Während des Fluges sprach er nicht weiter mit ihr, aber seine Körpersprache verriet dennoch eine gewisse Nervosität. So trommelte Sergio fast die gesamte Zeit über mit den Fingern auf den Steuerhebel, wobei man sich überhaupt fragen musste, warum er beim aktivierten Autopiloten so angespannt das Steuer festhielt. Der Flug führte weit weg bis zur Spitze ihres Wards, wo in der Regel Lieferungen für die Bewohner der Citadel an einem riesiegen Raumhafen ankamen und weiterverschickt wurden. Gewaltige magnetische Andockarme, Unmengen an Waren, Kräne und allerlei herumschwirrende Transportroboter domierten die Szenerie, die sicher die Fläche von zehn bis fünfzehn Fußballfeldern hatte. Frachtcontainer füllten die Flanken der Fläche und genau dorthin steuerte Sergio nun per manueller Steuerung sein Skycar, da der Autopilot mit diesen Zielangaben nichts mehr anzufangen wusste. Offenbar verschlug es sonst niemanden soweit hinaus in das Warendock. Zwischen engen Containerreihen durschlängelnd landete ihr Vehikel schließlich an einer vermeintlich willkürlichen Stelle. Es waren Container so wie alle anderen rund um sie herum und der enge Gang aus Fracht, in dem sie sich befanden, ließ ohnehin keine Orientierung mehr zu. Sergio öffnete die Kanzel und sprang aus dem Wagen, schaltete ihn jedoch nicht ab, sondern beließ ihn in der gravitativen Schwebe.
"Ankunft", murmelte er nur kurz und Knapp in sein Omnitool. Nur eine Sekunde später öffneten sich die Türen eines der Container von innen und zwei blonde Männer, offenbar Zwillinge, zeigten sich - beide in seidig glänzenden, schwarzen Hemden mit hochgekrämpelten Ärmeln. Sie sprachen nicht, traten nur wortlos an Sergio und Luci heran und nickten beiden zu, ehe sich Sergio und seine zwei Gastgeber daran machten, das noch in der Schwebe befindliche Skycar zu dritt in den Frachtcontainer zu schieben. Dann winkte Sergio Luceija zu sich herein, ehe die beiden Männer die Türen wieder von innen verschlossen - nicht, ohne sich vorher nocheinmal nach ungebetenen Gästen umzusehen.
Der Container war dunkel und wurde nur von zwei kleinen Taschenlampen der Männer erhellt. Die engen Lichtkegel ließen jedoch für Sergio und Luci kaum eine Orientierung zu. Der Container war nicht leer sondern gefüllt mit allerlei Krempel; alte Möbel, Kisten, Kleidung und dergleichen. Eine der Lampen leuchtete auf den Boden hinter einer mannshohen Metallkiste, wo eine Luke mit einer Leiter nach unten zum Vorschein kam. Einer der Zwillinge ging wortlos voraus und kletterte hinab. Der zweite ließ Sergio und seiner Begleitung den Vortritt, ehe er selbst folgte. Kaum dass er bis zum Hals in die enge Bodenluke eingetaucht war, griff er ein Drahtseil neben sich, das mit dem Kistenboden verbunden war, und zog sie daran über sich, bis der Lukeneingang völlig von der Kiste verdeckt war. Zwei Sperrriegel arretierten die Kiste von unten mit dem Boden des Containers, sodass sie von oben niemand mehr verschieben konnte. Dan kletterte auch der zweite Gehilfe nach getaner Arbeit die Luke hinunter zu den anderen.
Sergio war selbst etwas klaustrophobisch und misstrauisch angesichts des perfekt versteckten und verriegelten Unterschlupfs, in den er hier gelockt wurde, doch er versuchte Luceija gegenüber Selbstvertrauen und Zuversicht auszustrahlen. Dennoch zuckte er kurz, als mit einem lauten, metallischen Knall eine Abdeckung zur Leiterluke zugezogen wurde, die den Weg durch den Schacht nach oben jetzt schall- und luftdicht verschloss. Erst jetzt schaltete endlich jemand das Licht an. Sie befanden sich alle in einem winzigen Vorraum, in den sie kaum alle passten. Rostige Wände umgaben sie und eine traurige, von einem Kabel hängende Leuchte war die einzige Lichtquelle. Neben ihnen war eine verheißungsvolle, runde Stahltür, verriegelt mit einer Drehachse wie der Zugang zu einem Uboot und gerade groß genug, um gebückt und mit einem Bein voran hindurchzutauchen. Angesichts der beängstigenden Enge, war es beinahe erleichternd, dass endlich jemand sprach.
"Dr. Vittore", begrüßte der linke Zwilling den Italiener und schüttelte ihm kräftig die Hand, "Ist uns eine Ehre, Sie einmal persönlich zu treffen", ergänzte der rechte und gab ihm ebenfalls die Hand. Der Dialekt verriet, dass die beiden offenbar Engländer waren. Sergio nickte nur, statt die Begrüßung ernsthaft zu erwidern.
"Meinerseits", antwortete er stattdessen einsilbig und kam dann zur Sache. "Das ist Luceija... Ascaiath", stellte er das Mädchen neben sich vor und legte dabei die Hand auf ihre Schulter. Erst beim Nachnamen zuckten plötzlich beide Komplizen wie gestochen zusammen und reichten jeweils auch Luci eifrig die Hand.
