Home Risen Risen2 Risen3 Forum English Russian

Registrieren Hilfe Kalender Heutige Beiträge
Ergebnis 1 bis 2 von 2
  1. #1 Zitieren
    Mythos Avatar von Gothic Girlie
    Registriert seit
    May 2008
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    8.053
    (Ich habe die Geschichte etwas verändert. Hier ist nun alles in einem Post.)
    Gothic Girlie ist offline Geändert von Gothic Girlie (04.10.2015 um 13:13 Uhr)

  2. #2 Zitieren
    Mythos Avatar von Gothic Girlie
    Registriert seit
    May 2008
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    8.053
    Calador trug nicht immer schon diesen Namen. Es gab eine Zeitspanne, in der sie nebelverhangen war, voller Urwälder und Seen wie Smaragde. Esmeralda hieß sie damals, die grüne Verheißung. Schon damals war sie berühmt für ihre edlen Steine, und die natürlichen Schätze der bergigen Insel zogen viele Abenteurer an, später auch Händler und Seefahrer. Und natürlich… Pack.
    Esteban rechnete sich zu Letzterem, daran war nichts zu ändern. Verjagter Lehrling eines Rüstmeisters und Schiffsjunge ohne Lehrvertrag, der er war, musste er nur einen Blick auf ihre waldigen Hänge und das strahlende Morgenlicht auf ihren grau-roten Stränden werfen – und es war um ihn geschehen – und er zog als ehemaliger Schiffsjunge mit einer Zimmermannsaxt und einem gestohlenen Sack voller Schiffszwieback, Rüben, Schinken und zwei Flaschen Bier in ein schattiges Tal auf Esmeraldas Westseite. Die Insel war noch beinahe unbewohnt, und er traf auf keine Menschenseele. Auf der halben Höhe eines Berghangs griff ihn einer der fleischigen wehrhaften Laufvögel an, die es auf Esmeralda gab. Er brüllte, ließ den Sack fallen und stürzte sich mit der Axt in der Faust auf ihn. So fand er sein Abendessen. Wenig später kam er zu einem großen Apfelbaum, der voller saftiger, reifer, roter Äpfel hing und beschloss, hier die Nacht zu verbringen und von diesem Ort aus am nächsten Tag die Gegend zu erkunden.

    Esteban saß vor seinem kleinen Feuerchen, satt von dem saftigen Fleisch des Laufvogels und aß einen Apfel. Das letzte Licht der Sonne war nur noch auf den obersten Bergspitzen als goldener Glanz zu sehen. Die Felsen glitzerten an manchen Stellen, und er beschloss, sich das bald mal genauer anzusehen. Während er versuchte, sich in der nun grauen Dämmerung zu merken, wo er den Glanz gesehen hatte, wanderten seine Gedanken…
    Robert, der Rüstmeister, war den ganzen Tag lang schon übler Laune. Er hatte einen großen Auftrag über zwölf Lederharnische angenommen, und aus Beflissenheit gegenüber dem hochgestellten Auftraggeber keine Anzahlung für das Material verlangt. Nun war er verschuldet, und die letzte Rüstung war noch nicht fertig, obwohl morgen, am Johannestag, der Kunde wiederkommen und die Ware abholen wollte. Seit dem Morgengrauen hatte er Esteban herumgescheucht und angeknurrt: hol die Holzkohle hier, und richte den großen Wasserkessel dort, sind die Nieten noch nicht abgeholt, was guckst du nach dem Brot, geh erst noch mal Draht kaufen und vergiss die Beize nicht! Der Meister erklärte an diesem Tag Esteban nichts, und ließ in keine Pause machen. Gegen Abend war die Rüstung fast fertig. Der Meister hieß Esteban, sie einzufetten und steckte sie dann auf ein Gestell neben dem Feuer. Über dem Feuer hing ein Topf voller Teer, mit dem der Meister die Kisten abgedichtet hatte, in denen die fertigen Rüstungen transportiert werden sollten. Esteban war müde, hungrig und durstig. Er sollte dann noch die Werkstatt kehren, während der Meister schon im Haus beim Abendessen war. Da stieß er beim Kehren rückwärts das Gestell mit der Rüstung um, und sie fiel ins Feuer und riss den Topf mit dem Teer mit in die Flammen. Eine riesige stinkende Flamme stieg auf, und die dünneren Lederstücke an der Rüstung brannten sofort. Esteban zog sie noch heraus aus den Flammen, verbrannte sich die Hand dabei, doch die Rüstung war nur noch ein teerverklebtes, verbogenes, verdorbenes Wrack. In dem Moment kam der Meister aus dem Haus, der den schwarzen Qualm gerochen hatte. Er verfluchte Esteban und jagte ihn mit dem Besen aus seiner Werkstatt fort…
    Esteban floh zum Hafen und versteckte sich dort auf dem Dachboden der Hafenkneipe. Müde und hungrig schlief er ein, ein nasses Tuch um seine verbrannte Hand gewickelt. Am Morgen sah er den Auftraggeber der Rüstungen dort einkehren und hörte ihn später prahlen, wie er beim Rüstmeister den Preis für die elf Lederrüstungen weit gedrückt hatte, weil die zwölfte Rüstung nicht fertig war. Esteban erschrak. Sein Meister konnte an den Rüstungen so kaum etwas verdient haben, und es steckten viele Tage voll harter Arbeit in den Rüstungen. Er gab den Gedanken auf, zurückzukehren und den Meister um Verzeihung zu bitten und heuerte auf dem Schiff an, mit dem der Auftraggeber gekommen war.

