stockwerke trauten. Bis auf einige Obdachlose lief sie keine Gefahr auf jemanden zu treffen.
Mittlerweile zitterte sie am ganzen Körper, denn die Nacht war frostig und sie hatte sich zuvor nicht ordentlich trocknen können. Die Vorstellung wieder in die Gemäuer zu müssen, hatte sie vor einigen Stunden gelähmt. Nun jedoch, mit dem Hauch eines konkreten Plans im Kopf, konnte sie es ertragen. Dennoch musste sie eiligst aus den feuchten Klamotten raus.
Als sie die Tür ihrer Räume hinter sich schloss, nahm sie den Anblick in sich auf. Ihr einfaches Bett mit der abgenutzten Decke. Der Tisch, an dem sie viele Nächte gebrütet hatte, wie sie weiter vorgehen sollte. Sogar Finanzbücher hatte sie versucht zu verstehen und zu führen, doch war dies nie von Erfolg gekrönt gewesen. Für Derartiges war stets Lukar da gewesen, doch auch von ihm war jegliche Spur verschwunden.
Der Rest der Unterkunft war ebenso spartanisch mit einer kleinen Feuerstelle und einem angrenzenden Raum, wo sie ihre Waschschüssel und einen Zuber hatte, den sie seit Jahren nicht mehr nutzte. Es war zu aufwendig, das Wasser vom See her zu schaffen, wenn man auch direkt im See baden konnte. Schamgefühl, dabei beobachtet zu werden, hatte sie ohnehin noch nie verspürt.
Das Einzige, was tatsächlichen Wert in diesen Zimmern besaß, war ihr Schwert Wildkatze, welches sie auf ein Regal drapiert hatte. Viele Monde hatten sich gefüllt seit sie die Klinge zum letzten Mal benutzt hatte. Dennoch pflegte sie den Stahl regelmäßig.
Gedankenverloren ließ sie ihre Finger die Runen nachzeichnen, die Ryu ihr in die Schneide graviert hatte. Sie bezweifelte, dass sie dem Schwert noch gerecht werden konnte, wenn es darauf ankam, doch sie würde es in jedem Fall mitnehmen, wenn sie morgen den Silbersee hinter sich lassen würde. Ihre Entscheidung stand fest und der erste Ort, der ihr in den Sinn gekommen war, wo sie vielleicht Hilfe erfragen konnte, war der Sumpf gewesen. Sie wusste nicht genau, was sich in den letzten Jahren dort verändert hatte, doch wenn die Chance bestand dort Ryu oder Dennik zu treffen, würde sie sie ergreifen.
Nun jedoch musste sie ihre klamme Haut trocknen, die alte Kleidung abwerfen und einige Stunden Schlaf finden. Letzteres fiel ihr leider seit langer Zeit schon sehr schwer.
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…der Himmel stand in Flammen, tosendes Gebrüll verschluckte alle anderen Geräusche in der unmittelbaren Umgebung. Eine Hand griff in ihre Richtung, schweißüberströmt. Ein zerrissener Ärmel klebte am Oberarm und ein bärtiges Gesicht, deren Umrisse alles war, was sie zu erkennen vermochte, schaute sie an.
Sie blickte sich um, überall Feuer, die alles verschlangen und Menschen, die panisch umherrannten. Die Erde war schlammig, uneben und sie kniete darin. Panik machte sich in ihr breit und sie griff nach der offenen Hand, die ihr angeboten wurde. Die Person zog sie rückartig auf die Füße, rief ihr etwas zu, doch verstand sie kein Wort. Sie wurde mitgezogen, ihr Arm schmerzte, ihre Schulter schmerzte und ihre Sicht war glasig, nein, die Luft war es, die von der Hitze der Brände verzerrt wurde.
Sie versuchte Schritt zu halten, doch stolperte sie immer wieder auf dem unebenen Boden. Erschöpfung zerrte an ihr, doch die Angst trieb sie voran. Nur noch ein Stück…noch ein kleines Stück!
Chala schreckte hoch, ihr Atem ging schnell und unregelmäßig, Schweiß bedeckte ihren ganzen Körper, geweitete Pupillen und ein Gefühl sich jeden Moment übergeben zu müssen übermannte sie beinahe. Sie presste eine Hand auf den Mund, schluckte die aufsteigende Galle wieder herunter, zwang sich, die Beherrschung zurückzugewinnen.
Atme ruhiger, verdammt!, tadelte sie sich selbst in Gedanken und konzentrierte sich darauf tiefere Atemzüge durch die Nase zu nehmen.
