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An Bord der Joka La Maji
Den Großteil der ersten Nachtwache hatten Ravia und Arus schweigend auf Achtern verbracht. Für gewöhnlich geschah nicht viel auf dem offenen Meer, auch nicht bei Nacht. Die Laternen an Bord spendeten der Mannschaft genügend Licht, um nicht über das Tauwerk zu stolpern, doch halfen sie nicht dabei das Wasser und die Umgebung zu erhellen. Allerdings reichte dafür meist das Mondlicht aus, wenn es eine klare Nacht war wie diese.
Schwere Fußstapfen waren auf der kurzen Treppe zu hören und Naut trat ins Licht.
„Melde mich zur Hundewacht!“, kündigte er sich mit gespielt militärischen Ton und einem schiefen Grinsen an.
„Ha, fast wie auf einem dieser myrtanischen Kähne!“, lachte der Kapitän und klopfte seinem Quartiermeister auf die Schulter, „Wo steckt Saarina? Sie sollte das Ruder in der zweiten Nachtwache übernehmen.“
„Sie ist auf dem Weg, Käpt’n, hat etwas Probleme beim Aufwachen gehabt“, erklärte Naut, wurde jedoch jäh unterbrochen.
„Erzähl keinen Schwachsinn, du alter Halunke. Ich muss aber wenigstens meine Stiefel anziehen. Nicht jeder steht eine Stunde vor Wachwechsel auf!“, spottete sie gutmütig und tätschelte dem Myrtaner mit der dem Handrücken beiläufig auf die behaarte Wange.
„Macht er das immer noch?“, fragte Ravia und drehte sich elegant auf der Reling um, sodass ihre Füße das Deck berührten.
„Ah, Ravia ist auch hier! Hab dich gar nicht gesehen da hinten“, grüßte die Navigatorin sie.
Saarina war gebürtig von Korshaan, doch schwieg über das meiste aus ihrer Vergangenheit. Ein dunkler Teint, hellbraunes Haar und grüne Augen machten die Frau Mitte dreißig noch immer zu einer Augenweide und ihre gut gemeinte ruppige Art entwaffnete meist jeden, der mit ihr ins Gespräch kam. Die Ziehtochter des Kapitäns mochte die ältere Frau, auch wenn sie wenig gemeinsam hatten.
„Ich kann meinen alten Herrn doch nicht unbeaufsichtigt lassen. In seinem Alter sollte er längst schlafen!“, witzelte sie und erntete ein empörtes Schnaufen ihres Babas, was sie Grinsen ließ.
„Mädchen, wenn du nicht aufpasst, wird bald jemand Frau über Bord rufen“, drohte er ihr mit einer Stimme, die so weit entfernt von Ernsthaftigkeit war, dass man meinen konnte, er wäre ein Narr bei Hofe, der auf Biegen und Brechen lustig zu sein versuchte.
Doch aus seinem Mund erzielte es die gewünschte Wirkung und sie alle lachten über den spaßigen Umgang untereinander.
„Gut, Saarina, halt uns einfach auf Kurs Richtung Ost-Nord-Ost. Heute Nacht werden wir noch kein Land zu Gesicht bekommen, also kannst du dich entspannen“, gab Arus der Navigatorin einige Anweisungen.
„Aye, Käpt’n“, erwiderte sie und übernahm seinen Platz am Ruder.
„Ich bin dann in meiner Kabine. Weckt mich, wenn etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Und du, Ravia, gehst auch besser in deine Koje!“, ermahnte er sie.
„Aber ich bin doch noch gar nicht müde, Baba!“, wehrte sie sich mit einem Schmollmund.
Etwas, was sie seit ihrer Kindheit beibehalten hatten. Ein kleines Ritual, wenn man so wollte.
„Keine Widerrede! Du lenkst Naut nur wieder von seinen Pflichten ab!“
„Naaaa gut. Ruhige Nacht ihr beiden!“, wünschte sie und erhob sich von der Reling, ehe sie ihrem Baba folgte und in die Mannschaftskabine lief. Es gab nicht genug Kojen für alle, weshalb einige der Matrosen bei den noch warmen Temperaturen an Deck schliefen. Die Blonde würde jedoch die Koje von Saarin übernehmen, ehe sie in wenigen Stunden wieder geweckt werden würde.
„Gute Nacht, Baba!“, trällerte sie Arus hinterher, der bereits an der Tür zur Kapitänskajüte angekommen war.
„Dir auch, Kleine“, gab er ihren Gruß zurück und verschwand in seiner Unterkunft.
In ihrem eigenen Bett angekommen, wenn man es so nennen konnte, lag sie noch eine Weile wach. Das war immer so. Sie fand selten sofort Schlaf, denn meist dachte sie noch lange über den Tag nach und dann über andere Dinge, die in ihre flinken Gedanken aufkamen. Ein weiterer Grund dafür, dass sie so schnell sprach, dass sich ihre Worte beinahe überschlugen. Ihr Kopf war mit so vielen Dingen gefüllt, dass sie das Gefühl hatte ein Ventil schaffen zu müssen, um nicht verrückt zu werden. Ob etwas nicht mit ihr stimmte?
So ein Quatsch, dachte sie, So ist das einfach. Jeder hat einen anderen Weg mit seinen Gedanken zurecht zu kommen. Ich rede einfach schnell und viel und damit wars das, beruhigte sie sich selbst.
Nur langsam beruhigte sich ihr Herzschlag und der schwere Schlaf überkam sie.
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An Bord der Joka La Maji
Beschäftigungstherapie, dachte Ravia etwas frustriert, während sie mit Wasser und einem großen Bimsstein über das Deck rieb.
Sie war nicht allein, denn so ziemlich alle Besatzungsmitglieder, die nicht für Aufgaben eingeteilt waren, die zum Segeln benötigt wurden – was deutlich weniger waren, als manch ein Unwissender denken mochte – mussten mit anpacken. Es war auch keine Strafarbeit oder etwas, was nur Schiffsjungen taten. Jeder musste mal ran, denn es gehörte dazu, wenn man auf einem Schiff lebte. Immerhin kehrte man auch den Hof, wenn man ein Heim besaß. Glaubte Ravia jedenfalls.
Außerdem hatte es auch praktische Gründe, weshalb das Deck mit Bimssteinen und Wasser gereinigt wurde. Das Holz wurde geschliffen und auf diese Weise fing man sich mit nackten Füßen keine Splitter ein. Als Kind war es ihr nicht wirklich bewusst gewesen, aber da auf einem Piratenschiff Schuhwerk für schnell wachsende Besatzungsmitglieder eher selten waren, war Barfuß die beste Alternative gewesen. Manche der Matrosen schworen noch heute darauf. Zugegeben, Stiefel, deren Sohlen nass wurde – was natürlich umringt von Wasser auf einem Holzgefährt so gut wie nie vorkam – brachten den Träger schnell ins Rutschen und es gab genügend lustige Geschichten über Seeleute, die ins Meer stürzten und bei jeder Gelegenheit erzählt wurden, wobei sie jedes Mal abenteuerlicher wurden. Erst war es ein simpler Ausrutscher mit anschließendem unfreiwilligen Bad. Am Ende waren es gar die Seeungeheuer gewesen, die den armen Seemann von Bord gezogen hatten. Seemansgarn, wie man so schön sagte.
Das Schrubben des Decks war also mehr ein Schleifen, wo der Bimsstein eine wichtige Rolle als Werkzeug einnahm. Der Quartiermeister hatte ihn bei einem Händler auf einer Vulkaninsel weiter südlich entdeckt und gefragt, ob er mehr erwerben könnte. Das seltsame Material war sehr leicht und wies große Poren auf. Es reichte von schwarz bis weiß und war eine großartige Ablösung für den Sand gewesen, den sie jahrelang benutzt hatten. Denn Sand war schwer, insbesondere im feuchten Zustand und hatte wo weniger Ladung zugelassen, die man verkaufen konnte. Der Bimsstein hingegen war leicht und nutzte sich nicht so schnell ab wie die Menge an Sand, die man brauchte, um ein ganzes Deck zu schrubben.
„Ravia, hör auf zu träumen!“, tadelte Pakko sie mit gespielt herrischem Ton.
Er war heute für das Großsegel eingeteilt und hatte gerade scheinbar Leerlauf, denn er grinste sie breit an, als sie neben ihm über das Deck kroch, den Bimsstein fest gegen die Planken gepresst.
„Pass lieber auf, dass du nicht über Bord gehst“, raunte sie zurück und zog an seinem Bein, als sie an ihm vorbeikrabbelte.
Er lachte auf und zog sein Bein aus ihrem Griff, musste jedoch im nächsten Moment einem Befehl folgen, was die spielerische Zankerei für den Moment auf Eis legte.
„Hole an!“
Die Seeleute trimmten routiniert das Segel an, um es näher an den Wind zu bringen. Derzeit segelten sie gegen den Wind und musste ständig die Stellung der Segel anpassen, um nicht zu viel Fahrt zu verlieren.
Alsbald war das Deck geschrubbt und die Wassereimer samt Bimssteinen verstaut. Mittag war längst vorüber und Ravia hörte ihren Magen knurren. Ein wenig würde sie jedoch noch aushalten müssen, bis Jabari zum Essen läutete. Da sie ansonsten keine Verpflichtungen bis zur ersten Nachtwache hatte, würde sie sich eine Runde aufs Ohr hauen. Viel Schlaf würde sie zwar bei dem Lärm an Deck nicht bekommen, aber es war immer noch besser, als sich zu langweilen und das Trinken anzufangen, wie einige ihrer Kameraden bereits taten. Das war das Problem an einer Mannschaft, die größer war, als man zum reinen Segeln brauchte. Klar, man konnte durch Schichten die Arbeit aufteilen, wenn es genug Seeleute gab, doch ansonsten gab es nicht viel zu tun, außer Würfelspiele, Rum und Streitereien, die man natürlich vermeiden wollte. Oh, Luftlöcher starren, Wolkenbilder entdecken und kleine Bildchen in das Holz ritzen waren auch noch Dinge, die man unternehmen konnte. Ersteres ließ einen ziemlich dämlich aussehen. Die Wolken zu beobachten konnte allerdings lustig sein. Vor einiger Zeit hatte einer der Crewmitglieder behauptet, er hätte seine Großmutter entdeckt, wie sie auf einem gigantischen zweirädrigen Wagen gesessen hätte!
Die geritzten Bildchen hingegen konnten einem Ärger einbringen, wenn Naut oder der Kapitän einen erwischte, außerdem war die Vielfalt der Werke sehr eingeschränkt. Irgendwie waren viele davon männliche Genitalien. Seltsam, wenn man bedachte, dass die Kerle sich das Ding jeden Tag anschauen konnten. Warum also im Holz verewigen? Egal.
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An Bord der Joka La Maji
„Land in Sicht!“, donnerte es vom Krähennest.
Sofort kam Bewegung in die Mannschaft und einige eilten zum Bug oder an die Reling, um selbst zu sehen, ob sie wirklich schon am Horizont Khorinis erblicken konnten. Zum einen Teil war es verständlich, denn seit sie vor etwa zwei Wochen aufgebrochen waren, hatten sie außer Wasser, welches von einem Horizont zum nächsten reichte nichts mehr gesehen. Zum anderen verstand Ravia nicht ganz die Aufregung. Immerhin hatten sie alle schon etliche Male in ihrem Leben Landmassen vom Meer aus gesehen und es war nichts Neues. Dennoch spürte auch sie wie ihr Magen leichter zu werden schien und eine unerklärliche Freude in ihr aufstieg. Irgendein Gelehrter hätte sich erklärt, dass der Mensch an Land zu Hause war und daher das Gefühl rührte, doch die Piratin sah ebenso das offene Meer als ihr Zuhause an, solange sie auf der Joka bei ihrer Familie war.