    Am nächsten Tag und weiter oben am Berg fand Esteban die glitzernde Stelle nicht wieder, die ihm am Abend zuvor so verheißungsvoll erschienen war. Er war nun oberhalb der Baumgrenze, und der Wind pfiff zwischen den dunklen Felsen. Die Kälte hier oben ließ aus der feuchten Meeresluft Fetzen von Nebel entstehen, und zwischen den Felsen wuchsen überall Polster von sattgrünem Farn, Moose und kleine Blüten. Er kam zu einem klaren Bach, da sah er sie: einen Trupp Edelsteinwäscher. Ausgemergelte Männer verschiedenen Alters in ausgebleichter Kleidung standen sie gebückt hintereinander, knietief im eiskalten Wasser des Baches. Er rief ihnen einen Gruß zu, und sie umringten ihn neugierig. Esteban sah in sonnengebräunte, bartstoppelige Gesichter. So abgerissen ihr Äußeres war, so wirkten sie auf ihn doch rechtschaffen – auf eine raue Weise. Sein Proviant war hoch willkommen, und sie nahmen ihn dafür in ihren Trupp auf. Luis, ein magerer, etwas verbitterter Mann, trat ihm im Tausch gegen eine Bierflasche eine Waschpfanne ab und zeigte ihm gegen die zweite Flasche, wie er damit umgehen musste. Esteban blieb ein paar Wochen bei den Edelsteinwäschern, und fand einige schöne Steine. Er verbarg die meisten von ihnen vor den anderen Männern in einem Gürtel mit geheimen Taschen, den er noch damals, beim Rüstmeister, genäht hatte. Die Edelsteinwäscher stiegen abwechselnd zu den wenigen Höfen hinab, die es an der Westseite von Esmeralda gab, um Proviant zu kaufen. Manchmal tauschten sie auch Proviant gegen die kostbaren Steine, aber meistens war es besser, zuerst die Steine an fahrende Händler zu verkaufen, welche auf der Insel im Auftrag einiger Handelskapitäne umherzogen. Eines Tages, als die Reihe an Luis gewesen war, Proviant zu kaufen, kam er mit einem Jäger zurück. Der Neue war ganz in dunkles Leder gekleidet, und die Luft um ihn schien zu vibrieren, wie Staub in der Sonne. Luis‘ fand immer neue Gründe, seine Arbeit zu unterbrechen und mit dem Jäger am Feuer rumzuhängen.
    Bis dahin waren die Edelsteinwäscher auch abwechselnd jagen gegangen, was eine willkommene Abwechslung gegenüber dem gebeugten Stehen im kalten Bachwasser war. Aber der Jäger war wirklich gut, und ihr Speiseplan wurde abwechslungsreicher. Gegen ein paar der bunten Steine zeigte er Luis und Esteban das Bogenschießen. Allerdings war er leider auch ein Dieb. Esteban geriet mit ihm aneinander, als er ihn eines Tages dabei erwischte, wie er einen mandelförmigen Rubin herumzeigte, von dem Esteban wusste, dass es seiner war. Es konnte unmöglich von dieser ungewöhnlichen Form zwei gleiche Steine geben. Noch dazu waren Rubine sehr selten. Außer Esteban hatte niemand bisher einen Rubin gefunden.
    Esteban konfrontierte den Jäger: „Wenn deine Finger noch einmal berühren, was mir gehört, dann nehme ich sie als Köder für die Forellen. Und glaub‘ nicht, dass das einen der Männer hier den Schlaf kostet. Wir haben dich gut bezahlt, aber damit ist jetzt Schluss. Verschwinde!“ So warf er ihn aus dem Lager. Der Kerl schlich noch einige Tage um sie herum, stahl einen Schinken und zwei Decken, bis Esteban ihn bis zum Fluss jagte und schließlich hineinstürzte. Die Strömung riss den Dieb mit sich fort, und Esteban kehrte zu ihrem Lager zurück. Luis war seit dem Tag verändert, er vermisste den Jäger, auch wenn er im Streit um die Steine nicht seine Partei ergriffen hatte. Die Edelsteinwäscher stellten Esteban nun zu ihrem Schutz an, denn es kamen bald öfter merkwürdige Menschen in die vormals einsamen Berge. Die Wäscher bezahlten ihn in Steinen – und mit einer Mahlzeit am Tag. Esteban war froh, jeden Tag warm zu essen, ohne dass er ständig im Wasser stehen und sich den Rücken krumm machen musste. Er griff nun nur noch gelegentlich zur Waschpfanne. Er organisierte abends Kämpfe unter den Männern, kämpfte selbst am meisten mit, bis keiner mehr gegen ihn antreten wollte, und zog nebenbei ein Wettgeschäft auf.