Ganz allmählich flachte ihre Atmung ab, der Brustkorb hob und senkte sich langsamer das Zittern in ihren Gliedmaßen ließ nach. Die Aranisaani konnte nicht abschätzen wie lange sie in ihrem Bett saß, doch der Schweiß auf ihrer Haut erkaltete mit der Zeit und ein anderes Zittern übernahm. Sie blickte sich desorientiert um.
Ganz ruhig, du bist noch immer in deinen Räumen am Silbersee, der Drache existiert nicht mehr und dein Leben ist nach wie vor ereignis- und belangenlos, sprach sie sich gedanklich auf zweifelhafte Weise Mut zu.
Ihr Blick fiel auf die Feuerstelle in der nur noch wenig Holzkohle glomm. Der erkaltete Schweiß jagte ihr einen Frost über den Körper und ihre Decke lag mehrere Armeslängen von ihr entfernt auf dem Boden. Sie musste sie im Schlaf von sich gestoßen haben.
Langsam quälte sich die Dunkelhäutige aus dem Bett, rieb sich die nackten Arme und richtete Lendenschurz und Leinentuch, ehe sie zur Feuerstelle trat, um der Glut neues Holz zuzuführen. Nach einer Weile labten sich kleine Flammen an den trockenen Scheiten und die Wärme kehrte in Chalas Knochen zurück.
„So kalt…“, flüsterte sie in den leeren Raum, ehe sie sich die Decke griff und darin einschlug.
Eine weitere Nacht, in der ihr kein Schlaf vergönnt war und wie jedes Mal war es ein Albtraum über jene Zeit vor fast zehn Jahren, die sie heimsuchte. Ihr wurde klar, dass die Panik vor dem Drachen viel tiefer gesessen hatte, als sie sich damals je eingestanden hätte. Doch die Erinnerung an ihre Furcht brachte auch immer Bilder ihrer alten Beschützer hervor. Joe, der ihr stets mit einem verschmitzten Lächeln ein Gefühl der Sicherheit geben konnte. Ryu, dessen glühende Augen ihr zunächst animalische Furcht und wenig späte vertrauten Respekt eingeflößt hatte, wohl wissend, dass er sie beschützen würde, sollte es nötig sein.
Tränen wallten in ihren Augen auf, als sie an ihre beiden Partner dachte.
„Jetzt heulst du, du dummes Stück? Wirst noch sentimental auf deine alten Tage…“, verspottete sie sich selbst wie sie es so oft mit den anderen Menschen um sich herum gemacht hatte.
Doch kein Gefühl der Überlegenheit kam damit einher, viel mehr das Bewusstsein nichts von all dem zu sein, was die beiden ihr vorausgesagt hatten. Noch immer war sie das dumme Mädchen, welches sich in Gebiete gewagt hatte, die ihr mindestens drei Nummern zu groß gewesen waren. Joe und Ryu waren es, die ihr die nötige Sicherheit gegeben hatten, doch beide waren fort…nein sie war fort, weit weg von ihnen.
Und Dennik…, tauchte ein weitere Name in ihrer Erinnerung auf, mit dem sie vieles verband.
„Er hat mich verraten!“, protestierte Chala gegen ihre eigenen Gedanken, doch irgendwie fühlte sich der Widerstand falsch an, schwach.
Es hatte niemals zu ihm gepasst sie auszuliefern, doch in dem Moment, als sie zu dem Schluss gekommen war, hatte es für sie Sinn ergeben. Aber jetzt? Sie hatte ihm nie die Möglichkeit gegeben sich zu erklären, obwohl sie mit dem Abstand der Jahre durchaus sagen würde, dass sie eine freundschaftliche Verbindung gepflegt hatten.
So viele Menschen, die sie hinter sich gelassen hatte und doch war ihr Ziel so weit entfernt wie noch nie. Sie war am Boden der sozialen Struktur angekommen.
Schweigend saß sie, den Blick in die wachsenden Flammen, welche ihr ein unbehagliches Gefühl gaben im Hinblick auf ihren jüngsten Albtraum.
„Jetzt reiß dich mal zusammen Vered“, stieß sie unerwartet aus und schlug sich mit der Faust auf das angewinkelte Bein.