Sie stellte sich neben Pakko an die Reling und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne, doch konnte sie noch keine Anzeichen einer Insel ausmachen. Aus dem Krähennest sah man einfach viel weiter. Aber sie würde nur ein wenig warten müssen, dann könnte auch sie die ersten Felsen entdecken.
„Ich glaube ich seh schon was!“, rief der junge Jack, der eigentlich Louis hieß und reckte begeistert den Hals.
Für ihn war es wohl doch das erste Mal, dass er vom Wasser aus nach vielen Tagen Land erblickte. Weitere Stimmen erhoben sich und auch Ravia erkannte endlich schemenhaft die Ausläufer des hügligen Khorinis.
„Mensch, ich habe gar nicht mitbekommen wie wir den Sonnengürtel überquert haben“, staunte Pakko neben ihr und fixierte die große Insel in der Ferne.
„Das war doch schon vor Tagen!“, merkte die Blonde verwundert an, „Die Sonne geht längst über den Süden, statt den Norden.“
„Ja, schon klar, jetzt wo wir so nah an Khorinis sind. Ich hab es wohl einfach nicht bemerkt, wie sich der Sonnenlauf verändert hat.“
„Wir sind diesmal auch nicht an den Sonnenwächtern vorbeigekommen“, überlegte Ravia laut.
„Stimmt, wir haben uns länger südlich gehalten als sonst“, bestätigte der Seemann.
Die Sonnenwächter waren hohe Felsen, die sich am Sonnengürtel, der Mitte des Morgrads, wie Wächter aus den Fluten erhoben. Durch die Gezeiten und das Wetter hatten sie beinahe menschliche Formen angenommen und wurden von Seeleuten beim Überqueren des Gürtels gegrüßt. Manche behaupten gar, dass sie von den Göttern vor Jahrhunderten aufgestellt worden waren, als Statuen, die Mann und Frau darstellten. Einige Geschichten beschrieben sie als Liebespaar, getrennt durch den Schnitt von West nach Ost, jeder auf seiner Seite der Welt gefangen.
Ab und an gab es Ergänzungen dazu. Einst richtige Menschen, verflucht von den Göttern, da dasselbe Blut durch ihre Adern floss. Gestraft und getrennt für alle Zeiten und Mahnmal für jene, deren Lust dem eigenen Bruder oder der eigenen Schwester galt, wo nur geschwisterliche Liebe bestehen sollte.
Andere erzählten davon, dass sie erbitterte Feinde waren. Die hochnäsigen Menschen aus dem Norden und jene stolze Geächtete aus dem Süden, welche im steten Zwist miteinander lebten.
Trotz ihres Namens – Sonnenwächter – wurden sie jedoch nicht einstimmig Innos zugesprochen, sondern bezog man sich schlicht darauf, dass sie sich am Sonnengürtel befanden, der seinen Namen wiederum darin begründete, dass die Sonne je nach Jahreszeit ihren Weg über Norden oder Süden nahm, doch immer hoch am Himmel, fast im Zenit, ihren Wanderweg wählte.
Ravia mochte stets die Version der Liebenden, die sich immerzu anblickten, aber niemals erreichen konnten, am meisten. Sie verstand die Sehnsucht, die sie verspüren mussten und die Verzweiflung, dass sie niemals herausfinden würden, wie es wäre zu berühren, was man begehrte. Für sie war es eine Metapher. Die Einsamkeit, welche sie tief in sich trug und das unstillbare Verlangen nach etwas, was sie befürchtete niemals füllen zu können.
Sie wandte sich wortlos von der Reling ab und lief als einzige über das Deck, eine stille Träne rann ihr über die Wange.
Last edited by Ravia; 02.10.2024 at 00:23.
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An Bord der Joka La Maji
„Klar machen zum Ankern!“, rief der Kapitän laut und klar von Achtern.
Einige kräftige Männer liefen zur Winde, um die die schwere Kette gewickelt war, an dessen Ende der eiserne Anker hing. Unterdessen eilte der Lotmann herbei, der mithilfe des Handlots, eine lange Leine, die im Abstand von einer Armspanne grobes, gefärbtes Tuch als Markierungen aufwies, die Wassertiefe bestimmen konnte. An einem Ende befand sich ein Gewicht, das sogenannte Senkblei, welches eine Höhlung an der Unterfläche besaß. Damit konnte man herausfinden, wie der Meeresgrund beschaffen war und ob der Anker dort Halt finden würde. Für den vorgesehenen Ankerplatz war es diesmal unwichtig, da sie bereits häufiger hier eine Rast eingelegt hatten und darum wussten, dass sich der Boden gut eignen würde. Auch gab es auf den Seekarten Notizen wie tief das Meer in der Bucht war, in der sie die Nacht verbringen würden, doch Arus wollte lieber auf Nummer sichergehen.
Der Lotmann, tatsächlich eine Frau namens Dora, doch Berufsbezeichnungen waren geduldig, wartete ebenso geduldig wie ihr Arbeitstitel darauf, dass die Joka La Maji an Fahrt verlor.
„Rahleinen fieren!“, folgte der Befehl vom Quartiermeister, woraufhin die Mannschaft die Rah absenkte, um die Fläche des dreieckigen Großsegels zu verkleinern.
Merklich verloren sie immer mehr an Fahrt und steuerten weiterhin auf die Bucht zu, welche sich im Südwesten der Insel Kohorinis befand. Dora wartete noch einen Moment, ehe sie das Handlot über Bord warf und wartete, bis das Senkblei den Meeresgrund traf. Eilig zog sie das Lot wieder ein, wobei sie es bereits immer auf Armlänge knickte, bis sie die das erste nasse Farbtuch berührte.
„Zweieinhalb Faden!“, vermeldete sie die Tiefe, woraufhin sich die Matrosen an der Ankerkette zu schaffen machten.
Eilig zogen sie die schweren Glieder von der Winde und über das Deck, wobei sie fünf Bahnen legten, jede so lang wie der nasse Bereich der Lotleine. Es war wichtig, dass genug Ankerkette genutzt wurde, um zu verhindern, dass das Schiff das Eisen einfach mit sich zog, wenn Unvorhergesehenes geschah und so Schäden entstanden.
„Anker klar, Kette gesteckt!“, rief einer der Männer laut, als sie bereit waren.
„Wassertiefe gut, Käpt’n!“, rief Dora, die diese Stelle bereits sehr gut kannte.
Routiniert steuerte Arus die Joka in den Wind, sodass sie noch mehr Fahrt verloren.
„Klar zum Ankern!“, rief der riesige Torgaaner und wartete bis die Matrosen den Anker über Bord hievten, wo sie ihn hielten.
Einige Momente mussten die Männer durchhalten, bis sich das Schiff nach und nach achteraus bewegte.
„Fallen Anker!“, befahl er laut und das schwere Gewicht wurde losgelassen, sodass es in die Tiefe sank.
Die Kette fest im Blick bemerkten sie sofort, dass der Anker den Grund erreichte und sie griffen nach den Gliedern, um die restliche Länge nachzuführen. Eine lange Spiere wurde ins Meer gehalten und gegen den am Boden liegenden Anker gedrückt, um zu prüfen, ob er fest greift. Auf eine Bestätigung hin folgte der letzte Befehl des Manövers.
„Segel einholen!“
Mit schnellen griffen wurde das Großsegel und dann das Vorsegel eingeholt und fachmännisch befestigt. Sie lagen sicher vor Anker in einer Bucht auf der Westseite der Insel Khorinis. Die Nacht würde bald einbrechen und bisher war ihre Reise ohne Probleme verlaufen. Einige der Seeleute klopften sich gegenseitig auf die Schultern.
„Gut gemacht, Leute!“, lobte Arus seine Mannschaft und trat vom Steuer weg.
Die eingeteilte Ankerwache wurde mit gut gemeinten Frotzeleien humorvoll verspottet, ehe sich die üblichen Grüppchen für Gespräche und Spiele bildeten. Bald würde Jabari zum Essen läuten, doch von Ravia fehlte derzeit jede Spur.
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An Bord der Joka La Maji
„Pffffffff“, stieß Ravia die Luft zwischen ihren Lippen hindurch, während das Schiff im Seegang schwankte und sie mit der Schulter gegen eine Kiste stieß.
„Heeeee, pash do auff“, murrte sie und setzte die Flasche mit Rum wieder an, deren Inhalt leicht schwappte.
Mit kräftigen Zügen trank sie mehrere Schlucke des starken Alkohols, ehe sie die Buddel wieder absetzte und zwischen ihren Beinen einklemmte, die ausgestreckt vor ihr in den Frachtraum reichten. Sie selbst saß zwischen einigen Vorratskisten, mit dem Rücken an einer solchen. Wenn man sie fragen würde, wie sie hergekommen war, hätte sie wohl keine zufriedenstellende Antwort geben können. Zum einen, weil ihre Zunge zu schwer für das Formen verständlicher Worte geworden war und zum anderen, weil sie sich nicht wirklich erinnerte.
Ihr Kopf rollte von einer Schulter über die Brust zur anderen, der Blick unfokussiert. Ihre Lippen und das Kinn waren feucht vom Rum und sie hatte wohl auch einige Tropfen auf dem Hemd abbekommen.
Vom Deck war Gelächter und Fußgetrampel zu hören und sie wedelte verärgert mit einem Arm durch die Luft, als würde sie eine nervige Fliege vertreiben wollen. Die Stirn in tiefe Falten gelegt, sah man ihr an, wie genervt sie war. Doch schon im nächsten Augenblick entwich ihr ein Hicks und sie grinste etwas dümmlich.
„Huppsss“, zischte sie feucht, ehe sie die Flasche erneut anhob, um sie zu leeren.
Mit einem zufrieden gehauchtem „Ahhh“ stellte sie das leere Gefäß zu den anderen. Es klimperte und durch ihre grobschlächtigen, unkoordinierten Bewegungen rollten im nächsten Moment die Rumflaschen durch den Frachtraum. Das dabei entstehende Geräusch war wie ein sanftes, rhythmisches Trommeln, das von einem leisen, hohlen Echo begleitet wurde. Es erinnerte an das Klappern von Kastagnetten, das sich langsam in die Ferne verlor. Ein seltsames Instrument, welches sie auf einer Insel, deren Name ihr entfallen war, kennengerlernt hatte. Jeder kleine Stoß und jede Unebenheit im Boden erzeugten ein zartes Klirren, das wie ein flüchtiger Windhauch durch den Laderaum zog. Ein Klang, der sowohl beruhigend als auch ein wenig geheimnisvoll war, als ob die Flasche eine eigene kleine Reise unternahm.
Ravia gluckste nur belustigt und schaute dabei zu, wie die Flasche gegen einen Balken stieß, der die Decke stützte und mit einem dumpfen Geräusch zum Stillstand kam, nur um beim nächsten Heben des Schiffrumpfes wieder in die andere Richtung zu rollen.
Vermutlich schaute die betrunkene Piratin dem Schauspiel eine geraume Zeit bereits zu, als sich die Tür zum Oberdeck öffnete. Sie sah es nicht, hörte aber die Schritte auf der steilen Treppe.
„Ravia? Ravia, was machst du hier?“, hörte sie eine Männerstimme, sah jedoch nur verschwommene Körperformen auf sich zukommen.
„Flasch’n dreeeeee’n“, antwortete sie lallend und grinste schief, während sie versuchte zu erkennen, wer da aufgetaucht war.
„Hast du die alle getrunken? Bei den Göttern!“
„Die könnnnn mish mah!“, säuselte die Betrunkene angestrengt.
