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  1. #81
    Ritter Avatar von Tjordas
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    Während des Fluges sprach er nicht weiter mit ihr, aber seine Körpersprache verriet dennoch eine gewisse Nervosität. So trommelte Sergio fast die gesamte Zeit über mit den Fingern auf den Steuerhebel, wobei man sich überhaupt fragen musste, warum er beim aktivierten Autopiloten so angespannt das Steuer festhielt. Der Flug führte weit weg bis zur Spitze ihres Wards, wo in der Regel Lieferungen für die Bewohner der Citadel an einem riesiegen Raumhafen ankamen und weiterverschickt wurden. Gewaltige magnetische Andockarme, Unmengen an Waren, Kräne und allerlei herumschwirrende Transportroboter domierten die Szenerie, die sicher die Fläche von zehn bis fünfzehn Fußballfeldern hatte. Frachtcontainer füllten die Flanken der Fläche und genau dorthin steuerte Sergio nun per manueller Steuerung sein Skycar, da der Autopilot mit diesen Zielangaben nichts mehr anzufangen wusste. Offenbar verschlug es sonst niemanden soweit hinaus in das Warendock. Zwischen engen Containerreihen durschlängelnd landete ihr Vehikel schließlich an einer vermeintlich willkürlichen Stelle. Es waren Container so wie alle anderen rund um sie herum und der enge Gang aus Fracht, in dem sie sich befanden, ließ ohnehin keine Orientierung mehr zu. Sergio öffnete die Kanzel und sprang aus dem Wagen, schaltete ihn jedoch nicht ab, sondern beließ ihn in der gravitativen Schwebe.
    "Ankunft", murmelte er nur kurz und Knapp in sein Omnitool. Nur eine Sekunde später öffneten sich die Türen eines der Container von innen und zwei blonde Männer, offenbar Zwillinge, zeigten sich - beide in seidig glänzenden, schwarzen Hemden mit hochgekrämpelten Ärmeln. Sie sprachen nicht, traten nur wortlos an Sergio und Luci heran und nickten beiden zu, ehe sich Sergio und seine zwei Gastgeber daran machten, das noch in der Schwebe befindliche Skycar zu dritt in den Frachtcontainer zu schieben. Dann winkte Sergio Luceija zu sich herein, ehe die beiden Männer die Türen wieder von innen verschlossen - nicht, ohne sich vorher nocheinmal nach ungebetenen Gästen umzusehen.
    Der Container war dunkel und wurde nur von zwei kleinen Taschenlampen der Männer erhellt. Die engen Lichtkegel ließen jedoch für Sergio und Luci kaum eine Orientierung zu. Der Container war nicht leer sondern gefüllt mit allerlei Krempel; alte Möbel, Kisten, Kleidung und dergleichen. Eine der Lampen leuchtete auf den Boden hinter einer mannshohen Metallkiste, wo eine Luke mit einer Leiter nach unten zum Vorschein kam. Einer der Zwillinge ging wortlos voraus und kletterte hinab. Der zweite ließ Sergio und seiner Begleitung den Vortritt, ehe er selbst folgte. Kaum dass er bis zum Hals in die enge Bodenluke eingetaucht war, griff er ein Drahtseil neben sich, das mit dem Kistenboden verbunden war, und zog sie daran über sich, bis der Lukeneingang völlig von der Kiste verdeckt war. Zwei Sperrriegel arretierten die Kiste von unten mit dem Boden des Containers, sodass sie von oben niemand mehr verschieben konnte. Dan kletterte auch der zweite Gehilfe nach getaner Arbeit die Luke hinunter zu den anderen.
    Sergio war selbst etwas klaustrophobisch und misstrauisch angesichts des perfekt versteckten und verriegelten Unterschlupfs, in den er hier gelockt wurde, doch er versuchte Luceija gegenüber Selbstvertrauen und Zuversicht auszustrahlen. Dennoch zuckte er kurz, als mit einem lauten, metallischen Knall eine Abdeckung zur Leiterluke zugezogen wurde, die den Weg durch den Schacht nach oben jetzt schall- und luftdicht verschloss. Erst jetzt schaltete endlich jemand das Licht an. Sie befanden sich alle in einem winzigen Vorraum, in den sie kaum alle passten. Rostige Wände umgaben sie und eine traurige, von einem Kabel hängende Leuchte war die einzige Lichtquelle. Neben ihnen war eine verheißungsvolle, runde Stahltür, verriegelt mit einer Drehachse wie der Zugang zu einem Uboot und gerade groß genug, um gebückt und mit einem Bein voran hindurchzutauchen. Angesichts der beängstigenden Enge, war es beinahe erleichternd, dass endlich jemand sprach.
    "Dr. Vittore", begrüßte der linke Zwilling den Italiener und schüttelte ihm kräftig die Hand, "Ist uns eine Ehre, Sie einmal persönlich zu treffen", ergänzte der rechte und gab ihm ebenfalls die Hand. Der Dialekt verriet, dass die beiden offenbar Engländer waren. Sergio nickte nur, statt die Begrüßung ernsthaft zu erwidern.
    "Meinerseits", antwortete er stattdessen einsilbig und kam dann zur Sache. "Das ist Luceija... Ascaiath", stellte er das Mädchen neben sich vor und legte dabei die Hand auf ihre Schulter. Erst beim Nachnamen zuckten plötzlich beide Komplizen wie gestochen zusammen und reichten jeweils auch Luci eifrig die Hand.
    "Die Herren sehen also, dass der Erziehung hier eine gewisse Wichtigkeit zukommt. Die Zelle wird eine Änderung der Abläufe also angesichts ihres Namens gerne verschmerzen. Ich übernehme gerne die Verantwortung"
    Die beiden blonden Männer tauschten kurz Blicke aus, nickten dann aber synchron. Die Situation wurde wohl immer rätselhafter für Luceija, je länger die Männer miteinander sprachen.
    "Im Grunde sind wir froh darum. Der Kerl hält dicht wie ein Ventil. Je früher wir die Sache hier abhaken können, desto eher können wir neue Quellen suchen. Nur hätte ihn die Zelle gerne der Forschung gewidmet, statt ihn zu verschwenden"
    Sergio winkte ab.
    "Glauben Sie mir, meine Herren. Meine Forschungen sind relevanter für die Familie als alles, was man an seinem gewöhnlichen Fleisch ergründen könnte. Und Luceija hier ist eben essentieller Teil meiner Forschungen. Wie gesagt: Die Zelle wird es verstehen."
    Beide nickten wieder. "Sollen wir also?", lud einer freundlich ein und deutete auf die Lukentür.
    "Nach Ihnen", bestätigte Sergio.
    Vier Hände waren nötig, um den metallenen Drehgriff in Bewegug zu setzen, bis sich die Tür quietschend nach innen öffnete. Licht blendete auf, nachdem alle durch das Loch geklettert waren, und strahlte aus zwei Flutlichtern rechts und links der Tür einem Mann ins Gesicht, der an den Armen von der Decke baumelte. Schon auf den ersten Blick sah er fürchterlich aus, war übersäht von Schnitten und Brandmalen auf seinem entblößten Oberkörper. Seine Beine baumelten kraftlos in einen großen Bottich voller Wasser. Es roch verbrannt und leicht süßlich. Eine kanistergroße Batterie war mit einem Pol an den Bottich angeschlossen, das andere Kabel schlängelte sich zu einem verklebten Klemmkontakt auf einem Werkzeugtisch daneben, der allerlei vertraute und skurille Gerätschaften auf sich hatte.
    Der Mann zuckte kaum, als ihn das Licht blendete, doch er schien lebendig. Die Luke schloss sich wieder und mit einem erneuten Quietschen drehte einer der Komplizen den Drehverschluss hinter allen zu. Eine Weile standen alle vier nur um den Mann herum und ließen die Eindrücke auf sich wirken.
    "Er redet einfach nicht", erläuterte dann endlich einer der Zwillinge. "Wir haben alles versucht. Vier Tage geht das schon. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo er körperlich keine weiteren 'Verfahren' mehr erträgt. Wir müssten ihn jetzt erst wieder aufpäppeln, bevor es weitergeht, aber je länger wir hier sind, desto höher das Risiko aufzufliegen. Und ihn lebend wegzuschaffen zu einem anderen Versteck, ist auf der Citadel immer riskant. C-Sec hat schon Tips bekommen, in den Warendocks zu suchen. Uns bleiben vielleicht noch ein oder zwei Tage."
    "Aber tot lässt er sich leichter wegschaffen", beendete Sergio den Gedanken mit einem verstehenden Nicken während er kinnkratzend den Körper des Geschundenen betrachtete. Die Zwillinge nickten ebenfalls synchron.
    "Wir dachten an Säure. Dann bringen wir ihn chargenweise in Farbeimern weg", erklärte einer trocken. Sergio nickte beeindruckt und lobte den Einfall. Der Geschundene an den Seilen schien im Delirium kaum zu verstehen, was gerade so morbide über sein Schicksal entschieden wurde.
    "Geben Sie uns einen Moment", bat Sergio die Zwillinge, die sich verständnisvoll in eine Ecke des Raumes begaben und dort miteinander den weiteren Verlauf diskutierten. Inzwischen wandte sich Sergio wieder auf Italienisch an Luceija.
    "Also Luci. Frag mich nicht, was er getan hat oder was er weiß, ich weiß es selbst nicht und es geht mich auch nichts an. Aber ich weiß, dass er es mit Sicherheit verdient hat, wenn er hier hängt. Er hat der Familie geschadet. Und jetzt soll er sterben. Cerberus will es. Die beiden könnten das auch selbst, das sind Profis. Aber ich will, dass du das übernimmst. Und ich will, dass du dir aussuchst, wie du es tust. Hier liegt alles, was man braucht. Es gibt schnelle und langsame Arten, aber für den Moment ist es mir gleich, welche du aussuchst."
    Er griff Luceija bei den Schultern und drehte sie zu ihrem Opfer, zwang sie, ihn anzusehen.
    "Schau doch - Er will es sogar. Er hat tagelang gelitten und jetzt kannst du ihn erlösen. Du tust damit also jedem einen Gefallen. Der Familie, den Zwillingen hier, mir und sogar ihm. Aber es ist mehr als nur ein Gefallen, Luci. Es ist deine Pflicht. Cerberus erwartet von dir, dass du hierzu bereit bist. Bedingungslos. Also je schneller du ein Werkzeug von dem Tisch dort greifst und die Sache zu Ende bringst, desto schneller kannst du mir und deiner Familie beweisen, wie loyal du uns wirklich bist. Und nur so, Luci, bist du auch bereit, Ulysses kaltzumachen."
    Er nahm seine Hände von ihren Schultern und trat einen Schritt zurück. Mit verschränkten Armen beobachtete er sie nur und hielt dabei seinen eisernen Blick. Auch die beiden Zwillinge beobachteten Luceija aus der Ecke des Raumes genau. Es schien fast schon ein Ausdruck von Stolz in ihren Gesichtern zu liegen.
    Tjordas ist offline Geändert von Tjordas (22.06.2017 um 12:20 Uhr)

  2. #82
    Fionda per cereali  Avatar von Luceija
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    Thousand Eyes - Of Monsters And Men

    Luceija stand inmitten irgendeines unterirdischen Bunkers, dessen rostige Wände sich wohl gerade so hielten und nicht allzu viel weiteren Platz zuließen als den, den sie aktuell einnahmen. Und dennoch war dieser Raum grösser und höher, als der Vorraum ihnen vorgaukeln wollte. Seitdem sie durch die Luke hindurchgekrochen waren und eine weitere, klaustrophobische Enge zurückließen, war es dieser schwitzende, geschundene Körper, der im Mittelpunkt stand und jegliche Aufmerksamkeit der Halbitalienerin auf sich zog.

    Es war etwas völlig anderes, so etwas in Filmen zu sehen oder davon zu lesen. Niemand bereitete einen auf den süßlichen, modrig-stickigen Geruch vor, der sofort in ihrem Inneren den Drang in Gang setzen wollte, sich zu übergeben. Ihre Nase zuckte leicht, als sie den Hängenden betrachtete, Sergios Hand auf ihrer Schulter nicht einmal direkt wahrnahm und erstrecht nicht genau wusste, warum diese Personen, die dem baldigen Leichnam beistanden, so seltsam reagierten, kaum, dass sie ihren Namen erfuhren. Sie ließ sich die Hand schütteln, reagierte oder sprach ansonsten aber nicht. In ihrem Augenwinkel sah sie den Mann noch immer Baumeln, auch, wenn sie unlängst zwischen Sergio und den beiden Blonden hin und her sah. Bei allem was sie in ihren jungen Jahren bereits ausgesetzt gewesen war - Drogensüchtigen, die sich den letzten Schuss gaben, Leute, die nach einer Barschlägerei abgestochen wurden oder Selbstmörder, die sich in ihren Wohnungen den Strick geknüpft hatten – war diese Situation dennoch etwas, was sie zu beängstigen wusste. Sie wollte von der Szenerie absehen, sich auf Sergio und die Blonden versteifen und ignorieren, was sich sonst im Raum abspielte und weiter ruhig und hart bleiben. Auch, als der Doc sie bereits wieder auf Italienisch ansprach. Aber sie konnte nicht. Nicht nur, weil der Ältere ihre Schultern packte und sie unmittelbar zu ihrem Opfer drehte. Unlängst hatte sich dieses Bild in ihre Netzhaut gebrannt. Schon bevor Sergio erklärt hatte was er hier von ihr verlangte, hatte sie eine Ahnung, worauf das hinauslaufen würde und sie konnte sich nicht entscheiden, ob es ihr gefallen wollte.
    Mehrere Seiten begannen in ihr zu kämpfen. Da war die, die Cerberus mit vollkommenem Umfang diente. Die willenlos gegenüber ihren eigenen Entscheidungen war. Die von einer Terrororganisation geformt und zurechtgebogen wurde, die von den Prinzipien wusste, die sie hatten, die Jahrelang mit ihren Methoden und ihrer Weltanschauung geimpft wurde. Luceija wollte sie stolz machen. Wollte der Familie helfen und dienen, würde sich selbst mit fünfzehn Jahren schon widerstandslos für die Organisation – für Sergio – in den eigenen Tod werfen, wenn es sein musste.