„Du bist nicht abhängig von ein paar Männern, die du um deinen Finger gewickelt hattest. Es gibt Hunderte von ihnen, mit denen du das gleiche anstellen kannst. Gib deine Ambitionen nicht wegen ein paar Jahren der Rückschläge auf! Ein so weiter Weg liegt bereits hinter dir, selbst die Existenz der Magie ist für dich kein Märchen mehr und sie kann dir sicher dabei helfen zu erreichen, wonach du dich sehnst! Selbst wenn es nur in Form eines anderen Menschen ist, den du auszunutzen bereit bist.“
Sich selbst Mut zu zusprechen half ihr leider kein Bisschen dabei sich besser zu fühlen und so legte sie ihren Kopf langsam auf ihren eigenen Beinen ab, während sie sich in ihren Gedanken und den Flammen verlor.
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Tiefe Schatten lagen unter Chalas Augen, als sie aus dem Gemäuer trat, ein letztes Mal für hoffentlich viele Monde. Es war, als würde eine Last von ihren Schultern genommen. Wie Steine, die einer nach dem anderen von ihr abfielen mit jedem Schritt, den sie zwischen sich und ihr altes Leben im ehemaligen Unterschlupf des Bundes brachte. Es fühlte sich an, als könnte sie zum ersten Mal seit ewiger Zeit ihren Rücken strecken wie sie es einst genüsslich getan hatte. Doch war ihr nicht der Sinn danach.
Prüfend griff sie nach dem Heft ihres Schwertes, das in seiner Scheide an ihrem Rücken befestigt war, dann tasteten ihre Finger nach dem Lederbeutel, den sie sich über die Schulter geworfen hatte. Der Sack war leicht, gerade genug Proviant verbarg sich in ihm, dass sie den Weg in den Sumpf hinter sich bringen konnte. Ihr Wasserschlauch war noch feucht vom Auffüllen und hing an seinem Platz an ihrem Gürtel. Es gab nichts mehr zu tun, außer aufzubrechen. Einen Blick zurück gönnte sie der Arena oder der Burg nicht, viel mehr nahm sie den See in sich auf, dessen Ufer sie eine ganze Weile würde folgen können.
Es war nicht mehr so kalt wie letzte Nacht, als sie am Feuer wieder eingenickt war, dennoch biss der Wind ihr Gesicht und zerrte an ihrer neuen Kleidung. Ihr ebenfalls neuer Umhang kam also bereits zum Einsatz, als sie ihn sich überwarf. Der Schwertgriff von Wildkatze lugte unter dem dicken Stoff hervor, den sie mit der weiten Kapuze jedoch verdecken konnte, sollte es nötig werden.
Entschlossen dem Ursprung der seltsamen Texte ihres Buches auf den Grund zu gehen, legte Chala eine schnelle Gangart ein. Je eher sie jemanden fand, der ihr dabei helfen konnte, in sich selbst zu schauen, desto eher würde sie einen Pfad einschlagen können, der sie zu ihrem Ziel bringen konnte. Und wenn sie dabei auf alte Bekannte treffen konnte…
Denk an etwas anderes, du verdammte Idiotin!, fuhr sie sich gedanklich selbst an, doch half es nichts, denn der Gedanke war bereits gefasst.
…dann wüsste sie nicht, was passieren würde. Doch sollte es dazu kommen, dass sie Dennik, Luke oder…oder…Ryu antreffen sollte, würde sie gewiss wissen, wie sie sich verhalten sollte. Ganz bestimmt…
Sie biss sich auf die Unterlippe, versuchte nicht erneut in Erinnerungen gefangen zu werden, die ihre Entscheidung nur ins Wanken bringen würde. Es war Zeit diesen Lebensabschnitt hinter sich zu lassen.
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Lehrling
Es war zum Lachen. Wie viele Jahre hatten Lee und er gemeinsam gegen die Untaten eines Königs angekämpft? Wie viele Male hatten sie Rhobar ein Schnippchen geschlagen und Seite an Seite für die Freiheit ihrer Männer gekämpft? Und wo waren sie nun?
Der Krieg gegen die Orks hatte alles verändert. Lee hatte sich von Myrtana abgewandt und gemeinsam mit den Clankriegern Nordmars den Kampf gegen die Grünfelle direkt an der Frontlinie zur Heimat dieser pelzigen Bastarde geführt. Lares selbst war nicht so stark gewesen wie sein Freund. Er war zu lange eingesperrt gewesen, um sich direkt in den nächsten scheinbar aussichtslosen Kampf zu stürzen. Nein, er hatte sich wieder als Freiberufler versucht. Beobachtet, Verbindungen geknüpft, hier und da Geschäfte gemacht. Es waren die Jahre, in denen sich die beiden aus den Augen verloren hatten. Lee war wieder einmal gegen jede Wahrscheinlichkeit siegreich gewesen, und dennoch hatten ihn die Umstände erneut eingeholt, als die Myrtaner sich unter dem neuen Rhobar die ganze Welt unter den Nagel rissen. Wieder hatte Lee den Widerstand gegen die Übermacht gewählt – und Lares? Er war weiter im Verborgenen geblieben, Augen und Ohren gespielt für jeden, der ihm genug zahlte. Bis – ja, bis sein alter Freund ihn gerufen hatte.