"Die Herren sehen also, dass der Erziehung hier eine gewisse Wichtigkeit zukommt. Die Zelle wird eine Änderung der Abläufe also angesichts ihres Namens gerne verschmerzen. Ich übernehme gerne die Verantwortung"
Die beiden blonden Männer tauschten kurz Blicke aus, nickten dann aber synchron. Die Situation wurde wohl immer rätselhafter für Luceija, je länger die Männer miteinander sprachen.
"Im Grunde sind wir froh darum. Der Kerl hält dicht wie ein Ventil. Je früher wir die Sache hier abhaken können, desto eher können wir neue Quellen suchen. Nur hätte ihn die Zelle gerne der Forschung gewidmet, statt ihn zu verschwenden"
Sergio winkte ab.
"Glauben Sie mir, meine Herren. Meine Forschungen sind relevanter für die Familie als alles, was man an seinem gewöhnlichen Fleisch ergründen könnte. Und Luceija hier ist eben essentieller Teil meiner Forschungen. Wie gesagt: Die Zelle wird es verstehen."
Beide nickten wieder. "Sollen wir also?", lud einer freundlich ein und deutete auf die Lukentür.
"Nach Ihnen", bestätigte Sergio.
Vier Hände waren nötig, um den metallenen Drehgriff in Bewegug zu setzen, bis sich die Tür quietschend nach innen öffnete. Licht blendete auf, nachdem alle durch das Loch geklettert waren, und strahlte aus zwei Flutlichtern rechts und links der Tür einem Mann ins Gesicht, der an den Armen von der Decke baumelte. Schon auf den ersten Blick sah er fürchterlich aus, war übersäht von Schnitten und Brandmalen auf seinem entblößten Oberkörper. Seine Beine baumelten kraftlos in einen großen Bottich voller Wasser. Es roch verbrannt und leicht süßlich. Eine kanistergroße Batterie war mit einem Pol an den Bottich angeschlossen, das andere Kabel schlängelte sich zu einem verklebten Klemmkontakt auf einem Werkzeugtisch daneben, der allerlei vertraute und skurille Gerätschaften auf sich hatte.
Der Mann zuckte kaum, als ihn das Licht blendete, doch er schien lebendig. Die Luke schloss sich wieder und mit einem erneuten Quietschen drehte einer der Komplizen den Drehverschluss hinter allen zu. Eine Weile standen alle vier nur um den Mann herum und ließen die Eindrücke auf sich wirken.
"Er redet einfach nicht", erläuterte dann endlich einer der Zwillinge. "Wir haben alles versucht. Vier Tage geht das schon. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo er körperlich keine weiteren 'Verfahren' mehr erträgt. Wir müssten ihn jetzt erst wieder aufpäppeln, bevor es weitergeht, aber je länger wir hier sind, desto höher das Risiko aufzufliegen. Und ihn lebend wegzuschaffen zu einem anderen Versteck, ist auf der Citadel immer riskant. C-Sec hat schon Tips bekommen, in den Warendocks zu suchen. Uns bleiben vielleicht noch ein oder zwei Tage."
"Aber tot lässt er sich leichter wegschaffen", beendete Sergio den Gedanken mit einem verstehenden Nicken während er kinnkratzend den Körper des Geschundenen betrachtete. Die Zwillinge nickten ebenfalls synchron.
"Wir dachten an Säure. Dann bringen wir ihn chargenweise in Farbeimern weg", erklärte einer trocken. Sergio nickte beeindruckt und lobte den Einfall. Der Geschundene an den Seilen schien im Delirium kaum zu verstehen, was gerade so morbide über sein Schicksal entschieden wurde.
"Geben Sie uns einen Moment", bat Sergio die Zwillinge, die sich verständnisvoll in eine Ecke des Raumes begaben und dort miteinander den weiteren Verlauf diskutierten. Inzwischen wandte sich Sergio wieder auf Italienisch an Luceija.
"Also Luci. Frag mich nicht, was er getan hat oder was er weiß, ich weiß es selbst nicht und es geht mich auch nichts an. Aber ich weiß, dass er es mit Sicherheit verdient hat, wenn er hier hängt. Er hat der Familie geschadet. Und jetzt soll er sterben. Cerberus will es. Die beiden könnten das auch selbst, das sind Profis. Aber ich will, dass du das übernimmst. Und ich will, dass du dir aussuchst, wie du es tust. Hier liegt alles, was man braucht. Es gibt schnelle und langsame Arten, aber für den Moment ist es mir gleich, welche du aussuchst."
Er griff Luceija bei den Schultern und drehte sie zu ihrem Opfer, zwang sie, ihn anzusehen.
"Schau doch - Er will es sogar. Er hat tagelang gelitten und jetzt kannst du ihn erlösen. Du tust damit also jedem einen Gefallen. Der Familie, den Zwillingen hier, mir und sogar ihm. Aber es ist mehr als nur ein Gefallen, Luci. Es ist deine Pflicht. Cerberus erwartet von dir, dass du hierzu bereit bist. Bedingungslos. Also je schneller du ein Werkzeug von dem Tisch dort greifst und die Sache zu Ende bringst, desto schneller kannst du mir und deiner Familie beweisen, wie loyal du uns wirklich bist. Und nur so, Luci, bist du auch bereit, Ulysses kaltzumachen."
Er nahm seine Hände von ihren Schultern und trat einen Schritt zurück. Mit verschränkten Armen beobachtete er sie nur und hielt dabei seinen eisernen Blick. Auch die beiden Zwillinge beobachteten Luceija aus der Ecke des Raumes genau. Es schien fast schon ein Ausdruck von Stolz in ihren Gesichtern zu liegen.