Sie versuchte regelmäßig durch die Nase zu atmen, wobei sie unbewusst immer tiefere Atemzüge tat.
„Oh nein, nicht hier bei den Vorräten!“
Sie wurde hochgehoben und die ruckartige Bewegung gab ihrem nervösen Magen den Rest. Gerade so aus der Reichweite der Vorratskisten entließ sie den Rum wieder in die Freiheit. Der Geruch und vor allem der Geschmack waren übel und sie verlor das Bewusstsein, als ihr alles zu viel wurde.
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An Bord der Joka La Maji
„Schon wieder?“
„Ja, zwischen den Vorratskisten.“
„Wie viele Flaschen?“
„Vier, Käpt’n.“
„Tomba!“
Dumpf hörte Ravia die Stimmen, welche sich in der Nähe unterhielten. Zwei Männer, doch im Moment konnte sie ihre Besitzer nicht zuordnen. Ihr Schädel brummte wie verrückt und sie vermied es ihre Augen zu öffnen aus Sorge, dass jegliches Licht sie erblinden lassen würde.
Aus den Worten, deren Sinn sie noch zu finden hoffte, entnahm sie zumindest, dass eine der Personen ihr Baba war und das machte die ganze Situation noch schlimmer. Auch, wenn sie keine Erinnerung daran hatte, wie sie hergekommen war – scheinbar lag sie in einer Koje – brauchte es kein Genie, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie sich maßlos betrunken und schließlich das Bewusstsein verloren hatte. Zu ihrer Schande nicht das erste Mal.
„Ich bleibe bei ihr. Du musst das Abendessen vorbereiten.“
„Aye Käpt’n!“
„Und Jabari? Danke.“
„Nicht dafür Käpt’n.“
Schwere Schritte entfernten sich, während ein Paar noch schwererer Schritte sich näherten. Holz kratze über Holz und ein tiefes Ächzen verriet ihr, dass Arus sich neben ihre Koje gesetzt hatte, neben sie. Je mehr sie zu sich kam, desto mehr Raum wurde frei für das Schamgefühl. Es breitete sich in ihr aus wie zuvor der Alkohol und bestimmte ihr Denken. Wieso hatte sie zur Flasche – oder wohl eher Flaschen – gegriffen? Was war vorher gewesen? Sie versuchte sich zu erinnern und glaubte, dass sie noch wusste, wie sie neben Pakko an Deck der Joka gestanden hatte. Sie hatten sich über den Sonnengürtel unterhalten und dass sie die Sonnenwächter dieses Mal gar nicht passiert hatten.
Und dann?, fragte sie sich und versuchte angestrengt ihre in klebriger Molasse gefangenen Gedanken zu durchforsten.
„Wenn ich nur wüsste, warum du dich manchmal so betrinkst, Rav“, hörte sie Arus tiefen Bariton, „Und es wird jedes Mal schlimmer, selbst wenn es nicht oft vorkommt.“
Offensichtlich machte er sich große Sorgen um seine Ziehtochter und zu dem Schamgefühl mischte sich ein großer Schluck Schuld. Er war auch nicht mehr der Jüngste und sie wollte ihm nicht mehr Probleme machen, als er ohnehin schon mit dem Führen der Mannschaft und seinem Älterwerden hatte. Es gab nicht viele Piratenkapitäne, die so lange lebten wie er und das sprach in vielerlei Hinsicht für ihn. Ravia wollte keinesfalls der Grund dafür sein, dass er noch mehr Sorgen hatte.
Just in diesem Moment fiel ihr wieder ein, was sie so getroffen hatte, dass sie sich in die Besinnungslosigkeit geflüchtet hatte. Der Gedanke des ewig Getrenntseins der Sonnenwächterstatuen. Die Verbindung zu sich selbst, irgendwie immer allein zu sein, selbst wenn sie umringt war von Menschen. Die Sorge, dass ein Teil ihrer selbst fehlte, der Teil, den sie damals in Ardea zurückgelassen hatte, als Arus und die Mannschaft sie aufgenommen hatten.
„Es tut mir leid, Baba“, sagte sie mit heiserer Stimme, die Augen weiterhin geschlossen.
„Du bist wach?“, fragte er verwundert und seine große Hand strich ihr über das verschwitzte Haar.
Sie antwortete nicht, brachte es nicht über sich mehr zu sagen. Ihr war bereits wieder schlecht und die Erinnerung an den Grund für ihr Handeln machte alles so viel schwieriger.
„Ich will, dass das aufhört“, äußerte er streng, „Die Mannschaft wird es nicht gutheißen, dass du einfach an den Rum gehst, wenn wir feste Rationen haben. Du magst meine Tochter sein, aber das gibt dir nicht das Recht…“
„Ziehtochter“, krächzte sie.
„Ravia…“
„Ich weiß, Baba. Lass mich bitte in Ruhe. Ich komme klar.“
„Das werde ich…“
„Geh! Bitte…“
Arus seufzte schwer und schien sich zunächst nicht bewegen zu wollen. Dann jedoch hörte sie, wie er sich erhob und sie allein zurückließ. Er sagte nichts weiter und Ravia schluckte schwer, denn sie wusste nicht, ob sie ihm nicht gerade noch mehr Anlass zur Sorge gegeben hatte.
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An Bord der Joka La Maji
Mit einem lauten Klatsch schlug sie sich beide Hände auf die Wangen, sodass es schmerzte. Ihre Brauen waren steil zusammengezogen und ihr Blick sprühte vor Entschlossenheit.
„Das reicht jetzt, Ravia“, sprach die Gleichnamige laut aus, „Selbstmitleid steht einer Piratin nicht gut zu Gesicht und außerdem hast du mehr als genug Leute um dich, damit du dich nicht einsam fühlen brauchst! Zeig ihnen weiterhin die stets gut gelaunte, quasselnde Blondine, die für jeden einen schnippischen Spruch parat hat!“
Große Worte, doch trotz der Entschlossenheit, die sie für niemanden außer sich selbst zur Schau stellte, sah ihr Innerstes anders aus. Unsicherheit und ein nicht enden wollendes, nagendes Gefühl der Verzweiflung fraßen sich von ihrem Kern durch die äußere Schale. Ihre Mimik brach für einen Augenblick, ehe sie sich ruckartig aufrichtete, was sie im nächsten Augenblick schwer bereute. Die Nachwirkungen ihres Rumkonsums brachen erneut in voller Stärke über sie hinein. Schwindel und Übelkeit übermannten sie beinahe und nur mit langen, ruhigen Atemzügen durch die Nase schaffte sie es, sich nicht auf der Stelle zu übergeben.
„Wem mache ich nur was vor“, flüsterte sie geschlagen und musste mit aller Macht dem Drang widerstehen sich wieder in die Koje sinken zu lassen.
Mit geschlossenen Augen, das Gesicht in den Händen vergraben, ließ sie für eine unbestimmte Zeit ihre Gedanken frei, dachte an nichts bestimmtes und suchte in der verhältnismäßigen Ruhe einer Kajüte auf einem Segelschiff einen Moment des inneren Gleichgewichts.
„Scheiß auf Gleichgewicht“, spie sie schließlich aus und gab den kümmerlichen Versuch einer Meditation auf.
Sie warf die Beine aus der Koje, hielt sich am Holz des Gestells fest und richtete sich langsam auf. Die Knie noch etwas wacklig, wankte sie vorsichtig auf die Treppe zu, die sie hinaus aufs Deck bringen würde. Waren sie schon vor Anker? Oder gar weitergesegelt?
Sie drückte die Holztür auf und wurde von der abendlichen Sonne begrüßt. Die Mannschaft lungerte an Deck herum, lachte und scherzte miteinander, während die Joka La Manji sanft auf den Wellen der Bucht nahe Khorinis tanzte.
„Ravia!“, rief Pakko ihr zu, der sie als Erster bemerkt hatte, „Du siehst furchtbar aus!“, warf er ihr grinsend vor, ehe seine Miene ernster wurde.
„Danke, du Arsch!“, erwiderte sie säuerlich.
„Jabari meinte, dir ginge es nicht besonders. Wo warst du plötzlich? Hab dich beim Ankern vermisst“, meinte er ernst, „Sind es…Frauenprobleme?“
Sie schaute ihn entrüstet an, woraufhin er einen Schritt Abstand zwischen sie brachte. Gute Instinkte hatte er ja, denn sie war drauf und dran gewesen ihm zu zeigen, was sie von seiner Vermutung hielt. Mit der Faust. In seinem Gesicht.
„Ja klar, ich hab mir gerade das Näschen gepudert, jetzt geht’s wieder!“, giftete sie ihn an und schob sich betont gewaltsam an ihm vorbei, indem sie ihn mit ihrer Schulter stieß.
Nicht die beste Idee, die sie hätte haben können, denn sie geriet sofort wieder ins Schwanken. Das konnte sie direkt hinter das sinnlose Betrinken in der Reihe ihrer nicht ganz so hellen Momente der letzten paar Stunden einsortieren, zwischen den Sorgen, die sie ihrem Baba bereitete und dem Versuch sich schnell aufzurichten.
„Hey, jetzt sei doch nicht so! War nur ein dummer Witz“, versuchte der Torgaaner die Situation zu entschärfen, während er ihr dabei zusah, wie sie ihr Gleichgewicht wiederfand, „Samahani, ja?“
„Potea, Pakko!“, wollte sie, dass er sich verzog.
„Ist ja gut, utulivu sana! Ich lass dich ja schon in Frieden“, gab er nach, „Jabari hatte also Recht. Frauenprobleme“, fügte er leise hinzu, wobei er wohl dachte, dass sie ihn nicht hören konnte.
„Mpumbavu wewe!“, rief sie ihm hinterher, während er sich eilig aus dem Staub machte.
Bei den Göttern! Wie schaffte er es, sie so schnell auf die Palme zu bringen und ihr damit jeglichen guten Willen zu nehmen, sich selbst besser zu fühlen? Ravia hatte nicht schlecht Lust direkt wieder Unterdeck in ihre Koje zu verschwinden, doch sie biss die Zähne wütend aufeinander und schluckte die Galle runter, die ihr bei der Aufregung in den Mund gestiegen war. Einige beunruhigte Blicke wurden in ihre Richtung geworfen, doch sie versuchte sie zu ignorieren. Vielleicht sollte sie mal mit Jabari ein ernstes Wörtchen reden?
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An Bord der Joka La Maji
„Hätte ich ihnen sagen sollen, dass du dich besinnungslos gesoffen hast, eh?“, fragte Jabari genervt, während er energisch Rüben schnitt.
Ravia, die mit verschränkten Armen an der Wand der Kombüse lehnte und den Koch wütend anfunkelte, wollte davon nichts hören.
„Aber Frauenproblem? Du hast doch keinen Schimmer! Ich bin dir dankbar, dass du mir geholfen hast, aber hättest du dir nicht was besseres einfallen lassen können? Hast doch sonst immer so gute Geschichten parat, Mwongo.“
„Hey, jetzt pass mal auf! Meine Geschichten sind wahr und ich hätte auch einfach die Wahrheit sagen können oder noch besser, dich in deiner eigenen Kotze im Frachtraum liegenlassen, bis dich jemand anders gefunden hätte. Wäre dir das lieber gewesen, eh? Ich hab deinen Mist sogar weggewischt, klar?“
Schlechtes Gewissen breitete sich wie ein Geschwür in der Magengegend der jungen Frau aus. Sie war wirklich undankbar, oder? Immerhin hatte er ihr wirklich sehr geholfen und sogar versucht ihren Ausrutscher vor der Mannschaft geheim zu halten. Wie er sie unbemerkt in ihre Koje bekommen hatte, war ihr noch immer schleierhaft.