Wie doch die Zeit verging, dachte er bei sich. Drei Jahre war es her, seit er Lees bitte gefolgt war. Und nun arbeiteten sie beide ausgerechnet für einen König! Nein, das stimmte nicht. Lee kämpfte nicht, weil ein Anderer es ihm befahl. Er kämpfte ausschließlich für die gerechte Sache. Und wenn das bedeutete, vorübergehend einem Königreich am Rande der Vernichtung auszuhelfen, dann war das nur rechtens. Lares jedenfalls würde ihm überall hin folgen. Auch wenn das wieder hieß, Botengänge zu erledigen.
Botengänge wie diesen.
Gawaan musterte das mit dem königlichen Siegel versehene Sendschreiben so ausgiebig, dass Lares sich fragte, ob er zwischen den Zeilen nach verborgenen Botschaften suchte. Schließlich waren es nicht mehr als ein Dutzend Zeilen, die der Schreiber für den Baron vom Silbersee aufgesetzt hatte.
„Euer Anliegen scheint wahrhaftig zu sein, Lares“, konstatierte er schließlich, als er das Papier sinken ließ. „Allein, ich verstehe nicht, warum mein Bruder keines seiner Schwerter mit solch einer wichtigen Aufgabe betraut, sondern – euch.“
„Ich verstehe Eure Bedenken, Lord Gawaan“, entgegnete Lares. Ein gewinnbringendes Lächeln zeichnete sich inmitten des gepflegten Bartes ab. „Für Euch bin ich ein Außenstehender. Warum sollte der König ausgerechnet mich damit beauftragen, die Aufzeichnungen des Reiches zu durchforsten, um das Wissen der alten Akademie zusammenzutragen?“
„In der Tat“, entgegnete Gawaan. Seine Stimme war nicht ablehnend, sondern offen und wissbegierig. Lares gefiel das.
„Nun, lasst Euch gesagt sein, dass mein Wirken für das Freie Königreich von Argaan schon länger anhält, als es nach außen hin den Anschein erwecken mag. Nur agiere ich von Berufs wegen her üblicherweise im Verborgenen.“
Der Herr vom Silbersee betrachtete ihn nachdenklich. Eine gesunde Skepsis war in solch einer Position sicher angebracht. Lares sah es ihm nach.
„Geheimdienst also?“, fragte er. „Ich wusste gar nicht, dass wir überhaupt noch einen haben, seit Setarrif gefallen ist.“
„Und so soll es gemeinhin auch bleiben, Herr“, erwiderte Lares grinsend. „Zurück zu meinem Anliegen: Erhalte ich Eure Erlaubnis, das Archiv der Burg aufzusuchen?“
„Die habt Ihr, Lares. Sprecht mit meinem Kastellan Gilthor. Er wird Euch helfen, die richtigen Dokumente zu finden.“
Lares neigte sein Haupt und wollte gerade seinen Dank aussprechen, als er das dumpfe Schlagen hörte.
„Was in Adanos‘ Namen ist das denn?“, rief Gawaan.
Lares starrte voller Schrecken aus dem Fenster. Er kannte das Grollen aus der Ferne nur zu gut. Und es bedeutete nichts Gutes. Als er diesen Klang das letzte Mal gehört hatte, war es das Ende von Khorinis gewesen.
„Orktrommeln“, sagte er. „Die Orks ziehen.“
„Die Orks?“, fragte Gawaan ungläubig. Er blickte mit sorgenvoller Miene aus dem Fenster. „Was könnte sie dazu bewogen haben?“
Lares sah ihn entschlossen an. „Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden.“
Johanna
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Die Archive von Silbersee – Die Welt in Akten
Die Nacht des kleinwüchsigen Wandermönchs war eine aufgewühlte, nachdem der Gott – oder die Göttin? – zu ihm gesprochen hatte. Der Zweifel, das waschküchenartige Wetter und mutmaßlich mehrere blutsaugenden Insekten hatten des Nachtens an ihm genagt.
So hatte er lange vor dem kargen Frühstück beschlossen, dass er für mehr Gewissheit sorgen musste, um seinen Glauben zu stärken. Nicht dass er am Ende die ganze Zeit den Einflüsterungen eines Erzdämons aufsaß, der ihn damit nur verleiten wollte, selbigen aus seiner Versiegelung zu befreien.
