„Ha. Schau dir das Kerlchen an. Der schrubbt, als gäb’s was dafür.“
„Ich sag dir, was es gibt, wenn er’s nicht tut: Von mir eins hinter die Löffel!“
Die beiden Seemänner brachen in schallendes, dreckiges Gelächter aus und klopften sich gegenseitig auf die Brust.
„Mein Vater hat immer gesagt, nur wer Fleiß an den Tag legt, wird es zu etwas bringen.“
Victors Erwiderung schien die Männer noch mehr zu belustigen.
„Fleiß? Hahaha.“ Der größere der beiden, Rant, beugte sich zu dem Jungen hinunter. Ruppig packte er ihn an seinem Hemd und zog ihn zu sich heran. Victor konnte das Schwarz auf seinen Zähnen sehen, die Essensreste in seinem struppigen, roten Vollbart, und die Rumflecken auf dem zerschlissenen Mantel. Der faulige, übelerregende Atem des Piraten drang ihm in die Nase.
„Jetzt hör mal zu, Bürschchen. Seit vier Jahren tun ich und der gute Pit hier nichts anderes, als Rum saufen, durch die Gegend schippern und ab und an ein paar reiche Säcke aufknöpfen. Hahahah.“ Er wandte sich kurz seinem grinsend nickenden Kumpanen zu.
„Und dein ach so toller Vater war wohl immer fleißig gewesen, wie?“
Victor bemühte sich, dem Piraten fest in die Augen zu sehen. „Immer“, brachte er mit zitternder Stimme heraus.
„Und was glaubst du, hat es ihm genützt? Er war ein verdammter Krüppel.“
Der Junge biss sich auf die Lippen. Wut brodelte in ihm hoch. „Er war ein Soldat des Königs!“
Flatsch.
Seine Erwiderung war lauter ausgefallen, als er es beabsichtigt hatte.
Ihm wurde kurz schwarz vor Augen. In seinen Ohren ein beständiges Pfeifen. Ein brennender Schmerz zog sich über seine linke Gesichtshälfte. Rant war alles andere als gebildet, aber wenn er sich mit etwas auskannte, dann mit Schlägen.
„Ja, ein Soldat des Königs. Ein verkrüppelter Soldat. Und jetzt ist er tot. Genau wie deine Hure von Mutter.“
Tränen stiegen Victor in die Augen. Er kämpfte gegen sie an, doch es war zwecklos.
„He, he, sei mal nicht so hart mit dem Kleinen“, warf Pit von hinten ein.
Rant grummelte etwas Unverständliches, dann stieß er Victor zu Boden.
„Weiterschrubben!“
Victor versuchte, sich aufzurappeln, aber der Schmerz in seinen Gliedern wie der in seiner Brust betäubte ihn. Er kauerte am Boden, schwer atmend, während eine dicke Träne ihren Weg über seine Wange suchte.
Hör auf zu jammern, Junge. Er hörte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf, als stünde er neben ihm. Jammern macht die Welt nicht besser. Jammern macht das Leben nicht leichter, nicht gnädiger. Du musst stark sein, Junge. Und dein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Denn eins sag’ ich dir: Es ist dir nicht wohlgesonnen. Wenn du es nicht bei der Gurgel packst, wird es dich zerquetschen.
Keuchend stemmte er sich auf die Ellbogen und griff nach der Bürste neben ihm. Stark sein, Victor. Stark sein.
Mit einem Mal packte ihn eine Hand an der Schulter – eine kleine Hand, aber mit einem festen Griff – und zog ihn hoch. Stolpernd kam er zum stehen und drehte sich um.
„Alles in Ordnung?“
Greg, der Sohn des Kapitäns, stand mit besorgter Miene da. Er war ein, zwei Jahre jünger als Victor, doch bereits viel kräftiger und hartnäckiger.
„Rant?“
Victor nickte mit gesenktem Blick, während Greg seine Wange inspizierte. „Der Kerl kann seine Finger einfach nicht bei sich behalten. Nicht nur wenn’s um sowas geht.“ Er deutete auf die rote Stelle in Victors Gesicht. „Ich denke, ich sollte mal mit meinem Vater über ihn reden.“
Victor huschte ein schwaches Lächeln übers Gesicht. „Solange das nicht auf mich zurückfällt…“
Greg klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Keine Sorge.“
Mit einem Zwinkern wandte er sich zum Gehen und schwang sich flink die Takelage hinauf, um seinen Posten im Ausguck zu besetzen.