„Tut mir leid, Jabari“, lenkte sie schließlich ein, was er mit einem missmutigen Brummen entgegnete, „Ich bin dir dankbar, wirklich. Aber auch wütend, vor allem auf Pakko, diesen Mwana wa Kaha-“
„Pakko ist nicht schuld an deiner Situation! Es gibt keinen Grund seine Mutter zu beleidigen. Du bist allein verantwortlich, Ravia“, wies er sie zurecht, wie es sonst nur ihr Baba tat.
Jabari war wohl die einzige andere Person auf dem Schiff, von der sie sich eine ähnliche Behandlung gefallen ließ. Selbst Naut, der Quartiermeister, würde so nicht mit ihr reden können, ohne dass sie sich entsprechend verhielt.
Betretenes Schweigen machte sich in der Kombüse breit und es war lediglich das brodelnde Wasser im Kessel über dem Ofen zu hören und das rhythmische Klacken des Messers auf dem Schneidebrett, welches Rüben zerteilte. Er hatte ja Recht. Aber die Piratin wusste nicht wohin mit ihrer Wut und dem Selbstmitleid. Ihre Unzufriedenheit mit sich selbst war eine Last, die für sie selbst zu schwer war und so suchte sie nach Mitteln und Wegen sich etwas von der Seele zu laden. Doch wie sie es bisher getan hatte, machte sie sich auf Dauer keine Freunde damit und würde am Ende wohl tatsächlich allein dastehen. Das musste aufhören.
„Darf ich dir noch helfen?“, fragte sie schließlich kleinlaut, konnte jedoch einen Seufzer nicht unterdrücken.
Einen kurzen Moment ließ der Koch mit einer Antwort auf sich warten, ehe er auf die Zwiebeln deutete. Das hatte sie wohl verdient.
Viele Tränen später waren die vielschichtigen Quälgeister vorbereitet und Ravia saß mit roten Augen hinter dem kleinen Tisch auf der an die Schiffswand angebrachten Bank. Sie schniefte, weil ihre Nase unentwegt von dem stechenden Geruch gereizt war und schob sie riesige Schüssel von sich.
„Fertig“, meldete sie sich, während Jabari im Kessel rührte.
„Gut, wirf sie in die Fischsuppe.“
„Alle?“, fragte sie skeptisch.
„Ja.“
Mit einem Schulterzucken sprang die Blonde auf und kam der Aufforderung nach. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, warum so viele Zwiebeln in die Suppe mussten, aber er war der Koch und sie hatte ehrlich gesagt keine Ahnung von der Essenszubereitung. Vom Essen hingegen…
Ihr Magen knurrte hörbar und verkündete damit, dass es Zeit war die durchs Übergeben verlorene Energie wieder einzufahren.
„Du kannst schonmal die Glocke läuten. In ein paar Minuten ist das Essen fertig.“
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An Bord der Joka La Maji
„Anker lichten!“, donnerte Arus‘ tiefe Stimme über das Deck und die Matrosen beeilen sich das schwere Eisen wieder an Bord zu ziehen.
Die Winde wurde bedient und es bedurfte einiger Handgriffe, um den Anker vom Grund zu lösen. Sie waren im Begriff abzulegen und ihre Fahrt gen Osten weiterzuführen. Ravia stand bereit am Tauwerk, eingeteilt das Segel zu setzen, wenn der entsprechende Befehl kam. Sie hatte sich den gestrigen Abend von der Mannschaft weitestgehend ferngehalten und auch heute war sie lieber für sich, fuhr aber nicht mehr aus der Haut wie bei Pakko gestern, wenn sie angesprochen wurde. Dennoch fasste sie sich kurz, was nicht ihrer natürlichen Art entsprach.
Das Kommando ertönte und sie Zog kräftig an der Leine. Das Hauptsegel entfaltete sich und begrüßte die Brise, welche von Süden wehte. Ein kurzes Stück gegen den Wind würden sie kreuzen müssen, und danach hoffte der Kapitän auf einen Windwechsel aus Westen, doch ob er seinen Wunsch erfüllt bekäme, würde sich noch zeigen müssen.
Die Joka nahm langsam an Fahrt auf und sie manövrierte routiniert aus der Bucht bei Khorinis bis sie wieder auf dem offenen Meer war. Im Süden sahen sie die Landmassen Gorthars, doch das wäre dieses Mal nicht das Ziel ihrer Reise, selbst wenn die Piratin gern mal wieder einen Fuß in die riesige Metropole des Herzogtums setzen würde. Sie mochte den Trubel dort - und die vollen Geldkatzen der Bewohner.
Je nachdem wie ihnen die Winde gewogen waren, würden sie gute Meilen machen und vermutlich vor dem bekannten Stichtag am Östlichen Archipel ankommen. Soweit war der Plan also reibungslos verlaufen, doch die Blonde fragte sich, wie es weitergehen würde, wenn sie die Prise an Bord geholt hatten. Meist entschied der Quartiermeister welcher Ort den meisten Profit für sie abwerfen würde, wenn sie nicht für einen gönnerhaften Auftraggeber arbeiteten wie König Ethorn wohl versprach zu werden.
Die zerklüfteten Felsen Khorinis‘ verschwanden allmählich hinter ihr, während Ravia den aufgeregten Wind in ihrem Gesicht spürte. Er wirbelte und zerrte an dem Tuch, das ihre Haare bändigen sollte, doch es hielt fest, was es versprach, und bewahrte ihre Strähnen an Ort und Stelle. Mit jedem Atemzug wurde ihr klar, wie sehr sie diesen Ausblick in der kurzen Zeit vor Anker vermisst hatte.
Die salzige Meeresbrise trug den Duft von Abenteuer und Freiheit mit sich, und Ravias Herz schlug schneller vor Aufregung, während sie sich über die Reling lehnte. Der weite Horizont erstreckte sich vor ihr, ein unendliches Versprechen von Entdeckungen und neuen Geschichten. Die Wasserstraße glitzerte im ersten Licht des Sonnenaufgangs, funkelnd wie tausend kleine Diamanten, die im Tanz der Wellen schimmerten und nur einen gestreckten Arm entfernt schienen.
Die Piratin ließ ihren Blick über den Ozean schweifen, das Rauschen des Meeres und das ferne Rufen der Möwen erfüllten die Luft. Jeder Wellenkamm, der gegen die Schiffsseite schlug, schien ein munteres Hoch des Lieds des Meeres zu singen, eine Melodie, die nur für die Ohren der Seeleute bestimmt war.
In diesem Moment fühlte sie sich eins mit der Welt um sie herum, ein kleiner, aber wesentlicher teil dises großen und wundervollen Ganzen. Sie atmete tief ein, schmeckte das Salz auf ihrer Zunge, nahm Frische und Freiheit in sich auf, während das Schiff freudig durch das Gewässer glitt.
Vergessen war der Ärger des vergangenen Tages und der Grund dafür versenkt in der Tiefe des Meeres, bis er wieder auftrieb und sie erneut mit hinab zu zerren versuchen würde. Doch sie war gewillt diesem Sturm ihrer Gefühle zu begegnen und ihn zu meistern wie es nur eine echte Seefahrerin konnte. Mochten die Gezeiten ihr entgegenwerfen, was sie zu bieten hatten mit bedrohlichen Wogen der Verzweiflung und scharfen Winden der Einsamkeit. Ihr Kurs war gesetzt und sie würde nicht davon abweichen.
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An Bord der Joka La Maji
Der Wind hatte nicht gedreht und so kreuzten sie über das scheinbar endlose Meer. Arus war jedoch nicht besorgt, dass sie zu spät an ihrem Zielort angelangen würden. Verzögerungen waren eingeplant und die zusätzliche Arbeit an Deck hielt die Mannschaft auf Trab. Lange Wartezeiten stifteten oft zu unbedachtem Handeln an und es bedurfte mehr Aufmerksamkeit des Kapitäns, die Crew bei Laune zu halten, als wenn sie ihrem Handwerk nachgehen konnte.
Die letzten Tage waren für Ravia ein steter Wechsel zwischen Wachschicht, Schlafen, Verpflichtungen am Segel und ruhigen Abenden an Deck gewesen, die sie mit den anderen Seeleuten verbracht hatte. Es wurde zusammen gesungen, Geschichten erzählt und der ein oder andere Rum getrunken, wobei sie stets nach einem zu Wasser gewechselt war. Ihr schlechtes Gewissen war verflogen, doch die Sorge um ein neuerliches Erwachen in ihrer eigenen Schande hielt sie davon ab mit den anderen gleichziehen zu wollen, die den freigegebenen Rationen frönten. Pakko hatte sich jedoch bewusst von ihr ferngehalten. Er schien auch immer eine andere Arbeitsschicht zugeteilt bekommen zu haben, als sie. Ob ihr Baba von Jabari einige Worte zu ihrem Verhalten gehört hatte? Gerüchte auf so engem Raum blieben nie lange im kleinen Rahmen.
Im Schneidersitz lehnte sie mit dem Rücken an der Reling, verteilte mit einem sauberen Leinentuch etwas Öl auf dem Messer, welches ihr vor vielen Jahren von Arus geschenkt worden war. Lange war es schon treu an ihrer Hüfte, stets zur Hand, wenn sie es brauchte. Nur wenige Male hatte sie es gegen einen anderen Menschen ziehen müssen, wenn sie die Übungseinheiten mit den anderen Piraten ignorierte. In keinem dieser Fälle war es zum Einsatz gekommen. Ob es bei dem kommenden Überfall auf die Handelskogge anders werden würde? Sie hoffte nicht. Ihr lag nichts daran ein Leben zu nehmen. Es waren die Habseligkeiten der Leute, an denen sie Interesse hatte. Halsketten, Ringe, Geldkatzen kamen in den Sinn, doch das waren nur die offensichtlichen Beutestücke, die wenig Kreativität erforderten, um daraus Profit zu schlagen. Spannender waren Gewürze, Duftöl und Stoffe, Dinge, für die man erst einen passenden Abnehmer finden musste. Genauso Wein, den sie im Hinblick auf den Ursprung der geladenen Waren des Handelsschiffs erwartete. Die richtigen Personen zahlten für den richtigen Wein Summen, die mehr als den Frachtraum der Joka füllen würden.
Doch sie durfte nicht vergessen, dass Araxos, die Händlergilde, welche in den meisten Fällen für die Transporte der Waren vom Östlichen Archipel zum Festland verantwortlich waren, ihre Schiffe mit mehr Söldnern ausstatteten, als unabhängige Händler. Auch die Mannschaft wusste das, doch Ravia war eine der wenigen unter ihnen, die Einsicht in die Logbücher hatte, da ihr Baba wollte, dass sie ein Gespür für das Geschehen hinter dem einfachen Seefahrerleben bekam. Und ihr war gut in Erinnerung geblieben, dass insbesondere das Entern von Schiffen dieser Organisation mit vielversprechenden Prisen einhergegangen war, aber auch mit Verlusten guter Frauen und Männer, deren Familien laut den von allen unterschriebenen Artikeln mehreren Anteilen der Beute entschädigt wurden. Häufig war der Grund für jemanden, Pirat zu werden, dass er oder sie seine zurückgelassene Familie versorgt wissen wollte, wenn legale Arbeiten nicht alle Münder hatten stopfen können.
Seltsamerweise wusste sie von keinem ehemaligen Söldner, der zu ihrer Crew übergelaufen war, nachdem das Schiff, welches er oder sie zu bewachen verpflichtet gewesen war, von den Piraten erobert worden war. Dabei hätte sie diesen Schlag von Menschen eher so eingeschätzt, dass sie den eigenen Vorteil über alles andere stellten.