    Eines Tages kam ein Händler vorbei, der wirkte anders als die früheren. Zum einen war er mit erstaunlich wenig Gepäck unterwegs, und zum anderen war er sehr gut bewaffnet. Er besaß nicht nur einen Säbel aus wirklich exzellentem Stahl, und eine große, mit geätzten Jagdszenen verzierte Armbrust, sondern trug auch noch verschiedene Messer im Gürtel und eine Wurfklinge im Band seines breitkrempigen Hutes. Esteban war er von Anfang an nicht geheuer. Das Befremdlichste war aber die Lederrüstung, die er bei diesem Mann unter dem Umhang entdeckte, und zwar genau eine der elf Rüstungen, an deren Entstehen Esteban mitgewirkt hatte. Der Fremde sah jedoch völlig anders aus, als der Auftraggeber damals (oder einer seiner Begleiter) und sprach auch völlig anders, so, als sei er von einer ganz anderen Insel.
    Esteban erinnerte sich, dass sie bei den Rüstungen ein kleines Papierfach eingebaut hatten, das von der Außenseite der Rüstung nicht zu sehen war, und eines Abends sprach er den Fremden darauf an, wie es ihm gefalle, ob es sich bewährt habe und ob es leicht zu bedienen sei und groß genug. Der Fremde hatte keine Vorstellung, wovon Esteban sprach und mied ihn ab diesem Zeitpunkt. Esteban versuchte, bei den Edelsteinwäschern über sein Misstrauen, dem Fremden gegenüber, zu sprechen, aber sie wollten nichts davon wissen. Der mit dem breitkrempigen Hut hatte ihnen von einer wirklich sagenhaften Schürfstelle auf der anderen Seite der Insel erzählt. Er versuchte, sie anzuwerben, dass sie mit ihm dorthin zögen und bot ihnen gleichzeitig sehr gute Preise für ihre Edelsteine. Die meisten zogen schließlich mit ihm los, Luis war auch dabei.
    Am Abend riefen die restlichen Edelsteinwäscher Esteban zu sich: „Dein Lohn muss nun von uns dreien aufgebracht werden, wo wir vorher zu zehnt waren… nimm‘s nicht krumm, aber das passt nun nicht mehr. Du kannst natürlich weiterhin bei uns bleiben und als Wäscher arbeiten, so wie wir.“ Esteban lehnte ab. Er hatte seine Steine dem Fremden nicht gezeigt. Er packte sein Bündel und trieb sich noch ein bisschen in der Gegend herum, weil er dachte, er könnte vielleicht doch noch diese glänzende Stelle im Fels finden, die er am ersten Abend gesehen hatte. Dabei entdeckte er, wie sehr die Insel bereits verändert war. Es gab nun eine Mine in der Nähe des Apfelbaums und eine richtig feste Brücke über den reißenden Strom, der bis dahin die Insel wie der Schnitt eines Messers in zwei Teile getrennt hatte. Im Umfeld der Mine war der Wald gerodet und der braun-schwarze Abraum ergoss sich wie eine rostige Lawine talwärts. In dunklen Pfützen stand eine trübe Brühe, wo vorher klare Tümpel mit glitzernden Tropfen und wimmelnd voller kleiner Lebewesen zu sehen gewesen waren. Esteban wandte sich angewidert ab. Ein zweites Mal kletterte er den Westhang hinauf, dieses Mal auf einer anderen Strecke.
    So fand er sie dann. Alle Steinwäscher, mit denen er die letzten Monate verbracht hatte: sie lagen tot um eine Feuerstelle, zwei oder drei hatten sich vielleicht gewehrt, aber die meisten lagen wie schlafend und immer noch in ihre Decken gewickelt. Er fragte sich später oft, ob der Fremde Komplizen gehabt hatte, oder ob er ihnen allein im Schlaf die Kehlen durchgeschnitten hatte. Bis dann Enno und… das war wohl Joschi… aufgewacht waren und zu den Messern gegriffen hatten. Aber es hatte ihnen nichts genutzt. Sie lagen verdreht zwischen den scheinbar Schlafenden, die Hände mit den Waffen ausgesteckt, auf dem Bauch, und waren so tot, wie die anderen auch. Nur Luis war noch am Leben, wenn er auch kaum noch atmete. Ein Armbrustbolzen steckte zwischen Achselknochen und Schulter und ein zweiter in seiner Seite.
    Esteban schleppte und zog ihn mühsam bergab. Mehr als einmal dachte er, Luis sei inzwischen gestorben, so gering waren seine Lebenszeichen. Er sprach mit ihm, spornte ihn zum Durchhalten an, versprach ihm gegrillte Schweinehaxen und kühles Bier, drohte ihm sogar, wenn er dachte, Luis könnte ihm einfach so in den Tod wegsacken. Eigentlich hätte er lieber den Mörder verfolgt, aber er wollte Luis nicht im Stich lassen. Schließlich erreichte er heiser und erschöpft einen der Höfe. Er gab dem Bauer Luis‘ letztes Gold für ein schmales Bett und ein paar Stücke sauberes Leinen und säuberte vorsichtig Luis‘ Wunden. Dann legte er sich vor dem Bett auf den Boden. Er war so erschöpft, dass er sofort einschlief.
    Weil der Bauer täglich über seine beiden unproduktiven Gäste nörgelte, hatte Esteban die Befürchtung, er könnte Luis‘ Gold vergessen haben und ihn aus dem Haus werfen, sobald er, Esteban, nicht mehr da sei, ihn zu schützen. So fing er an, für den Bauern zu arbeiten, half ihm, Zäune zu reparieren und fertigte für ihn eine schöne Gürteltasche an, mit einem eingebrannten Bild von seinem Hof.
    Esteban hatte genug von Esmeralda. Als Luis endlich gesund war, verließ er mit ihm die Insel und kehrte nie zurück. Er bekam es nicht mehr mit, wie sie in den folgenden Jahren weiter von Minen durchzogen wurde und wie sie in Mode kam: wie die Reichen auf jeder Anhöhe stattliche Anwesen bauten, die angeblich dort schon immer gestanden hätten. Er hörte später davon, dass eine der Kohleminen in Brand geraten sei und dass die Insel nun nicht mehr grün sei. Ein Vulkan sei ausgebrochen, und Lava habe sich durch die Abraumhalden und die giftigen schillernden Pfützen bis in das schäumende Meer ergossen. Aber die meiste Zeit dachte er nicht mehr an Esmeralda. Er und Luis suchten noch eine Weile die anderen Inseln der Ejsenstejnsee nach dem fremden Mörder ab, aber dessen Spur verlor sich irgendwann auf einer der Eingeborenen-Inseln.

    Esteban und Luis ließen sich schließlich auf einer anderen Insel mit einer kleinen Hafenstadt nieder. Esteban verkaufte seine Edelsteine nach und nach, trieb etwas Handel und belebte wieder sein Schutzgeschäft, und es dauerte nicht lange, da war er d e r Esteban, der D o n. Er baute sich ein präsentables Haus am Hafen, das bald für seine exquisiten Gastgeberinnen berühmt wurde. Luis gründete ein Lager im sumpfigen Hinterland. Er war noch griesgrämiger geworden und begann zu trinken.
    Nun, eines Tages, die Raben also. Esteban kam zurück vom Hafen, wo er eine Lieferung Rum in Empfang genommen hatte. Rum – das war immer Chefsache. Er tat, als sei es ihm wegen des Rums so wichtig, mit den Kapitänen zu sprechen, aber in Wirklichkeit ging es ihm um Neuigkeiten: die Piraten zahlten mit barer Münze für Informationen über die bewaffneten Schiffe der verschiedenen Handelsflotten. Und plötzlich stutzte er und sah ungläubig nach oben, denn statt der üblichen Möwen war der Leuchtturm am Hafen plötzlich schwarz vor Raben. Es war ein riesiger Schwarm, und das ungewöhnliche Krächzen ihrer vielen heiseren Stimmen hallte von den Häusern zurück und zehrte an seinen Nerven. Er blickte nach ihnen, bis ihm der Hals steif wurde. Die Raben jagten die Möwen, verfolgten sie, rissen sie mit ihren Krallen aus der Luft und schlugen nach ihnen mit ihren schweren, glänzenden schwarzen Schnäbeln. An diesem Tag verabschiedete sich die Sonne in einem feuerroten, noch lange in den hohen Wolken nach glühendem Sonnenuntergang.