Rasch machte sich auch Victor wieder an die Arbeit, bevor irgendjemand Anstoß an seinem Verhalten nehmen konnte.

“Sergio, wach auf!”, hörte er seine Mutter mit besorgter Stimme drängen.
“Ich habe Schreie gehört.”
Grummelnd wälzte sich der alte Veteran aus seinem Bett, löschte die gerade erst von seiner Frau entzündeten Kerze und humpelte auf seinem verbliebenen Bein ans Fenster der heruntergekommenen Hütte. Vorsichtig spähte er durch die Schlitze der Holzläden.
“Victor?”
Der Junge gab es auf, so zu tun, als würde er schlafen, und sah seinem Vater durch die Dunkelheit hindurch in die immer noch entschlossenen Augen.
“Versteck dich im Korb neben dem Herd. Versteck dich, mach die Augen zu, halte dir die Ohren zu und komm erst raus, wenn ich dich beim Namen rufe. Und mach keinen Mucks! Hörst du?”
Victor nickte und tat, wie ihm sein Vater befahl. Nach einer kurzen Zeit in dem Weidenkorb vernahm er durch die Hände auf seinen Ohren ein dumpfes Stampfen, dann ein Klirren. Rumpeln. Schreie.
Er bekam Angst. Er wollte die Augen öffnen und sehen, was da draußen geschah, doch noch weniger wollte er die Anweisung seines Vaters missachten.
“Na, wen haben wir denn da?”
Mit einem Mal wurde Victor grob gepackt und aus dem Korb gehoben.
Er öffnete die Augen. Ein hässlicher, bärtiger Mann starrte ihn an. Neben ihm lag sein Vater, seinen zerbrochenen Kampfstab in der Hand, regungslos. Seine Mutter lag mit zerfetzten Kleidern auf dem Bett und schrie, auf ihr ein anderer Bärtiger. Als er Victor erblickte, hielt er kurz inne. Der Mann, der Victor gepackt hatte, wandte sich zu ihm um.
“Keine Sorge, ich kümmer mich darum. Und denk dran, keine Zeugen.”
Seine Mutter schlug um sich und rief verzweifelt seinen Namen, während Victor hinaus ins Freie gezerrt wurde. Er wusste nicht, wie ihm geschah, aber er wollte zurück zu seiner Mutter. Der Bärtige zog ihn grob die Düne hinter ihrem Haus hinauf. In einer kleinen Senke blieb er stehen und löste ein Messer von seinem Gürtel.
“So, Junge, jetzt werden wir ein bisschen Spaß haben.”
Victor wollte wegrennen, doch der feste Griff des Mannes holte ihn ein und schleuderte ihn zu Boden. Flehend, weinend, kauerte er da, während der Bärtige sich an ihm zu schaffen machte.
“Fennick!”
Eine tiefe, wütende Stimme erklang von einer benachbarten Düne her. Dann ein Schuss. Ein dumpfes Geräusch direkt neben ihm.
Schritte im Sand.
“Käpt’n?”
“Lass ihn liegen. Und schaff den Jungen aufs Schiff.”
“Aye.”
“Es gibt Grenzen, James. Erinnere die Männer daran.”

Mit rasendem Herzen erwachte Victor aus seinem unruhigen Schlaf. Flammende Wut brannte in seinem Bauch, Tränen in seinen Augen. In den wenigen Momenten wie diesem fragte sich Victor, wie er Tag für Tag mit diesen Männern leben konnte - bevor sich dann wieder ein dämpfender Schleier über all seine Trauer, seinen Zorn, seine Verzweiflung legte und ihn stumpf einen weiteren Tag leben ließ.
Victor drehte sich aus seiner Hängematte. Er brauchte frische Luft. Ohne Rücksicht auf die ohnehin lauthals schnarchenden Seemänner in der Kammer stapfte er die Holztreppe hinauf an Deck.
Er wusste nicht, wie er mit der plötzlichen Spannung in sich umgehen sollte. Er wollte rennen, so weit wie möglich rennen. Aber um das Schiff herum war Meer, soweit das Auge reichte. Er war auf diesem Kahn gefangen.