„Eventuell wird es dieses Mal ja anders“, murmelte sie zu sich selbst und verlagerte ihr Gewicht ein wenig, sodass ein anderer Teil ihres Rückens gegen das raue Holz der Reling drückte.
Der Abend rückte näher und nach dem Essen wäre sie für die erste Nachtwache eingeteilt. Vermutlich eine weitere ruhige Nacht. In den östlichen Gewässern war das Wetter weniger mild, als im Süden und das voranschreitende Jahr reckte seine Finger bereits in den Herbst hinein. Nach Sonnenuntergang wurde es schnell kalt und Regen ergoss sich immer häufiger über sie. So sehr sie das Reisen auch liebte, so ungern verbrachte sie ihre Tage und Nächte bei schlechtem Wetter und kühler Luft. Nicht mehr lange und sie würden wohl heißen Grog und Decken brauchen, um die Glasen zum Wachwechsel zu überstehen.
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An Bord der Joka La Maji
Die Silhouetten der Inseln des Östlichen Archipels schälten sich aus dem morgendlichen Nebel wie unbewegliche Monolithen. Der größte Schatten gehörte zu Archolos, von wo das Handelsschiff aus auslaufen würde, welches Arus als das Ziel der Piraten auserkoren hatte.
„Land in Sicht!“, rief Ravia vom Krähennest auf das Deck, in welches allmählich Bewegung kam.
Im nächsten Moment hallten vier doppelte Glockenschläge durch die Luft, das Zeichen, dass es endlich Zeit für den Wachwechsel war. Die Piraten rotierte ihre Glieder und streckte sich, um die Kälte und Steifheit aus ihren Gelenken zu verbannen, die sich dort in den letzten Stunden heimisch gefühlt hatten. Sie liebte die Höhe des Krähennestes, doch die Nächte waren unangenehm hier oben und sie sehnte sich nach etwas Wärme. So weit im Osten hatte das Wetter jegliche Wärme des Südens eingebüßt und die herbstlichen Temperaturen bewiesen ihre Vorherrschaft mit eiserner – oder wohl eher eisiger – Hand.
Vorsichtig machte sich Ravia an den Abstieg durch die Takelage. Sie war noch immer etwas steif im Körper und so ließ sie sich Zeit, auch wenn sie unbedingt nach unten wollte. Zu stürzen könnte ihr Ende sein, doch sie kam unversehrt unten an und gesellte sich zu den anderen Mitgliedern der Mannschaft, die nach ihrem Ruf an die Reling gelaufen waren, um ebenfalls die Inseln zu sehen. Die aufgehende Sonne grüßte aus eben jener Richtung und versuchte mit all ihrer jungen Kraft durch den Nebel zu dringen, was den Eindruck erweckte, sie wären in einer dichten Wolkendecke gefangen. Doch die Joka La Maji durchbrach das träge Weiß und schenkte ihrer Crew einen morgendlichen Anblick, der sich auch den Erfahrensten unter ihnen nicht häufig geboten hatte.
Archolos erhob sich majestätisch aus dem endlosen Blau des Meeres. In der Ferne sah Ravia die zerklüfteten Klippen, die sich wie stolze Wächter entlang der Küste erstreckten. Das Licht des Sonnenaufgangs tauchte die Landschaft in ein goldenes Leuchten, wodurch die Felsen in einen warmen Glanz erstrahlten. Üppige Wälder breiteten sich aus, grüne Wipfel tanzten im sanften Morgenwind und bildeten einen lebendigen Teppich, der sich bis zu den Weinbergen erstreckte.
Die Strände glitzerten im Sonnenlicht, als wären sie mit feinem, funkelndem Sand bedeckt, und das klare Wasser schimmerte in verschiedenen Blau- und Grüntönen. Die Küstenlinie war eine Mischung aus sanften Buchten und dramatischen Felsvorsprüngen, die ins Meer ragten und der Insel ein Gefühl der Wildheit und Ungezähmtheit verliehen. Weiter im Landesinneren erhob sich der mächtige Vulkan, dessen Spitze sich fast in die Wolken zu recken schien.
Über allem spannte sich der Himmel, ein tiefes, weites Blau, das mit den ersten Streifen des Tageslichts geschmückt war. Die Wolken zogen langsam dahin, wie flauschige, weiße Schafe, die friedlich über die Himmelsweide trotteten. Die Vögel sangen ihr Morgenlied – mischten sich zum ersten Mal seit Wochen unter das Kreischen der Möwen – ihr Zwitschern im Einklang mit dem Rauschen der Wellen.
„An die Segel!“, rief Arus und die Mannschaft spurte sofort.
Er war beim Glockenschlag aus seiner Kajüte getreten und löste Naut am Ruder ab, der die Nacht hindurch die Verantwortung dafür übernommen hatte. Wie bereits bei seiner Rede kurz nach der Abreise erwähnt, würden sie nicht zu nah an Archolos heransegeln, sondern im Schutz einer der anderen Inseln lauernd warten, bis die Tage zum geplanten Auslaufen der Handelskogge verstrichen waren. Mit sicherer Hand steuerte er die Joka nach Steuerbord, weiter südlich auf eine der anderen Inseln zu, deren Name Ravia nicht einfallen wollte. Sie würde wohl auf eine der Karten schauen müssen, die in der Kapitänskajüte aufbewahrt wurden.
Mit gezielten Kommandos passten sie den Kurs und auch den Segelstand an, sodass sie alsbald die Sicht auf die größte Insel des Östlichen Archipels verloren. Denn zwischen ihr und ihnen lagen nun weitere Landmassen, deutlich näher und auch nicht weniger imposant. Lange Sandstrände, an denen sich bereits Fischer zu tummeln schienen, die ihre Boote ins kalte Wasser zogen, um ihre Netze in tiefere Gewässer auswerfen zu können.
Die blonde Piratin erklomm die Treppe auf Achtern und gesellte sich zu ihrem Baba, der ihr einen kurzen, warmen Blick zuwarf, ehe er sich wieder auf das Steuern konzentrierte. Die Riffe um das Östliche Archipel hatten zurecht den Ruf tückisch zu sein und er wollte nicht riskieren einen Fehler zu machen.
„Die Fahrt hier her hat am Ende doch länger gedauert, als erwartet, nicht wahr?“, fragte die Ziehtochter.
„Ja, drei Tage haben wir noch, wenn meine Informationen stimmen und Araxos sich so verhält wie wir erwarten und das Schiff mit der Flut auslaufen lassen“, antwortete der riesige Torgaaner.
„Also warten wir in einer Bucht ab.“
„Wie besprochen, ja. Was hast du auf dem Herzen, Ravia?“, fragte Arus sie, da er spürte, dass sie ihn nicht angesprochen hatte, um den Plan noch einmal durchzugehen.
Sie seufzte.
„Ich wollte mich entschuldigen für mein Verhalten vor einigen Tagen. Als ich…die Kontrolle verloren habe.“
„Das passiert uns allen mal“, brummte der Kapitän.
„Aber es bereitet dir Sorgen und bevor wir das Händlerschiff angreifen, wollte ich dich wissen lassen, dass es mir leidtut und dass es nicht wieder vorkommen wird.“
„Entschuldigung akzeptiert, msichana Wangu!“
„Danke Baba“, lächelte die Blonde ihren Ziehvater an und wollte sich dann zurückziehen, „War ‘ne kalte Nacht. Ich bin froh, dass wir es bald geschafft haben.“
Arus brummte wie üblich und sie ließ ihn am Ruder allein.
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An Bord der Joka La Maji
Die Joka la Maji lag ruhig in einer geschützten Bucht, versteckt vor neugierigen Blicken. Die Mannschaft wartete geduldig und voller Vorfreude auf das Zeichen zum Angriff. Drei Tage waren vergangen, seit sie die ersten Silhouetten des Östlichen Archipels aus dem Nebel hatten auftauchen sehen. Drei Tage, in denen die Spannung an Bord stetig gewachsen war. Ravia spürte diese Anspannung in jeder Faser ihres Körpers. Immer wieder strich sie mit dem Daumen über die Klinge ihres Messers, ein vertrautes Ritual, das ihr in Momenten der Anspannung Ruhe verschaffte.
Sie hatte die letzten Tage damit verbracht, ihre Ausrüstung zu überprüfen, ihr Messer zu schärfen und sich mental auf das vorzubereiten, was kommen würde. Die Erinnerungen an ihren letzten Zusammenbruch war noch präsent, aber sie hatte sich geschworen, dass sowas nicht wieder vorkommen würde. Sie würde stark sein, für sich selbst und ihre Familie an Bord der Joka La Maji.
Der Morgen dämmerte, als Arus die Mannschaft an Deck rief. Ein kalter Wind pfiff durch die Takelage und die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch den dichten Nebel, der zu dieser Jahreszeit und an diesem Ende der Welt dominanter war, als bei den Südlichen Inseln. Die Anspannung war greifbar.
„Meine Freunde!“, donnerte Arus‘ Stimme über das Deck, „Die Zeit ist gekommen! Die Kogge von Araxos wird in Kürze aus dem Hafen von Archolos auslaufen. Wir werden ihnen entgegensegeln und zeigen, was es heißt, die Beute eines Wasserdrachens zu sein!“
Jubel brandete auf, als die Mannschaft die Worte ihres Kapitäns vernahmen. Ravia spürte ein Kribbeln in ihren Händen. Es war eine Mischung aus Aufregung und Nervosität. Sie wusste, dass die Araxos-Koggen schwer bewaffnet und gut bewacht waren. Es würde ein harter Kampf werden.
Arus hatte die Mannschaft in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe, angeführt von ihm selbst, sollte das Handelsschiff entern und die Söldner in Schach halten. Die zweite Gruppe, unter der Führung von Jabari, würde das Schiff bewachen, bis der Sieg sicher war und dann nach der wertvollen Ladung sehen und sie auf ihr Schiff transportieren.
Die Piratin war erleichtert, als sie bemerkte, dass Pakko in Arus‘ Gruppe war. Nach ihrem letzten Ausrutscher war die Stimmung zwischen ihnen noch immer angespannt. Sie vermies es, ihm in die Augen zu sehen, und er schien dasselbe zu tun.
Jabari hatte ihr zugezwinkert, als die Gruppenaufteilung bekanntgegeben worden war. Sie wusste, dass er versuchte, die Situation aufzulockern, aber es half nicht viel.
Als die Joka aus ihrem Versteck auslief, lichtete sich der Nebel langsam, und die Sonne brach durch die Wolken. Der Wind frischte auf und schob das Schiff mit mächtigen Böen voran. Die Segel blähten sich und das Holz knarrte unter der Belastung.
Ravia eilte zum Bug und spähte in die Ferne. Sie hielt Ausschau nach der Kogge. Im Moment hatten sie noch die Flagge des myrtanischen Reiches gehisst. Eine übliche Taktik, um das Ziel so lange wie möglich in Sicherheit zu wiegen. Erst, wenn sie nah genug waren, um sicherzustellen, dass sie aufholen konnten, würden sie die schwarze Piratenflagge hissen, um Furcht in den Herzen ihrer Opfer zu säen. Der erste Streich der Seeschlacht.
Noch vor dem Ausguck im Krähennest entdeckte sie die Umrisse des Handelsschiffes und machte laut Meldung. Das Schiff war größer, als die Joka La Maji, doch die Besatzung wäre kleiner. Piraten behielten eine große Mannschaft bei, um im Kampf einen Vorteil zu haben, während Händler Gold sparen wollten und nur die nötigsten Leute an Bord nahmen. Eine Segelcrew und einige Söldner im Fall von Araxos.
Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, während die anderen Piraten sich gegenseitig anstachelten, nachdem sie ihren Ruf vernommen hatten. Sie hatten schon viele Schiffe geentert, aber dieses Mal war es anders. Die Araxos-Kogge war eine andere Liga, als die kleineren, wendigen Schiffe der Varanter.
Arus gab die Kommandos mit ruhiger Stimme, aber Ravia spürte die Entschlossenheit in seinen Worten. Er würde dieses Schiff erobern, koste es, was es wolle.
„Alle Mann auf Gefechtsstation!“, brülle er über das Deck, „Hisst die Flagge und macht euch bereit zum Entern!“
Die Mannschaft antwortete mit einem lauten „Aye, Käpt’n!“
Ravia zog ihr Messer aus der Scheide und prüfte noch einmal die Schärfte der Klinge. Sie war bereit. Sie würde ihr Bestes geben, um ihren Teil zum Erfolg der Mission beizutragen.
An Bord des Handelsschiffs kam Bewegung in die bedrohte Mannschaft. Laute Rufe hallten über das Wasser zu ihnen herüber und…waren das Bogenschützen?
Die ersten Pfeile flogen als Antwort zu ihnen herüber, doch sie verfehlten das Ziel um mehrere Fuß. Doch in wenigen Augenblicken würden sie in Schussreichweite sein.
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Neuling
“Rashedda!”, knurrte nicht nur Arus als der zweite Pfeilhagel über sie kam und in das Holz der Joka. Sie alle - bis auf Arus selbst - hatten Deckung hinter der Bordwand gesucht.
Arus stand da wie ein Fels in der Brandung. Steuerte sein Schiff zielgenau auf die Handelskogge zu und entschied noch im Kopf wie der Kontakt werden sollte. Sein Mantel flatterte im Wind und er sah auf zum Himmel.
“Die verfluchten Götter der Winde sind mit uns!”, rief er mehr zu sich selbst und sah wie der Wind die dritte Salve seitlich so sehr ablenkte, dass die Hälfte in den Wellen landete.
“Bereit machen, ihr verdammten Hundesöhne! Nach der vierten Salve antworten wir! Jabari! Dein Öl!”, donnerte Arus Stimme und er lachte laut auf, als sein Wasserdrache Meter um Meter dem Ziel näher kam. Drüben positionieren sich die Bogenschützen neu. Hier griffen seine Leute zu den Enterhaken, Wurfäxten und ihren Waffen.
Arus lenkte sein Schiff gefühlvoll in den Wellen, visierte einen Punkt genau an und sah, wie die vierte Salve über sie kam. Er duckte sich kurz weg und dann sah er mit Stolz zu, wie seine Mannschaft loslegte.
Wurfäxte wurden auf die Schützen geschleudert und dann feuerten sie mit drei Armbrustschützen und sechs geladenen kleinen Armbrüsten auf das andere Schiff.
Was folgte war Jabari und ein halbes Dutzend seiner Leute die gut brennbares Öl mit torgaanischen Rum in Flaschen abgefüllt hatten und mit einem damit triefenden Stück Stoff abgedichtet hatten. Dieser Stoff brannte nun und flog im hohen Bogen auf das Schiffsdeck der Kogge.
Es wurde geschrien als Glas zerplatzte und dunkler Rauch mit Stichflamme aufzog.
Leute von dort versuchten das Feuer zu löschen, doch bevor irgendwas geschah und die Schützen von dort ihre fünfte Salve abfeuern konnten, rammte der Wasserdrache die Kogge und kurz darauf flogen die Enterhaken.
Arus vertraute darauf, dass sein Schiff keinen großen Schaden genommen hatte und griff sein großes torgaanisches Piratensäbel.
Er brüllte zum Angriff und vom Mast schwangen sich ein paar seiner Leute auf das andere Schiff, während wieder andere die Seile der Enterhaken hinauf stiegen und eine kleine Enterbrücke zu Einsatz kam.
Arus zwinkerte kurz seiner Tochter zu, sah wie ein Seil von einer Schiffsaxt durchtrennt wurde und einer seiner Leute ins Wasser fiel und sah auch, wie die Schützen nur von zwei seiner Leute auseinander getrieben wurden und das erste Blut floss.
Die Brandsätze waren teils schon gelöscht oder abgebrannt und hatten dunkle Flecken hinterlassen. Sie hatten ihren Zweck erfüllt.
Arus stürmte über die Enterbrücke und warf sich mit seinem großen Körper auf zwei Matrosen, die versuchten die Enterbrücke mit Stemmeisen weg zu hebeln. Armbrustbolzen jagten durch die Luft und Arus fand sich am Boden wieder und rang mit Fausthieben einen Matrosen nieder, während seine Leute ins Hauen und Stechen übergingen.
In diesen Momenten lachte sein dunkles Piratenherz und mit diesem sein großes Säbel, dass den anderen Matrosen sein Messer mitsamt halben Unterarm abschlug. Ein satter Tritt des Kapitäns und er kam seinen Leuten zu Hilfe.
Es war kein langes Gefecht, denn teils mussten die Gegner alleine gegen zwei Piraten kämpfen, dazu die piratische Brutalität und es wurde offensichtlich, dass sie vom Rest im Stich gelassen wurden.
Sie ergaben sich überwiegend.
“Söldner…”, dachte sich Arus, als er die wirklichen Gegner sah, die natürlich ein anderes Kaliber als Seemänner waren. Sie hielten das Oberdeck. Da wo sich die gegnerische Mannschaft positioniert hatte und zwei Treppengänge nach oben hielten.
Drei seiner Leute hatten sie schon niedergestreckt und erzürnten das Gemüt des Torgaaners.
Er hob seinen Säbel und kreiste damit kurz. Seine Leute beendeten die Kämpfe, ließen die einfachen Gegner links liegen oder bezwangen sie gemeinsam mit zahlenmäßiger Überlegenheit.
Wer die Waffe fallen ließ, durfte leben und wurde gefangen genommen.
Arus pfiff laut und winkte Leute von seinem Schiff her.
“Sichern!”, war der Befehl des Kapitäns, dann drehte er sich zu den Gegnern und gebot seinen drei Armbrustschützen nicht zu schießen.
“Ihr könnt euch da oben halten und wir verlieren ein paar unserer Leute. Vielleicht auch mehr. - Wir haben das Deck, wir haben den Mast, wir kommen an die Ladung und…wir haben Feuer. Ihr könnt runterkommen und uns aufhalten. Wird aber schwierig. - Ergebt euch jetzt! Gebt eure schönen Waffen ab und bringt mir euren Kapitän! Den Brand den wir unten legen werden, werdet ihr nicht löschen können und sauft alle ab oder endet als gebratener Fisch…hahahaha!”, lachte Arus, zeigte seine weißen Zähne und zeigte mit dem Säbel auf die Söldner.
Ornlu
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Entern der Handelskogge
Schnell und stark schlugen sie zu. Feuer auf hoher See war unbeschreiblich gefährlich, doch die Flammen der Brandflaschen griffen nicht auf Holz oder Segel über. Es war eine bewährte Taktik unter Arus‘ Kommando und es schürte die Furcht der Überfallenen, welche sich wie Ratten auf den höchsten Punkt des Decks gerettet hatten, als wäre ihr Schiff bereits im Begriff zu sinken.
Die erfahrenen Piraten rasselten mit ihren Säbeln, knurrten wie Tiere und bleckten die Zähne. Sie wollten Blut sehen, Rache für jene, die auf ihrer Seite gefallen waren. Ravia hoffte, dass die Söldner aufgaben. Mehr Kämpfe bedeuteten mehr Tote und sie wollte nicht noch mehr Familie verlieren.
Auf ein Zeichen von Arus hin überquerte die Hälfte der Schiffsgruppe die Planken, sicherten das untere Deck und hielten jene in Schach, die sich ergeben hatten. Jabari war zurückgeblieben, sie hingegen nicht. Mit ihrem Messer bedeutete sie einem verängstigten Matrosen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, das Haar feucht und verklebt. Sie grinste ihn grausam an, spielte ihre Rolle.
Es schien so, als würden die Söldner keine Anstalten machen sich zu ergeben, den Kapitän zu übergeben oder ihre vorteilhafte, erhöhte Position aufzugeben. Geben würden sie freiwillig also nichts, Leben nehmen hingegen schon. Doch Arus war nicht bekannt für seine Geduld, selbst wenn er es vorzog das Töten auf ein Minimum zu beschränken. Jedes Paar Hände konnte seine Crew verstärken und kampferprobte Söldner standen gleich nach fähigen Handwerkern ganz oben auf der Heuerliste.
„Dreckiges Piratenpack! Versucht nur an die Ladung zu kommen!“, schrie ein untersetzter Mann in edler Kleidung.
Offenbar hatte sich der Händler ebenfalls auf Achtern retten können. Obwohl Ravia nicht sicher war, ob es wirklich seine Rettung sein würde, wenn er nicht kooperierte.
„Arus, bist du das?“, wurde plötzlich eine Stimme laut und Ravia hätte fast nicht bemerkt, dass es torgaanisch war, was da gesprochen wurde.
Ein muskelbepackter Hüne schob sich an die Reling ins Sichtfeld der Piraten. Er trug dieselbe Rüstung, wie die anderen Söldner, anders als die restliche Meute grinste er jedoch breit, im Kontrast zu der Situation, in der er sich vermeintlich befand.
„Was soll das, Konan? Was redest du mit dem Piraten?“, fuhr ihn einer der anderen Söldner an, doch dieser Kerl, fleischgewordene Kraft, ignorierte seinen Kameraden.
„Rashedda!“, knurrte dieser zurück, „Nilimkuta, Arus!“
Gefunden? Wen hat er gefunden? Wer ist der Kerl?, fragte sich Ravia.
In diesem Moment machte der Söldner Platz für jemanden und die Piratin staunte nicht schlecht, als sie einen Torgaaner sah, der Arus in Größe und Breite sehr ähnlich war.
Last edited by Ravia; 27.10.2024 at 19:44.
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Neuling
“Bei den verfluchten Göttern der Meere! Xuros! Pasheera! Du warst tot! Was machst du hier mit Konan!? Was macht ihr beiden hier, bei allen Stürmen!”, fluchte Arus mit einem Klang von Freude auf torgaanisch. Xuros war sein Schwager, Vetter und Stammesbruder. Gemeinsam lernten sie das Fischen, fuhren erstmals zur See und gemeinsam dienten sie als Söldner. Seine Schwester Xura war Arus Frau gewesen. Nur war Xuros irgendwann vor über zwanzig Jahren verschwunden. Die einen sagten von einem gigantischen Krokodil auf Korshaan gefressen, als er auf Schatzsuche war. Die anderen behaupteten irgendwo als Arenakämpfer auf dem myrtanischen Festland berühmt geworden und von einem Konkurrenten vergiftet worden.
“Lange Geschichte, Kolo! Du willst das hier geregelt haben?”, fragte Xuro und Konan nickte Arus zu. Neben ihn fragte ein Söldner erneut was das solle. Konan entgegnete, dass sie was klären würden, dass fast allen dienen würde.
“Ja…wer stirbt am besten, damit sich eure Freunde ergeben?”, fragte der Kapitän der Joka.
“Ich pack ihn und schmeiß ihn dir vor die Füsse, Kolo. Konan…machen wir Platz.”
Arus nickte lediglich und dann ging es los. Konan rammte dem Söldner der ihn gefragt hatte den Ellebogen ins Gesicht. Schwang über Kopf sein großes Schwert und verschaffte Xuros Platz. Der brüllte auf und schwang seine große Doppelaxt im Halbkreis, um dann damit nach vorne zu stürmen und einen Mann mit Degen und Dreispitz eine zu verpassen und am Kragen zu packen. Wuchtig riss er an dem gut einen Kopf kleineren Mann, der sich wohl ziviler gekleidet hatte als üblich. Der landete auf dem Boden, Xuros und Konan machten Schritte zurück und behielten alle mit ihren Waffen im Auge. Dann warf dieser bärenstarke Konan den Kerl einfach über die Reling und folgte hinterher, bevor Xuros ebenso hinab sprang.