    Nach diesem Abend kam nur noch ein einziges Schiff. Am Tag nach dem besonderen Sonnenuntergang hatte die Erde gebebt und danach tobte ein großer Sturm drei Tage und zwei Nächte lang. Estebans Haus war solide genug gebaut, um beidem zu widerstehen. Jedoch hinter dem Lagerhaus der Südstadt kam eine gewaltige Gesteinslawine herunter und begrub unter sich eine Reihe von Bürgerhäusern, die auf der felsigen Höhe gestanden hatten. Als nun die Stadtwachen und die meisten Bürger dort am Aufräumen waren, legte plötzlich ein Kriegsschiff im Hafen an und eine große Anzahl weißgekleideter Soldaten ging von Bord. Esteban, der gerade mehrere zersplitterte Balken beiseite geräumt hatte, um zu sehen, ob darunter noch ein lebender Mensch wäre, wurde von seinen Männern getrennt und entwaffnet. Überhaupt waren die Weißen nicht zum Helfen gekommen. Sie besetzten die Kommandantur der Stadt, und fortan galten nur noch ihre Regeln. Sie setzten Esteban in der Kommandantur fest und fragten ihn über die Insel aus. Esteban jedoch schwieg. Eines Abends, als seine Wachen sein Gefängniskabuff auf dem Treppenabsatz öffneten, um ihm einen Teller Fischsuppe hineinzureichen, warf er ihnen seine Strohmatratze entgegen, hechtete die Treppe hoch und sprang mit einem riesigen Satz über die Stadtmauer auf die nahen Felsen. Dann machte sich auf, zu Luis in den Sumpf. Dort fand er die meisten seiner Männer wieder, die auch nicht in der Stadt hatten bleiben wollen. Den Führer der Weißen, den sie den Inquisitor nannten, hatte er nur einmal, von weitem, gesehen. Seine Art zu gehen kam ihm vage bekannt vor, aber er erinnerte sich einfach nicht, wo er ihn bereits einmal gesehen hatte…

    Teure Kartoffeln

    Hier nennen sie mich Hemlar. Das ist nicht mein richtiger Name, aber das spielt keine Rolle. Hier wissen sie auch nicht, dass ich von Taranis bin, nur der Inquisitor weiß das, der ist auch von dort. Ich gäbe viel darum, nicht zu wissen, dass er von meiner Insel stammt – so wie ich überhaupt gerade viel dafür gäbe, ihm nie begegnet zu sein – und vielleicht geht es ihm ja ähnlich, jedenfalls habe ich Angst vor ihm, seit ich weiß, dass er mich erkannt hat. Ich war noch ziemlich jung damals, als ich ihn am Haus in der Nähe des Sees fand, vor mehreren Jahren war das, nachdem er von den Pilzen gegessen hatte. Ich weiß nicht genau, was im Haus passiert war, nur, dass die Erwachsenen sagten, das Haus sei schon immer verflucht gewesen, und ich soll nicht hingucken. Meine Eltern fanden für mich am nächsten Monatsersten einen Kapitän, der mich in seiner Mannschaft mitnahm, um mich auszubilden. Ich wollte ein Wächter werden, wie mein Vater, und gleichzeitig zur See fahren. Die See habe ich immer schon geliebt.
    Doch vieles ist seither passiert, und ich bin sicher nicht auf dem Weg, ein Wächter zu werden. Wenn ich nicht sehr aufpasse, dann bin ich auf dem besten Weg, ein toter Mann zu werden, und das ist alles Harlocks Schuld. Doch…
    Wo war nochmal der Hebel für den Keller, ich muss dringend unserem Alchemisten noch diese Kräuter bringen – das Schiff, mit dem mich meine Eltern aussandten, um als Kadett meine Karriere zu beginnen, war keine drei Tage unterwegs, dann wurde es von Piraten überfallen. Und so wechselte ich von der Sonnen- auf die Schattenseite des Lebens. Harlock, ihr Koch, nahm mich unter seine Fittiche. An dem Tag, als ich bei ihm anfing, nahm ich den Namen Hemlar an, denn ich dachte damals noch, ich könne irgendwann bei den Piraten abhauen und wieder nach Taranis zurückkehren. Dann wollte ich nicht mehr mit den Piraten in Verbindung gebracht werden. Zuerst jedoch ließ mich Harlock gefühlte zehn Wochen lang jeden Tag Unmengen an Zwiebeln und Kartoffeln schälen. Dann brachte er mir einiges über Kräuter bei, er kennt sich wirklich gut damit aus. Und dann lehrte er mich einige seiner Eintöpfe. Wenn Harlock kocht, dann entsteht nicht einfach Essen. Harlock ist ein Künstler. Er kocht den besten Eintopf der Welt.
    Nun ja. Ich bin also einige Jahre mit den Piraten zur See gefahren. Und es kam, wie es halt irgendwann kommen musste, es gibt sehr wenige alte Piraten. Unser Schiff wurde von einem Kriegsschiff der Inquisition aufgebracht. Harlock und ich hatten bei der Seeschlacht nicht mitgekämpft, denn der Käpt’n hatte uns am Tag vorher in Eisen legen lassen. Harlock hatte in der Trinkschokolade des Kapitäns einige gemahlene Schaben mitgekocht, weil ihn der Käpt’n immer so früh geweckt hat. Blöderweise fiel dem Käpt’n das mit den Schaben aber auf, weil die Beine der Schaben beim Mahlen nicht kaputtgegangen waren und ihm am Boden seiner Trinkschokolade fies entgegenlachten.
    Wir lagen also in Ketten, während sich auf dem Schiff Piraten und die Krieger der Inquisition gegenseitig die Hälse umdrehten, und das rettete uns das Leben. Trotzdem ließen sie uns nicht frei, sondern schafften uns hierher, in dieses Kloster. Zuerst hat mich auch der Inquisitor nicht erkannt. Er war mit auf dem Schiff, und ich war sehr erstaunt, ihn am Tisch des Kapitäns der Inquisition zu sehen. Nach allem, was der auf Taranis angerichtet hatte, hätte ich ihn eher am Ruder erwartet. Angekettet, wenn ihr versteht, was ich meine. An Händen u n d Füßen. Aber er sitzt da beim Kapitän, speist Trauben und Nüsschen an Wachteln und befiehlt, was sie mit uns machen sollen. Verkehrte Welt.
    Also haben sie uns hier in dieses Kloster gebracht. Hier kannst du nicht einfach abhauen, da brichst du dir den Hals, wenn du es versuchst. Das verd… Kloster steht mitten auf einem einzigen großen Felsen. Und an allen Seiten geht es komplett tief runter, so eine Landschaft hab ich überhaupt noch nicht gesehen bis jetzt. Du guckst über die Mauer am oberen Hof und dann denkst du, du bist auf einem Wolkenschiff. Du siehst noch nicht mal Bäume, außer so tief unter dir, dass du denkst, das sind Grashalme.
    Wie auch immer. Jetzt bin ich ja auch schon ein bisschen länger hier. Habe inzwischen ein paar ganz wertvolle Geschäftsbeziehungen geknüpft, Harlocks Kräuterwissen war mir wirklich ganz nützlich dabei. Und dann kommt plötzlich der Inquisitor aus den oberen Gemächern und ich sehe ihn nicht kommen und laufe mit einem Sack Kartoffeln auf der Schulter direkt in ihn rein… Und er schaut mir voll ins Gesicht, und mit einem Mal sehe ich, wie er mich erkennt…