Also setzte er sich wie so oft auf die Reling am Vorderdeck und starrte gedankenverloren dem Horizont entgegen, während seine Emotionen langsam abflauten. Das beständige Klatschen der Wellen gegen den Bug, begleitet vom beständigen Rauschen von Meer und Wind, war wie Musik in seinen Ohren. Victor mochte die See. Er hatte sie schon immer gemocht. Oft hatte er davon geträumt, einmal mit einem großen Schiff auf Reise zu gehen. Sein Traum hatte sich auf makabere Weise erfüllt.
Victor betrachtete die Wellen, schäumend, in ihrem beständigen Gang, und das glitzernde Spiegeln des hell leuchtenden Sternenhimmels über ihm. Er starrte tief in das sich windende Wasser und wünschte sich mehr denn je, eins mit ihm zu sein. Wieder war die Gelegenheit da. Er müsste einfach nur ein kleines Stück nach vorne rutschen, seine Hände von der Reling lösen… Es war mitten in der Nacht. Niemand würde es bemerken.
Nur ein kleines Stück…
„Was glaubst du, was du da tust?“
Victor erschrak sich fast zu Tode. Reflexartig krallte er die Hände in das Holz, um nicht zu fallen. Er drehte sich um und erblickte Tasili, die am vorderen Mast lehnte und eine ihrer Puppen bastelte.
Victor mochte Tasili nicht. Die Piraten waren ruppig, dumm, brutal und unsittlich, aber diese Frau war ihm geradezu unheimlich. Er hatte Menschen mit wettergegerbten Gesichtern gesehen, doch ihre Haut war gänzlich schwarz. Umso heller schimmerte das Weiß ihrer stets wachsamen Augen. Alles an ihrer Erscheinung machte ihm Angst, selbst, wenn man davon absah, dass sie sich anmalte und ständig mit Affenknochen herumhantierte. Der Kapitän hatte sie irgendwo weit im Süden aufgegabelt, und nur die Götter wussten, warum man sich eine solche Frau an Bord holen wollte. Die Männer munkelten, sie sei eine Hexe. Victor wagte gar nicht zu überlegen, was sie so spät nachts an Deck trieb.
„Du wirst noch genug Zeit auf der anderen Seite zubringen, Gucho. Ono jalla.“ Sie zog einen Knoten am Hals der Puppe fest.
Victor blickte zurück in die Wellen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm war ohnehin immer noch schleierhaft, wie Tasili so schnell seine Sprache gelernt haben konnte.
„Die Zeit, die uns in dieser Welt gegeben ist, ist kostbar, Gucho. Auch du wirst das früher oder später noch erkennen.“
„Zeit ist nur kostbar, wenn man etwas aus ihr macht… Etwas anderes als rauben und töten.“
Keine Antwort.
Victor drehte sich um. Tasili war verschwunden.

„Laaaaand!“
Mit dem ersten Licht der aufgehenden Sonne ertönte Gregs Ruf vom Ausguck. Wenige Stunden später lief das Schiff in den Hafen ein. Als einer der Matrosen mit dem alten Horn ihre Ankunft ankündigte, strömten die wenigen Bewohner des kleinen Städtchens verschlafen auf den Kai. Einige halfen, das Schiff zu vertäuen.
Kaum betraten die Piraten, allen voran ihr Kapitän, den Kai, bahnte sich ein dicker, auffällig gut gekleideter Mann mithilfe seiner zwei kräftigen Begleiter den Weg zu ihm und schloss ihn herzlich in die Arme.
„Nate!“
„Philippe!“
Der Kapitän verpasste dem Mann einen festen Schlag auf den Arm, welcher diesen sichtlich zusammenzucken ließ.
„Alter Knabe! Wie lebt es sich als Gouverneur? Im ‚Dienste des Königs‘?“ Der Seemann lachte herzhaft.
„Nun“, erwiderte der Dicke, „an das Wetter hier unten werden sich meine Knochen wohl nie gewöhnen. Aber das nehme ich in Kauf für mein eigenes, kleines Reich. Komm, alter Freund, du hast wohl so einiges zu berichten.“ Er hob die Stimme. „Ihr habt alle sicher Durst nach einer so langen Reise. Euer erstes Fass geht auf mich!“ Jubel schwallte ihm entgegen.
