Zitat von
Luceija
Mehrere Wochen später...
Schwitzend wachte er auf. Schwer atmend. Eindeutig dehydriert. Angetrockneter, klebriger Speichel hatte sich an seinem Gaumen festgesetzt und bettelte danach, weggeschwemmt zu werden. Eine raue, feuchtigkeitsarme Zunge versuchte verzweifelt, die brennenden Mundwinkel zu salben und scheiterten kläglich bei dem Versuch. Schläfen pulsierten in einem unregelmässigen, nervtötenden Hämmern. Die Welt um ihn herum zerfloss in Dunkelheit.
Wieder hatte er geträumt und er träumte eigentlich so gut wie nie. Und wenn er es tat, war es niemals etwas positives. Es waren unrealistische, verzerrte Geschichten ohne Anfang und Ende. Ohne wirklichen Sinn. Mit teilweise bekannten Darstellern, teilweise austauschbaren Statisten, dessen Stimmen und deren Aussehen nicht passen wollten, obwohl sein Gefühl klar verriet, um wen es sich jeweils handelte. Immer wieder verzog sich der Boden unter seinen Füssen. Immer wieder richtete sich der Raum, der meist nicht grösser war als eine Turnhalle, an einer Ecke nach oben, ohne, dass die Wände dabei die selbe Bewegung vollzogen hätten und er rannte der Steigung entgegen. Er wusste sehr wohl, dass er die Kraft und Ausdauer besass um einen Hügel nach oben zu rennen ohne ausser Puste zu geraten - aber diese Steigung hatte nichts von einem gewöhnlichen Landschaftsbild und raubte ihm jede Stärke. Energie verlies die müden Knochen als er gegen einen unsichtbaren Widerstand in einem unfairen Wettkampf antrat. Niemals hatte er die obere Kante erreicht. Niemals auch nur eine Tuere gesehen um den klaustrophobisch wirkenden Raum zu verlassen, der eigentlich niemals dieses Gefühl bei ihm auslösen wuerde. Er war fertig mit den Nerven, war ausgelaugt, vollkommen kaputt. Er hatte keine Kraft mehr.
Wild tastete der Siebenunddreissigjährige die Oberfläche seines Bettes ab. Hier war nichts. Nur Seide eines verkrumpelten Bettlakens, das seinen rauen Händen nicht gut tat. Feuchtigkeit eines schweissgetränkten Schlafes, die nicht gänzlich von der Auflage aufgesogen wurde. Ihm wurde übel. Schwindlig. Und er war froh, dass er sass und nicht jeden Moment umkippen oder gegen ein Möbel fallen konnte. Niemand lag neben ihm. Sein Bett leer. Er hatte das dringende Bedürfnis, ein nahes Fenster zu öffnen um sich abzukühlen oder - und das war wohl die bessere Wahl - ein Bad zu nehmen, aber es führte kein Weg an frische Natur. Alles, was er von seiner Position aus, in einem sehr dunklen Raum, sehen konnte, waren Sterne. Der Fetzen eines Nebels, der wie eine liebevolle Decke über ihm stand.
Schweiss wischte er mit einem Arm von seiner Stirn und spürte dennoch, dass weiterer noch auf seiner Brust klebte und das T-Shirt damit mit seiner Haut vereinte. Ein leises Brummen spielte sich in konstanter Tonlage in seinem Hinterkopf ab. Konnte es nicht ausschalten, nicht überhören. Es war da. Die Station vermutlich zu laut. Generatoren, die verrückt spielten. "Licht an", brummte er. Froh, keinen Schalter in der Dunkelheit suchen zu muessen. Zögerlich ergoss sich künstliches Tageslicht über den tristen Raum. Blendete ihn. Lies ihn Augen und Gesicht verziehen. Lies ihn leiden.
Den Radiowecker ignorierte er nicht länger. Konnte es nicht. Das Piepen hatte ihn schliesslich geweckt. Aus einem Traum gerissen, an welchen er nicht erinnert werden wollte und der so wenig Sinn ergab wie alle vorherigen. Deshalb machte seine Faust die Begrüssung mit ihm, deaktivierte durch das Panel den Ton und durch einen zweiten Schlag das Radio, dass sich für einen munteren Start des "Tages" bereitmachen wollte. Müde Augen passierten ein einzelnes Bild auf seinem Schreibtisch. Eine Art Andenken. Seine Familie. Eine Rückerinnerung an einen friedlichen Abend ohne den erschlagenden, bitteren Geschmack, der mitsamt Galle nach oben zu kehren drohte.