    Aber andererseits war da noch die Seite des pubertierenden Mädchens. Der letzte Ansatz jedweder Unschuld, von der ohnehin nichtmehr viel übrig war. Schon weit vorher hatte die Halbitalienerin sich in den schmutzigsten Kneipen herumgetrieben, hatte Zugang zu Alkohol, Zigaretten und selbstverständlich Drogen gehabt (auch außerhalb der Reichweite Sergios) und die physische ‚Unschuld‘ weitaus früher an einen deutlich, deutlich Älteren auf Sizilien verloren. Dennoch konnte man nicht ignorieren, dass noch immer ein Quäntchen eines reinen Mädchens irgendwo in ihr steckte, dass jetzt gegen die Cerberusloyalität rebellierte, in der Angst aufkeimte und die eine Gänsehaut bekam. Die nicht zu dem Hängenden hinsehen wollte und dennoch musste. Der übel wurde. Die Seite, die ihre Familie vernichtet sehen wollte.

    Kaum dass Sergio in ihrem Rücken etwas zurückgetreten war, stand sie selbst im Mittelpunkt dieses Raumes und überschattete selbst den Angeleuchteten. Sie spürte, wie die Blicke auf ihr hafteten, spürte den Druck, mit dem das Schweigen die Halbitalienerin zu dieser Tat zwingen wollte. ‚Es ist ganz einfach.‘, wollte sie sich selbst klarmachen. ‚Du hast das oft genug gesehen. Du musst nichts anderes tun als das, was du schon gesehen hast.‘

    Luceija wollte nicht, dass man ihr die Unsicherheit ansah. Sie hatte das Gefühl, Sergio zu enttäuschen, wenn sie das nicht irgendwie hinbekommen würde und es gab kaum etwas, was sie mehr verunsicherte, als ihn enttäuscht zu wissen. Sie wollte mutig und entschlossen wirken, biss unsichtbar auf ihre Unterlippe und näherte sich der Person mit langsamen Schritten, die in dem metallenen Kubus von den Wänden hallten. Noch während sie auf ihn zuschritt versuchte sie sich zu überlegen, wie sie das hier beenden konnte und fand sich in einem Strang aus inneren Monologen wieder, die sie sich selbst nicht wiedererkennen ließen. Sie fragte sich, was sie sehen wollen würden. Ob die Wahl der Tötungsart sie irgendwie klassifizieren würde. Ob ihre Erlaubnis, bei Sergio bleiben zu dürfen, mit der Entscheidung ihrer Mordwaffe stand und fiel. Der schnellste Mord, ihn einfach zu erschießen und damit zu erlösen, war mit Sicherheit eine Option, die sie sich offenhalten wollte, aber sie glaubte zu wissen, dass es sie als Feigling auszeichnen würde. Dies hier war eine Prüfung wie so manch andere vor ihnen. In ihrem Zimmer, auf dem Behandlungsbett, hatte sie über Jahre hinweg unsagbar viele Behandlungen über sich ergehen lassen müssen, die ebenfalls einer Prüfung gleichgekommen waren. Sie erinnerte sich nichtmehr an die allerersten, aber die jüngsten, die in ihrer Erinnerung festhingen, waren verbunden mit vielen Tränen und Schmerzen. Aber heute lernte sie mit den Schmerzen umzugehen und sie nicht länger als einen Feind zu sehen, sondern ein Zeichen dafür, dass sie alles überstehen würde und bislang alles richtiggemacht hatte. Solange sie Schmerzen empfand, solange Sergio ihr Spritzen und andere Mittel verabreichte, solange sie darunter leiden durfte hatte sie alles getan was die Familie von ihr wollte. Sie waren alle Stolz auf sie und das, was sie schuf. Sie hatte geschafft, was andere nicht geschafft hatten. Wertvoll. Unersetzlich.

    Sie musste zeigen, wie unersetzlich sie auch hier für Cerberus war und je mehr sie sich davon überzeugte, desto mehr konnte sie sich motivieren, auf den Unbekannten zuzugehen. Aus nächster Nähe roch sie das verkohlte Fleisch diverser, zu langer Elektroschocks. Hautfetzen, die sich unter der Hitze aufgebläht hatten und geplatzt waren. Schnitte, die nicht lebensbedrohlich waren aber tief genug um beißenden Schmerz hinzuzufügen. Hätte er das Glück zu überleben gehabt, wäre jede einzelne Schnittwunde an seinem Leib eine gut sichtbare Narbe auf einem hellen Leib. Es schien ironisch genug, dass sich die Schwarzhaarige genau hierauf fixierte und, noch bevor sie es wagte, zum Werkzeugtisch herüberzugehen, ihren Finger über eine tiefe, lange Schnittwunde führte, die ihm etwa auf Brusthöhe zugefügt wurde und sich geradewegs bis zur Hüfte zog. Das Blut darin war geronnen, sodass sie davon ausgehen konnte, dass es eine der ersten gewesen war.
    In vielen ihrer Bücher hatte sie die Autoren Narben als eine Trophäe bezeichnen sehen. Als wichtigster Zeuge von Triumph aus einem Kampf, als unmittelbarer Beweis, wieviel Schmerz ein Mensch zu ertragen bereit gewesen war. Womöglich war diese Indoktrination der Grund, weshalb die Halbitalienerin selbst vierzehneinhalb Jahre später keine Einzige ihrer eigenen Narben entfernen ließ. Jede Einzelne war eine Lehre und dieser Mann war der – noch – lebende Beweis dafür, dass er sehr viel auszuhalten wusste, wo er noch immer atmete und unter ihrer Berührung zusammenzuckte. Ihre eigene Hand zitterte leicht und sie hoffte, dass Sergio das nicht sah. Niemand es sah.

    Ihr Herz schlug heftigst gegen ihre Brust. Sie spürte, wie es gegen ihren Hals zu schlagen versuchte. Wie es zu groß für diese Position war und ihr die Luft abdrücken wollte und sie dazu trieb, sich von dem Mann zurückzuziehen. Sich umzudrehen, tief aber zittrig einzuatmen und dabei den ekelerregenden Gestank weiter in ihre Lungen zu führen. Halt fand sie erst an dem Tisch, der alles beinhaltete, um ein Lebewesen auf jegliche Art und Weise auseinander zu nehmen. Wirklich alles. Mehrere Arten von Pistolen, Werkzeuge, die eindeutig bereits gebraucht, weil blutig, vor ihr lagen. Sägen, verschiedene Kabel und ebenfalls Phiolen, die nahezu sorgfältig aufgereiht am Kopfende des Tisches standen. Zwischen allem lagen auch Messer. Einige davon bereits blutig, andere wiederum nicht. Die Halbitalienerin stützte sich mit beiden Händen auf der Platte ab, versuchte, den Würgereiz zurück zu halten und atmete stark durch die Nase.

    Als sie wieder aufblickte und sich der tosende Magen wenigstens einen Moment beruhigt hatte, richtete sie sich auf, lies die Schultern kurz kreisen und entschied sich dann zuerst dafür, die Jacke auszuziehen die sie trug. Sie landete achtlos auf einigen der sauberen Gerätschaften. Daraufhin ließ sie ihre leicht zitternde Hand über die Gerätschaften fliegen und war von der schieren Auswahl überfordert. Die meisten Utensilien kategorisierte sie schlichtweg aus – es sollte eine Strafe für ihn sein, sein Tod durfte, so ahnte sie, keine Wohltat für den Mann sein, wenn er tatsächlich gegen die Familie gehandelt hatte. Also auch wenn es ihr am angenehmsten gewesen wäre, würde sie die Pistolen nicht nutzen. Dennoch musste sie beweisen, dass sie das hier konnte. Irgendwie schaffte. Und dementsprechend schnell griff sie zu einem der Messer, welches dort lag und umfasste es mit der Faust, sodass die scharfe Klinge nach unten zeigte und sie am meisten Kraft in einen Hieb setzen konnte. Es lag außerordentlich gut in der Hand.

    Der Weg zurück zu dem hängenden Mann schien sich verlängert zu haben. Es waren so viele Schritte nötig bis sie endlich bei ihm war, dass sie glaubte, zwischendrin wieder den Mut zu verlieren, dass hier tatsächlich zu tun. Die Hand mit dem Messer zitterte erkennbar, aber sie versuchte es zu kompensieren, indem sie es stärker umfasste. Zur Seite blickte sie in Sergios Richtung, der ihr entgegenstarrte um sie zu beobachten, aber nichts tat um sie aufzuhalten oder das ganze nur als eine Scharade zu enttarnen. Ihre Augen brannten und die Strahler, die den Mann ausleuchteten und blendeten und ihm jeglichen Schlaf entzogen, schienen den Raum in eine ungeheure Hitze zu verwandeln. Wieder roch sie jeden Zentimeter der geschundenen Haut, roch den widerlichen Geruch von Erbrochenem und Unrat, von Brandverletzungen und geronnenem Blut und Fäulnis, die sich im kontaminierten Wasser zu seinen Füßen breitmachte. Ihre eigene Übelkeit kochte wieder nach oben, als sie seinen Körper absuchte als sei es ein Kunstwerk, dass sie zu zerstören hatte. Sie sah, wie der Mann schwach gegen das Licht blinzelte und ihrer niederen Position wegen direkt auf Luceija hinabsehen konnte. Für einen Moment sahen sie sich an. Luceija wurde nur noch übler. Die Jugendliche hob den Arm mit der Tatwaffe, noch unsicher, wo sie zustechen sollte. Ob es wahllos oder präzise geschehen sollte. Schnell oder langsam. „Bitte..“, keuchte der Gefangene mit übelriechendem Atem zu ihr hinunter und Luci glaubte zu wissen, was nun kam. Der Teil, in welchem er sie um sein Leben anbettelte, widerlich und jämmerlich um seine Existenz zu flehen begann, wo sie es war, die ihm die Absage erteilen musste. Gnadenlos mit ihm sein musste, wo Sergio in ihrem Rücken sie daran erinnert hatte, dass von Cerberus keine Gnade zu erwarten war. Doch stattdessen war er nicht darauf bedacht zu betteln – zumindest nicht um sein Leben.
    „Töte - mich.“

    Es war so, wie Sergio es gesagt hatte. Er wollte den Tod. Luci war nur diejenige, die ihm diesen endlich gewaehren wuerde. Es war nicht nur ein Gefallen, den sie hier irgendjemandem tun musste. Es war ihre Pflicht, diesen Mann zu toeten. Ihre Aufgabe. Ihr Gestaendnis an ihre Familie.
    Und mit einem Mal geschah alles schneller, als ihr Geist es registrieren konnte: Ohne weiter nachzudenken hob sie das fest umklammerte, moderne Militärsmesser an, zögerte nur noch eine Sekunde, in der sie schwer atmend und die Lippen gegeneinanderpressend den perfekten Ort suchte und dann – unterhalb seiner Kehle, linksseitig, fest, begleitet von einem angestrengten, angespannten Stöhnen in das blasse Fleisch stach. Es traf gerade so, anatomisch erschreckend präzise, dass es ihn nicht sofort umbrachte, sondern sie langsam das Zittern überspielen konnte, indem sie das Messer in seinem Fleisch nach unten über die rechte Seite zog und damit noch einmal so tief und mit jeglicher Kraft des schmalen Mädchens das Fleisch durchschnitt, dass schon beim ersten Anstich weiteres Blut in den Raum und auch ihre eigene Richtung spritzte.

    Erst jetzt zitterte ihre Hand richtig. Blutschwaden ergossen sich aus dem Hals des Mannes und flossen in asymmetrischer Linie über den gesamten Körper. Er röchelte, laut und angestrengt, und im Nachhinein fiel ihr erst auf, dass er vor Schmerz geschrien hatte, als sie die Klinge in ihm heruntergezogen hatte, als wolle sie ihn ausweiden. Etwas hatte geknackst und in ihm zerbrochen und sie wusste nicht einmal, dass sie wirklich so viel Kraft besaß das hier zu tun. Ihr Herz rammte gegen den Brustkorb, als wäre sie selbst diejenige gewesen, die man regelrecht ausgeweidet hätte. Kurze, schwere Atemzüge brachen zwischen leicht geöffneten, blutbeschmierten Lippen hervor. Sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte. Dass sie, selbst wenn sie ernsthafte Zweifel oder Mitleid empfunden hätte, keine Wahl gehabt hätte. Er war schuldig, so schuldig wie es nur eben sein konnte. Er hatte die Familie verraten und niemand verriet die Familie.

    Luceija ließ die Waffe fallen, kaum, dass der überaus tiefe Schnitt vollendet war. Der Geruch von eisenhaltigem Blut überdeckte den anderer Nuancen. Sie sah weg, sofort und schnell, drehte sich, presste die Rückseite ihres Unterarmes gegen den Mund, erstickte damit ihre eigenen, schnellen Atemzüge und das aufkeimende Wimmern. Blockierte damit auch den Weg für den aufkeimenden Mageninhalt und stöhnte mit zusammengekniffenen Augen gegen ihre Haut.