„Willkommen auf Antigua!“
Mit aufkeimender Verachtung beobachtete Victor vom Deck aus die Männer, die wie losgelassene Hunde in Richtung Taverne eilten. Umso verwunderter war er, als er den sonst so trinkfreudigen Pit neben sich bemerkte. Er schenkte dem dürren Piraten einen verwirrten Blick.
Wenig begeistert verzog dieser den Mund. „Irgendjemand muss die Ladung an Land bringen. Aber gut, dass du hier bist, um mir zu helfen.“ Er grinste hämisch.
Widerwillig machte sich Victor mit ihm und zwei weiteren Unglücklichen zum Laderaum auf. Wie jeder bewaffnete er sich mit einer Kiste und folgte den Männern an Land. Trotz seiner Begeisterung für die Seefahrt tat es gut, nach Wochen wieder einmal festen Boden unter den Füßen zu haben.
Am Gasthaus vorbei schleppten sie die Kisten zum weiträumigen, jedoch offensichtlich noch nicht ganz fertiggestellten Lagerhaus. Zahlreiche Holzgerüste umstellten die beiden Stockwerke, auf die, ohne jede Spur von einem Dach, wohl ein drittes folgen sollte.
Das Erdgeschoss war vollgestopft mit Vorräten und Baumaterialien, die zum Teil unordentlich und achtlos auf dem Boden verteilt waren. Victor musste jeden Schritt mit Bedacht setzen, um nicht zu stolpern.
Pit setzte seine Kiste vor sich ab und sah sich um. Leise vor sich hin murmelnd, suchte er Boden und Wände ab, bis ihm schließlich ein Licht aufzugehen schien. Vom Fenster zu seiner Rechten aus bewegte er sich, Fuß für Fuß voreinander setzend, zur Mitte des Raumes hin. Victor sah seinem merkwürdigen Treiben ungeduldig zu, während seine Arme vom Gewicht der Kiste immer mehr schmerzten.
Wie ein Kind, das gerade ein Spielzeug entdeckt hatte, sprang Pit plötzlich auf und machte sich am Holzboden zu schaffen. Er löste eine Diele aus der Verankerung, dann noch eine, dann noch eine, und legte einen kleinen Kellerraum frei.
Grinsend blickte Pit auf. “Da rein.”
Nach und nach stapelten sie die Kisten in der Geheimkammer, während das Lachen und Grölen, das aus der Taverne drang, immer lauter wurde. Mit sichtlicher Ungeduld und Vorfreude verschlossen die Seemänner das Versteck wieder und machten sich zu ihren Kameraden und dem ausgiebigen Besäufnis auf. Für einen Moment hoffte Victor, Pit und die Jungs würden ihn vergessen, doch kaum eine Sekunde später drehte sich der magere Pirat zu ihm um und schnappte sich seinen Arm.
„Auf, Kleiner, jetzt kriegst du erstmal einen ordentlichen Schluck Rum.“
Victor verzog das Gesicht. Er hatte die Begeisterung der Menschen für dieses höllisch brennende Gesöff noch nie nachvollziehen können. Widerwillig trottete er dem Seemann hinterher zur Taverne.

Das kleine Gasthaus war zum Bersten mit Seeleuten gefüllt, die nach der langen Zeit auf See ihrem mehr als gesunden Durst nachkamen. Kaum trat man ein, schlugen einem der Rauch der Wasserpfeifen und das ohrenbetäubende Grölen der Betrunkenen entgegen.
Als Victor sich mit den anderen seinen Weg durch die übel riechende Menge bahnte, erblickte er Greg, der ihn an seinen Tisch winkte. Rasch setzte er sich zu ihm, bevor er den falschen Leuten zu nah kommen konnte. Direkt neben ihnen hatte der Kapitän seinen Tisch und stimmte feierlich, von seinen Leuten umringt, ein weiteres Lied an.
Victor versuchte, all seinen Ekel und Abscheu im Zaum zu halten, doch je mehr er sich umsah, desto schwerer fiel es ihm. Wie konnte man sich nur so aufgeben?
„Hey, probier das hier mal!“ Greg reichte ihm seinen Becher.