Arus packte sich den Mann, der ächzend sich den Arm hielt, zog seinen Dolch und hievte den Kerl auf die Beine.
“Von Käpt'n zu Käpt'n. Sag deinen Leuten sie sollen ihre Waffen fallen lassen und sofort runterkommen. Ich lass dich, deine Leute und dein Schiff unbeschadet. Ein großes Geschenk von Käpt'n Arus. Wenn dein Schiff erst einmal brennt, wirst du keine Seele retten können. Den Händler gibst du mir als Sicherheit mit und die Söldner…nun die entscheiden selbst ob sie leben wollen oder sterben. Deal?”, fragte er mit torgaanischen Akzent und blickte die ganzen Leute oben an, während Xuros und Konan wie zwei mächtige Wächter sich links und rechts neben Arus platzierten. Arus spuckte in seine freie Hand und hielt sie dem Kapitän entgegen. Der wehrte sich dann auch nicht mehr und erwiderte kurzerhand den torgaanischen Handel.
“Besser für uns alle!”, sagte er dem Mann, der nun Wort hielt. Hätte er kämpfen können, wäre es genauso gelaufen? Wer wusste das schon.
“Als euer Kapitän befehle ich euch, die Waffen fallen zu lassen und herunter zu kommen. Sofort!”, befahl er.
“Feigling! Verräter!”, brüllte der Händler und auch ein paar Söldner. Arus gab ein spezielles ZEichen und Armbrustbolzen jagten bewusst über deren Köpfen vorbei.
Danach klimperten Messer und Säbel von der Crew auf den Boden. Unter Flüchen und bösen Blicken der Söldner änderte sich das Verhältnis von Gegnern und Gefangenen dramatisch. Am Ende standen da keine zehn Mann, wovon zwei wohl Händler waren.
“Ihr könnt euch ehrenhaft ergeben und eure Söldnerschuld erfüllt haben oder ehrenhaft wie Hunde sterben. Am Grund des Meeres werden euch Krebse und Haie auffressen und eure Seelen können im Totenreich stolz erzählen, wie sie für zwei Fettsäcke ihr Leben gelassen haben. Im Feuer, aufgespießt und von Bolzen durchbohrt. Durch die Hand von Piraten! Arus’ Piraten! Immerhin! - Also? Blutige Nase! Was sagst du!?”, fragte der Torgaaner und biss die Zähne zusammen.
ornlu
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Entern der Handelskogge
Ravia hielt den Atem an, als die dramatische Szene vor ihren Augen Gestalt annahm. Was bei den Göttern passierte hier? Wer waren diese beiden Riesen? Sie hatte noch nie von Konan und Xuros gehört, doch offenbar waren sie Bekannte von Arus, denn so schnell wie sie die Seiten wechselten und dazu noch ein Gastgeschenk in Form ihres blutenden Kapitäns präsentierten, so schnell wandelte sich auch die Lage auf der Handelskogge von Araxos. Der Söldner, der einen Ellenbogen mitten ins Gesicht bekommen hatte, hielt sich die saftende, gebrochene Nase und stöhnte vor Schmerzen, während die Mienen der anderen einer wilden Flussfahrt gleich verschiedene Stellen durchliefen. Angefangen bei Ungläubigkeit, über Wut bis hin zu Resignation.
Die Anspannung, die sich durch die Geschehnisse nicht gelegt, sondern verstärkt hatte, griff wie eine unsichtbare Hand um Ravias Herz.
Die Piraten um sie herum wirkten wie Raubtiere, bereit zum Sprung, während Arus mit eiserner Entschlossenheit verhandelte, flankiert von übergelaufenen Söldnern. Sein Auftreten war eindrucksvoll, und wieder einmal zeigte sich, dass er darauf setzte Angst zu verbreiten, statt mehr Blut zu vergießen. Es gab bereits mehr Tote, als bei vielen anderen Überfällen, doch wenn sie sich richtig an die Zahlen erinnerte, waren sie bisher glimpflich davongekommen, wenn sich die Söldner ergaben. Die letzte Auseinandersetzung mit einem Schiff von Araxos und der Sieg darüber war teuer erkauft worden.
Entgegen der kampferprobten Männer und Frauen, gab es jedoch einen Mann, der den Ernst der Lage noch nicht verstanden zu haben schien. Der Händler schrie und zeterte vom anderen Ende des Achterdecks.
„Verfluchte Verräter! Feiges Pack! Verteidigt meine Waren!“, keifte er mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme.
Nichts weiter als das Aufbäumen eines Mannes, der seine Macht schwinden sah. Ravia fixierte ihn von ihrer Position aus mit kalten Augen, ihr Messer noch immer in der Hand. Menschen wie er waren der Grund für viele unnötige Tode. Er griff den Stolz der Söldner an und pochte auf den Vertrag, doch dass sie dabei alle sterben würden, war ihm keinen zweiten Gedanken wert.
Der Kapitän der Joka spuckte in seine Hand und streckte sie dem Kapitän des Handelsschiffes entgegen, den unbedeutenden Händler ignorierend. Ein torgaanisches Ehrenversprechen, dass er sich an sein Wort halten würde, solange es auch der Gegenüber tat. Ein Versprechen, eine Abmachung zwischen Männern des Meeres, deren Leben vom Wind und den Wellen bestimmt wurden. Ein kurzes Zögern später erwiderte er schließlich die Geste und nahm den Handel an, wissend, dass es die einzige Möglichkeit war, seine Crew zu retten.
Auf einen Befehl hin änderte sich das Kräfteverhältnis auf See und die Piratin erkannte Erleichterung in den Gesichtern ihrer Kameraden. Doch sie selbst blieb wachsam. Es war noch nicht vorbei.
Außer den Händlern – ein zweiter war für Ravia sichtbar geworden, als viele der Söldner die Seite gewechselt und die Treppen herabgestiegen waren – hielten einige wenige Kämpfer noch an ihrem Vertrag fest, trotz des Befehls des Kapitäns. Arus gab ihnen eine letzte Chance, sich zu ergeben oder mit den Fischen zu schwimmen.
„Stolz oder Leben?“, rief die Blonde laut, was von einigen aufgegriffen wurde.
Jeder Pirat wusste, dass der eigene Stolz niemals das eigene Leben aufwiegen konnte. Sonst wären sie nicht auf einem Piratenschiff angeheuert. Und was war schon dabei? Verletzter Stolz war heilbar, doch Beliar gab ungern frei, was er einmal in seine Sphäre gezogen hatte.
„Scheiße!“, rief der Kerl mit der gebrochenen Nase und schmiss seine Waffe aufs Deck, sehr zum Entsetzen der Händler.
Die anderen Söldner folgten dem Beispiel des Blutenden und kamen ebenfalls sich ergebend von Achtern herunter.
„Gute Entscheidung!“, rief Arus und bedeutete den beiden Händlern es den Kriegern gleichzutun.
Mit keiner nennenswerten anderen Option kapitulierten auch sie und beendeten damit einen Enterangriff, der so plötzlich vorbei gewesen war, wie er begonnen hatte.
Arus bedeutete seiner Crew in den Laderaum zu gehen, um die Fracht an Bord der Joka La Maji zu schaffen.
„Passt auf Ratten auf, die sich in den Ecken verstecken könnten.“, ermahnte er sie und wandte sich den Söldnern und der Crew des Handelsschiffes zu, „Legt alle Waffen, die ihr noch am Körper tragt ab, entledigt euch eurer Rüstungen und setzt euch nicht zu wehr. Dann behaltet ihr eure Leben und euer Schiff. Ein Geschenk von Arus‘ Piraten“, grinste er und bedeutete weiteren Männern und Frauen seiner Mannschaft die Kämpfer beim Ablegen der Ausrüstung zu unterstützen. Darunter auch Ravia, die wie üblich nach Wertgegenständen suchen würde.
Ihr Baba richtete seine Aufmerksamkeit schließlich auf die beiden Kerle, die sehr zu einem sauberen Sieg beigetragen hatten. Ravia wollte lauschen, was sie besprachen, doch sie würde bei der Menge an Leuten eine Weile beschäftigt sein.
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An Bord der Araxos Handelskogge
Während den Söldnern von den Piraten dabei geholfen wurde ihre Waffen sicher zu verstauen und die Rüstungen abzulegen, war Ravias Augenmerk auf die beiden Händler gerichtet. Den Matrosen, den sie in Schach gehalten hatte – was nach dem Befehl des Kapitäns der Handelskogge nicht mehr nötig gewesen war – hatte sie linksliegen gelassen. Routiniert wanderte ihr Blick bereits an den in aufwendige Kleidung gehüllten Körpern entlang, suchte nach Taschen, Ausbuchtungen oder geweiteten Stofffasern. Beide Männer schwitzten wie Schweine und fühlten sich wohl auch wie eben solche, die gerade zur Schlachtbank geführt wurden.
Mit selbstbewussten Schritten trat sie auf die herausgeputzten Gockel zu, die ihr verärgerte, aber auch spöttische Blicke zuwarfen.
„Wage es nicht uns anzufassen, Frau!“, stieß der eine hinaus und verteilte ein wenig Speichel auf dem Wams der Piratin, die dies mit einer erhobenen Augenbraue bedachte.
„Nochmal und es war das letzte Mal, dass du dein Maul öffnest, Kijana mnene“, knurrte sie mit überraschend tiefer Stimme.
„Wie hast du mich genannt, d-?“
Noch bevor er seinen Satz beenden konnte, rammte Ravia ihm den Knauf ihres Messers ins Gesicht, wobei er sich auf die Zunge biss und vor Schmerz aufschrie.
„Beim nächsten Mal schneid ich dir die Eier ab“, drohte sie deutete mit der Klinge auf den Schritt des Häufchen Elends, zu dem der Händler gerade wurde.
Der andere Mann ächzte erschrocken und machte einen Schritt zurück.
„Barbarei!“, rief er, „Dein Kapitän hat gesagt, uns würde nichts geschehen!“
Theatralisch warf sie einen Blick über die Schulter, die Augen aufgerissen, als hätte sie für einen Moment vergessen, was die Abmachung war. Arus war im Gespräch mit den beiden Söldnern Konan und Xuros, zwinkerte ihr zu und wandte ihr dann den Rücken zu.
„Scheint so, als hätte der Käpt’n nichts gesehen“, grinste sie bewusst grausam, den Kopf leicht schief haltend.
Unverständliches Gestotter war alles, was der fassungslose, bisher Unversehrte Händler von sich geben konnte.
„Also, gebt mir alles, was ihr an Wertgegenständen habt. Wenn ihr was auslasst, werde ich das merken und dann suche ich selbst danach…und das wollt ihr nicht, klar?“
Der blutende Kerl machte keine Anstalten ihrer Aufforderung nachzukommen, während der andere seine Taschen zu leeren begann. Er holte kleine Lederbeutel hervor, ein Messer, das zu kaum mehr als Brotschneiden taugte, dafür aber reichverziert war, und ein zusammengerolltes Pergament – vermutlich ein Handelsvertrag. Das alles warf er vor sie auf das Deck.
