Es würde Luci schwer fallen zu beschreiben, wie sie sich fühlte, als der Arm um ihre Schultern drapiert wurde wie ein schwerer Mantel und die Halbitalienerin mit sanfter Bestimmtheit in Richtung der Einkaufsmeile getrieben worden war. Denn eigentlich prasselten gerade zwei ganz verschiedene, aber gleichsam unangenehme und ungewohnte Gefühle auf die junge Frau ein.
Zum einen war da diese Einkaufsmeile. Davon gab es dutzende, nein unzählige auf der prunkvollen Citadel und egal wo man versuchte hinzugehen, warben kleinere wie größere Geschäfte, Ketten und Restaurants um die Aufmerksamkeit der potenziellen Kundschaft. Grelle, bunte, teils auch absolut ausgefallene Werbemöglichkeiten wurden genutzt, technische Höchstleistungen aufgefahren um zum Beispiel ein neues Skycar mit einer niemals-endenden, spiralförmigen Glitterwelle von Decke bis Boden zu präsentieren. Es gab kaum einen Ort, der so vielfältig war und sich so oft veränderte wie Einkaufs- und Flaniermeilen auf dieser Raumstation. Wahrscheinlich lag es unter anderem an den horrenden Mietpreisen, die man verlangte, um auch nur so etwas winziges wie eine Ramen-Bar zwischen Raumhafen C-23 und dem Surima-Square an eine Ecke zu integrieren und das immer unter der Prämisse zu wissen, dass man die Kosten für den Kredit erst in 100 Jahren abbezahlt haben würde. Nahezu jedes Geschäft war eher in eine Einbuchtung eingelassen, alsdass es - ähnlich auf der Erde - wirkliche Häuser gewesen wären, die die Promenaden zieren. Ein ganz einfaches, marketingbezogenes Kalkül um den Promotern, die häufig den Weg der vorbeiflanierenden kreuzten, leichteres Spiel zu machen und offensichtlich hatten sie damit in jeglicher Hinsicht Erfolg. Das war nur einer der vielen, unzähligen Punkte, weshalb Luceija dieses 'Shoppen' hasste. Weshalb sie sich zunehmend sträubte solche ohnehin schon furchtbar seltenen Dinge zu tun, die eigentlich für ein Mädchen in ihrem Alter mehr als normal gewesen wären. Tatsächlich aber war es sogar so selten und so "normal", dass es eine beinahe abstoßende Wirkung auf die junge Frau hatte. Es war ganz einfach ZU normal. Zu generisch, zu sehr das, was alle taten. Alle - eine Gruppe, zu der sie nicht gehörte. Es fühlte sich grausam und eigenartig an solche Stätten aufzusuchen, sie fühlte sich beobachtet und verurteilt und wollte alles einfach nur schnell hinter sich bringen. Vielleicht war sie so, weil Sergio sich ähnlich verhielt. Oder vielleicht war es auch nur eine von vielen, psychischen Störungen die ihre unkonventionelle Erziehung mit sich brachte.
Egal was es war, sie wusste, sie wollte das nicht. Deshalb wohl auch der Druck ihres Ziehvaters gegen den Rücken. Stiefel, wozu würde sie Stiefel brauchen, dachte sie sich. Eine absolut unnötige Anschaffung, beschloss sie. Wenn sie sich ihre aktuellen Schuhe ansehen würde, wäre sie vermutlich nicht so leichtfertig dieser Ansicht gewesen, denn so, wie sie unterdessen abgelaufen und irgendwie auch ranzig wirkten, mochte sie sie zwar lieber, spürte aber bald jeden Stein auf dem unebenen Untergrund. Aber auch hier war es nicht so, dass es ihnen an Geld gemangelt hätte. Es war einfach nur eine Seltenheit gewesen, dass sie zum Einkaufen anderswo hin als in Palermos Innenstadt gegangen waren. Lebensmittel wurde ihnen geliefert. Kleidung auf Bestellung auch. Cerberus übernahm dank großzügigem Lohn alle Kosten, daran scheiterte es somit also nicht. Aber wenn sie zusammen in die Stadt gingen (früher selbstverständlich häufiger als später), waren es viel mehr Restaurantbesuche, Kulturevents, oder aber die reichhaltigen Wochenmärkte, die sie lockte. Es war ein viel traditionelleres Leben als das, was einen auf der Citadel regelrecht überwältigte. Klar wusste man davon...aber niemals würde man einen Vergleich haben, wenn man beides nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Und dennoch war beiden Italienern klar: Nichts konnte mit dem Strand und dem weiter, wundervollen Meer konkurrieren.