Es galt, die Worte zu überprüfen, und da kam ihm ein Einfall, denn, wenn er bereits hier war, wieso nicht mit einem Blick in die älteste Wissenssammlung der Insel? Also hatte er sich gen Süden gewandt, die Büßerschlucht hinab zum Silbersee.
Auf der Burg herrschte gedämpfte Unruhe. Beinahe schon unaufgefordert erzählte jeder dem Neuankömmling den Grund dafür: Orks! Am Vortag hatte man einen verhältnismäßig großen und lautstarken Zug beobachtet, der schwer bewaffnet und gerüstet aus dem Orkwald heraufgezogen war, im Bestreben über das Gebirge zu gelangen, scheinbar in Richtung der alten Hauptstadt Setarrif. Lord Gawaan hatte ihnen Kundschafter nachgeschickt, die bislang noch nicht wieder zurückgekehrt waren.
Den Burgherren hatte er nicht getroffen. Gawaan war offenbar mit wichtigeren Vorgängen beschäftigt. Der alte Gnom konnte nur mutmaßen, dass es etwas mit den Orks zu tun hatte. Stattdessen hatte man ihn bei Gilthor, dem Kastellan der Festung, vorsprechen lassen hatte. Der hatte sich nicht lange bitten lassen, nachdem Arvideon sich mit dem Schreiben Tiberons als Lehrmeister der Akademie ausgewiesen hatte, und ihn mit seinem Anliegen direkt an den Archivar verwiesen, einen alten Mann, der das Amt – wie er später erfuhr ein Erbamt, dass sogar in Zeiten der myrtanischen Herrschaft unter Lord Tronter weiterbestanden hatte – aufgrund seines fortgeschrittenen Alters im regelmäßigen Wechsel mit weiteren Familienangehörigen ausführte.
Der altgediente Archivar war wahrlich eine Koryphäe, was die Bestände des Archivs der Silberseeburg anbelangte. Ohne seine Unterstützung hätte selbst der weitgereiste Worteschmied und gewitzte Gelehrte Arvideon vermutlich Wochen oder Monate gebraucht, um sich beim Durchforsten der Folianten, Bücher und Schriftrollen zurechtzufinden.
Zunächst hatte ihn der ältliche Archivar gefragt, ob er hier war, um für einen Beauftragten König Ethorns mit Namen Lares zu übernehmen, der, wie er ihm bei einer Tasse Tee erfuhr, nur kurz vor ihm hier eingetroffen war mit dem Auftrag, die geretteten Akten der Akademie zu Setarrif zu sichten. Offenbar gab es am Hofe von Stewark wirklich Bestrebungen die Akademie wieder auf Vordermann zu bringen.
Arvideon hatte natürlich verneint und Meister Kronk berichtet, dass er hergekommen sei, um für eine theologisch-onomatologische Abhandlung zu forschen, die sich mit alten Legenden über die Götter – insbesondere mit den ältesten Zeugnissen ihrer Namen und Beinamen – befassen sollte.
Daraufhin hatte waren die beiden alten Herren, natürlich erst nachdem sie ihren Tee und etwas Gebäck fertig verzehrt hatten, in die Archive der Silberseeburg hinabgestiegen.
Am Ende einer breiten steilen Treppe hatte ihn Meister Kronk in die Wissensschatzkammer der Insel eingelassen, eine riesiger Raum mit hohem Gewölbe, getragen von zahlreichen Säulen, zwischen denen sich Regale mit Schrift- und Bildzeugnissen aller Art stapelten.
Arvideon wurde gebeten an einem Lesepult zwischen zwei mannshohe metallene Kerzenständern zu warten, das vor einer Säule und unweit eines langen, bereits mit Materialien einer begonnen Recherche beladenen Tisches stand.
Der vermeintliche Lehrmeister der Akademie hielt seine Neugier im Zaum, auch wenn es ihm schwer fiel, und begutachtete nicht die Werke, die vermutlich dieser Lares angefordert hatte. Stattdessen studierte er die zahlreichen Buchrücken auf den Regalbrettern unmittelbar vor ihm.
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Die Archive von Silbersee – Vom Glauben an die und aus der erbaulichen Enttäuschung
„Ihr habt etwas gefunden, Meister Kronk?“, fragte Arvidoen als der Archivar etwas später wieder aus dem Labyrinth der Archivalien auftauchte.
„Ja, Magister.“
Kronk wuchtete eine Armlange Schriftrolle auf das Lesepult, entfaltete die ersten Zeilen und beschwerte sie mit einem mit dem Kreissymbol des Adanos verzierten Briefbeschwerer aus angelaufenem Silber.