    Alle Feuervögel an einem Tag

    Damals, als Esteban und Luis die Spur des Mörders auf einer Urwald-Insel der Kila verloren, waren sie nicht die einzigen, die ihn gesucht hatten. Jahre später erzählte die alte Wakane:
    „Und ihr fragt mich, wie das gekommen ist, das mit diesen komischen Tempelruinen und diesen ekelhaften Viechern. Also, ich denke, das hat schon alles auch mit den Menschen zu tun. Sie sammeln nicht mehr Beeren und Muscheln, sie jagen nicht mehr Wölfe und Wildschweine. Sie sind nicht mehr glücklich über ein schönes, fruchtbares Tal. Heute zum Beispiel kam einer, der hat an einem Tag alle Feuervögel dieser Insel getötet. Wie kann ein einzelner Mensch so etwas tun? Alle Tiere einer Art zu töten? Hat er keine Ehrfurcht vor dem Schöpfer? Hat er keine Gnade im Herzen, keine Augen im Kopf, glaubt er, dass er ewig lebt?
    So kann man aber nicht leben, das weckt die alten Mächte auf. So einer kann nicht mehr schlafen, denn er hat keinen Anteil mehr an der Welt der heilsamen Erholung. Solch einer ist ein Getriebener… Die Erde selbst, die See, der Himmel werden ihn strafen.
    Ihn und seine Nachkommen, ihn und seine Brüder ohne Maß und Liebe. Geht hin, meine Kinder und flüstert die alten Worte der Macht. Geht hin, und findet ihn. Ich will sein kaltes Herz…“

    Er hat nach Rubinen gefragt…

    Elly und Lou führten seit drei Jahren den kleinen Schmuckladen in Valegucho Viejo hinter dem alten Affenbrotbaum am Marktplatz. Sie hatten sich bisher allen Problemen gewachsen gezeigt, die ihnen ihr großer Bekanntenkreis und ihre Freunde prophezeit hatten. „Weil es in Valegucho so wenige Frauen gibt“, hatte die dünne Madame Toledor gemeint, „niemand wird bei euch etwas anderes kaufen, als dicke silberne Halsketten.“ Sie spreizte den kleinen Finger ab und nahm einen winzigen Schluck aus ihrer vergoldeten Kakaotasse. Dann wandte sie sich wieder ihrem Gönner zu, der sie in die Hafenkneipe eingeladen hatte. Heute war es Oskar. „Wartet erst mal, bis jemand euch für Schutzgeld angeht“, brummte der dicke Korbverkäufer. Bernand, der Sohn des Fischverkäufers, schwieg und lächelte. Er lehnte in der Ecke und mischte seine Karten. Vielleicht mischte er sie auch nicht… in der Hafenkneipe wusste man nie so genau, wie die Karten gemischt waren, und Bernand war bei den meisten Spielchen dabei.
    Eines Tages kam Nahuar, Lous alter Freund und Koch der Hafenkneipe, unerwartet von einer Geschäftsreise nach Hause und knöpfte sich Bernand vor. Nahuar war ein Urgestein von einem Mann, schweigsam, wettergegerbt, mit dicken, sehnigen Unterarmen und Fäusten wie kleinen Rumfässern. Von diesem Tag an wechselte Bernand die Straßenseite, wenn ihm Elly oder Lou begegneten. Nahuar ließ sich öfter mal sehen, und Nahuar war „bad news“. Er war so sehr „bad news“, dass Rigulf, der Seilmacher, seinen Besuch in dem kleinen Juwelenladen vorher bei Nahuar ankündigte, indem er ihn auf einen Grog einlud. Nahuar selbst war nie im Laden. Wenn er nicht „auf Geschäftsreise“ war – was immer das hieß, bei einem Koch, der in der Hafenkneipe hauptsächlich Muschel- und Hummersuppe anbot – hing er mit den Fischern oder Hafenarbeitern herum.
    Der kleine Schmuckladen ging gut. Und die Kämpfer der Garnison und die anderen Männer in Valegucho kauften erstaunlich hübsche, grazile und teure Stücke, die später nie mehr jemand in Valegucho Viejo sah… offensichtlich funktionierte irgendein Postsystem zwischen den Inseln der Ejsenstejnsee. Aber natürlich gab es bei Elly und Lou auch „richtigen“ Männerschmuck: Siegelringe mit einzelnen, großen Steinen, dicke Ketten aus jedem Metall, mit und ohne die Zähne und Krallen wilder Tiere, und ja, nun ja, unter der Theke gab es auch Ringe für mehrere Finger. Dafür brauchte man aber eine Empfehlung. Und zwar besser nicht von Nahuar, der hasste das Zeug. Für Seeleute, Fischer und Jäger bot der Laden die Möglichkeit, für besondere Steine, Trophäen und Perlen bessere Preise zu erzielen als bei den anderen Händlern, die alles pauschal pro Stück oder Gewicht kauften.
    Es gab auch eine besondere Gruppe von Kunden, die waren jedes Mal Stadtgespräch, wenn sie den Laden besuchten, und das waren „diese Voodoo-Hexen“. Doch niemand, darüber waren sich alle einig, war so merkwürdig wie der Fremde mit dem hellen, breitkrempigen Hut…