Und so wirkte es eher beklemmend, wie Sergio den Arm um seine Tochter schlang. Als zweiten Punkt für ihr Unwohlsein musste man hinzufügen, dass Sergio normal nicht nach dieser Nähe suchte. Sie beide waren nie diese Art Vater und Tochter, die ständig miteinander kuschelten, die heile Familienwelt bespielten und gemeinsame Lacher zelebrierten. Immer herrschte eine - wenn auch immer schmaler werdende - kühle Distanz zwischen beiden Parteien, die zu ihrem jeweiligen, eigenen Schutz diente. Ein ganz automatischer Mechanismus, der nicht entkräften konnte dass auf der Hand lag, dass Luceija ihren - wenn auch nicht leiblichen - Vater liebte und zu ihm auf sah. Doch Worte waren es nicht, die das bekräftigen konnten. Ein 'ich liebe dich' oder 'hab dich lieb' hörte man im Hause Vittore/Ascaiath nicht auf die Weise, die man von anderen Haushalten erwartet hätte. Es waren mehr die kleinen, von Außen unscheinbaren Dinge, die die gegenseitige Zuneigung zeigten. Das Frühstück am Morgen, das Zudecken nach einem Rausch, der Wein auf der Terrasse, unweit des Strandes oder die allgegenwärtige Zuneigung, die jeder einzelnen, genetisch veränderten, blau-violetten Rose zu Teil wurde, die in ihrem privaten Areal spross. Es steckte Symbolik hinter ihrer wirklich innigen Beziehung. Und für manches brauchte es auch einfach keine Worte.
Wahrscheinlich wusste er um ihr Denken in dieser Sache, was erklären würde, weshalb er selbst nichts dazu sagte und stattdessen fragte, ob Luceija jemanden sah. "Nein", antwortete sie knapp und sah etwas unsicher aus, so, wie sie hager neben ihrem Ziehvater her lief und vermittelte ungewollt wieder dieses kränkliche, verstörte Bild, dass ihr in der Öffentlichkeit ein Alibi für die ausbleichende Haut und die kränklichen Augenringe, - nicht zuletzt aber auch die Mittel, falls sie jemand beobachten würde - bot. "Aber irgendwas ist da."
Ohne, dass sie im Moment weiter darüber sprachen, verließen sie das zwischen dutzenden Etagen eingequetschte Parkareal und fanden sich sehr schnell und nur zwei Sicherheitsschleusen später im chaotischen Innenleben des Wards wieder, was - wie Luci in den nächsten Jahren lernen würde - kein wirkliches Chaos war, wenn man Omega betrachtete. Ohne zu warten orientierten sie sich an den durchtickernden Buchstaben einer Banderole, die den Weg nach links wies. Es wäre beinahe schon eine angenehme Atmosphäre, wenn man nicht mit sozialen Phobien umherlief. Leicht abgedunkelt stachen so die Werbeflächen nur noch mehr hervor. Überall bekam man irgendwas, die großen Marken verdrängten die ohnehin schon raren, kleinen Händler und in einem konstanten Fluss kamen den beiden Wesen entgegen - der Großteil latent gestresst.
"Hey!", unterbrach ihren Weg eine Asari, "Schön Sie hier zu sehen!" Luci verstand bis heute nicht, warum die immernoch glaubten, man würde auf den Trick reinfallen, wenn Promoter auf gut-Freund machten. "Wie wär es mit einer neuen Frisur für die Kleine?!", war es offenbar ein Friseur, der zumindest das Mädchen in den Laden treiben wollte. Dabei schreckte die Asari nicht davor zurück, demonstrativ mit den Fingern in Lucis Haaren herumzuwedeln - offenbar im Ansatz, etwas daran zu kritisieren zu finden. "Finger - weg!", raunte Luci deutlich zu der deutlich hochgewachsenen Außerirdischen. Dabei erkannte man ein leichtes Beben an ihren Nasenflügeln, die den aufkeimenden Zorn perfekt deutlich machten.