„Wir haben auch noch die alte Karte einer Tempelruine auf der Ostseite des Weißaugengebirges. Auf ihr ist vermerkt, dass das Heiligtum der Verehrung Ada’es, Inosirs und Iar’Baels gedient habe. Aber für Euer Unterfangen ist dies hier wohl das ausschlaggebende Werk. Ihr seid sicher des Altmyrtanäischen mächtig?“
„In der Tat, das ist der sprachgewandte Gottesdiener.“, nickte Arvideon zustimmend, schob sich einen bestehenden Schemel heran, um bis ans Pult hinauf zu reichen, und schwang sich behände, seinem Alter Lügen strafend, darauf.
Im warmen Schein der Kerzen zu beiden Seiten begann der alte Gnom zu lesen.
Die Rolle war mit dem Siegel des Kastellans der Silberseeburg als Abschrift vom Original beglaubigt. Bei dem Text handelte es sich um eine nur wenige Dekaden alte Kompilation, Fakten, die ein gewisser Namandor Risarion Isicron, offenbar im Dienste eines setarrifschen Hofmagiers zur Zeit vor dem Orkkrieg, als das Reich noch geeint war, zusammengetragen hatte. Arvideon konnte mit dem Namen, der vermutlich aus dem Mittelsetarrifischen – einer seiner Ansicht nach eher obskuren Verirrung des Hochsetarrifischen – stammte, nichts anfangen, aber das war auch nicht weiter wichtig.
Laut der Einlassungen ging es um einen Kult aus der Zeit der Jharkendarkultur, dessen Zentrum auf Argaan, genauer gesagt in Süd-Argaan zu verorten gewesen war. Offenbar hatte es vor dem Auftauchen des Kastells der Schwarzmagier auf den Klippen am Südende der Insel Ruinen einer Klosteranlage oder Tempelsiedlung gegeben. Auch wurde kurz auf die bereits von Meister Kronk erwähnte Tempelruine in den Bergen als mögliche Kultstätte bezug genommen.
Inhaltlich bestand der Aufsatz hauptsächlich aus Fragmenten aus anderen Werken, deren Quellen aber unzureichend vermerkt waren, so als ob der Verfasser davon ausging, dass sie dem Leser bereits bekannt waren oder für den Zweck der Kompilation nicht weiter wichtig oder erwähnenswert waren.
Kern war die Befassung mit alten Bezeichnungen der Götter. Schon recht zu Beginn wurden zahlreiche Namen aus unterschiedlichen Altsprachen – sogar aus dem Hoch- und dem Wildorkischen – aufgelistet und den mutmaßlich zugehörigen Gottheiten zugeordnet. Arvideon überflog die Aufzählungen eilig, bis er bei denen des Argaanischen Kultes angekommen war. Demnach stand der Name Inosir, wie man der Ähnlichkeit geschuldet bereits hatte vermuten können, für eine altargaanische Bezeichnung von Innos. Das Gegenstück für Beliar lautete dem Schreiberling zufolge Iar’Bael. Etwas ausführlicher wurde es schon bei Ada’e. Dabei handelte es sich offenbar um eine frühargaanische Vorstellung von Adanos in einer weiblichen Gestalt. Der Verfasser verwies auf unterschiedliche weitere Autoren, die beschrieben, wie manche Naturvölker auf allen Kontinenten der bekannten Welt, auch heute noch eine Muttergöttin verehren sollten, und vermutete darin einen Zusammenhang.
Dann kündigte der Text ‚abenteuerliche‘(sic!) Theorien und Hypothesen an, die sich um die Namens- und Bezeichnisvielfalt rankten.
So wurde sehr abstrakt formuliert, dass es ursprünglich nur ein einziges göttliches Wesen gegeben haben sollte, das über einer undefinierten Ursuppe schwebte und sich danach gesehnt haben sollte, mit einem Gegenüber in Beziehung zu treten, sich deshalb selbst in mehrere Personen spaltete und so erst die Gegensätze Chaos und Ordnung und dazwischen das Leben schuf.
Andere Theorien, die sich langsam vor Arvideons Augen entfalteten, besagten, dass Innos, Adanos und Beliar, die drei Brüder, eine Mutter hatten, eine Göttin, die vor ihnen existierte, deren Verbleib jedoch unklar war. So wurde in dem zitierten Auszug darüber spekuliert, ob sie sich nur von der Welt abwandte, um ihren Kindern Raum zu geben, sie ihre Existenz bei der Geburt der drei Götter einfach ganz aufgab, oder sie immer noch wirkt, gemeinsam mit ihren Kindern.