Gerade so hatte er sich ins angrenzende Badezimmer gerettet. Hatte sich kurz übergeben - ohne lange, vorhergehende Qualen einen nichtexistenten Mageninhalt in die Toilette entlassen und nun den perfekten Anlass gehabt, sich die Zähne zu putzen und kaltes Wasser in ein gezeichnetes Gesicht zu klatschen. Er prustete, bevor er spülte. Spannte die Schultern an und streckte sich im Anschluss. Vigilio Gaius Ascaiath wollte duschen. Sich ein zweites Mal, sicherheitshalber, die Zähne putzen, einen Painkiller einwerfen und dann einfach nur noch den ohnehin schon gepackten Koffer schnappen und verschwinden. Seine Zeit hier war vorbei - und so froh war der Halbitaliener bisher noch nie gewesen, eine Raumstation verlassen zu können.
Einige Tage zuvor
"Wie du siehst gibt es keinen Grund dir Sorgen zu machen. Wir machen nur eben deine Implantatschnittstelle sauber und dann kannst du weiter."
"Das ist scheisse - ich WILL das nicht!", motzte ein unzufriedener Junge und wand den Kopf rasch, abwehrend, von links nach rechts um sich gegen den harmlosen Eingriff zu wehren. Schön war es zwar nicht, aber notwenig und im Vergleich zu dem, was er schon hatte mitmachen müssen, war es eine lächerliche Behandlung. Dennoch wollte er nicht. Der Tropfen, der das Fass beinahe zum Ueberlaufen bringen wuerde. Er rüttelte an der Hand der Behandelnden und wollte sie abbringen und von sich abweisen. Vigilio hatte das schon einmal gesehen, als er unauffällig im Hintergrund stand, die Behandlung begutachtete und stumm auf einem Datapad mit dem Finger bedeutungslose Kreise zog um den Eindruck zu erwecken, wichtige Notizen zu schaffen. Ihm war egal gewesen welches Kunstwerk dort am Ende herauskam - dieses Pad bekam ohnehin niemand zu Gesicht. Er war nur ein weiterer Privatinvestor der wissen wollte - aus erster Hand - wie seine Gelder verwendet wurden, bevor er weitere Credits in den Schlund der Academy werfen würde.
"Lassen Sie mich in Ruhe!", rief der Junge nun, dem gerade ein beträufeltes Wattestäbchen vorsichtig in den Zugang in seinem Nacken geschoben wurde. Einmal glühte er scharf auf, das charakteristische Geräusch eines wirkungslosen Warps reflektierte von den Wänden, richtete aber keinen weiteren Schaden an, als die Ampulle der Betreuerin aus deren Hand und auf den Boden zu schleudern.
Gils Mundwinkel zuckte bei diesem Anblick. Der Junge war resolut, das musste er ihm zugestehen. Er, Rene, war noch nicht lange hier und widersetzte sich dennoch jedweder Behandlung als sei er zur Strafe in den Jugendarrest befördert worden. Wenn die Grissom Academy eines war, dann kein Gefängnis. Es war eine durchaus positive Einrichtung mit einem positiven Ziel vor Augen. Es schaffte, auf einem gänzlich legalen Wege, den Eezo ausgesetzten Kindern eine Zukunft zu schaffen, in denen sie nicht fürchten mussten, bei einer blossen Berührung andere Personen zu gefährden. Der Weg dorthin war selbstverständlich steil und mit genug Arbeit verbunden - nicht nur biotischem Training sondern auch schulischer Ausbildung - aber er führte zu einem Ziel. Vigilio sah dieses Ziel, hiess es durchaus für gut und er konnte nicht sagen, dass er sich unwohl fühlte. Auch nicht vor dem Hintergrund, dass es keine Credits gab, die vom Konto Ascaiath auf das der Academy-Stiftung ueberwiesen wurde und es sich hier auch nicht um eine routinemässige, neutrale Sicht auf Ergebnisse und Methoden handelte. Es interessierte ihn, keine Frage. Aber es war nicht seine Aufgabe. Nicht seine und auch nicht die seiner Leute, die vereinzelt aber unsichtbar in die Schule integriert wurden.