    Es war, noch bevor die Stürme begonnen hatten. Lou war im Ort, einkaufen, und der Laden war noch geschlossen. Elly fegte das Pflaster, auf der Stufe zum Laden stand der Putzeimer. Da kam ein Mann mit einem dunklen Umhang und einem hellen, runden, breitkrempigen Hut die Straße vom Hafen herauf. Als er vor dem Laden angekommen war, fasste er Elly kurz ins Auge und ignorierte sie dann. Er trat den Putzeimer beiseite und betrat den Laden. Dann schlug er laut mit einem Stock an die Treppe zum Obergeschoss.
    Elly war ihm in den Laden gefolgt. Sie hatte wahrgenommen, dass seine Kleidung und Bewaffnung ihn aus der Menge heraushob. Sie tastete nach dem kleinen, scharfen Küchenmesser in ihrer Schürzentasche und ließ die Ladentür offen. „Wir öffnen normalerweise nach Mittag“, sagte sie im Rücken des Fremden. Er drehte sich um, musterte sie. „Ich brauche Rubine. Nur die besten.“ Elly ging hinter die Theke und zog den verborgenen Drahtzug. Im Obergeschoss fiel ein metallener Blumentopf in den Hinterhof – und rollte durch eine Rinne bis hinunter in den Hof der Hafenkneipe. Im Laden war nichts davon zu hören. Elly zeigte dem Fremden zwei schöne Rubinringe. „Größer. Ich brauche größere. Und ohne Fassung“, knurrte der Fremde sie an. Elly zögerte. Die wertvollsten Stücke bewahrte sie im Obergeschoss auf, in einer festen Truhe, und zufällig war ein besonders schöner Rubin dabei. Doch der Fremde machte ihr Angst. „Wir schleifen nicht selbst. Heute Abend kann ich einen Rubin abholen. 30 Carat. Taubenblutrot, tropfenförmig rund, transparent. 6000 Goldstücke.“ Elly übernahm seinen abgehackten Redestil.
    Der Fremde musterte sie. „Fundort?“ fragte er. „Esmeralda“, sagte Elly. „Wir haben noch einen zweiten, kleineren Stein in derselben Farbe. Die beiden Steine stammen aus einem einzigen Fund, sie waren in einem mandelförmigen Stein, aber dieser hatte einen Einschluss, und so haben wir die beiden Hälften trennen lassen.“ „Warum erzähle ich ihm das bloß…“ dachte Elly.
    „Zu klein“. Der Fremde drehte sich abrupt um und verließ den Laden. Elly folgte ihm. Etwa fünf Schritte von der Ladentür entfernt wandte er sich noch einmal zu Elly um. Sie sah eine Wurfklinge in seinem Hutband aufblitzen. „Ich brauche einen größeren, eher flacheren Stein. Er kann auch heller sein, orange vielleicht, aber ohne Einschlüsse.“ „Ich werde die Augen offen halten.“ Und dann war er verschwunden.
    Elly zog sich in den Laden zurück und sank auf einen Stuhl. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie es in den Ohren hören konnte. Wenig später öffnete Nahuar eine Tür im Hinterraum des Ladens, den metallenen Blumentopf in der Hand. „Er ist weg“, keuchte Elly. „Er hat nach Rubinen gefragt. Der mit dem Hut.“ Nahuar sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, dann atmete er hörbar aus und stellte wortlos den Blumentopf auf die Theke. Er ging wieder, so lautlos, wie ein Tiger.

    Der Mann mit dem hellen breitkrempigen Hut war mit einem Schiff der Inquisition gekommen. Nahuar bediente einige der weißen Krieger, die in der Hafenkneipe aßen und Rum kauften. Allerdings nur sehr kurze Zeit, dann kam der Fremde mit ihrem Kommandanten und beorderte sie zurück aufs Schiff. Der Kommandant und der Fremde kauften auch beide jeweils ein Fässchen. Nahuar betrog sie, und verkaufte ihnen nicht die Sorte, die sie bezahlt hatten. Er mochte den Fremden nicht. Er hatte ihm kurz in die Augen gesehen – der war ein Mörder, wenn er je einen gesehen hatte. Als er ihnen die Tür aufhielt, stahl er dem Fremden eines seiner Messer aus dem Gürtel. Es war aus einem grauen Stahl, den er noch nie gesehen hatte. Diese Nacht schlief er nicht im Obergeschoss der Hafenkneipe, sondern bei Jack, im Leuchtturm. Er ging erst wieder nach Velegucho Viejo hinunter, als er das Schiff im Morgengrauen ablegen sah. Als er am Morgen zur Kneipe kam, war die Tür offen und das Haus durchwühlt. Nur den Stollen, in dem Nahuar den Rum lagerte und der zu Lous und Ellys Haus führte, hatte der Eindringling nicht gefunden.
    Und eine lange Zeit verging, und der Fremde wurde in Valegucho Viejo nicht wieder gesehen. Nach einigen Jahren verschwand Nahuar, ohne dass jemand gewusst hätte, wohin oder warum. Lou starb einige Monate später an einem Fieber, und Elly nahm ein Schiff, man sagte, es ginge nach Calador, wie Esmeralda nun hieß…