    Sie sah niemanden mehr. Nicht die Blonden. Nicht Sergio. Er würde sie für schwach halten.
    Sie durfte nicht schwach sein. Niemals.
    Luceija ist offline Geändert von Luceija (23.06.2017 um 18:00 Uhr)

  3. #83
    Ritter Avatar von Tjordas
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    Ihr Ziehvater betrachtete das gesamte Geschehen zunächst beinahe regungslos. In seiner Ecke des Raumes faltete er die Hände hinter dem Rücken ineinander und blieb ein stummer Beobachter. Ebenso verhielt es sich mit den Zwillingen, die in der diagonal gegenüberliegenden Ecke in einer ähnlichen Pose Luceijas Zögern analysierten. Selbst, als Luceija nach einer Weile endlich ihr Gewissen überwand und mit dem Messer zustach, presste Sergio lediglich die Lippen leicht gegeneinander. Erst, als sie den Schnitt weit über den Körper des Opfers diagonal nach unten zog und das eben noch kraftlose Opfer einen Schmerzensschrei von sich gab, verzog er etwas angewidert das Gesicht, regte sich aber nicht vom Fleck. Der Schrei ging bald in ein Röcheln über und verstummte schließlich gänzlich, als der plötzliche Blutverlust den Mann bewusstlos hinuntersacken ließ. Skeptisch beäugte Sergio, wie Luceija das Messer fallen ließ und sich abwandte und Mühe hatte, sich nicht zu übergeben. Das gelegentliche Röcheln des ausblutenden Opfers hallte in dem kleinen Raum wiede. Zu diesem Geräusch gesellte sich nun das von Sergios Anzugschuhabsätzen, als er langsam auf Luceija zuging und ihr die Hand auf die Schulter legte. Erst wirkte es wie ein tröstender Griff, doch dann legte er auch seine zweite Hand auf ihre andere Schulter und drehte sie mit dem Gesicht zurück in die Richtung des Geschächteten. Er stellte sich hinter Luceija und hielt sie weiterhin fest, sodass sie sich nicht abwenden konnte, legte dann eine Hand unter ihr Kinn, griff ihren Kiefer und hielt ihren Kopf so, dass sie geradeaus sehen musste. Er schaute mit ihr nach vorne und sah dem Mann beim Verbluten zu, doch immer, wenn er bemerkte, dass Luceija die Augen zukniff, gab er ihr eine leichte Ohrfeige, stets begleitet von einem leisen "Sieh hin". Nach etwa einer Minute regte sich nichts mehr am baumelnden Körper. Blut floss weiterhin aus, doch das rhythmisch herausspritzende Blut suchte sich jetzt nur noch in geraden Bahnen seinen Weg am Körper des Mannes hinab, bis es das Wasser zu seinen Füßen dunkler und dunkler färbte. Eine weitere Minute später ließ Sergio endlich los, drehte nun selbst die beinahe paralysierte Luceija von der Blickrichtung des Toten weg.
    "Gut gemacht, Luci. Glaub mir, der Kerl hat es verdient. Er hat unseren Leuten viel schlimmeres angetan. Ich bin stolz auf dich", brummte er leise zu ihr und drückte ihre Schulter leicht in einer Mischung aus Trost und Stolz, doch seine Worte klangen weit weniger enthusiastisch. Selbst für einen Mann, der alles gesehen hatte und der zudem als Arzt die pragmatische Körperlichkeit des Menschen eher akzeptierte als so manch anderer, war der Anblick eines Sterbenden immer etwas Auslaugendes - egal wie schuldig dieser sein mochte. Dann drückte er Luceija ein weißes Tuch in die Hand und deutete hinüber zu einem Handspiegel auf dem Werkzeugtisch.
    "Wisch dir das Blut vom Gesicht - wir wollen draußen nicht zu sehr auffallen", forderte er sie auf und hoffte, ihr mit einer Aufgabe etwas die Fassungslosigkeit zu nehmen. Anschließend trat er wieder zu den beiden Gastgebern und schüttelte ihnen erneut die Hände.
    "Ich danke Ihnen beiden für die Gelegenheit", brummte er trocken und robotisch.
    "Wir haben zu danken. Das beschleunigt das Ganze erheblich", erwiderte der eine.
    "Wir haben damals auch noch auf diese Art gelernt", ergänzte der andere. Sergio kommentierte es nicht, nickte nur höflich und begab sich dann Richtung Ausgang. Noch bevor er und Luceija den Raum auf sein Drängen hin verlassen hatten, rollten die beiden Blonden bereits ein gelbes Fass aus der Ecke des Raumes heran. Sergio warf einen Blick zurück durch die kreisrunde Luke. Die Männer stülpten sich Atemmasken über. Der eine löste die Seile an den Händen des Toten von der Decke, sodass dieser leblos wie ein Sack in den Bottich klatschte. Ein Arm hing über den Rand des Gefäßes. Achtlos schob einer mit dem Schuh den schlaffen Arm zurück ins Becken. Dann hoben beide das Fass gemeinsam an und leerten die Flüssigkeit darin in den Bottich. Dämpfe quollen hinauf und es zischte. Sergio schloss eilig die Luke mit einem Knall und drehte sie fest zu. Eine Verabschiedung gab es nicht. Diese Männer waren der Inbegriff von Effizienz.
    Luceija und Sergio fanden allein den Weg durch den dunklen Geheimschacht nach oben und dann nach draußen, wobei Sergio peinlichst genau darauf bedacht war, alles wieder so zu verschließen, wie er es vorgefunden hatte. Das Skycar schob er ohne Luceijas Hilfe wieder nach draußen. Er war überzeugt, dass sie momentan eher Zeit für sich und ihre Gedanken brauchte und sprach daher auch nicht.
    Erst nach etwa drei Minuten Flugzeit, als das Dockviertel außer Sicht war und sich ihr Skycar wieder in die geordneten Schlangen der anderen einreihte, durchbrach er die Stille mit einem ernstgemeinten: "Gut gemacht", doch sah er sie dabei nicht an, sondern beobachtete dabei den Verkehr vor sich.
    Tjordas ist offline

  4. #84
    Fionda per cereali  Avatar von Luceija
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    Sie hatte ihren Kopf kaum bewegt. Obwohl sie schon längst erst den Raum mit ihrem Opfer verlassen hatten, wobei sie im Hintergrund noch das Kratzen des Fasses über den Boden und das Platschen der Person in den Bottich Wasser hörte, fühlte es sich noch immer so an, als hielte Sergio ihr Gesicht ausgerichtet an diesen einen Punkt. Entgegen den ersten Versuchen in denen sie wegsehen oder sich aus seinem Griff befreien wollte, saß sie nun regungs- und wortlos neben ihm im Shuttle und bewegte ihren Kopf keinen Zentimeter mehr in irgendeine Richtung. Nur noch der Rest ihres Körpers hatte reagiert, sie das Gesicht paralysiert reinigen und danach die Jacke nehmen lassen und sie letztlich durch die Luke und den Schacht wieder nach ‚draußen‘ gebracht. Sie blickte unlängst ins Nichts, beobachtete mit nach wie vor leicht zitternden Armen, wie die Shuttles sich um ihr eigenes reihten und sie auf dem Weg zurück in Richtung ihr Apartment knapp über diverse Dächer diverser Hochhäuser flogen.
    „Gut gemacht“, sagte er, aber Luci erreichte dieses durchaus ernst gemeinte Lob nicht. Sie fühlte sich kalt und kraftlos, Müdigkeit war zurück in ihre Glieder gekrochen und ihr wurde ziemlich schnell klar: etwas in und an ihr - das spürte sie und war keine fantastische Interpretation eines bewanderten Autors - hatte sich heute verändert. „Mhm…“

    Ihre Speiseröhre brannte furchteinflößend und ihr wurde heiß und kalt zur selben Zeit. Auch, wenn sie den Kopf nicht bewegte, fand sie Halt mit ihren ruhelosen Fingern an den Armaturen der Seitentüre, in die sie sich krallte und irgendetwas zu kompensieren versuchte, was man ihr nicht direkt ansah. Minutenlang ging dieses Spiel, minutenlang sah man, wie sie die Lippen gegeneinanderpresste, sie löste und es dann wieder tat und ihre Nüstern sich während tiefem Ein- und Ausatmen hoben und senkten. „Halt an.“, forderte sie, nachdem es sehr lange still gewesen war. Sie waren auf halbem Weg zurück auf ihren Ward, aber das hier konnte sie nicht kontrollieren oder gar bis dahin aushalten. „Halt – halt sofort an.“, forderte sie nochmals, krallte sich indessen so in die Seitenhalterung, dass sie Kratzspuren auf dem Material hinterließ, ehe Sergio im wahrsten Sinne einlenkte und das Skycar links aus dem Verkehr riss, indem er auf manuelle Steuerung wechselte.
    Auf einer kleinen, künstlichen Allee, gebaut auf einem der riesigen Hochhausdächer, landete er kurzentschlossen. Noch ehe das Car richtig gelandet war, schlug die Sizilianerin auf die Entriegelung und fiel mehr nach draußen in das künstliche Gras als sie ausstieg, blieb auf den Knien und übergab sich krampfartig.

    Erst ein Husten beendete einige Minuten später das ekelerregende Szenario, dem ein paar Abendspaziergänger nicht weiter zusehen wollten, sondern sich angewidert abdrehten.
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  5. #85
    Ritter Avatar von Tjordas
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    Die Situation war dem Fahrer des Wagens in mehrfacher Weise sehr unangenehm. Einerseits fühlte er natürlich mit seiner Luci mit. Er selbst hatte damals nicht anders reagiert, als er seinen ersten Toten zu verantworten hatte, nur war das zu dieser Zeit noch im Rahmen seiner medizinischen Ausbildung geschehen und er war eher durch Fahrlässigkeit als durch bloße Absicht zum Mörder geworden, doch noch heute erinnerte er sich, wie er damals aus dem OP-Saal gestürmt war und sich in des Desinfektionsbecken übergeben hatte. Die wahren Morde kamen erst viel später. Seltsamerweise waren diese dann viel leichter für ihn zu verkraften. Dann war er mit dem Umgang mit seinem Gewissen bereits viel geübter. Doch bei Luci sah es ganz anders aus: Sie war viel jünger als er damals und sie hatte gerade eben mit äußerster Härte erfahren, wie es sich anfühlte, ein Leben zu beenden, das in voller Blüte stand. Insgeheim bewunderte er sie, dass sie es überhaupt ohne weiteren Zwang geschafft hatte. In Anbetracht aller Umstände empfand er tatsächlich so etwas wie Stolz. Nicht für die Tat an sich - ein Menschenleben war viel zerbrechlicher, als die meisten glaubten. Er war stolz auf ihre unbedingte Loyalität und ihr Pflichtbewusstsein. Er war sich sicher, dass sie es in der Familie weit bringen würde. Doch dafür musste sie erst das dunkle Tal durchqueren, was sich ihr nun zurecht auftat. In einer Geste, die eher symbolisch Hilfsbereitschaft ausdrückte, hielt er ihr die Haare zurück, als ihr Körper versuchte, die Schuldgefühle wie ein Gift auszuschwemmen. Er hielt ihr die Hand auf den Rücken und stützte ihren Körper, damit sie nicht in ihr eigenes Erbrochenes fiel.
    Dann wurde ihm die Sache auf die zweite Art unbequem. Einige der Citadelbewohner, die hier umhergingen - manche geschäftig, andere ziellos, zumeist Aliens, aber auch einige Menschen - blickten neugierig auf das ungleiche Paar hinüber, beäugten sie skeptisch, soweit es deren fremdartigen Mimiken verrieten. Nicht nur, dass es Sergio etwas peinlich war, die Aufmerksamkeit der Massen war schlicht eine Gefahr. Nichteinmal zehn Meter von ihnen standen zwei bewaffnete Turianer mit C-Sec Orden auf der Rüstung. Sie sahen die beiden Menschen abfällig an und wären sie von der noch recht unbekannten und durch den Erstkontaktkrieg verhassten Rasse nicht so angewidert gewesen, sie wären sicher näher gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Dann hätten sie vielleicht bei einem genaueren Blick den einen oder anderen Blutfleck auf Luceijas dunkler Kleidung entdeckt und die Sache wäre wohl schneller zu Ende gegangen als geplant. Doch die beiden Turianer gingen weiter, wollten sich das Würgen eines Menschen nicht länger anhören und verschwanden von der Bildfläche.
    Als Luceijas Magen sich beruhigte, streckte er ihr ein Taschentuch entgegen, damit sie sich damit - erneut - das Gesicht säubern konnte. Während sie dies tat, eilte er noch kurz zu einem Tupari Sportsdrink-Automaten etwas weiter weg und kaufte Luceija die intensivste Geschmacksrichtung - eine fremdartige Beere, die in Reinform nur für Turianer und Quarianer genießbar war. Doch auch marktwirtschaftlich hatte sich durch das Ausbreiten der Menschheit viel auf der Citadel geändert. 'Jetzt mit linksdrehenden Aminosäuren', stand in Menschenschrift auf der Dose, die sonst nur Aliensymbole trug. Für den Moment störte sich der eher xenophobe Italiener nicht daran - für ein paar Elektrolyte und schon um den Geschmack loszuwerden brauchte Luceija etwas für die Fahrt.

    Schon eine gute Viertelstunde später betraten beide wieder die Wohnungstür, durch die sie vor zwei Stunden so übereilt gehastet waren, nur damit Sergio rechtzeitig einleiten konnte, was er "moralische Präsupposition" nannte, was auch immer er damit auszusagen versuchte. Beide saßen zunächst still auf der Eckcouch und verarbeiteten das Geschehene schweigend. Nun hatte er nicht einmal zwei Tage, um nicht nur Luceijas Psyche zu stabilisieren, sondern sie zudem auch noch auf die Ausführung des eigentlichen Plans vorzubereiten. Eine Mammutaufgabe. Er begegnete dieser hoffnungslosen Situation mit der einzig richtigen Lösung.
    "Ich hole den Wein", entschied er mit einem Tonfall, der so klang, als gäbe es tatsächlich nur diese logische Konsequenz. Er holte gleich zwei Flaschen - beide scheinbar uralt und sogar noch mit einem Narurkorken verschlossen. Luceija stellte er zudem ein Weinglas auf den Tisch, obwohl er wusste, dass sie es wahrscheinlich nicht benutzen würde, und platzierte ihre Flasche direkt daneben. Er selbst hingegen schenkte sich langsam etwas in das durch die Vibration singende Glas ein, leerte es mit einem Zug und füllte es dann mit einem zweiten Ausschank, den er dann zurückgelehnt im Sessel in der Hand behielt. Er seufzte still. Er glaubte nicht, für diese Situation tröstende Worte finden zu können., also schwieg er.
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  6. #86
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    Luci erwischte sich dabei wie sie leise brummte, als Sergio zurück um die Ecke kam und vor sie die zwei Flaschen Wein auf den Tisch stellte, ebenso wie zwei dickbäuchige Weingläser, die auf ihre Befüllung warteten. Tatsächlich wusste er, was sie in diesem Moment am ehesten wollte – idealweise alles, was in ihr schlummerte und durch diese Tat aufgewirbelt wurde zu betäuben. Und sich ganz nebenbei auch noch den ekelhaften Geschmack aus dem Mund spülen, der so tief saß, dass kein Tupari Sportsdrink der Welt ihn hätte überdecken können. Sie sagte weiterhin nichts und saß einfach nur neben ihrem Vater. Ihr Blick haftete an der verstaubten Weinflasche, die er eben für sich geöffnet hatte, sein eigenes Glas befüllte, es komplett austrank, als habe er den Alkohol gerade am Nötigsten, und sich dann ein weiteres Mal einschenkte bevor er sich zurücklehnen wollte.

    Es war ein Verhalten, dass für ihn nicht unbedingt üblich war – Wein zelebrierte der Sizilianer wie ein Kunstwerk, dass es eindeutig war. Sie hatte ihm immer gerne dabei zugesehen, wie er ihr von lokalen Weinreben und den Ernten erzählte. Wie er Freude daran entwickelte, dass es noch wenige, nostalgische Dinge gab, die mit Hilfe von Maschinen und übertriebener Modernität niemals so gut werden konnten wie durch die Handarbeit selbst. Dass es auf die Lage, auf den Boden, das Saatgut und die Sonne ankam, wie gut der nächste Jahrgang werden würde. Wie viel Mühe man sich mit dem pigiare l’uva gab. Wie lange er in Fässern nachreifen durfte.
    Für Wein brauchte man Geduld, allem voran immer Geduld. Leidenschaft. Den besonderen Funken für das besondere Produkt. Luceija war dieses Verhalten eingebläut worden, da hatte Sergio ihr noch nicht mal den neapolitanischen Dialekt ausgetrieben, über den er herzog und hingegen über den Sizilianischen stets stolz „C'e' acchi cosa di cchiu' beddu p'un populu d' 'a lingua di so' 'ntinati?“ Was könnte wichtiger sein für ein Volk als die Sprache seiner Vorfahren? zu sagen pflegte.