"Gott, Rene...schon wieder?!", seufzte die Frau. "Ich hab Sie gewarnt!" Trotziges, kleines Kind. Gil beobachtete die Frau, fing kurz ihren Blick auf als sie mit einem entschuldigenden Schulterzucken über eben jene hinweg zu ihm sah. Er antwortete mit Charme. Suveränem Glanz. Und lies sich auch nicht nehmen, der Frau auf halbem Wege entgegen zu kommen und auf die Knie zu gehen um ihr die Arbeit abzunehmen Teile der zerbrochenen Phiole mit dem Desinfektionsmittel aufzuheben. "Lassen Sie das ruhig liegen, sie werden sich nur schneiden.", reagierte diese mit dankbarem und hörbar überanstrengten Ton. "Oh.", stellte sie fest, dass Gil schon fast alles aufgehoben und in einer, grossen Hand in eine ein Schritt entfernte Spüle rieseln lies. Er schüttelte seine Hand aus als sei es Varrensekret dass sie benetzte und wischte sie mit einem Einwegtuch aus dem Spender wieder sauber. "Danke. Danke, Vigilio. Das haetten Sie nicht tun müssen.", wirkte die Namenlose direkt entlastet, obwohl sie die Hilfe erst noch abgewehrt hatte und suchte ihren Kittel nach ihrer Keycard ab. "Ich werde kurz neues holen, hoerst du Rene? Bleib - freundlich. Es schadet dir nicht, wenn du fremden Gegenüber etwas aufgeschlossener wirst.", tadelte sie den Jungen und stob mit einem Nicken zur Tür. "Gleich zurück - setzen Sie sich ruhig einen Moment!", widmete sie sich Vigilio direkt im Anschluss und man hörte ihr an, dass es ihr schwer fiel auf die Schnelle zwischen beiden Konversationen und der geeigneten Stimmlage zu wechseln. Die Türe glitt auf und wieder zu. Die Frau verschwand wie angekündigt.
"Hören Sie nicht auf sie. Ist ne dumme Kuh.", knurrte Rene, verschränkte die Arme vor der Brust und würdigte Gil, dem er den Rücken zuwandte, keines Blickes. Trotzig quetschte er sein Gesicht in den eigensgebauten Schutz seiner Unterarme und zog die Unterlippe zu weit vor.
Vigilios Griff glitt unter sein Kenzo-Sakko. Es sah aus, als wolle er es richten, als er am Revers zupfte und dabei nicht zufällig einen innenliegenden, verdeckten Knopf drückte, der ein stummes Signal sandte. Keine sonderlich grosse Arbeit die sich schnell erledigen lies und den Halbitaliener daraufhin dazu trieb, näher an den Jungen heran zu treten. Er lächelte. Charmant wie immer, aber eine Prise freundlicher als er es sonst tat. "Seit wann bist du hier?", wollte er von dem Jungen wissen und nahm eindeutig den Stand des 'guten Cops' ein, wo die Behandelnde den 'bösen' Part schon ohne sein Zutun inne hatte. "Vier Monaten.", murrte er. Unzufrieden. Genervt. Nah an den Tränen. Er war eigentlich zu jung um hier zu sein. "Hmm...", raunte Vigilio verständnisvoll, drehte den Bürostuhl an der Lehne und setzte sich, kindgerecht, falschrum darauf, auf Augenhöhe, als wäre er selbst nur ein Junge, der mit ihm reden wollte. "...ich kann verstehen, dass du nicht hier sein willst." "Achja? Was wissen Sie schon.." "Ich bin auch nicht unbedingt gern hier.", log er, verzog dabei das Gesicht. Das reichte dem Jungen um den Britaliener anzusehen. "Ziemlich weit weg von zu Hause und..naja, das Essen ist ziemlich mies.", grinste er ihm verständnisvoll entgegen. "Jaah. Und nicht mal Videospiele." Ein kurzes Lachen. "Und wie sind die andern hier so? Behandeln die dich gut?", heuchelte er Interesse. "Hm..", zögerte der jüngere, "...nein. Ich bin denen zu jung und zu schwach. Hier behandelt mich jeder Idiot als wär ich ein Baby!". Der Junge wurde wütend. Gil las seine Emotionen von seinem Gesicht als sei es er ein Buch. "Weisst du...", leitete Gil ein. "...ich hab 'ne Tochter in deinem Alter.", und log wieder ohne mit der Wimper zu zucken. "Auch Biotikerin, so wie du. Ich bin sicher ihr würdet euch gut verstehn - sie ist mittlerweile 14 und hat damals genau das selbe Gesicht gezogen wie du. Aber soll ich dir was verraten?" Gils Lügen leitete er in eine mysteriöser wirkendere Ecke wirrer Fantasien, die für ein so junges Kind wie der Griff zu den Sternen sein musste. Dafür wurde seine Stimme leiser und geheimnisvoller. Er blickte dem Jungen direkt in seine braunen Augen. Als wäre es ein Geheimnis, dass nur zwischen ihnen beiden bleiben durfte. "Sie ist jetzt die stärkste Biotikerin die ich kenne. Willst du wissen, wie sie das geschafft hat?"