Eine sehr mit einer – bei allergrößter Bescheidenheit – beinahe arvideon’sch zu nennenden Lust am Fabulieren formulierte Hypothese besagte, dass die drei Götter, wie man sie heute kannte und verehrte, nur drei Aspekte ein und derselben allmächtigen Gottheit seien. Inosir und Iar’Bael seien nur Beinamen der Ada’e. Der Verfasser der Kompilation bemerkte dazu allerdings, dass es keinerlei Beweise gab, die diese Hypothese stützten. Die vermeintlichen Namensbestandteile wurden zwar an einigen Orten Midgards in Ruinen präjharkendarischen Tempelanlagen gefunden, allerdings immer nur in Gruppen von gleichrangigen Relationen aller drei Namen oder aber immer nur einzeln, nie jedoch in den genannten Namenskombinationen.
Schließlich wurde noch auf die alte Erzählung der Spaltung der Priesterschaft zwischen den Magiern des Wassers und denen des Feuers Bezug genommen, allerdings nur, um zu konstatieren, dass es ungeklärt war, inwieweit diese Legende mit den genannten Theorien in Verbindung standen. Zumindest schienen einige auf dieses Ereignis zu referenzieren.
Als Arvideon von der Schriftrolle wieder aufsah, war einiges an Zeit vergangen. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verflogen war, so vertieft war er in seine Lektüre gewesen. Sichtlich erleichtert, über das was er gelesen hatte, atmete der alte Wandermönch auf.
„Seid Ihr gar nicht enttäuscht, dass ein solches Werk, wie ihr es zu verfassen beabsichtigt, bereits existiert?“, fragte der Archivar erstaunt, der die ganze Zeit neben ihm gestanden und ebenfalls gelesen hatte.
Die goldenen Augen des kleinwüchsigen Wandermönches blitzen ihm spitzbübisch entgegen.
„Nein, woher? Er preist Adanos für die Existenz dieses Werkes und vor allem dafür, dass er ihn zuerst zu Euch geführt hat, hochgeschätzter Meister Kronk, sodass sein würdigster Diener keine wertvolle Lebenszeit verwendet mit dieser Thematik. So bleibt ihm mehr Zeit für all die anderen vernachlässigten Themengebiete, die einer umfassenden Abhandlung durch einen wachen Geist bedürfen. Seid Euch versichert, wertester Freund, Magister Arvideon ist außerordentlich erfreut über diese Kunde.“
Arvideon schenkte ihm zum Dank die letzte Orange, die er für diese Reise eingepackt hatte und verließ noch am frühen Abend die Burg am See wieder gen Norden.
Adanos wollte, dass die Bewohner der Welt allein über ihr Schicksal entscheiden. Dennoch bot er seine Führung an, jedem der sie suchte. Arvideon hatte gesucht und hatte gefunden.
Seine Gottheit lobend und preisend und mit einem in sich ruhenden Lächeln zog der unentwegte Wandermönch von dannen.
Geändert von Arvideon (28.07.2024 um 02:56 Uhr)
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„Endlich“, stieß Chala mit vor Erschöpfung schwacher Stimme hervor, als sie den Pass überquert und den Abstieg angetreten war.
Vor ihr erstreckte sich der Silbersee, glitzernd in der früh nachmittäglichen Sonne, die diebisch den Wolken zu entkommen schaffte, welche sich am Himmel tummelten. Die Burg wachte wie üblich hoch über dem Ufer. Stoisch und majestätisch mochte man sie nennen, ein Umschlagspunkt für Wandernde und eine strategisch wertvolle Bastion, die den Norden vom Süden der Westküste trennte. Für die Aranisaani war sie jedoch ein Mahnmal. Eine bittere Erinnerung an eine Zeit, mit der sie die dunkelsten Jahre ihres Lebens verband. Ihre Flucht dorthin war der Anfang vom Ende einer Reise gewesen, die sie gern anders erlebt hätte, als es schlussendlich geschehen war. Das Leben in Holzhütten, der anstrengende Bau der Arena, von der nichts weiter übrig war als einer modrigen Ruine, der Plan eines profitablen Unternehmens zum Wohle ihrer selbst. Und jetzt? Jetzt würde sie wieder in die einsamen Gemäuer dieses Schandflecks gehen müssen, denn sie war zu schwach, um den Weg bis nach Stewark zu laufen.