    Noch war es nicht Zeit für die junge Frau, Zusammenhänge zu der Kultur rund um den Wein und dem von Mord, Rache und der daraus resultierenden Erfüllung zu ziehen, aber es lag ihr im Blut und würde sich entwickeln, jetzt, wo sie den ersten, wichtigen Grundstein für diese Entwicklung gelegt hatten. Anstatt der Assoziation mit ihrer Tat fiel der Italienerin insbesondere das Etikett auf, auf welches sie leblos blickte und es las. ‚Cavallotti Maissala, Marsala Bena Vittore, Nerello Mascalese, DOC 2161’
    Der Sizilianer hatte nicht viel über seine eigene Vergangenheit gesprochen. Zwar hatte Luci das eine oder andere Mal seine Verwandtschaft gesehen und auch kennengelernt, doch waren sie bis dato schon so alt, dass es zu keiner engeren Bindung hätte kommen können. Aber das hier war etwas, worüber sie Bescheid wusste: Sergios Mutter, Benedetta Vittore, hatte selbst recht früh ein Weingut geerbt und als Winzerin eine recht stattliche Summe Geld angespart. Heute war der Familienbetrieb auf Marsala verkauft, weil ihr einziger Sohn, Sergio, zwar den selben Faible für guten Wein hatte, aber sich für ‚mehr‘ als das Winzern geschaffen sah. Eine gute Sammlung Flaschen waren es aber noch immer, die in seinem Lager standen und die er offenbar gerne hier auf die Citadel hin mitgenommen hatte, allerdings etwas sparsamer öffnete, als Rotwein anderer, renommierter Winzer. Warum gerade heute diese Flaschen geköpft wurden? War es der angekündigte Stolz, den er ihr versichert hatte?
    Sie beugte sich leicht nach vorne, nahm die Flasche in ihre schmale Hand und begutachtete sie sorgfältig. Ihre Fingerkuppen strichen den Staub von ihrem Bauch und studierten das brüchig wirkende Etikett, an dessen Ecken sie das Papier umklappen konnte.
    „Die sind von deinen Eltern.“, stellte das Mädchen fest und sie bemerkte kaum, dass sich, als sie sich nach vorne lehnte um den Wein mit unsteten Fingern zu öffnen und ihr Glas damit zu füllen um den Wein für das zu ehren was er war, Wasser in ihren Augen sammelte. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken. Es gab keinen Anlass zur Sentimentalität. Und obwohl sie sich weiter einreden wollte, wie stark sie doch war, wie wenig sie Zuneigung, Liebe und Stolz interessierte, wie sehr sie glaubte, ohne all diese intimen Gefühle leben zu können, umso mehr bemerkte sie, dass es genau das war, was ihr gerade fehlte. Sie liebte die Familie – würde alles für sie tun. Stehlen. Leiden. Sterben. Morden. Aber sie kam nicht darum herum zu glauben, nicht gut genug für sie zu sein. Ganz gleich, was sie mit ihrer großen Klappe versuchte zu vertuschen.

    Luci nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und spürte die leichte, sanfte Alkoholbetäubung auf ihrer Zunge.
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  7. #87
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    "Oh, tatsächlich?", entgegnete Sergio in eindeutig gespielter Überraschung. Er schien etwas verlegen über die exlusive Wahl seines Weines zu sein und leugnete daher zunächst, überhaupt gewusst zu haben. was er ihr dort vorsetzte. Er streckte sich zu ihr hinüber und nahm ihr die Flasche aus der Hand, um in gefälschter Neugier das Etikett selbst zu inspizieren. Doch Luceija sah ihn mit einem Blick an, den er für Unglauben hielt - berechtigterweise. Er hielt dem Blick nicht lange stand, sondern räumte schnell seine kleine Verlegenheitslüge ein.
    "Du weißt ja... Mein Kaffee und mein Wein... Das sind die zwei Dinge, die ich von der Erde hierher mitgebracht habe, um mich zwischen all den schuppigen und schleimigen Wesen hier und dem unechten Licht trotzdem heimisch zu fühlen. Der Wein von zu Hause... Das ist die Essenz, das Symbol der Erde und der Menschheit für mich. Und auch Symbol meiner Familie. Eben all dessen was mir wichtig ist", erklärte er mit einem leicht nostalgischen Ton, bevor er kurz den Blick von ihr abkehrte und tief Luft holte, als er versuchte, die richtigen Worte zu finden. "Wenn ich das hier also mit dir teile, dann hat das einen besonderen Grund. Nämlich den, dass du dich heute zu all dem bekannt hast. Du warst schon von Geburt an in diese Organisation hineingeboren, bist ihr gefolgt und hast sicher auch vieles für diese große Familie getan. Aber es war eben etwas, das du musstest. Nur ein Papierboot auf einem Fluss, der jeder Strömung folgt. Aber heute hast du bewiesen, dass du diesem Strom auch aus eigenem Willen weiterfolgst, selbst wenn dir vermeintlich unüberwindliche Hindernisse im Wege stehen. Heute hast du dich zu unserer Menschheitsbewegung und zur Familie bekannt. Stolz beschreibt nicht mal im Entferntesten, was ich darüber empfinde. Es ist mehr wie das Glücksgefühl, wenn man endlich in den ersten Apfel beißt, den der jahrelang gepflegte Baum dir schließlich schenkt. Jetzt sehe ich endlich, dass du hinter all dem stehst, was wirklich zählt... Was wäre da passender, als ein Tropfen vom irdischen Weingut meiner Eltern"
    Sergio lächelte sie nocheinmal an und legte ihr eine Hand auf ihre Schulter. Dann stellte er die Flasche symbolisch an Luceijas Seite des Couchtisches und lehnte sich wieder zurück. Aus den Augenwinkeln betrachtete er Luceija genau und versuchte, ihre psychische Verfassung zu deuten. Natürlich war sie nervlich völlig überspannt, nachdem sie alles, was sie intuitiv über Ethik gelernt hatte zugunsten der Familie über Bord geworfen hatte. Doch sollte diese Anspannung zu abnormale Ausmaße annehmen, würde er sicher auch vor einer medikamentösen Unterstützung ihrer Psyche nicht zurückweichen. Doch für den Moment sollte es der Alkohol lösen - ältestes Psychopharmakon der Menschheit.
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  8. #88
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    Der Wein war gerade erst über ihre Lippen herübergelaufen. Hatte eine sanfte, tiefrote Färbung darauf hinterlassen, die unsichtbar für den normalen Beobachter schien, sich aber wie samt auf sie legte und erst nach mehreren Sekunden, in denen sie den Geschmack aus der Flüssigkeit kostete, mit selbiger Geschmeidigkeit den trockenen Rachen hinablief. Sofort bildete sich der leichte Ansatz einer Gänsehaut und es vereinigten sich so viele Emotionen auf einmal in ihr, dass sie nicht wusste, ob sie deren Herr werden konnte.
    Sergios Worte waren durch ihr Gehör direkt in ihr Herz gedrungen. Es war schwer für die Halbitalienerin zu glauben, dass er wirklich einen so starken Stolz für sie entwickeln würde. Zwar war es keine lieblose Beziehung zwischen ihnen beiden, in jedem Funken steckte tiefe Verbundenheit und Liebe, aber für sie war dieses Geständnis so selten so deutlich gewesen wie jetzt. Ihr Atem stockte für einen Moment. Jeden Tag, jede Sekunde ihres Lebens pushte der Sizilianer sie weiter. Trieb sie über den Rand ihrer eigenen Fähigkeiten hinaus, ging seinem Auftrag nach und formte aus ihr die gewünschte Perfektion, die sie erhalten wollten: Wissensdurstig, unnachgiebig und willig alles blind zu erledigen, was die Familie ihr auftrug. Natürlich war sie diesem Ideal noch nicht hundertprozentig gerecht geworden. Auch das war ein Nebenprodukt dieser Erziehung: Zu glauben, dass es niemals reichte um ihr anzutrainieren jedwede Grenzen zu sprengen, die sie hielten. Quasi mehr Peitsche als Zuckerbrot, aber dennoch ausgewogen genug um sie am Ball zu halten. Und wenn es ihre Überzeugungen nicht getan hätten, dann war es das langsam wachsende, unstete Verlangen nach neuer Medizin, dass sich in ihrem Blutkreislauf bewegen konnte. Doch jetzt war es wie der Abschluss eines Meilensteines, sie war einem Ziel so unfassbar nahe, fühlte sich aber dennoch irgendwie leer, auch, wenn das umfangreiche Lob ihr eine sehr seltene Art der Rührung ins innerste zu treiben versuchte. Innerlich redete sie sich ein, einfach nur verwirrt zu sein. Von außen war es das erste Zeichen einer irreparablen Zerstörung, dass beide nicht nur ignorieren würden, sondern es auch mussten. Alles zum größeren Wohl.
    Der Geschmack ihrer Heimat lag ihr nun auf der Zunge. Fruchtige Nuancen von Heidelbeeren, die hölzerne Note der Reifung im Fass, eine liebliche Schwere die die Sprenkel von Sulfide direkt in ihren unsicheren Geist trieben. Als könne man die Heimat schmecken – wenn es irgendwie möglich war die Perfektion einzufangen, die Sizilien hergab, dann war sie hier und in dieser Flasche versammelt gewesen.
    Schnell gesellte sich zu der einsamen, unentdeckten Träne ein ganzer Vorhang weiterer Perlen, die an ihren Wangen hinabliefen, ohne, dass sie zuvor eine andere, nennenswerte Reaktion gezeigt hätte. Doch ihre Haut schien übersättigt, kribbelte leicht und reagierte auf seine Worte und die Berührung ihrer Schulter mit so viel, dass sie es weder benennen noch einordnen konnte. Alles, was sie eindeutig fühlte, als sie Siziliens Geschmack in ihrem Mund hatte, sich einbildete, das Meer riechen zu können und die einzige, kontinuierliche Vertrautheit die sie kannte neben ihr saß, war: „Ich will nach Hause…“. Was sie weinen lies, ihren Körper ein wenig krümmte und dann…
    Luci schien noch unsicher, selbst, als ihr Gefühlsapparat erstmalig jegliche Handlung und den Verstand übernahm. Das hier war nie auf diese Weise geschehen. Aber sie konnte den inneren Drang nach Nähe nicht blockieren, nicht jetzt, so sehr sie es auch wollte und so sehr sie glaubte, damit etwas zu tun, wofür sie den Stolz wieder komplett verlieren würde. Und dennoch bewegte sich ihr Körper wie eigenständig zur Seite, die Beine angewinkelt an sich gedrückt, so lange, bis sie Sergios Schulter an ihrer Wange spürte, den Geruch der gewaschenen Kleidung aufnahm und nicht anders konnte als leise zu weinen.
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  9. #89
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    Sergio war es keineswegs gewohnt, dass Luceija weinte, doch es überraschte ihn auch nicht zu sehr. Wenn dies hier nicht als Ausnahmesituation zählte, was dann? Es war nach seiner Meinung keineswegs Zeichen der Schwäche, dass sie ihre Gefühle zeigte, denn würde sie es nicht tun, würde aus ihr in kürzester Zeit eine Psychopathin werden - und das war aus persönlicher, wie auch aus professioneller Perspektive absolut inakzeptabel. Was würde Cerberus eine geistesgestörte Killerin nützen, deren Stabilität man nicht einschätzen konnte? Leise flüsternd unterhalb dieser rationalen Gedanken gesellte sich eine zweite, immer lauter werdende Stimme in seinem Kopf dazu: Was würde vor allem er selbst tun, wenn er seine Luci nicht mehr hätte? Es war ein anderes Verhältnis als das von Vater zu Tochter. Spätestens, seit sie etwa neun oder zehn Jahre alt war, war sie eher so etwas wie eine Schülerin und mit jedem Jahr, das sie an Lebenserfahrung gewann und in dem Sergio sich von der Außenwelt isolierte, wurde sie zudem auch seine einzige wirkliche Freundin. Außer ihr traute er niemandem mehr - wenn er ehrlich zu sich war, nichteinmal mehr den anderen Zellenmitgliedern. Sicher stand er noch hinter dem Grundgedanken der Organisation und war bis in den Tod loyal, doch er selbst wusste wie jeder andere darin, dass jedes Mitglied oft eigene Auslegungen hatte, wie man Cerberus am besten dienen sollte - und wen man dazu auch nötigenfalls in den eigenen Reihen ausradieren musste. Nein - Vertrauen, das hatte inzwischen nur noch seine Luceija verdient. Und je länger dies so blieb, desto ambivalenter wurde sein Verhältnis zu ihr. Vater war er ihr nie wirklich, auch wenn sie es oft im Spaß oder in einer Notlüge so nannten. Doch auch Mentor war er ihr oft nicht mehr, wenn alle Pflichten erledigt waren. Dann war sie einfach eine sehr enge Freundin. Unerfahrender und jünger, aber dennoch gleichwertig. Und gerade jetzt, da auch ihr Körper reifte, musste er sich oft selbst erinnern, dass seine Arbeit Vorrang vor seinen Bedürfnissen hatte. Aber jetzt war er bedingungslos ihr Freund. Und so als sei es jemand anderes gewesen, der ihr dieses Leid heute zugefügt hatte - so als sei der Sergio, der sie vorhin noch gezwungen hatte, einen von ihr gemeuchelten ausbluten zu sehen, ein anderer Mann, als der, der sie nun tröstend umarmte und an sich zog, sanft ihren Rücken streichelte und ihren Hinterkopf hielt - so als sei der Mentor ein anderer Mensch als ihr Freund, der nun bei ihr saß, tröstete er sie geduldig und mitfühlend.
    "Ich will auch nach Hause, Luci. Wenn Everett endlich von der Bildfläche verschwunden ist, machen wir beide einen Urlaub von all dem hier. Bräunen uns unter der echten Sonne, nicht unter diesem künstlichen UV-Licht zwischen Blech und seltsamen Aliens. Wir brauchen ohnehin bald neuen Wein aus der Heimat. Vielleicht keltern wir uns dort ein paar Trauben, wenn die Ernte gut ist. Ich schreibe uns einfach ein Gutachten - Muss doch auch Vorteile haben, einen Doktor zu kennen. Ich stelle mir selbst ein Attest aus und setze mich ein paar Wochen in einen schattigen Schaukelstuhl. Und dich nehme ich mit mir", murmelte er in entspannender Stimme in ihr Ohr, als er versuchte, sie zu beruhigen. Und trotzdem erlaubte er ihr zu weinen. Sie tat es viel zu selten.
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  10. #90
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    Sie war so wenig eine normale Jugendliche wie sei ein normales Kind gewesen war. Jeder Schritt, den sie in ihrem Leben gegangen war, egal, ob nun durch wirklich gute oder richtig schlechte Zeiten, hatte Spuren an ihr hinterlassen und sie eben zu dieser jungen Frau geformt die sie nun war. Doch dass insgesamt etwas nicht mit ihr stimmte, wenn man sie in den Vergleich mit anderen Mädchen ihres Alters setzte, war nicht von der Hand zu weisen. Viele Faktoren spielten dabei in ihr Gesamtkunstwerk hinein. Die Drogensucht, die Versuche, die Disziplin, aber auch die unverhoffte Isolation aus einem regulären, sozialen Umfeld mit Freunden und anderen Bezugspunkten. Sie wurde immer gemahnt vorsichtig zu sein, wenn sie mit anderen sprach und so etwas wie Vertrauen außerhalb der Familie nicht aufzubauen. Das führte zu vielen temporären Bekanntschaften. Auch auf Sizilien kannte sie einige Mädchen und Jungen in ihrem Alter, war oft draußen, lebte ein scheinbar unbeschwertes Leben dort, aber wirkliche, permanente Freundschaften wollten sich nicht entwickeln. Bei ihrem eher offensiven und labilen Verhalten und vielen kleineren, kriminellen Machenschaften im Hintergrund die bei Kindern eher übersehen wurden, war das Resultat aus allem, dass ihr genauso wenig vertraut wurde. Mehrere Male führte man sie auch in Hinterhalte, lies sie die Scheiße anderer ausbaden bis sie alt genug war daraus zu lernen und sich zu rächen.
    Letztlich waren es so viele Lücken in einem scheinbar perfekten Bild, dass man Ewigkeiten weiter darüber hatte philosophieren können welche unerkannten Traumata die junge Frau seelisch verstümmelt hatten. Zumindest oberflächlich wollte sie anderen weißmachen, makellos zu sein, mit ihrer großen Klappe, der zielsichersten Waffe. Doch grub man tiefer, schaute zwischen die verhärteten Fassaden und auch die Tatsache, dass sie für ihre wenigen Lebensjahre viel zu selten geweint hatte, erkannte man eben das: Etwas stimmte nicht.