Rene nickte. Seine Augen weiteten sich interessiert. Man sah ihm an, dass er immens hoffte, dass die Antwort nun nicht sowas schnödes wie 'Disziplin' sein würde. Dass es etwas sein würde, womit er sich tatsächlich verbessern oder zumindest gegen die anderen Kinder behaupten konnte, die ihn als Baby betitelten. Damit hatte Gil ihn an seinen Lippen kleben. "Das bleibt aber unser kleines Geheimnis". Er grinste beinahe schmierig. Nahm die Rolle des zwielichtigen Typen an, der mit dem Eiswagen kleine Kinder anlockte um sie zu entführen. Wusste, wie krank es aussehen musste.
"Nur ein kurzer Stich - und du kriegst sie alle dran, das schwöre ich dir."
Aber wusste auch, dass es keine andere Lösung gab. Dass er handeln musste.
"Wirklich?"
Es.
Gab.
"Wirklich."
Keinen.
"Alles was du tun musst.."
Anderen.
"...ist schweigen."
Weg.
"Und weiter tun, was Miss Eldrige dir sagt."
Noch ehe er fertig dachte, war seine Hand ein weiteres Mal unter sein Sakko verschwunden und zog eine Spritze heraus. Er wartete nicht, sondern stach die kurze Nadel direkt in die Biotik-Schnittstelle des Kleinen, während er ihn mit der Linken geradehielt. Er drückte den Kolben, bis er leer war und die Flüssigkeit irgendwo in seinem Nacken verschwunden war. Und flüsterte in sein Ohr: "Du wirst der Grösste von allen werden. Vertrau mir."
Die Spritze verschwand, er lies den dämmrig dreinblickenden Jungen los, blickte auf und in die Sicherheitskamera. Nickend. Nochmals unter das Sakko gegriffen drückte er ein weiteres Mal den Knopf. Dann sprang er auf, stürzte zur Tür und der Junge kippte nach hinten auf die Liege um. "Miss Eldrige! Anna!", rief Gil in gespielter Panik in den Gang und drückte den Notfallknopf am Ausgang der Türe..
Heute.
Die Dusche hatte lange gedauert. War ausgiebig gewesen. Er hatte keine Eile mehr. Wusch sich präzise und lange, lies das Duschgel lange schäumen, wählte eine schnelle Nassrasur und stellte das Wasser nach einer gefühlten Ewigkeit ab. Seine Haut brannte krebsrot von der Hitze, die er nicht bemerkt hatte. Die ihn nicht gestört hatte. Bis jetzt, als er, summend, um das Brummen zu übertönen, mit dem Frottee das Nass von seinem Körper rieb und sich anschliessend umzog. Zurück in einen perfekt sitzenden, teuren Anzug, den er sich am Vorabend herausgelegt hatte. Den er einschläfernd langsam anzog, das Quetschen seines Magens ignorierte und sich für seinen letzten Handgriff vor einen der grossen Spiegel stellte, um sich seine Kravatte zu binden. Routiniert schwang er das Textil in einen Winchesterknoten, blickte auf und sah sich selbst in die Augen. Sich richtig an. In sein Grün.
"Ich tu' das alles nur für euch.", versicherte er sich selbst und nicht zuletzt einer Tochter, einer Ehefrau und einer Schwester. Sein Blick wurde klarer. Konzentrierter, als er ausatmete und froh um die doppelte Zahnhygiene war. Seine Linke angelte nach dem Bild auf dem Nachttisch, dass er sich in die Brusttasche schob und die Rechte nach dem Griff seines Koffers, bevor er sein Zimmer verlies und nie wieder betrat.
Vor der Türe wartete eine schöne, blasse Blondine in einem professionellen, smarten Outfit und ein bulliger, dunkler Mann in einem passend smarten Anzug. Liz Lopez und Donal Harlington.
"Gehen wir."