Victor verzog das Gesicht. „Nein, danke!“
„Da ist kein Rum drin. Glaub mir, es ist echt lecker. Und brennt nur ganz wenig im Rachen.“
Sein Gegenüber immer noch misstrauisch beäugend, nahm Victor den Krug an und führte ihn vorsichtig zu seinem Mund. Als die kühle Flüssigkeit seine Lippen berührte, tastete er sich Tropfen für Tropfen vor, langsam mit der Zunge prüfend.
Das Getränk war überraschend süß. Er nahm einen kleinen Schluck. Man konnte es tatsächlich als genießbar bezeichnen.
„Eine Spezialität aus dem Norden“, erklärte Greg, „Stell dir vor, die Schneeländer stellen es aus Honig her!“
Victor wollte noch einen Schluck nehmen, doch dann erinnerte er sich daran, dass er seinen Geist nicht benebeln wollte. Wenn er sich vorstellte, in welchem Zustand die Seemänner bei ihren Saufgelagen oft endeten, schüttelte es ihn, und auf einmal kam ihm auch der nordländische Honigtrunk nicht mehr so schmackhaft vor. Rasch stellte er den Krug wieder vor Greg hin.
Doch dieser bemerkte Victors Geste nicht. Wie gebannt starrte er über seinen Kopf hinweg zur Tür der Taverne. Da wurde Victor klar, wie still es auf einmal im Raum geworden war. Kein Lied mehr. Keine freudigen Ausrufe. Kaum mehr vereinzeltes Gemurmel.
Verwirrt drehte sich Victor um, um den Auslöser der plötzlichen Stille auszumachen.
Dieser verschlug ihm fast den Atem.
Im Eingang des Gasthauses standen drei weiß gekleidete Gestalten, eine weitere in silbrig glänzender Rüstung, allesamt mit langen Klingenstäben bewaffnet.
Die Inquisition.
Der hochgewachsene Kommandant ließ wie ein Raubvogel seinen Blick über die verstummte Menge gleiten.
„Sieh an. Nathanael Stahlbart.“
Der Kapitän, der soeben noch mit gesenktem Kopf sein Gesicht unter seinem ausladenden Dreispitz verbergen wollte, erhob sich langsam. Mit breiter Brust, die Hände in die Seiten gestemmt, erwiderte er den kalten Blick des Kommandanten.
„Kommandant Francisco. Es ist lange her. Was führt Euch hier ans Ende der Welt?“
Der Neuankömmling stieß ein freudloses Lachen aus. „Eine dem König zu hoch werdenden Zahl verschwundener Handelsschiffe. Ich schätze, Euch ist davon nichts bekannt?“
Stahlbart räusperte sich. Er schien etwas zu schwanken. „Und wenn dem so wäre?“
„Dann hätten wir ein Problem.“
Die Miene des Soldaten verfinsterte sich. Ebenso die des Kapitäns.
Victor sah, wie die Hand Stahlbarts langsam zum Heft seines Säbels glitt. Auch die Männer der Inquisition schienen ihre Waffen fester zu packen.
„Wie gut, dass ich keinen Schimmer habe, von welchen Schiffen Ihr redet.“ Stahlbart spielte ein hilfloses Schulterzucken.
Die Augen des Kommandanten verengten sich zu Schlitzen. Er schien einen Moment zu grübeln. Dann ließ er seinen zuvor noch etwas erhobenen Klingenstab sinken.
„Wenn dem so ist, wollen wir eure kleine Feier nicht weiter stören.“
Die Soldaten verließen auf sein Handzeichen die Taverne ebenso schnell, wie sie gekommen waren.
Die Stille im Raum blieb. Alle Augen waren voller Erwartung auf den immer noch über seinem Tisch stehenden Kapitän gerichtet.
„Ihr habt den Kommandanten gehört.“ Er hob seinen Krug. „Auf diese wunderschöne Insel und ihre weißen Strände!“
Während er sprach, warf er seinem Sohn einen vielsagenden Blick zu, der sogleich Victor am Ärmel zupfte und ihn zur Hintertür des Zimmers winkte. Eilig folgte er Greg die Tür hinaus, durch ein kleines Treppenhaus nach draußen – gerade rechtzeitig, um den Kommandanten und seine Begleiter in Richtung Marktplatz verschwinden zu sehen.
Victor spürte sein Herz pochen. Schon immer war er von der Disziplin und Stärke der königlichen Elitetruppe begeistert gewesen. Nicht im Traum hätte er sich ausgemalt, dass er die Inquisition einmal beschatten würde. Er vergaß vor Aufregung sogar, wie falsch ihm das eigentlich vorkam.