    Luci ließ sich halten und fühlte sich ungewohnt geborgen. Genoss es sogar, wie die Finger ihren Rücken streichelten, wie sie die Anwesenheit eines anderen Menschen riechen konnte, wie sie den heimischen Geruch des immer gleichbleibenden Waschmittels erkennen konnte. Sie weinte sich im wahrsten Sinn leer, schien immer kraftloser zu werden je mehr Tränen sie vergoss, aber sich dadurch auch wieder mehr und mehr zu entspannen.
    Es war ihr nicht möglich herauszufinden wie lange sie so geweint hatte, aber die unter der Feuchtigkeit aufgequollenen Augen sprachen von einer langen Zeit.
    „Tut mir leid...“, entschuldigte sie sich und versuchte sich, ausgelaugt und mit einem wiederkehrenden, leichten Zittern, die nassen Wangen mit der Hand zu säubern, aber es gelang nicht wirklich. Sie blieb nah bei ihm sitzen, richtete sich aber wenigstens ein Stück wieder zurück in eine sitzende Position. Zittrig griff sie nach dem Wein und wollte ihn wieder genießen, egal, wie viele Heimatgefühle er aus ihr herauslocken würde. Idealerweise wollte sie so betrunken werden, dass sie nie wieder aus der Illusion, noch immer auf Sizilien zu sein, ausbrechen konnte. „Kannst du mir irgendwas geben...?“, war ein nur noch deutlicheres Zeichen dafür, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Und es war auch das erste Mal, dass sie ihn bewusst um irgendwelche Arten von Drogen bat, nur, damit sie sich irgendwie abschießen oder sich zumindest zusammenreißen konnte. Dafür hatte sie gewöhnlich doch zu viel Angst gehabt oder es sich einfach besorgt. Jetzt aber war es wie ein neuer Schritt auf ihrer Vertrauensleiter.
    Luci trank weiter, einen Schluck nach dem anderen, den sie aber nicht schlang, sondern versuchte immer etwas von ihrem Gaumen schmecken zu lassen, ihn zu würdigen.
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  11. #91
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    Zu einem kurzen Lächeln konnte er sich dann doch noch durchringen, als ihre Tränen nach einiger Zeit versiegten und sie sich auf ihren Platz zurücksetzte. Er wusste genauso wie sie, dass die Sache damit nicht überstanden war, doch immerhin hatte sie den ersten Schritt der Verarbeitung bereits begonnen. Nachdem die seelische Wunde zum ersten Mal verarztet war, war es wenig überraschend, dass Luceija sogleich nach etwas fragte, das den Schmerz linderte. Er war es gewohnt. Zwischen all den Chemikalien, mit denen er Luceija täglich vollpumpte war es unvermeidlich, dass sie gewisse Toleranzen, Gewohnheiten und Suchtverhaltensweisen ausbildete. Sergio sah seine Medikamente dennoch als eine Notwendigkeit an. Etwas, das wie Nahrung nötig war und das erst in der Überdosis krank machte. Entsprechend antwortete er ihr auf ihre Frage zunächst mit einem tadelnden Gesichtsausdruck, so wie man einen Menschen ansah, der einfach zu viel Süßes aß oder zu viel trank. Dann nickte er angesichts der Ausnahmesituation schließlich doch, nahm noch einen Schluck aus seinem Weinglas und ging dann hinüber ins Labor, um dort aus dem Medikamentenschrank ein orange-transparentes Döschen zu holen, das er Luceija im Vorbeigehen und Hinsetzen auf den Schoß warf. Er hatte die Pillen nichtmal abgezählt, denn die Dose war randvoll mit glasig-durchsichtigen Glücklichmachern, die in ihrer Konsistenz eher Gelatine ähnelten als Pillen.
    "Mindestens zwei Mal zwei am Tag und höchstens... naja, sagen wir an schlechten Tagen nicht mehr als insgesamt zwanzig. Hör einfach auf deinen Körper, du wirst schon merken, wenn es zu viele waren", appellierte er an ihre Vernunft und wusste dabei doch ganz genau, dass er damit ein Risiko einging. Immerhin trank sie zu ihrer ersten Dosis gerade Alkohol.
    "Wenn du halluzinierst, war es wahrscheinlich zu viel... Und niemals plötzlich absetzen - dir wird es sonst richtig beschissen gehen, glaub mir", erklärte er locker, obwohl der Inhalt alles andere als unwichtig schien. Unterdessen legte er ein Bein auf der Couch nach oben und schaltete auf dem Holoschirm über das Extranet eine italienische Telenovela ein. Die Schauspieler waren grauenhaft, der Plot löchrig wie ein Schweizerkäse, doch es beruhigte ihn, dass die Leute zumindest so ähnlich parlierten, wie er es von Kind auf kannte. Und er vermutete, dass es Luceija ebenso helfen würde - vom Unterhaltungswert der unterirdisch schlecht produzierten Sendung einmal abgesehen.
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  12. #92
    Fionda per cereali  Avatar von Luceija
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    Die kleinen Gelatineartigen Pillchen schlugen geräuschvoll an die Wände des orangefarbenen Röhrchens in dem sie steckten, als sie der jungen Sizilianerin in den Schoß fielen. Sie seufzte beinahe erholt - schon beim Anblick der Mittel und dem Gedanken daran, gleich etwas einnehmen zu können, dass ihr diesen Druck im Inneren nahm. Es wurde nur besser während sie die kleine Dose in die Hand nahm, zittrige Hände den Deckel umfassten und sie mehrere Anläufe brauchte um ihn langsam und behäbig abzuschrauben. "Alles klar...", murrte sie nur, hatte auch registriert welche Dosis er empfohlen hatte, legte den Fokus aber erstmal darauf, eine unmittelbare Heilung auf ihre Schmerzen zu bekommen. Luci tat es Sergio damit gleich die Pillen nicht abzuzählen, sondern führte direkt den Zylinder an ihre Lippen, stürzte ihn um und füllte den Mund direkt mit mehreren Antidepressiva. Sie erfühlte mindestens 4 auf der Zunge, tatsächlich aber waren es 5, die sie mit dem perfekten Wein hinunterschluckte.
    Das Zittern wich, langsam aber sicher, obwohl die Pillen keine so schnelle Wirkung zeigen konnten. Es war eher schon ein leichter Plazeboeffekt, der sie in einen wohligen Zustand versetzte. Die kleine Schwarzhaarige schraubte den Deckel wieder sorgfältig zu - diesmal mit deutlich ruhigeren Händen - setzte das Döschen vor sich auf den Tisch und ahmte einmal mehr Sergio nach indem sie die Beine in einer gemütlicheren Haltung zu sich hinauf aufs Sofa nahm.
    Nun war der Fernseher das Zentrum jedweder Aufmerksamkeit und zeigte mehrere junge Männer und zwei Frauen an einem großen Tisch, an welchem sie gemeinsam zu Abend aßen und sich über das lächerliche Verhalten ihrer Nachbarn beklagten. Die Diskussion an sich hangelte sich an jedem Klischee entlang, aber auch wie die Szene inszeniert wurde, lies dabei in nichts nach: Es war laut, sie gestikulierten allesamt wild zum unterstreichen ihrer Argumente und man hätte das Temperament aus der Luft greifen können, so stark waberte es über den Schauspielern. Weder Sergio noch Luceija hatten Probleme dem Plot zu folgen und dem Gewirr an Stimmen Einzelheiten zu entnehmen. Doch wirklich aufmerksam war sie dennoch nicht, denn was sie gesagt hatte, entsprach der absoluten Wahrheit: Sie wollte nach Hause. So dringend wie noch nie. Und jede Szene, auch, wenn die Telenovela an einem komplett anderen Eck Italiens gedreht wurde, erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie wieder dort sein könnte. Sitzend am Strand. Salzhaltige Meerluft einatmend. Aber sie konnte kein Salz riechen. Sie konnte nicht mal richtig atmen. Der Sender vor ihren Augen verzog sich, Kopfschmerz pulsierte in ihren Schläfen und sehr schnell war es soweit, dass die junge Frau nicht einmal mehr ein Wort verstand. Alles klang auseinandergezogen in ihren Ohren und enthob sich jedem Zusammenhang. Schwäche hüllte sie weiter ein und trieb sie dazu, sich in die andere Richtung des Sofas, rechtsseitig hinzulegen. Das Rotweinglas, dass sie gehalten hatte, entglitt ihr, fiel auf den Boden, blieb aber ganz und verteilte einfach nur den Rest des Weines, vielleicht einen Schluck, auf dem sauberen hellgrau. Sie wusste nicht, woran es lag. An den Pillen? An etwas anderem? Stress? Heimweh? Was auch immer es war, es knockte sie aus.
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  13. #93
    Ritter Avatar von Tjordas
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    Zunächst bemerkte Sergio gar nicht, dass Luceija allmählich wegdriftete, schaute stattdessen weiter auf den Fernseher, oder besser gesagt, halb durch diesen hindurch, denn wirklich auf diese schwachsinnige Serie konzentriert wirkte er nicht. Erst das Scheppern des Weinglases auf den Bodenpanelen riss den Italiener wieder aus seinen tiefen Gedanken. Luceija war nun völlig weggetreten und hatte, als sie sich auf das Sofa gelegt hatte, das Weinglas einfach fallen lassen. Da das kostbare Glas nicht zerstört war, ärgerte sich sein Besitzer auch nicht zu sehr darüber, und da er auch keine Teppiche in dieser Wohnung hatte, machte er sich auch über den Wein auf dem Boden wenig Gedanken. Er würde den Fleck dem Putzroboter überlassen, der hin und wieder hier herumsauste. Stattdessen betrachtete er Luceija eine Weile während sie dort lag und schlief und auch wenn er sich nach wie vor um ihre Psyche sorgte, wirkte sie gerade so friedlich, als wäre nichts von all dem heute geschehen. Sicher eine Viertelstunde lag er so da, bis er bemerkte, dass die Sendung, die er angewählt hatte, inzwischen vorbei war. Etwas widerwillig erhob er sich aus seinem Polster und hob das Weinglas auf, das inzwischen halb unter das Sofa gerollt war. Da er dabei weit unter das Möbel greifen musste, lehnte er sich mit seinem Gesicht etwas näher an das von Luceija, die durch das blockierte Licht und Sergios Atem auf ihrer Haut offenbar leicht erwachte und die Augen ein kleines Stück öffnete. Dieser sah ihr kurz etwas überrascht in die halboffenen grünen Augen und war kurz vor ihr kniend regungslos geblieben, bis sie die Lider wieder senkte. Dann stellte er das Weinglas auf dem Couchtisch ab, griff Luceija unter Kniekehlen und Nacken, um sie vom Sofa zu heben und zum Labor zu tragen. Bedingt durch die Wirkung der Medikamente gemeinsam mit dem Wein, war ihr Schlaf nicht wirklich tief, sondern mehr etwas wie ein halbbewusste Sedierung, in der alles um sie herum langsamer wirkte und sich auf Grund ständiger sich einmischender Halluzinationen schwer von einem Traum unterscheiden ließ. Entsprechend trafen sich auf dem Weg den Flur hinunter wieder die Blicke der beiden, wobei Sergios Mimik wohl beruhigend genug auf Luceija wirkte, dass sie sich bedenkenlos tragen ließ. Vorsichtig hob er sie durch die Labortür und legte sie sanft auf ihrem Behandlungsbett ab. Er half ihr in ihrer Schwäche halb aus der Jacke, die sie noch immer trug sowie aus ihren neuen Stiefeln, mit denen diese ganze Sache doch erst angefangen hatte. Dann nahm er ein Fläschchen und eine Spritze der üblichen Medikamente aus dem Medizinschrank in der Ecke des Raumes, setzte sich auf seinen Stammplatz, den Rollhocker neben ihrem Bett, und zog mit einer gewissen Routine die Spritze mit der leicht violetten Flüssigkeit auf. Er entschloss sich, die Dosis heute etwas zu reduzieren, da die Mittel ungünstig mit den Antidepressiva und dem Alkohol interagieren könnten. Er wollte bereits in der gewohnten Weise ihren sonst kurzen Topärmel hinaufrollen und die Spritze an ihrem Oberarmmuskel ansetzen, bis er bemerkte, dass sie heute ein langärmliges Shirt trug. Also legte er die Spritze kurz auf dem Nachtschrank ab und half der wachen, aber etwas benebelten Luceija, das Top auszuziehen, wobei sie ihm eher wenig behilflich war, sondern nur ihr Körpergewicht beim Liegen etwas umverlagerte, um es Sergio leichter zu machen. Erst jetzt konnte er die Kanüle an ihrem Arm ansetzen und die Flüssigkeit im Kolben langsam injizieren. Gerade wollte er aufstehen und das Labor, das sie ihr Zimmer nannte, verlassen, als sie ihn im halben Delirium am Handgelenk griff. Etwas irritiert setzte er sich wieder und sah Luceija in die glasig wirkenden, grünen Augen, deren Pupillen stark geweitet waren und die beinahe durch Sergio hindurchzuschauen schienen. Er wusste nicht, was sie gerade sah, doch er wusste, dass er sie so nicht alleine lassen konnte. Also blieb er noch eine Weile bei ihr.
    Einige Stunden später trat Sergio aus dem Labor heraus, richtete sich die Haare und legte sich seinen Arztkittel wieder an. Es gab noch einiges an Arbeit zu tun, bevor er sich selbst Schlaf gönnen würde.
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  14. #94
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    Viel zu warm glaubte sie den Raum vorzufinden, als sie irgendwann, mitten in der Nacht, wie sie anhand des Weckers unweit ihres Kissens erkennen konnte, aufgewacht war. Sie war zugedeckt worden und obwohl der Stoff der Decke wirklich dünn war, klebte er regelrecht an ihrem Körper. Dass sie schlecht geschlafen hatte konnte sie allerdings nicht sagen, die übliche Gute-Nacht-Spritze war betörend wie immer und wiegte sie in einem wohligen Bett aus freien Gedanken. Wenigstens einige Momente lang hatte sie nicht an den Mord denken müssen, der sie sicherlich heimgesucht hätte, wenn es diese wundervollen Medikamente nicht gegeben hätte. Selbst diese Neuerungen ihrer abendlichen Routinen ließen sie zwar mit einem ungewohnten Gefühl zurück, aber sicherlich keinem schlechten. Nur leichte Schmerzen die sie nicht als solche bezeichnet, sondern für unwichtig oder sogar eher einen Triumph gehalten hätte, verteilten sich über ihren Körper, insgesamt aber fühlte sie sich erschreckend erfüllt. Welcher Teil von Euphorie-Nachwirkung ihr auch immer gerade den Kopf verdrehte schaffte es erstaunlich gut, ließ sie ihr Gesicht mit der Nase voraus gegen ihren ausgestreckten Oberarm drücken und einen längst getrockneten Schweißfilm erkennen, der ihrer Haut einen wundervoll neutralen und zudem heimatlichen Duft verlieh.
    Sie lag einige Zeit ruhig so da ohne wieder einzuschlafen und hörte ihrem minimalst beschleunigten Herzschlag dabei zu wie er gegen ihre Brust pulsierte. Ihr Atem war ausgeglichen aber ebenfalls lauter als sonst, intensiver und länger, sodass sie jegliche Empfindung in den Luftstrom legen konnte, der tief in sie hinein und wieder herausfuhr. Erst später, als ihr trockener Mund nach Flüssigkeit bettelte war sie dazu bereit die Position aufzugeben, sich langsam aufzurichten und die Decke mit ihren Füßen ans untere Ende der Liege zu knautschen. Prompt fror sie, als sie die sichere Wärme aufgegeben hatte und mit ihr einher kamen dunkle Gedanken zurück in ihren Kopf. Sie hörte, als leises Echo, die jämmerlichen Schreie des eigens von ihr Gequält- und Geschächteten, hörte, wie er immer leiser wurde und verinnerlichte das, was sie dabei gefühlt hatte in sich. Ebenso wie das was sie gefühlt hatte, als Sergio sie zurück in Richtung des Opfers gedreht hatte und sie zugesehen hatte, wie Liter um Liter Blut aus ihm heraus quoll, von seinem Leib rann und schließlich in das Becken tropfte, in welchem er zum Teil hing.
    Luci rieb sich die Schläfen und tastete regelrecht blind nach den Mitteln, die ihr Vater ihr gestern noch gegeben hatte. Davon, zwanzig Einheiten am Tag nicht zu überschreiten, war sie noch sehr weit entfernt und deshalb empfand sie auch kein Risiko dabei den Behälter aufzuschrauben, zwei Pillen herauszunehmen und sie direkt zu schlucken, als sie sie endlich fand.