    Der Tanz im Dunklen

    Nachdem Gerüchte über den Tod des Inquisitors Mendoza die Hafenstadt erreichten, gab es eine Person, die nicht erleichtert war. Dabei hätte der Novize Contegius viele Gründe finden können, diesen Tag zu feiern. Mendoza hatte nicht nur seinen besten Freund Alexis in die Vulkanfestung schleppen lassen, wo er eines Tages zu Tode gestürzt war, angeblich beim Versuch, die Festung wieder zu verlassen. Contegius wurde die Kehle rau beim Gedanken daran, wie Caspar ihm davon berichtet hatte. Der Novize Caspar kannte jeden und hörte jedes Gerücht. Caspar hatte ihm auch erzählt, dass man einen magischen Ring bei Alexis gefunden hatte, und das konnte Contegius einfach nicht glauben. Alexis und er selbst hatten nämlich eine spezielle Vorstellung von Magie, und die schloss magische Ringe einfach aus. Er versuchte herauszufinden, wer Alexis gefunden und um was für einen Ring g e n a u es sich gehandelt hatte. Und was er dann erfuhr, verstärkte seinen Verdacht. Zum einen war der Mann, der Alexis gefunden hatte, ausgerechnet ein Bandit gewesen, einer ihrer Jäger, der mit irgendeiner Botschaft zu Mendoza gekommen war. Zum anderen war der bei Alexis gefundene Ring ausgerechnet einer, der eine magische Auswirkung auf die Geschicklichkeit seines Trägers haben sollte. Contegius kannte Alexis schon sehr lange. Und er war der geschickteste Mensch, den Contegius je getroffen hatte, ein Gaukler, Taschendieb und Kletterer, einer, der nach den halsbrecherischsten Kunststückchen immer wieder auf den Füßen landete. Dass er einen solchen Ring benutzt haben sollte – das machte einfach keinen Sinn, und zu Contegius‘ Trauer gesellte sich Zorn und ein Gefühl der Hilflosigkeit. Er wollte mehr über die Umstände von Alexis‘ Tod erfahren und wartete darauf, dass der Bandit noch einmal in die Festung käme.
    So übernahm er freiwillig die Aufgabe, die Eingangshalle des Klosters zu kehren, und als er fertig war, machte er mit der Gasse vor der Küche und der Treppe zum oberen Hof weiter. „Er muss doch irgendwann hier vorbei kommen“, dachte Contegius. Zuerst geschah jedoch etwas anderes. Der Magier Severin sah ihn, und schickte ihn mit einer merkwürdigen Metallscheibe in die Heilige Halle. „Hier. Gib das dem Chef. Er wartet schon seit Tagen darauf. Aber gib ihm die Scheibe nur selbst, hörst du? Ich will keine Beschwerden darüber hören, dass sie weggekommen ist. Ich habe schon genug Ärger von der Sorte.“
    „Was hast du für Ärger?“ wollte Contegius wissen. Er witterte eine Möglichkeit, mit einem Auftrag die Festung verlassen zu können.
    „Darum muss ich mich selbst kümmern. Geh‘ einfach in die Heilige Halle und sag dem Inquisitor, dass ich dich geschickt habe.“
    „Was ist, wenn mich die Ordenskrieger nicht durchlassen?“
    „Du willst also wissen, wie du in eine Halle kommst, wo Novizen wie du normalerweise nicht eingelassen werden? Willst du auch, dass ich dir einen roten Teppich ausrolle? Oder willst du ein Passwort? Du gehst jetzt zu den Wachposten und sagst, dass ich dich geschickt habe. Das Passwort heißt: heiße Ohren, vor allem, wenn sie dich nicht durchlassen.“
    Die Heilige Halle! Unter normalen Umständen wäre Contegius vor Freude außer sich gewesen. Alle trachteten danach, in die Heilige Halle gerufen zu werden. Normalerweise bedeutete es, dass man in den Orden aufgenommen wurde! In Contegius‘ Fall bedeutete es allerdings leider Ärger. Denn irgendetwas war mit der Scheibe geschehen, und der Inquisitor verdächtigte ihn, daran schuld zu sein. Das Missverständnis ließ sich auch nicht aufklären, denn Severin war plötzlich verschwunden. So machte der Inquisitor Contegius‘ Aufnahme in den Orden davon abhängig, dass er Severin fände und ihm die Scheibe und eine Botschaft brächte. So war er einige Tage über die Insel gezogen, und es gelang ihm tatsächlich.
    Doch bei seiner Rückkehr, als er dem Inquisitor Bescheid sagen wollte, wurde er nicht mehr in die Heilige Halle gelassen. So vertrieb er sich ein bisschen die Zeit in Severins Labor und las ein bisschen in seinen Schriften.
    Der zweite Grund, warum Contegius den Inquisitor Mendoza hasste, war die zweite Begegnung mit ihm. Denn eines Nachts stand Mendoza plötzlich in seiner Zelle und weckte ihn, und er fragte ihn über Experimente aus, die er und Alexis vor dessen Tod gemacht hatten. Offenbar besaß der Inqusitor Alexis‘ Aufzeichnungen. Und was schlimmer war: er hatte anscheinend das meiste davon verstanden, obwohl ihre Arbeitshypothese von völlig anderen Voraussetzungen ausging, als alle Magier und überhaupt alle, die Contegius kannte. Mendoza fragte bei vielen Einzelheiten genau nach, ließ sich nicht mit „nein, wir wussten dieses Phänomen nicht wirklich zu deuten“ und „das muss ein Messfehler gewesen sein“ abspeisen. Und dann stellte der Inquisitor Contegius eine Aufgabe. D i e Aufgabe, mit deren Lösung er seiner Aufnahme in den Orden gewiss sein könne. Eine unlösbare Aufgabe, und eine gefährliche obendrein. Er wollte etwas, das die ganze Insel vernichten konnte.
    Er wollte von ihm ein machinamentum potens commutatio materie. Er wollte selbst einen Titanen erschaffen.

    Contegius wartete nicht bis zum Morgen. Er packte seine Sachen – alle seine Sachen – und einige Aufzeichnungen verbrannte er. Dann verließ er das Kloster über einen Weg, den Alexis und er bereits öfter genommen hatten, und das war nicht das Tor. Und sobald er außer Sichtweite der grauen Mauern war, zog er die Novizenrobe aus und seine alte Wetterjacke wieder an. Er lief bis zum Morgengrauen, bis zu einer Ruine, die er gefunden hatte, als er Severin gesucht hatte. Und dort fiel er erst mal in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Alexis, und Alexis räumte vor seinen Augen seine Taschen aus. Da waren eine Schreibfeder und sein kleines Pergamentheft, in dem er immer seine Versuche und Berechnungen aufzeichnete, da war ein Päckchen mit gegrillten Fischköpfen, ein paar Edelsteine, Quarze, verschiedene Erzbrocken, ein Stück von einem Himmelsstein, ein kleiner Hammer, ein paar Spruchrollen, Münzen und Jagdtrophäen. Und kein Ring. Definitiv – kein Ring. Und dann begann Alexis im Dunklen zu tanzen, und da war eine weitere Person in einem dunklen Umhang. Am nächsten Morgen schlich sich Contegius in die Hafenstadt, wo er nach und nach seine Spruchrollen verkaufte und sich mehr schlecht als recht bis zu dem Tag durchschlug, als die Nachricht vom Tod des Inquisitors eintraf.
    Contegius war etwas ratlos. Falls das Gerücht der Wahrheit entsprach, konnte das bedeuten, dass es ihm wieder möglich wäre, in die Festung zurückkehren, ohne diese abwegige Aufgabe des Inquisitors zu Ende zu führen. Contegius hielt das Ganze nämlich schlichtweg für unverantwortlich. Trotzdem war er sehr unsicher, was ihn in der Festung erwarten würde. Ob Mendoza mit den Magiern über die Aufgabe gesprochen hatte, die er Contegius gestellt hatte? Und ob die Festung überhaupt noch stand? Zwei Tage, bevor das Gerücht Contegius zu Ohren gekommen war, hatte die Erde gebebt und ein Ausbruch des Vulkans war bis in die Hafenstadt zu hören gewesen. Ob Mendoza jemand anderen gefunden hatte, der ihm sein machinamentum gebaut hatte? Das bereitete Contegius ziemliche Sorgen. Er musste unbedingt herausfinden, was aus Alexis‘ Aufzeichnungen geworden war.