Die beiden Jungen hechteten zur gegenüberliegenden Wand, suchten hinter einem Holzstapel Deckung und spähten auf den fast menschenleeren Platz.
Der Kommandant hatte auf dem Marktplatz angehalten. Weitere Soldaten schlossen von der anderen Seite des Lagerhauses zu ihm auf. Indes stürzte der Gouverneur die Holztreppe zu seinem Herrenhaus hinunter, gefolgt von seiner Leibgarde.
“Kommandant Francisco! Welch Freude, Euch hier begrüßen zu dürfen.“
„Ihr solltet aufpassen, mit wem Ihr Euch einlasst, Gouverneur.”
Der Tonfall und die feste Stimme des Kommandanten ließen keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen ranghohen Offizier der Inquisition handelte, der sich um die Gunst eines Statthalters nicht zu scheren brauchte.
“Einlassen? Mit wem?“
Der beleibte Mann, sichtlich nicht auf das Gespräch vorbereitet, fasste sich und legte ein schmeichelndes Lächeln auf.
“Ich bitte Euch, Kommandant, ich würde doch niemals die falschen Leute in mein hübsches Städtchen lassen.”
“Da wäre ich mir nicht so sicher. Es sind in den letzten Wochen vermehrt Schiffe auf dem Weg durch die Südpassage verschwunden. Die meisten hatten wertvolle Handelsgüter geladen. Der König vermutet Freibeuter hinter all dem und will ihrem Treiben ein für alle Mal ein Ende setzen.”
“Der König kann sich hierbei selbstverständlich meiner vollen Unterstützung sicher sein”, säuselte der Gouverneur.
“Angesichts der Wahl Eurer… Gäste… wage ich, dies zu bezweifeln.“ Verachtung schwang in der Stimme des Kommandanten.
„Männer, durchsucht die Stadt!”
Ein kurzer Schock fuhr über die Züge des Gouverneurs, dann verzog sich sein Mund wieder zu seinem üblichen Lächeln. “Sicher, sicher, ich habe nichts zu verbergen!”
Victor musste schmunzeln. Bis auf die versteckte Ladung.
Mit rhythmischen Schritten machten sich die Soldaten in verschiedene Richtungen auf. Während Victor ihnen voller Bewunderung zusah, wurde ihm klar, dass einer davon direkt auf sie zu marschierte. Geschwind wandte er sich zu Greg, um ihn zu warnen – doch sein Freund verschwand bereits wieder in der Hintertür des Gasthauses. Victor fluchte innerlich.
Erneut spähte er über die Kiste hinweg. Der Soldat war zu nahe, um jetzt noch ein anderes Versteck zu suchen, also machte Victor sich so klein, wie es nur ging, und ließ seinen Atem flacher werden.
Er lauschte den gleichmäßigen Schritten des Soldaten. Und mit einem Mal musste er die Stirn runzeln.
Warum verstecke ich mich?
Das waren Soldaten der Inquisition. Die Leibwache des Königs. Hüter von Recht und Ordnung. Und er hatte nichts Falsches getan.
Oder doch?
Plötzlich brodelte all sein Zorn wieder in ihm hoch. Er erinnerte sich an die Nacht, als seine Eltern starben; von der er immer wieder träumte. Er erinnerte sich an die Schreie seiner Mutter. Er erinnerte sich an all die gequälten Gesichter der zahlreichen Händler und rechtschaffenen Seeleute, die nun auf dem Grund des Meeres verrotteten.
Dann musste er wieder an Greg denken. An den Kapitän, der ihn aufgenommen und versorgt hatte. Und dennoch…
Schurken waren sie. Abschaum. Allesamt. Und er hatte mit ihnen gegessen. Für sie gearbeitet. Er hatte sich die Hände schmutzig gemacht, anstatt zu sterben, wie er mit seinen Eltern und dem ganzen verfluchten Fischerdorf, das er einmal Heimat nannte, hätte sterben sollen.
Plötzlich von unbändiger Kraft erfüllt, erhob er sich und stürmte an dem Inquisitionssoldaten vorbei, hinüber auf den Marktplatz, bevor man ihn aufhalten konnte.