    Das Mädchen rutschte von ihrem "Bett", ging wenige Schritte, bis sie an ihrem Schrank angekommen war und öffnete diesen um sich ein ziemlich großes Tanktop über die nackte Haut zu werfen, bevor sie kehrt machte und aus ihrem Zimmer in Richtung Kühlschrank trat. Sie fand ihn mittlerweile ohne irgendein Licht anschalten zu müssen, trottete zielsicher an das Objekt ihrer Begierde heran und öffnete ihn, bis ihr das gleißende Licht im inneren entgegenstrahlte und sie kurzzeitig blendete. Ihr zweites Objective war schnell gefunden: Die bereits vorangerührten und einzeln abgefüllten, etikettlosen Drinks in der Plastikflasche schienen nun genau richtig und schon der erste Schluck löschte den massiven Durst und spülte den salzigen Geschmack ihre raue Kehle hinunter. Noch während sie Schluck für Schluck trank und dabei ziemlich leblos im Apartment herumsah, traf ihr Blick den Ausgang in Richtung Terrasse, auf die sie langsam zu lief. Müde Augen sahen nach draußen, konnten aber nur die obersten Apartments sehen, die sich schüppchenweise hochreihten. Wenige hatten noch Licht an, an einem Fenster sah sie eindeutig, dass jemand einen Film sah und der Rest schien entweder nicht da zu sein oder tief und fest zu schlafen. Sie hingegen blieb weiter schlaflos, drückte am rot leuchtenden Panel um die Terrassentüre zu öffnen und trat heraus auf das nur bedingt kühlere Steinimitat. Sie vermisste einmal mehr die Meeresluft und vorallem auch die Wetteränderungen an sich. Hier gab es nur das selbe, klinische Klima und die selben, langweiligen Bedingungen, die sie akzeptieren musste wie sie waren. Luci setzte sich auf eines der Gartenmöbel, bemerkte, dass auch diese Sitzposition gewisse Schmerzen verursachte und nahm dann die Beine zu sich nach oben und betrachtete das, was die Citadel in Sachen "Sternenhimmel" zu bieten hatte. Wenigstens das, der Blick aufs weite All, lediglich getrübt von Masseneffektfeldern zur eigenen Sicherheit, stimmte sie für den Moment milde und übertünchte das Bild der Leiche, eingebrannt in ihrer Netzhaut.
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  15. #95
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    Der Arzt und Hausherr erwachte erst mit den ersten vom Witwe-System eindringenden Sonnenstrahlen durch sein Fenster. Es war noch früh am Morgen, und dennoch war er nicht der erste, der zumindest kurzzeitig vorher durch das Haus gespukt war. Sergios erste Wahrnehmung war die von pochenden Kopfschmerzen hinter beiden Augen, die er, wie üblich, vorhatte mit ein wenig Espresso zu kurieren. Er erhob sich von der Wohnzimmercouch, auf der er eher versehentlich genächtigt hatte, und schlurfte durch das zu weiche Polster bucklig in Richtung Küche, um dort seine achteckige Espressokanne mit Kaffeepulver zu füllen. Erst nach dem dritten Löffel bemerkte er, dass Luceija draußen vor dem Fenster in einem Liegestuhl auf der Terrasse lag, leicht zusammengekauert, und dort die hinter einem gegenüberliegenden Wardflügel aufgehende Sonne genoss wie ein Salamander.
    Mit zwei dampfenden Tassen Espresso trat Sergio bald darauf ebenfalls nach draußen und stellte Luceijas Tasse vor ihr auf dem Terrassentisch ab. Er sprach nicht, weckte sie nicht auf, sondern überließ dem Kaffeeduft diese Aufgabe, als er sich nachdenklich am Geländer in seinem Wohnviertel umblickte und dabei ab und an aus seinem Tässchen schlürfte. Noch immer trug er die Kleidung vom Vortag und seine Haare waren struppig, doch in Gedanken war er bereits wach und bei der Arbeit.
    "Hast du dir schon ein Kleid ausgesucht?", rief er nach einigen Minuten hinter sich, als er Luceijas erste Regungen hörte.
    "Bestell dir irgendwas kurzes im Extranet. Sieh zu, dass es etwas ist, worin du älter aussiehst. Make-Up schadet sicher auch nicht... Premiumversand. Immerhin sind wir heute Abend auf einer Party - nicht viel Zeit zum Aussuchen", erklärte er ruhig und langsam, während er den Rest seiner Tasse austrank und einen verbleibenden Kaffeetropfen in seinem Tässchen herumrollen ließ. Als unter seiner Terasse drei Salarianer vorbeiliefen, folgte er seinem kindischen Instinkt und leerte den Tropfen über das Geländer aus, woraufhin der unten getroffene Salarianer sich konfus umblickte. Schmunzelnd kehrte sich Sergio vom Geländer ab und setzte sich auf einen Stuhl neben Luceija.
    "Wie gesagt, der Plan ist im Grunde ganz einfach, Luci. Everetts Zellenkontaktmann zum Alten ist ein Clubbesitzer auf dem Sunstrip. Er schaut dort jede Woche vorbei um Pläne abzusprechen und Schwarzgeld abzugraben. Es würde mich zwar auch interessieren, was sie weiteres vorhaben, aber am sichersten ist es wohl, wenn wir keine Gelegenheit verstreichen lassen. Ich denke, er weiß nicht wie du aussiehst - er kennt nur meine steinalten Akten, da bin ich mir sicher. Deine Aufgabe ist es deshalb, ihn mit einem Betäubungsmittel zu sedieren. Am besten gebe ich dir ein paar Alternativen mit - Brausetabletten für Cocktails, Klebepflaster, eine Fingerkuppenkanüle und ein getränktes Atemtuch. Entscheide einfach je nach Situation, was du benutzt. Dann gibst du mir über Funk das Signal, ich warte bis das Mittel wirkt und schnappe mir dann Everett, so lange er noch stehen kann. Dann schleppe ich ihn zur Toilette, behaupte, er habe zu viel getrunken, wenn jemand fragt, und verpasse ihm in einer Toilettenkabine eine Drogenüberdosis. Ein bisschen Schmiergeld bei der C-Sec und sie gehen der Sache nicht weiter nach. Ärzte mit Zugang zu Rauschmitteln gibt es Dutzende auf der Citadel... Das ist der Plan. Wenn alles glatt läuft, musst du heute also nicht die Drecksarbeit machen", spielte er auf ihren Mord vom Vortag an und wollte sie somit wohl beruhigen...
    "Ach und was das Reinkommen betrifft... Leicht bekleidete Frauen haben in diesem Club wohl besondere Vorzüge, um genug Tanzmaterial für die reichen Säcke dort zu bieten. Am besten gehst du einfach ohne mich zu einem der Türsteher und fragst ihn, ob sie noch Frauen für die VIP-Lounge brauchen. Die lassen dich sicher durch, da habe ich keine Zweifel. Wir sehen uns dann in der Lounge, bevor sich der Laden füllt. Und hey, wenn noch Zeit ist, hätte ich nichts gegen einen Drink einzuwenden", grinste Sergio leicht und schloss, so verriet es sein Blick, damit wohl auch einige Drinks für Luceija mit ein.
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  16. #96
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    Die halbe Nacht hatte sie hier verbracht. Auf der Terrasse des schuppenartig angeordneten Apartments, geschützt von den Blicken oberer Anwohner, aber als letztes Gebäude auf dem Treppchen nach unten, mit der einzigen Möglichkeit, unten auf die Wege zu sehen. Dort, wo ein Salarianer erschrocken zusammenzuckte, sich den Kopf rieb und derartig perplex gen Himmel sah, dass man ernsthaft glauben konnte, dass er sich überlegte, ob es hier regnete. Sie sah und hörte ihn nicht, sondern konnte nur aus halbgeöffneten Augen das verschmitzte Grinsen des Sizilianers erkennen, der sich nun zu ihr umdrehte und auf sie zu kam. "Mmm-mmm..", brummte die Halbitalienerin nur und verneinte damit die Frage ihres Adoptivvaters nach dem Kleid. Sie hatte sich ernsthaft noch keine einzigen Gedanken über den weiteren Plan machen können. Alle Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, hatten immer mit diesem einen Moment zu tun. Mit diesem grellenden Schrei, dem Tropfen von Blut und dem Gestank von verbranntem Fleisch in ihrer Nase. Ihr wurde permanent übel wenn sie daran dachte, gab sich aber Mühe, es nicht zu tun. Immerhin übertünchte der frische Espresso die unweigerlich prägende Erinnerung an diesen Moment. Also griff sie nach ihm, beugte sich gerade so vor wie es ihr Rücken erlaubte, der selbst in ihrem zarten Alter schon unter der ungewöhnlichen Liegeposition gelitten hatte und angelte in mehreren Versuchen nach der Tasse, die sie zu sich nahm, als wolle sie sie nie wieder hergeben. Ihre schmalen Beine hatte sie eng an sich gezogen. Kühle Klimaluft lies ihre Haut erzittern und generierte eine leichte Gänsehaut. Sie raunte unwohl, ehe sie ihre Nase regelrecht in die Tasse tunkte und sich ähnlich wie bei einer Grippekur von dem heißen Aroma einhüllen ließ. "Gott riecht das gut..", seufzte sie und wusste, dass das hier wahrscheinlich der einzige Geruch sein konnte, der ihr dem verbrannten Fleisches austreiben konnte. Sie begann an ihrem Getränk zu nippen und verbrannte sich leicht die Zunge. Es war ihr egal.