Jeder Schritt schien qualvoller zu sein, als der vorherige. Ihre Rippen schmerzten, vermutlich dem Sturz in die Katakomben unter der Höhle geschuldet und erschwerten ihr das Atmen.
„Nur noch ein Bisschen weiter“, ermutigte sie sich selbst und biss die Zähne zusammen.
Je näher sie dem Fuß der Berge kam, desto mehr Details erkannte sie. Die Büßerschlucht lag etwas südlich von ihr und sie würde sie durchqueren müssen, ehe sie vor dem einstigen Hauptquartier des Bundes stand, dem sie sich verpflichtet gefühlt hatte. Ihre linke Hand ruhte auf dem Knauf des Schwertes, welches gemächlich in seiner Scheide an ihrer Hüfte schwang. Die Rechte fuhr durch ihr Haar, welches sich selbst für seinen gewöhnlich krausen Zustand verknotet und ungepflegt anfühlte. Im Gebirge hatte sie nicht die Gelegenheit gehabt, doch am See könnte sie sich um es kümmern.
Eine Ironie, der sie sich nicht erwehren konnte, war es, als sie in Büßerschlucht betrat. Von hoch oben in den Bergen, hinab ins Tal, um schließlich von Felsen umringt zu sein. Es verdeutlichte ihr, wie klein sie eigentlich war und sie hasste es. Die Käfige und vergitterten Mulden waren leer, nur selten fanden sich hier Gefangene ein, da allein die Aussicht hier unten eingesperrt zu sein, Abschreckung genug war, um Straftaten vorzubeugen. Nicht, dass es sie jemals davon abgehalten hätte, ihre Hand in Taschen zu stecken, die nicht die ihren waren. Doch um hier zu landen, musste man erwischt werden.
Dennoch atmete sie auf, als sich der Pfad anhob und sie den unheilvollen Ort hinter sich lassen konnte. Doch nur kurz währte die Erleichterung, denn sie sah sich nun am Fuße des Aufgangs zur Burg Silbersee stehen. Das Tor war außer Sichtweite, doch sie bezweifelte, dass sie mit ihrer Laune ein wohlwollendes Gespräch mit den dort postierten Wachen führen könnte. Glücklicherweise befand sich ihre heruntergekommene Bleibe außerhalb der Mauern, doch zunächst würde sie dem Pfad, der von alten Bäumen gesäumt war, zum Ufer des Sees folgen.
Es war belebt hier unten. Fischer trieben mit ihren Booten auf dem Wasser, warfen Netze aus und genossen die Sonne auf ihrer wettergegerbten Haut. Einige Müßiggänger nutzten die spätsommerlichen Temperaturen, indem sie ihre Füße im kühlen Nass erfrischten. Chala würdigte sie keines Blickes. Sie war zu müde, um sich an der Anwesenheit anderer zu stören, weshalb sie kurzerhand die Riemen ihrer Lederrüstung lockerte und die verschiedenen Teile auf den groben Sand fallen ließ. Wildkatze legte sie sorgsam auf einen großen Stein. Nur in ihre Leinenkleidung gewandt, trat sie ans Ufer, formte mit ihren Händen eine Schale und wusch sich zunächst das Gesicht, welches sich nur zögerlich vom Staub eines tagelangen Aufenthalts im kargen Weißaugengebirge löste. Ihr Haar war als nächstes dran und sie stöhnte auf, als sie grob die Knoten mit ihren Fingern heraus zu kämmen versuchte. Als würde sich ihre Kopfhaut vom Schädel lösen, trug es nicht zu ihrer Laune bei und wäre sie nicht am Ende ihrer Kräfte gewesen, hätte sie wohl laut geschrien, um ein Ventil für ihre Frustration zu haben.
Schlussendlich hatte sie genug von den fruchtlosen Versuchen, riss sich auf die restliche Kleidung vom Leib und stakste in den Silbersee hinein, tauchte in seine kühlen Tiefen ein und schloss die Augen.
Einfach loslassen, fuhr es ihr durch den Kopf, doch verbannte sie diesen Gedanken mit einer Vehemenz, die sie selbst überraschte.
Ein loses Ende war nichts, was sie akzeptieren würde. Aufgeben war nicht ihr Stil. Geduldig wartete sie, bis sich ihr Herzschlag beruhigte, während sie beinahe schwerelos im Wasser schwebte. Erst, als ihr die Luft auszugehen drohte, tauchte sie wieder auf, schwamm ans Ufer und warf sich die Leinenkleidung über die nasse Haut.
So müde…, dachte sie schläfrig und ließ sich mit dem Rücken zum Stein, auf dem ihr Schwert ruhte, in den Sand fallen.
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