Er blieb vor dem verdutzten Kommandanten stehen, streckte den Rücken gerade und hob die Hand zur Stirn, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte.
“Kommandant! Ich habe eine Meldung zu machen.”

Hände und Füße in schweren Ketten, trotteten die Piraten in einer langen Schlange den Kai entlang auf ihr Schiff zurück, das die Inquisition nun unter Beschlag genommen hatte. Victor stand neben Kommandant Francisco, der die Männer in Augenschein nahm, während einer seiner Unteroffiziere die Namen der Gefangenen auflistete.
Nathanael Stahlbart, seines kostbaren Hutes beraubt, ging gesenkten Blickes die Planke hinauf. Es hatte ihn wohl noch nie jemand derart niedergeschlagen gesehen.
Direkt hinter seinem Vater schlurfte Greg. Als er Victor bemerkte, glänzte kein Zorn in seinen Augen. Nur Bedauern.
Victor musste schwer schlucken. Greg war immer nett zu ihm gewesen, obwohl er ihn ohne Weiteres wie ein Stück Dreck hätte behandeln können. Man könnte fast sagen, dass er sein Freund gewesen war. Bei dem Gedanken wurde Victor flau im Magen.
Mit großer Genugtuung dagegen beobachtete er, wie Pit und Rant die Planke hinaufstapfen. Diese Halunken hatten in der Tat nichts anderes verdient.
Als Tasili ihn passierte, beugte sie sich zu ihm hinunter.
“Verrat ist keine verzeihliche Tat, Gucho”, flüsterte sie. “Erzürnt die Hike. Zerreißt deine Seele.”
Victor lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er war froh, die Hexe nicht mehr in seiner Nähe zu haben. Als Tasili sich wegdrehte, entfuhr ihr ein düsteres Lachen.
Victor spürte etwas Warmes an seinem Bein. Mit einem Blick nach unten stellte er erleichtert fest, dass er sich nicht bepinkelt hatte.
Als er mit der Hand in seine Hosentasche fuhr, ertastete er etwas Hartes. Er zog den Gegenstand heraus und erblickte einen violett schimmernden Stein.
Erschrocken sah er Tasili nach. Wann und wie hatte sie ihm den zugesteckt?
Bevor er weiter grübeln konnte, wandte der Kommandant sich ihm zu. Eilig ließ Victor den Stein wieder in seiner Tasche verschwinden.
“Junger Mann, du hast uns heute geholfen, einen der lästigsten Verbrecher im ganzen Reich dingfest zu machen. Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet. Ich mag mir nicht vorstellen, wie deine Gefangenschaft bei diesen Halunken ausgesehen haben mochte. Aber keine Sorge, wir werden dich sofort nach dem Anlegen in Caldera nach Hause bringen.”
Nach Hause.
“Ich… Meine Eltern…”
Der Kommandant sah ihn fragend an. Victor riss sich zusammen.
“Kommandant, wenn dem nichts im Wege steht, würde ich Euch gerne auf die Kristallfestung begleiten und mich in den Dienst des Königs stellen.”
Francisco beugte sich zu ihm hinunter.
“Verstehe… Nun, du bist ein tapferes Kerlchen. Burschen wie dich kann die Inquisition immer gebrauchen.”
Ein Schwall von Begeisterung durchfuhr Victor, doch er blieb gefasst.
“Bist du dir sicher?”
“Ja, Kommandant.”
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Soldaten.
“Na, dann werden wir dich doch direkt eintragen.”
Er kramte eine Weile in der Kiste des Unteroffiziers und zog eine Liste und eine Schreibfeder hervor.
“Also dann… Wie lautet dein Name?”
“Victor. Victor Mendoza.”
“Nun gut, Victor. Wir bringen dich zur Kristallfestung. Dort erhältst du deinen ersten Stab und wirst von den besten Kämpfern des Reiches ausgebildet. Ich werde bei deinen Trainern ein gutes Wort für dich einlegen.” Er zwinkerte.
Victor konnte es kaum fassen. Er, ein kleiner Junge aus der Eisenbucht, schon so bald Mitglied der Elite des Königs…
Mit freudig pochendem Herzen folgte er dem Kommandanten auf sein Schiff, und vergaß vor Überschwang den immer noch sanft glühenden Kristallsplitter in seiner Tasche.