    "Alles klar.", sagte Luceija nach einer Weile, in der sie mit langsamem Nippen an der kleinen Tasse nach und nach ihren Espresso geleert hatte. Jeder Tropfen machte sie etwas wacher, aber die Monotonie war nicht wirklich aus ihrer Stimme verschwunden. Viel eher machte sie einen beinahe mechanischen, abgeklärten Eindruck. Sie riss keine dummen Witze, sie murrte nicht oder kam mit sinnlosen Gegenargumenten - nein, sie nickte den Vorschlag des Sizilianers einfach nur ab und fügte seiner Aufforderung sogar noch nahezu folgsam hinzu: "Ich werd' gleich was bestellen."
    Wahrscheinlich wollte sich Luceija selbst einreden, dass der gestrige Abend keine Spuren an ihr hinterlassen hatte. Aber das wäre eine genauso große Lüge gewesen wie die zu behaupten, sie hätte nicht äußerst eigenwillig geträumt. Sie hatte im Traum diesen Kuss auf ihren Lippen gefühlt und war verwirrt und angetan zugleich gewesen. So eine Art Traum, bei der man nicht glauben konnte, dass es wirklich einer war. Aber das war er wohl. Musste er sein. Alles, was wirklich real war, war diese Änderung, die in der Schwarzhaarigen einen Sturm ausgelöst hatte. Einen, den sie erstmal verkraften musste und dafür Zeit brauchen würde. Zeit, in der offensichtlich wurde, was alles in dem einstigen Kind zerbrochen war und darunter eine bereits angeknackste Frau zum Vorschein kam.
    "Machst du mir noch was kleines zu Essen? Irgendwas zum Mitnehmen, ich muss für heute Abend noch ein paar Sachen besorgen." Das war nur teilweise richtig. Tatsächlich würde sie ihr Makeup-Arsenal etwas aufstocken müssen, aber es war nicht so, dass sie keines besaß. Sie hatte sich schon manche Drinks erschlichen, indem sie sich älter stylte als sie war. Man sah zwar, dass sie verdammt jung war, aber man fragte nicht mehr, WIE jung. Den meisten war es ohnehin egal. Nein - sie wollte weg. Musste raus. Sich bewegen, irgendetwas anderes sehen als diese Wände. Sie hatte Angst davor, hier Wahnsinnig zu werden. "Bitte..?", seufzte sie.
    Luceija ist offline Geändert von Luceija (07.08.2017 um 22:28 Uhr)

  17. #97
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    Bei dieser Bitte betrachtete Sergio die offensichtlich noch immer verstörte Jugendliche etwas genauer. Es war klar, dass sie nicht nur irgendwelche banalen Besorgungen machen wollte, sondern lediglich Freiraum brauchte, um die Ereignisse der letzten Tage zu verarbeiten. Ihr Adoptivvater blinzelte mehrfach mit einem eindringlichen, analytischen Blick in ihre Augen. Dann nickte er schließlich leicht und schmunzelte dabei etwas schief.
    "Habe sowieso noch viel zu tun", brummte er etwas mürrisch und erhob sich wieder von seinem Liegestuhl. Das Abräumen der Tassen überließ er Luci, auch wenn er wusste, dass sie es wahrscheinlich vergessen würde.
    Er schlurfte direkt in die Küche und zog aus dem Kühlschrank die bereits am Vortag gekochten und gefüllten Arancini - kleine, gefüllte, italienische Reisbällchen. Er hatte nicht geknausert: Circa zwei dutzend hatte er vorbereitet, beinahe, als hätte er Gäste erwartet. Tatsächlich war es nur schlicht ein Problem, die importierten Gebindemengen, die man ihm zur Citadel lieferte, in vernünftige Portionen zu verwandeln. Es schadete dennoch nicht, in diesem unüblichen Zwei-Personen-Haushalt viel Essen im Haus zu haben. Luceija aß nicht genug, das war eine Folge der zahlreichen Medikamente, die er ihr verabreichte, und zudem war ihr zunehmend mit Eezo angereichertes Nervensystem über die Jahre immer energiehungriger geworden. Allerdings hatte er in den letzten Jahren festgestellt, dass man Luceija am besten zum Essen brachte, indem man entweder ständig kochte, um sie durch die Gerüche und Geräusche anzulocken, oder indem man zumindest immer etwas Vorbereitetes und Warmes in ihre Nähe stellte. So verteilte Sergio nicht selten dutzende Schokoriegel in der ganzen Wohnung, stellte zu jeder Tageszeit fertige Teller mit Essen in die Küche oder ins Labor und hatte stets einen üppig gefüllten Kühlschrank für seine Ziehtochter bereitgehalten. Ein weiteres Erfolgsrezept war es, ihr etwas zu kochen (oder zu bestellen), das sie unterwegs essen konnte. Arancini waren dabei Sergios erste Wahl. Zunächst noch mürrisch beim Kochen, hob sich seine Laune durch den meditativen Panierprozess und das knusprige Geräusch der frittierenden Bällchen, bis er irgendwann fröhlich und nahezu virtuos zu pfeifen begann.
    Die Reisbälle mit den Lieblingsfüllungen Luceijas rollte er in kleine, silbrige Folienbeutel ein und vakuumierte und verschweißte diese im heißen Zustand. Dann legte er sie, beinahe liebevoll, in eine Pappschachtel und stellte sie Luceija auf den Küchentisch, um sie wie mit einer Mausefalle herzulocken. Er selbst legte sich vier der Bällchen auf einen Teller und begann am selben Tisch etwas lustlos zu essen, obwohl es ihm durchaus gut schmeckte. Es gingen ihm selbst eindeutig viele Gedanken durch den Kopf. Als Luceija dann irgendwann wieder in die Küche kam, um sich ihre Ration abzuholen, zog Sergio die Schachtel in letzter Sekunde vor ihren gierigen Händen zurück und sah ihr von unten ernst in die Augen.
    "Die waren viel Arbeit. Wenn du nicht mindestens vier davon isst, bring ich dich um", brummte er. Der Scherz war ihm nicht als solcher anzusehen, trocken wie er dabei blieb, doch er wusste, dass seine Luci seinen eigenwilligen Humor verstand.
    "Ich muss nachher selbst noch aus der Wohnung. Wir sehen uns später vor Ort. 'Nightwind'. Sieben Uhr vor dem Club", fasste er knapp zusammen und nahm dann einen weiteren Bissen von seinem eigenen Essen. Es war noch viel zu heiß - der übrige Ball dampfte noch in seiner Hand, doch offenbar verkniff er sich, diesen wieder auszuspucken, um die Wichtigkeit der Aufforderung nicht abzuschwächen.
    Tjordas ist offline Geändert von Luceija (18.08.2017 um 19:35 Uhr)

  18. #98
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    Gerade hatte sie nach dem Essen greifen wollen und einfach verschwinden, doch der Ältere schien gegen dieses Vorhaben zu arbeiten, hielt sie auf und blickte mit diesen durchdringenden, mysteriös-dunklen Augen in ihre. "Die waren viel Arbeit. Wenn du nicht mindestens vier davon isst, bring ich dich um", lies sie eine Weile Reaktionslos zurücksehen. Nichts sagen, einfach nur in seine Richtung zu sehen und irgendwann, als schon zu viel Zeit verstrichen zu sein schien, nur kurz mit dem Kopf zu nicken, ein „Gut.“ zu antworten und sich nicht gegen die Aussage, wenngleich spaßeshalber, zur Wehr zu setzen, wie sie es sonst getan hätte. „Wir sehen uns dort.“, kommentierte sie knapp und entfloh nicht nur ihm, sondern gleichzeitig, mit der Schachtel Essen unterm Arm, dem unendlich guten, frischen Geruch von Arancini, die die kleine Wohnung ausgefüllt hatten. Alles was sie sonst noch mitgeführt hatte war die Schlüsselkarte, die ihr mitsamt einem Code Zugang zu diesen Räumlichkeiten verschafft hätte.

    Luceija hatte allerdings nicht vor allzu schnell zurückzukehren. Sie war ziemlich froh darum, dass sie noch so viel Zeit übrig hatte um sich weit von allen Ereignissen abzusetzen, den Geist auszuschalten und sich zu isolieren. Von Blicken und Fragen Sergios, von der Besprechung eines Plans, an dessen Durchführung sie nicht scheiterte…und diese gespielte Normalität hinter sich lassen. Mit diesem einen Abend war alles, was sie hier zwar als ungeliebt aber Normal bezeichnet hätte, wie weggeblasen. Sie hasste die Citadel nun wahrlich, würde sie so behandeln, wie sie behandelt wurde und wusste sehr wohl wie wenig Chancen hatte, dem hier zu entfliehen. Allerdings hatte sie darüber nachgedacht, als sie längst über alle Berge ans andere Ende des Wards gegangen war um dort, auf dem Dach eines der hohen, weniger stark frequentierten Gebäude am Ende des Wards, einen Sitzplatz zu suchen und das letzte bisschen Italien, dass sie regelmäßig schmerzlich an ihre Heimat erinnerte, die Arancini, sorgfältig auszupacken und zu essen. Sie waren tatsächlich köstlich. Sie liebte, dass sie von außen so knusprig waren und dann der cremige Reis eine schützende Schicht um die Füllung bildete, die unter anderem aus etwas Fleisch, Tomatensauce und Erbsen bestand. Und natürlich jeder Menge Käse, der sich beim abbeißen als lange Fäden von ihrem Mund bis zu jenem Bällchen zog.
    Die junge Sizilianerin hatte vielleicht drei, vier Stunden dort gesessen, gegessen, geruht und sich ernsthafte Gedanken darüber gemacht, wie sie sich als blinder Passagier von der Anlage stehlen konnte und ob sie die Fähigkeiten besaß, sich nötigenfalls auch ohne Sergio weiter zu therapieren und einfach alleine auf Sizilien weiter zu machen. Sie kam zum Schluss, dass es nicht funktionieren würde, was in einer nur noch stärkeren Frustration resultierte, als die, von der sie ohnehin schon geplagt wurde.

    Als sie sich sicher gewesen war, dass sie sich allmählich Gedanken machen sollte, welche Utensilien sie für den Abend noch brauchte, verließ sie ihre Sitzgelegenheit und das hohe Gebäude gleichermaßen. Auch, wenn die junge Frau es zutiefst hasste, überwand sie sich um ein paar MakeUp-Accessoires zu besorgen, die mittlerweile ausgegangen waren und den gewünschten Effekt hinterlassen würden, den Sergio anstrebte: Sie so zu tarnen, dass sie nicht länger wie eine Fünfzehnjährige, sondern in etwa eine Zwanzigjährige aussah. Jung genug um noch Blicke auf sich zu ziehen und Ulysses nötigenfalls mit weiblichen Reizen zu überzeugen wie eine viel zu junge Nutte – vorausgesetzt, es ging wirklich alles schief. Dazu würde sie es aber wohl nicht kommen lassen wollen. Ihr Plan war, ihm schon vorher ans Leder zu gehen, ihn vielleicht auch schon innerhalb der sehr gefüllten Location, mittendrin, zu vergiften. Was auch immer kommen würde, sie hielt sich nicht für diesen Schlampen-Typ und sie war sicherlich auch nicht extraordinär genug um sofort jegliche Blicke auf sich zu ziehen. Wahrscheinlich nicht mal besonders hübsch. Aber es war ihr auch egal. Ein paar Idioten gab es immer. Ein paar Vorteile konnte man ebenfalls immer herausschlagen. Und solange das Selbstbewusstsein hoch genug war – oder man zumindest das Talent dazu besaß, es so aussehen zu lassen, dann kam man auch irgendwie an sein Ziel.

    Mehrere Stunden später war Luceija doch nach Hause zurückgekehrt und ziemlich froh über die Tatsache, dass Sergio wie angekündigt nicht dort war und vermutlich von einer anderen Location aus in Richtung Nightwind fuhr. Das gab der jungen Frau die Gelegenheit, das bereits gelieferte Paket, welches sie im Laufe des Tages von einem einschlägigen Label hier auf der Citadel erhielt, an sich zu nehmen, es aufzuschneiden und mit einem schräg gelegten Kopf dabei zuzusehen, wie ihre Hände das Kleid entfalteten, dass darin gelegen hatte. Es war…anders. Ganz anders, als sie erwartet hatte aber für ihre Zwecke sicherlich kein Fehler. Der dünne Stoff lies kaum Spekulationen zu dem zu, was darunter lag, zeichnete aber mit dem fließenden Gewebe, diversen Schlitzen, einem eher asaritypischen Gürtel und langen Handschuhen eine flüssige Kombination, die nur noch durch die Kette komplementiert wurde, die, angezogen, wohl über eine Schulter und mehrere, kleine Ketten zusammenführte, als sei es nochmal ein separates Kleidungsstück. Ihre Nüstern zuckten, als sie den Stoff betrachtete. Das hier würde eine Spur zu sexy werden, aber wie man dieses Spiel spielte wusste sie auch in ihrem Alter schon zu gut.

    Es brauchte Zeit und generierte ein vollkommen zugestelltes Badezimmer. Aber nach einer gefühlten Ewigkeit war die Halbitalienerin nicht nur damit fertig sich mit einer Menge Makeup, schwarz-umrandeten, stechenden Augen und ein paar Farbnuancen hier und da deutlich erwachsener zu schminken, sondern sich auch genau so anzuziehen, wie man es von Besuchern eines Clubs wie dem Nightwind auch erwartete (sie hatte bei Sergios Präsentation gut aufgepasst). Anstatt jedoch zu den Oberschenkelhohen Strümpfen nun auch entsprechend Hohe Schuhe zu tragen, schlüpfte sie entgegen jedweder Vernunft in ihre gesäuberten Magnetsohlenstiefel. Erschreckenderweise passte der Stil verdächtig gut zusammen und lies trotz allem noch etwas von ihr selbst durch das blendende Outfit schimmern. Noch auf dem Weg nach draußen schob sie sich die langen Handschuhe nach oben und richtete ihr Haar, indem sie die langen, allglatten und tiefschwarzen Strähnen lediglich über die rechte Schulter nach vorne nahm. Mehr musste man bei diesen Haaren ohnehin nicht machen.