    An diesem Abend ging er in die Hafenkneipe. Es fehlten einige Gäste, die sonst immer dort herumgehangen hatten. Dafür war Patty hinter der Theke nicht mehr alleine. Sie wies eine junge Frau ein, und er sah, wie sie nebenbei etwas Proviant zusammen packte. „Was stehst du da herum und guckst mir Löcher in den Käse?“ fragte Patty. „Ich suche jemand, der nicht nur gucken, sondern auch ein paar Aufgaben lösen kann. Wie wäre es mit dir? Suchst du Arbeit, oder wartest du noch auf ein Angebot der Stadtwache?“ Contegius lachte. „Ein Angebot der Stadtwache“, das war ein Witz unter Leuten, die sich schon etwas länger in der Stadt aufhielten. Es war nicht unbedingt eine Umschreibung für ein erfolgreiches Geschäftsmodell. „Was hast du vor?“ fragte er.
    „Ich suche einen Freund“, antwortete sie.
    „Was ist mit deinem Freund?“ fragte Contegius. Eine Liebesgeschichte?
    „Du kommst also mit? Ich will das nicht jedem erzählen, weißt du. Also wenn du nur fragst, um zu reden, dann musst du dir heute jemand anderen suchen.“
    „Nein, wirklich, ich helfe dir. Wo suchst du denn nach deinem Freund?“ Eigentlich hatte er vorgehabt, irgendwann in den nächsten Tagen zur Vulkanfestung zurückzukehren.
    „Er war mit dem Inquisitor unterwegs. Ich wollte dort oben bei der Vulkanfestung nach ihm suchen.“
    „Ich bin bereit.“

    Ohne ein bisschen Angst wird das nichts.

    Ein paar Tage später kannte Contegius die Gegend um die Festung ziemlich gut, einschließlich einiger ziemlich gefährlicher Ruinen und Höhlen. Erschöpft legte er ein weiteres Scheit ins Feuer. Sie waren – endlich – auf der Hochebene unterhalb der Vulkanfestung angekommen. Dort hatten sie ein Jägerlager unter einer grauen zerfetzen alten Plane gefunden. Die vormals grüne Vegetation war verbrannt, der kleine See verdampft. An seinem Ufer lagen drei merkwürdige große Skelette, deren Knochen im Halbdunkel leuchteten. Patty war hinter Contegius‘ Rücken an der einfachen Bettstatt beschäftigt. Sie versorgte ihren Freund, den sie nach langem Suchen endlich gefunden hatten. Wenig später setzte sie sich zu Contegius ans Feuer.
    „Und… wie geht es ihm?“ Contegius fühlte ihre Besorgnis. Er hatte in dem Verletzten den jungen Banditen erkannt, der beim Inquisitor gewesen war. Er hätte ihn so gerne mehr über Alexis gefragt, aber er spürte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war. Trotzdem hatte er auch seine Lebenskraft gespürt, der war nur erschöpft, nicht gebrochen.
    Sie zuckte mit den Schultern. „Er schläft.“
    „Er wird es schaffen.“ Er legte ihr eine Hand auf den Unterarm, sah ihr in die Augen und nickte ihr zu.
    Sie sah von Contegius weg, legte ein weiteres Scheit auf. Er nahm die Hand weg.
    Nach einer Weile sprach sie wieder. „Sag mal, du hast doch erzählt, dass du auch mal in der Festung warst. Kannst du vielleicht hiermit etwas anfangen?“ Sie drückte in seine Hand etwas Schwarzes, Verkohltes. Unter seinem Griff brachen kleine raschelnde Stücke am Rand des Gegenstands ab. Zuerst hätte er es fast nicht erkannt. Es waren Alexis‘ Aufzeichnungen.
    „Hatte dein Freund das bei sich?“
    „Ja. Er hat es beim Inquisitor gefunden. Zusammen hiermit.“ Sie legte eine verbogene Metallspange auf einen Stein beim Feuer. Darin war einmal ein Edelstein gefasst gewesen. Er war nun halb eingeschmolzen, rau und gesplittert, von einem undurchsichtigen Gelborange.
    „Das fasst du besser nicht mehr an.“ Contegius nahm das Ding und warf es so weit weg, wie er konnte.
    „He...!“
    „Glaub mir, es ist besser so.“
    Sie musste sehr müde sein. Er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie das unter normalen Umständen nicht mit sich hätte machen lassen. Er sah sie an. Er fühlte ihre Erschöpfung, ihren Schmerz, ihr Unverstehen. Aber dies war trotzdem wichtig. Es stand noch mehr auf dem Spiel. Möglicherweise ging es um sehr viele Menschenleben. Er begann noch mal: „Bitte glaub mir. Diese Spange ist nicht einfach geschmolzen. Da war wirklich etwas anderes am Werk als nur Feuer. Das Ding ist gefährlich… Hat der Inquisitor deinen Freund so zugerichtet?“
    „Nein.“
    Etwas sagte ihm, dass sie nicht weiter über ihren Freund sprechen wollte. „Und er ist sicher, dass Mendoza tot ist?“
    „Ja.“
    Contegius runzelte die Stirn. Sie verließ ihn und legte sich in das kaputte alte Zelt. Es tat ihm leid, dass sein Trost sie nicht erreicht hatte. Er musste ihr sehr kaltherzig erscheinen. Einen Moment überlegte er, es noch einmal zu versuchen. Dann dachte er: „Dafür ist später noch Zeit. Lass sie ein bisschen schlafen.“
    Das Zelt stand sehr nahe bei der Felswand, so hatte es wahrscheinlich weniger von der glühenden Asche abbekommen als das Gras auf der Hochebene. Er wandte sich wieder dem Feuer zu, blätterte vorsichtig in dem verkohlten Heft. Der Inquisitor hatte Alexis‘ Aufzeichnungen kommentiert. Contegius schluckte. Das war übel. Sie mussten hier weg. Das ganze Land würde unbewohnbar werden. Und der Vulkan konnte jederzeit wieder ausbrechen.
    Als Patty schlief, schrieb er ihr eine Notiz und legte sie auf einen Holzklotz am Feuer, zusammen mit einem Heiltrank und ein paar Pilzen. Er zog leise seine Novizenrobe an und lief vorsichtig zur Festung hoch. Er musste die Magier warnen. Dies war noch nicht das Ende der Gefahren. Mut war etwas Großartiges, aber manchmal war es richtiger, zu wissen, wann Schluss war. Die Magier mussten das einfach einsehen. Er hoffte vor allem auf Marbuk, der gerade erst zum Magier geworden war. So ein bisschen Angst würde den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, sie mussten ihm einfach glauben…

    Patty sah ihn nie wieder.
    Gothic Girlie ist offline Geändert von Gothic Girlie (06.10.2015 um 08:20 Uhr)

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •