Ein lauter Donnerschlag riss Vetranio aus dem Schlaf. Erschrocken setzte er sich auf und versuchte, seinen schweren Atem zu beruhigen. Langsam spürte er seine Sinne erwachen, während der Donner nach und nach verhallte.
Es war noch dunkel draußen. Nur das übliche, schummrige Leuchten der Blitzwirbel lag wie ein geisterhafter Nebel im Raum. Rasch schloss Vetranio wieder die Augen, bevor er wieder anfing, sich schaurige Gestalten in den dunklen Ecken der Schlafkammer einzubilden.
Er nahm einen weiteren tiefen Atemzug und wickelte sich wieder in seine viel zu dünne Decke. Er hatte keine Ahnung, was mit den alten, dicken, warmen passiert war. Irgendwann waren sie einfach verschwunden. Irgendwer hatte sie weggebracht, warum auch immer.
Wieder und wieder von Donnerstößen aufgeschreckt, bemühte sich Vetranio um einige weitere Stunden Schlaf. Doch kaum dass er die Augen geschlossen hatte, begann er zu träumen – Albträume, von wilden, gefräßigen Kreaturen und leblosen Schatten, die ihm seine Seele rauben wollten. Und, wie beinahe jede Nacht, erwachte er in seinem Traum an einem Morgen, an dem keine Sonne aufging.
„He!“
Wieder schreckte Vetranio auf. Cox stand an seiner Bettkante und rüttelte ihn an der Schulter. Erste Sonnenstrahlen drangen durch die Türschlitze herein. „Es wird Zeit.“
Benommen rieb sich Vetranio die Augen. Der unruhige Schlaf hatte ihn mehr Kraft gekostet, als er ihm Erholung geboten hatte. Ächzend schaffte er sich hinüber zur Waschschüssel und benetzte sein Gesicht mit dem eiskalten, klaren Wasser. Wenigstens daran mangelte es nicht.
Um ihn herum machten sich die anderen Kadetten für den Dienst bereit. Die meisten waren bereits angezogen und steckten in ihrer blauen Uniform.
„Verdammt, Wells“, hörte er Agila in der Ecke murren. „Wann hörst du endlich mit diesem verdammten Kalender auf?“
Wells kniete an seiner Bettkante und war gerade dabei, wie jeden Tag, eine Kerbe in die Seite seines Bettes zu ritzen. Er erwiderte die Bemerkung mit einem kühlen Blick.
Vetranio biss sich auf die Lippen. Aber er musste fragen.
„Welcher Tag ist heute?“
Wells hielt kurz inne, gedankenverloren auf die Kerben im Holz starrend, bevor er sich zu seinem Kameraden umwandte.
„Der neunhundertvierzehnte.“
Wie auf einen Schlag verstummte jegliches Rascheln und Murmeln im Raum. Jede Bewegung erstarrte. Viele senkten den Blick zu Boden oder schauten durch die Kleidungsstücke hindurch, auf die sie sich soeben noch konzentriert hatten. Völlige Stille.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Kadetten wieder ihre Morgenroutine fortsetzten. Das Schweigen dauerte an.
Neunhundertvierzehn Tage.
Vetranio unterdrückte den Drang, sich bei dem Gedanken einfach zu Boden sinken zu lassen und liegen zu bleiben.

Gemeinsam traten sie bei Magnus zum Morgenappell am Brunnen an. Während der General die heutigen Dienste und Sonderaufgaben verteilte, fiel Vetranio zum ersten Mal auf, wie sehr ihr Kommandant in den letzten Monaten ergraut war. Seine Züge waren erschlafft, sein Haar fast gänzlich silbern, und seinen Augen fehlte jede Spur des Glanzes, den sie einmal ausgestrahlt hatten.
„Vetranio, Frink, ihr übernehmt heute die Wasserbeschaffung.“
Selbst seine Stimme war kratzig geworden.
„Das wäre es dann so weit… Und ach ja, ich habe mit Roderich gesprochen. Gestern Nacht wurde schon wieder von seinen Vorräten gestohlen. Wenn der Schuldige nicht vortritt und das Zeug nicht wieder herausrückt, müssen wir die Rationen ab morgen weiter kürzen.“
Niemand sagte etwas. Niemand fluchte leise. Aber in den Blicken seiner Kameraden lag Wut. Vetranio musste ihnen nicht in die Augen sehen, um das zu erkennen. Die plötzliche Anspannung um ihn herum konnte er förmlich spüren.

„Schon wieder kleinere Rationen. Nicht mehr lange, und wir bekommen nur noch Knochen vorgesetzt.“
Frink war grimmig geworden. Vor allem, seit der Rum aus war.
Vetranio reichte ihm den nächsten Eimer, den er sogleich an dem tosenden Wasserfall befüllte.
„Das waren doch sowieso wieder diese miesen kleinen Gnome!“
Frink schüttelte den Kopf. „Nein, nein, wir kontrollieren die Mistkerle inzwischen fast täglich. Die könnten das Zeug nicht vor uns verstecken.“
„Vielleicht hausen tatsächlich noch ein paar in den alten Minen.“
„Albernes Gerede, wenn du mich fragst. Die, die nicht mehr im Lager arbeiten, sind doch längst über alle Berge.“
Vetranio zuckte die Schultern. „Vielleicht sind sie wieder zurückgek-…“
Er hielt inne. Nein. Von nirgendwo konnte niemand zurückkehren.
„Was?“, brüllte Frink über das Rauschen des Wasserfalls hinweg. Vetranio winkte ab.
„Dieser fette Lumbrok hat sich seinen Keller immer schööön vollgestopft. Ich wette, der hat immer noch einen satten Vorrat an Leckereien“, grummelte Frink nach einer Weile.
Vetranio stutzte. Frink hatte immerzu Gehorsam gepredigt und Disziplin und Befehlsgewalt geheiligt. Er hatte sich verändert, ja, aber solche Worte hätte der junge Kadett aus seinem Mund nie erwartet.
„He, Junge, ich sag dir was“, fuhr der alte Säufer fort, als die beiden sich mit den schweren Eimern beluden und den Rückweg antraten. „Ich hab mit Garelt schon drüber geredet.“
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Vetranios Magengrube breit. Garelt war ihm noch nie geheuer gewesen.
„Übermorgen übernimmt er wahrscheinlich wieder die Nachtwache vorm Haupthaus, und, naja… Er meinte, wir könnten uns ja mal bei Lumbrok umsehen…“
Seine Befürchtung bewahrheitete sich. Jedoch, bei dem Gedanken an ein ordentliches Mahl anstelle der dünnen Brühe von Roderich wurde ihm etwas warm ums Herz.
„Aber… das wäre doch…“
Frink musterte ihn misstrauisch.
„Was ist denn mit seiner Zimmerwache? Wie heißt der Typ, Norm?“
„Hat sich letzte Woche das Bein gebrochen und liegt flach“, erwiderte Frink grinsend.
Vetranio rang mit sich. Aber die Vorstellung von all den Leckereien, die der Magier wohl gehortet haben mochte, siegte schließlich über jegliches Pflichtbewusstsein.

„Seid ihr soweit?“
Garelt winkte die beiden zu sich heran und ließ den Blick über den dunklen, leeren Platz schweifen.
„Die Luft ist rein. Auf, hinein mit euch!“
Die beiden Wächter schlichen sich leisen Schrittes die breite Treppe hinauf. Außer dem Zirpen einiger Grillen und dem geräuschvollen Schnarchen der Magier war kaum ein Laut zu vernehmen.
Rasch bahnten sie sich ihren Weg durch die Halle, am Ratstisch vorbei hinauf ins Turmzimmer. Wie vermutet fehlte von Norm jede Spur, also huschten sie in Lumbroks Schlafgemach.
Der alte Magier schlief tief und fest. Frink nickte Vetranio zu, und beide machten sich daran, die Kisten und Regale nach Essbarem abzusuchen. Das Herz des Kadetten raste, tausend Gedanken des Zweifels und der Reue jagten durch seinen Kopf, doch er bewahrte Ruhe, so gut es ging. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein unbedachter Handgriff.
Vetranio konnte es immer noch nicht ganz fassen, wozu er im Stande war. Früher hätte er nicht im Ansatz den Mumm für ein solches Unternehmen aufbringen können. Früher hätte er sich seinen Vorgesetzten nicht derart widersetzt. Aber früher war die Welt auch noch nicht gänzlich vor die Hunde gegangen, und er hatte noch an etwas glauben können.
Aus dem Augenwinkel heraus erblickte er Garelt, der hinter ihnen ins Zimmer geschlichen kam. Kaum eine Sekunde später deutete Frink den beiden an, näher zu kommen.
Langsam stießen die beiden zu ihrem Kameraden und folgten seinem Blick. Die Wächter trauten ihren Augen nicht. In der kleinen Truhe zu ihren Füßen befanden sich mehrere dutzend aufgeschichtete Stücke feinsten Schinkens.
Vetranio lief das Wasser im Mund zusammen. Er hatte seit Monaten kein richtiges Fleisch mehr gegessen, und mit einem Mal überkam ihn der Hunger.
Gierig langten Frink und Vetranio in die Kiste und machten sich, alles um sie herum vergessend, über den Schinken her, während Garelt wie angewurzelt dastand.
„Dieses Schwein.“
Der Schinken war köstlich. Mehr als köstlich. Er war das Beste, was Vetranio je gegessen hatte.
„Dieses verdammte, verfressene Schwein.“
Während Garelts Stimme immer mehr ihren Flüsterton verlor, drang eine weitere vom anderen Ende des Raumes zu ihnen hinüber.
„Wer… wer ist da? Faruco?“
Dann geschah alles ganz schnell.
Als Vetranio sich von seinem Schinken abwandte, sah er, wie Garelt sein Messer zückte. Lumbrok hatte sich aus seiner weichen Schlafstatt erhoben und kam nun aufgebracht auf sie zugetrottet.
„DU VERDAMMTES SCHWEIN!“
Ein schmatzendes Geräusch. Und noch eines. Wieder und wieder stach Garelt auf den Magier ein, bis eine im fahlen Licht glitzernde Blutlache die Mitte des Raumes bedeckte.

Vetranio hätte nicht gedacht, dass die Wächter trotz ihrer stark dezimierten Zahl ihre eigenen Leute hinrichten würden. Er hatte sich geirrt.
Drei Stricke baumelten von der Wand des Lagerhauses. Der Gang dorthin und die mahnende Rede des Generals vor versammelter Mannschaft nahm Vetranio gar nicht mehr richtig wahr. Komischerweise musste er die ganze Zeit an den Schinken denken, und wie gut er geschmeckt hatte.
Als sie ihm die Schlinge um den Hals legten, starrte er in die Morgensonne, die sich vom Horizont über die Berge der Insel erhob.
Wenn die letzten neunhundertvierzehn Tage kein Schiff gekommen ist, wird auch die nächsten neunhundertvierzehn Tage keines mehr kommen. Also wozu noch warten.
Mit einem Mal kam ihm alles ganz einfach und klar vor. Als fiele ein Schleier, der zuvor die Welt bedeckt hatte, herab, und entblößte alle Dinge in ihrer simplen Natur.
Und auf einmal konnte er, ohne jede Furcht, den Gedanken zulassen, der schon so lange in ihm geschlummert hatte. Die Schatten mochten besiegt worden sein. Der Reaktor mochte funktionieren. Doch es waren nicht die Titanen, die man mit ihm ausgesperrt hatte. Es waren die Menschen auf Taranis, die sich ihren eigenen, magischen Käfig erbaut hatten. Ein Gefängnis, das den Tod hinauszögerte, der sie alle längst hätte ereilen sollen. Sie waren es, von den letzten Ressourcen einer immer karger werdenden Insel zehrend, zweieinhalb Jahre nach dem Ende der Welt.