    Jetzt hieß es auf zum Club…die Zweifel über Bord zu werfen, und wenn auch nur für einen Moment, und die Rolle der Frau einzunehmen, die ab heute wirklich zu Cerberus gehörte. Die ein fester Bestandteil dieser Familie geworden war. Und alles – wirklich alles – für sie tat.
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  19. #99
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    Sergios Abendvorbereitungen sahen im Vergleich natürlich beinahe schon trivial aus. Er selbst hatte weder ein psychisches Trauma zu verarbeiten, noch ein aufwendige Abendgarderobe zusammenzustellen. Statt für den momentan modischen asymmetrisch geschnittenen Anzug entschied er sich für ein Modell mit symmetrischer Knopfleiste, aber in Anlehnung an neuere Trends ließ er sich dennoch zu einem geometrisch geschnittenen Stehkragen und einem ebenso rechteckigen, aufgeknöpften Hemdkragen hinreißen. Schwarz-weiß blieb er dennoch - er hatte nie diese Clowns verstanden, die sich in allerlei quietschbunte Outfits stecken ließen, in der Hoffnung, so mehr aufzufallen. Er selbst war immer noch der Ansicht, dass man am meisten Selbstbewusstsein ausstrahlte, wenn man nicht zu sehr versuchte, sich von der Masse abzuheben. Nachdem seine Sachen also zurechtgehängt waren, bestand der restliche Tag für ihn aus mühseligen Recherchen über die bisherigen Korrespondenzen zwischen Everett und dem Clubbesitzer. Einige Fragmente hatte das Extranet hie und da noch aufgefangen und auch ein kurzer Ausschnitt aus den Sicherheitsaufnahmen des Clubs hatte er gefunden, sodass Sergio nun sicher wusste, welchen Ablauf die üblichen Treffen der Männer nahmen - und wie er sich Einlass verschaffen konnte. Dennoch war es wichtig, früh im Club aufzuschlagen, um nicht den passenden Moment für eine Ablenkung zu verpassen, wenn Everett den Laden betrat. Es würde nur schwierig werden, nicht aufzufallen, wenn man nahezu als erster in einen noch schläfrigen Club einkehrte. Doch glücklicherweise bot die Extranetpräsenz des Etablissements die Möglichkeit, für einen nicht unerheblichen Geldbetrag eine halboffene Sitzzelle vorab zu reservieren - ironischerweise jedoch ohne dann auch eine Garantie auf Einlass zu bekommen.
    Einige Recherchen, Reservierungen und Vorbereitungen später hatte sich Sergio mehrere alternative Pläne zurechtgelegt, um Everetts vorzeitig das Licht ausgehen zu lassen. Auch die täglichen Laboranalysen und die angepassten Medikamentierungen für seine einzige Patientin hatte er ausgearbeitet und für die nächsten Wochen zurechtgelegt. Er wusste nicht, wieso er diese so genau und so weit im Voraus ausgearbeitet hatte, doch eine Ahnung in ihm reifte mit jeder Stunde heran, dass sein Plan vielleicht weniger glimpflich ausgehen und er selbst als Toter im Nachtclub zurückbleiben könnte. Er wollte darüber nicht sentimental werden, es war lediglich ein möglicher Ausgang von vielen, doch auch für diesen Fall der Fälle hatte er ein nichtssagendes Post-It auf die Behandlungspläne geklebt, auf dem nüchtern "im Falle meines Todes hiermit fortfahren" geschrieben stand. Genug Behandlungspläne für ein paar Wochen, bis Cerberus (hoffentlich) Luceija einen neuen Arzt und Aufseher zuweisen würde. Doch das alles war keine ernsthafte Alternative zu Sergios eigener Erfahrung mit Luceija. Es schwang sicher auch ein Funken Eifersucht bei dem Gedanken mit, jemand anderes könnte sich ihrer annehmen, aber er redete sich zudem auch ein, der einzig kompetente Partner und Arzt für Luceija zu sein.
    Vielleicht waren es diese Gedanken, die Sergio verleiteten, heute tatsächlich auch ein teures Parfüm für den Abend aufzulegen und sich allgemein etwas gründlicher herauszuputzen, als er es sonst getan hätte. Erst als er sich selbst in seinem hervorragenden Outfit vor dem Spiegel betrachtet hatte, verließ er seine Wohnung, um die Utensilien für die Durchführung des Plans bei Händlern seines Vertrauens aufzutreiben. Ein wenig abgedroschen fühlte es sich schon an, wie er perfekt gekleidet Schließfächer, Hintergassen und Kontaktmänner abklapperte, um dort Rauschgiftampullen, Miniaturkanülen und andere Mordwerkzeuge aufzutreiben, die er in Schuhsohlen, Uhrengehäusen und solchem versteckte. Ein Sizilianer im Anzug kauft Waffen und Drogen für seinen nächsten Coup - er musste auf seinem Weg mehrfach über sich selbst schmunzeln.

    Der Abend rückte dabei schneller heran als erwartet und so befand sich der Italiener nur kurze Zeit später vor dem Seiteneingang des Clubs, wo sich, obwohl er erst jetzt öffnete bereits eine kleine Schlange gebildet hatte. In selbstbewusstem Trott ging Sergio an der Schlange vorbei zum Türsteher, der in diesem Moment nicht damit gerechnet hatte, angesprochen zu werden, da die Schlange ja bereits wusste, dass sie noch zu warten hatte. Entsprechend ging der bullige Mann in ärmelloser Kampfweste und einem Haarschnitt, nach dem man die Uhr stellen könnte, direkt auf Konfrontationskurs.
    "Hey, hinter die anderen, Lackaffe. Wir öffnen erst in einer Viertelstunde und die anderen hier warten schon länger als du", brummte der Türsteher lallend und verschränkte demonstrativ in breitem Stand die Arme vor der Brust.
    "Sicher, amico mio, weiß ich doch alles", entgegnete der Arzt trocken und kam dem Mann etwas näher, sodass die Wartenden in der Schlange das Gespräch nicht mithören konnten.
    "Sagen Sie, hätten Sie zufällig ein Streichholz für mich?", fragte Sergio in gedämpftem Ton und sah dem Türsteher dabei auffällig tief in die Augen. Der Mann antwortete nicht, wurde aber ganz offensichtlich hellhörig.
    "Jetzt sehen Sie mich doch nicht an wie eine Ardat-Yakshi. Ich wollte nur hinein, um meiner Großcousine ein paar Chrysanthemen zu bringen"
    Der zweite Türsteher neben seinem Kollegen blickte völlig verwirrt, beinahe schon wie ein geistig behinderter zu Sergios Gesprächspartner.
    "Was redet der da für einen Uns-"
    "Lass ihn rein", unterbrach ihn der bullige Mann in der Kampfweste. Der erste blickte nun umso verdutzter abwechselnd seinen Kollegen und Sergio an, bis dieser die Aufforderung lauter wiederholte. Völlig perplex nickte der dünnere von beiden und öffnete Sergio die hydraulische Schiebetür, bevor dieser mit einem unauffälligen, überlegenen Grinsen in den Club trat, verfolgt von den neidischen Blicken der Warteschlange. Die Tür schloss sich hinter Sergio und momentan nur leise aufgedrehte Clubmusik empfing ihn, als er erleichtert seufzte. Es war gar nicht so einfach gewesen, die Codewörter in einen halbwegs vernünftigen Satz einzubauen, doch auf diesem Wege bevorzugte man hier seine VIPs einzulassen, ohne dass man die Security über deren Identität aufklären musste. Ohne Umwege begab sich Sergio zur Bar und lehnte sich mit dem Rücken daran, während ein überraschter Barkeeper, der noch keine Gäste erwartet hatte, dessen Bestellung aufnahm. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Luceija tatsächlich eingelassen würde.
    Tjordas ist offline

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    Fionda per cereali  Avatar von Luceija
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    'Nightwind. Was für ein beschissener Name.', dachte die junge Sizilianerin abermals, als sie einige Stunden nach Cluböffnung - und etwa zwei Stunden als die mit Sergio vereinbarte Zeit später - aus einem Shuttle gestiegen war und dem Fahrer einen Creditchip in die Hand gedrückt hatte, der zuvor noch mehr am Rückspiegel hing um die minderjährige Italienerin zu begaffen, die eindeutig nicht ihrem Alter entsprechend gekleidet war. Im Gegenteil hatte sie alles genau so organisiert, wie ihr Vater es in Auftrag gab und führte noch unterwegs die letzten Handgriffe zur optischen Perfektion durch, indem sie ihre schmale Oberweite mit einem sehr unweiblichen, direkten Griff so richtete, dass der dünne Stoff die Blöße wenigstens ausreichend mit Stoff überdeckte. Die Strümpfe richtete sie auf eine ähnliche weise und zog als letztes den mokkafarbenen Lippenstift nach, der perfekt auf ihre ohnehin leicht getönten Lippen passte. Den verrieb sie nun leicht, als sie zu Fuß in die Gasse umbog und dann den Schriftzug des Clubs betrachtete, als wäre an dem dazugehörigen Gebäude irgendetwas spannendes zu entdecken. Tatsächlich war es einfach nur ein Citadel-Bau wie jeder andere. Weiss. Klinisch. Klar strukturiert und mit einzelnen Lichtern versehen. Hätte man von Außen nicht die basslastige Clubmusik gehört und einige Scheinwerfer und die Türreklame auf das teure Etablissement aufmerksam gemacht, hätte man dort vermutlich ebenso eine Verwaltung oder einen weiteren Hangar vermuten können.

    'Scheiß Name, scheiß Leute, scheiß Musik.', hakte sie alles andere als Vorurteilsfrei in ihrem Kopf ab, da hatte sie nur den äußeren Warteschlangenbereich inspiziert und war noch nicht mal im Inneren des Ladens angekommen. Wenigstens, so wurde sie sich beim Blick auf die Leute um sie herum sicher, war sie weder over- noch underdressed. Und ihr viel zu geringes Alter fiel bei der Kombination aus Make-Up und Kleid auch nicht weiter auf. Man sah zwar, dass sie blutjung war, aber niemand würde ihre ID kontrollieren. Und wenn doch, hatte sie gefälschte Papiere parat.

    Luceija, die sich mit einem distanzierten Blick unauffällig in die Warteschlange einreihte, senkte den Kopf ein wenig um in der mitgebrachten, ziemlich kleinen Handtasche nach etwas zu kramen und hatte dabei außer Acht gelassen, dass ihr langes, lediglich über die Schulter gelegtes Haar ungehindert nach vorne rutschte und ihr die Sicht auf das Objekt ihrer Begierde beinahe genommen hätte. Da war sie: Die Schachtel Zigaretten nach der sie gesucht hatte. Schnell klappten ihre schlanken Finger die dünne Plastikverpackung auf die das Label der Glimmstängel verdeckte, zog eine davon der Länge nach heraus und klemmte sie sich zwischen die Lippen, wobei ein paar Abdrücke der Mokkafarbe auf dem Filter zurückblieben. Sie knurrte leise bei der vergebenen Suche des dazugehörigen Feuerzeugs. Ihre Nüstern blähten sich genervt auf. Letztlich schien es aber grundsätzlich egal ob sie jemals finden würde wonach sie suchte, denn schon kurze Zeit später flackerte eine kleine, bläuliche Flamme vor ihren Augen auf, die einem Feuerzeug gehörte, welches in einer fremden Hand lag. Ein unbekannter Mann bot ihr Feuer an. Von unten herauf warf sie grünäugige Blicke in die Augen ihres Gegenüber und musterte seine haselnussbraunen. Er sagte nichts und verwies stattdessen nur auf das dargebotene Feuerzeug. Luci beugte sich mit der Zigarette jener Flamme entgegen, lies das Endstück entzünden und zog sanft am Filter, bis der Tabak zu glimmen begann. "Grazie.", raunte sie knapp, musterte ihr gegenüber eine Weile und schmunzelte letztlich.
    "Du...du...du und du." Einer der Türsteher lief an der Schlange entlang und pickte scheinbar gezielt einzelne Leute heraus. Er deutete auf Einzelpersonen, ganz gleich ob sie in einer Gruppe anstanden oder nicht und entschied, welche Art von Clientel im Inneren benötigt wurde, damit ein gewisses Niveau erhalten blieb und sich auch die Geschlechter die Waage hielten. Und keinesfalls zuletzt, damit es genug Fleischbeschau für die ganzen Bänker und Diplomaten gab, die hier verkehrten und sich eher im VIP Bereich des Clubs aufhielten. "Du auch Schätzchen.", winkte der Türsteher Luceija zu, die sich gerade erst den zweiten, tiefen Zug ihrer Zigarette genehmigt hatte und nahm dabei dem Typen zu ihrer Seite die Chance, nach ihrem Namen zu fragen, was sie wirklich nur zu gerne in Kauf nahm. Viel lieber wandte sie sich dem Türsteher zu, grinste verhalten und verabschiedete sich von dem Fremden, in dem sie einen letzten Zug von ihrem Glimmstängel nahm, ihn mit dem Zeigefinger und Daumen von ihren Lippen zog und stattdessen zwischen die des Mannes mit dem Feuerzeug klemmte. Er reagierte verdutzt genug, hatte aber keine Möglichkeit mehr um zu antworten. Luci lies sich seitlich aus der Schlange führen und über den VIP-Eingang in den Club abfertigen. Schnell und problemlos. Mit genügend Blicken seitens der Angestellten aber keiner einzigen Frage bezüglich ihres Alters. Oder auch nur den Hauch eines Verdachts, was sich innerhalb der winzigen Magnetsohlenbatteriefächer ihrer Schuhe befand. Sie liebte diese Treter. Wirklich.

    Kurze Zeit später wurde Luceija von Clubmusik umhüllt. Eingängige Lieder bekannter Szenemusiker wurden in Remixversionen aufgearbeitet, in eine Endlosplaylist aneinander angehängt und animierte diverses Publikum zum Tanzen. Die Beleuchtung glich sich den Bässen an und wechselte in ausgeglichenen, übergangsarmen Wellen von Blau-Gelb zu Grün-Violett, zu Orange-Rot und so weiter und kreierte viele, angenehme Szenarien in einem alles andere als hektischen Tempo. Von Außen betrachtet wirkten die Tanzenden ausgeglichen und anders, als die aufgekratzten Teenager, die in den gewöhnlichen Clubs eingelassen werden wollten. Man bemerkte sehr wohl dass dieser Ort die perfekte Kombination bot aus geschäftlichem und Vergnügen. Mit teuren Drinks, ansprechendem, qualitativ hochwertigen Interieur, diversen, teuren Holoeffekten und einigen, bezahlten Tänzerinnen, die in knappen, aber alles andere als billigen Outfits mit einer Menge Klasse ihre Zweisamkeit boten. Die Sizilianerin hatte allerlei damit zu tun sich hier umzusehen und selbst unter ihren analytischen Blicken entgingen ihr einige Details. Darunter auch der Aufenthaltsort von Sergio, OB er überhaupt hier war und eingelassen wurde, aber auch, wo sie Zugang zum VIP-Bereich erschleichen konnte, für welchen man ihr eine entsprechende Card am Eingang ausgehändigt hatte. Ohnehin entschied sich die Südländerin erstmal für den Gang an eine der vielen Bars, wo sie sich auf einen Hocker setzte, die Beine Luci-untypisch und ladylike übereinanderschlug und die Lederjacke, die sie darüber trug, auszog. Das ansprechende, knappe aber doch klassische Outfit lies sie sich ausgezeichnet in diesen Club integrieren und die offenen, langen Haare dazu verliehen der blutjungen Frau ebenso einen mysteriösen Touch wie das dunkle Makeup um ihre stechend grünen Augen. Beim Barkeeper orderte sie einen Longdrink, widmete ihm aber keinen Blick, sondern ging dazu über, den Messenger mit ihrem Armband anzusteuern und Sergio entspannt eine Nachricht, natürlich in Sizilianisch, zukommen zu lassen.

    'Haben die hier guten Rotwein?'
    Luceija ist offline

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