„Gut, und jetzt, was auch immer in der Innenseite deiner Weste auf der rechten Seite kurz über dem Gürtel in den Stoff genäht worden ist“, forderte sie mit betont gelangweilter Miene, während sie eine innere Freude empfand, als das Gesicht des Mannes bleich wurde, „Und wenn du schon dabei bist, auch den Rest, sonst muss ich auf Tuchfühlung gehen.“
Tatsächlich produzierte der Händler einen Dolch sowie zwei weitere Säckchen, die beim Aufschlagen auf den Planken klimperten. Vermutlich war das alles, doch Ravia würde so oder so noch einmal genauer prüfen, was noch zu holen war. Die Kleidung war sicher auch einiges wert, wenn er sie noch nicht besudelt hätte.
„Jetzt du!“, wies sie den anderen an, dessen Weste bereits vom Blut verunstaltet war, was ihm aus dem Mund lief.
Ein Wunder, dass er sich seine Zunge nicht abgebissen hatte. Für ihren Geschmack viel zu langsam begann er nun seine Taschen zu leeren und auf das Deck zu werfen, was auch immer er darin fand.
„Schneller!“, raunte die Piratin ihn an, doch er ließ sich nicht hetzen.
Ohne weitere Vorwarnung trat sie an ihn heran, riss ihm die Weste unter Protest vom Leib und fand zwei verborgene Taschen, wobei eine etwas äußerst Interessantes enthielt.
„Oh, was haben wir denn hier?“, fragte sie und hielt einen kleinen, silbernen Schlüssel empor.
„Daff geht diff niffs an!“, rief der Blutende und zu ihrer Überraschung riss er ihr das kleine Ding aus der Hand und warf es über Bord.
Ungläubig und für einen Moment wie betäubt starrte Ravia dem verlorenen Schlüssel hinterher, bevor sie sich zornig zu dem Totgeweihten umdrehte.
„Das hättest du nicht tun sollen“, flüsterte sie und schaute nur zu, wie einer ihrer Crewmitglieder den Kerl von hinten packte, was ihn wie am Spieß schreien ließ.
„Warte, lass mich ihm erst die restlichen Klamotten ausziehen“, rief die Blonde und ging ans Werk, wobei dies wahrlich der unliebsamste Teil ihrer Arbeit war.
Mit schnellen Handgrffen schälte sie den dicken Kerl aus seinen Stoffen und warf sie zu dem Rest auf das Deck.
„Alles klar“, gab sie ihr Zeichen und mit einer Mischung aus Bedauern, die sie nicht zeigen durfte, und Häme, die sie zur Schau stellte, schaute sie zu, wie der Kerl über Bord geschmissen wurde.
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An Bord der Araxos Handelskogge
Die Zurschaustellung skrupelloser Brutalität entsetzte den Kapitän des Handelsschiffes und seine Crew. Einige der Söldner spannten ihre Kiefer an, hielten jedoch dicht, bevor es ihnen ebenso erging.
„Ho! Msichana ni moto!“, lachte der große Torgaaner namens Xuros, der das Geschehen offenbar beobachtet hatte.
Konan und Arus stimmten in sein Lachen ein und ihr Baba sagte etwas zu Xuros, was Ravia jedoch nicht verstehen konnte, sorgte aber für weiteres Gelächter.
„Die Fracht ist verladen, Käpt’n!“, meldete Naut, der alles überwacht hatte.
Alle Söldner standen nun in einfachen Kleidern an Deck des Handelsschiffs. Ihre Waffen waren auf die Joka gebracht worden, die Rüstungen hingegen hatte man lediglich zusammengebunden und unter Deck gebracht. Derlei Sachen verkauften sich äußerst schlecht und im schlimmsten Fall traf man auf jemanden, der die Zugehörigkeit erkannte und entschied, dass Informationen über den Verbleib gewisser Piraten für den entsprechenden Abnehmer, der eventuell einen Groll gegenüber eben jenen Seeräubern hegte, etwas wert sein könnte. Nein, Rüstungen mit Emblemen und Wiedererkennungswert beließ man besser dort, wo sie hingehörten. Dass die Söldner sie ablegen mussten, war lediglich eine Sicherheitsvorkehrung. Sie würden sich nicht trauen den Kampf wieder aufzunehmen, wenn sie schutzlos waren.
„Irgendwelche Auffälligkeiten, Quartiermeister?“, fragte Arus.
„Einige Schriftstücke, die wir überprüfen sollten. Die Ladungsliste habe ich bereits durchgelesen und wir haben alles, was aufgeführt ist. Eine gute Prise, Käpt’n! Außerdem eine seltsame, rundliche Schatulle, die wir nicht öffnen konnten.“
Bei den letzten Worten wurde Ravia hellhörig und sie trat näher heran, um zu sehen, was Naut da in den Händen hielt. Tatsächlich sah es wie eine Art Aufbewahrungskästchen aus, jedoch viel länger als hoch und zudem rund. Sehr ungewöhnlich.
„Sollen wir das Schloss aufbrechen?“, fragte der Quartiermeister.
„Warte, Naut!“, mischte sich die Blonde ungefragt ein und erntete dafür neugierige Blicke der vier Männer, „Diese Schatulle sieht wertvoll aus, wenn sie intakt ist, bringt sie sicher gute Münzen ein“, gab sie zu bedenken.
„Es ist der Inhalt, der mich interessiert, Ravia“, brummte Arus und schien damit die Entscheidung bereits gefällt zu sein.
„Lass mich versuchen sie zu öffnen, Käpt’n!“, forderte sie und schaute eisern zu ihrem Baba auf, dem ein gequälter Ausdruck über das Gesicht huschte.
„Gib ihr das Ding, Naut“, seufzte er nach einem Moment des Schweigens und sie grinste breit.
„Danke, Baba“, freute sie sich und warf ihm einen Kuss zu, was seine beiden Bekannten plötzlich ganz still werden ließ.
„Wenn du es nicht aufbekommst, bis wir wieder anlegen, brechen wir es auf“, warnte er sie und machte sich daran über die Planken zurück auf sein Schiff zu gehen.
Ravia salutierte gespielt und grinste dabei weiterhin wie ein kleines Mädchen, das nicht gerade miterlebt hatte, wie mehrere Menschen gestorben sind und einer über Bord geworfen wurde, dessen Schreie noch immer zu hören waren und für Unbehagen unter der Mannschaft von Araxos sorgten.
Die Piratin wog die seltsame Schatulle in der Hand. Sie war schwer, doch ob es am Inhalt oder den verarbeiteten Materialien lag, konnte sie nicht einschätzen. Sie hielt ihr Ohr daran und wackelte, doch hörte sie kein verräterisches Klappern oder Klirren.
Tatsächlich hatte sie keine Ahnung, wie sie das Schloss, welches an einem Ende, wo die Apparatur flach war, aufbekommen sollte. Aber sie hatte eine Chance gesehen die Zeit zwischen den Schichten nicht mit Langeweile verbringen zu müssen. Und selbst, wenn sie es nicht würde knacken können, hätte sie vielleicht etwas dabei gelernt.
„Armbrustschützen!“, rief Arus, nachdem seine ganze Mannschaft wieder auf dem eigenen Schiff angekommen und die Planken eingezogen waren.
Die drei genannten Piraten hoben die geladenen Waffen an und feuerten eine, dann noch eine und schließlich eine dritte Salve auf die Segel der Kogge. Der Kapitän des Schiffs schrie wütend auf.
„Das war nicht die Abmachung!“, rief er entgeistert.
„Ich habe nie gesagt, dass die Segel unversehrt bleiben“, gab der Kapitän der Joka zurück und gab lachend den Befehl Fahrt Richtung Westen aufzunehmen, während er die wüsten Beschimpfungen in sich aufsog wie Sonnenlicht. Es brachte ihm unbeschreibliche Freude.
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An Bord der Joka La Maji
Ravia stand an der Reling und blickte in die endlose Weite des Ozeans. Das sanfte Schaukeln des Schiffes beruhigte sie, während die letzten Lichtstrahlen der untergehenden Sonne das Meer in ein goldenes Licht tauchten. In ihren Händen hielt sie die seltsame, rundliche Schatulle. Das Gewicht und die feinen Gravuren faszinierten sie.
Was könnte in diesem Ding sein? fragte sie sich und strich sanft über die Verzierungen. Sie erinnerte sich an den Blick des Händlers, kurz bevor er ins Meer geworfen wurde. War der Schlüssel, den er ins Wasser geworfen hat, für dieses Kästchen? Wahrscheinlich... aber was wollte er so dringend verstecken?
Das Schloss am flachen Ende der Schatulle war klein und kompliziert. Ohne die richtigen Werkzeuge würde sie es nicht öffnen können. Ravia setzte sich auf einen hölzernen Kistenstapel und betrachtete das Schlüsselloch. Es muss einen Weg geben, es zu öffnen, ohne es zu zerstören. Vielleicht gibt es eine andere Methode... oder ich könnte lernen, wie man Schlösser knackt.
Die Idee, Schlösser zu knacken, faszinierte sie. Es gab immer jene Menschen, auf die man bei einem Landgang traf, die sich mit derartigen Talenten brüsteten, um sie zu beeindrucken. Seltsam, mochte man meinen, war es doch nicht das ehrlichste Handwerk, mit dem man prahlen sollte. Doch die Kneipen, die die Piratin üblicherweise aufsuchte, waren selten wenig mehr als Spelunken, in denen sich das Gesocks herumtrieb. Eben solche Leute, deren Gesellschaft sie am meisten genoss. Normale Bürger waren sterbenslangweilig und was war das Leben ohne ein wenig Nervenkitzel? Dröge und eintönig.
Dass es Geschicklichkeit und Geduld bedarf, um ein Schloss aufzubrechen, war ihr natürlich bewusst und auch, wenn es ihr an Zweiterem mangelte, besaß sie von Ersterem ihrer Meinung nach mehr als genug. Doch es war wie mit dem Schreiben. Der erste Schritt wäre der schwierigste und am besten hatte man einen fähigen Lehrer. Doch woher nehmen, wenn nicht stehlen? Und Gefangene waren selten kooperativ. Daher blieb ihr also nur es selbst auszuprobieren oder aber ihre Crewmitglieder zu fragen, ob sie etwas von Schlössern verstanden.
Unwillkürlich musste sie grinsen, gab es doch genug Geschichten und Legenden über Piraten, die ihre Schätze in schwere Truhen häuften, um sie dann irgendwo zu vergraben. Für schlechte Zeiten, mochte man meinen, doch hatte sich die Blonde immer gefragt, was einem Reichtum nützte, wenn er unter der Erde versauerte. Jedenfalls würden solche Truhen doch wohl auch Schlösser haben, nicht wahr?
Und wohin wolltest du mit diesem Gedankengang jetzt kommen, Ravia?, fragte sie sich selbst und verdrehte die Augen.
Soweit sie wusste, war niemand aus der Mannschaft Schlosser. Der Beruf war hochangesehen und verlangte von den Kunden ein hohes Maß an Vertrauen, denn wer die Schlösser und Schlüssel fertigte, der hatte auch die Fähigkeit sie zu knacken. Daher verdienten sie meist so gut, dass es sie nicht auf See und schon gar nicht auf ein Piratenschiff zog.
Schlussendlich blieben ihr also nur zwei Optionen. Sie konnte sich selbst daran versuchen und riskieren, das Schloss zu beschädigen und unbrauchbar zu machen oder Naut fragen, der über jeden an Bord am besten Bescheid wusste. Immerhin war er der Herr der Listen, selbst wenn sie auch Zugang zu ihnen hatte und immer wieder von Arus beauftragt wurde, zu prüfen, ob sie stimmten. Dabei ging es nie darum, dass er dem Quartiermeister nicht traute, sondern dass sie Bescheid wissen sollte, wie man die Ordnung aufrechterhielt, denn es gab immer jemanden, der behauptete einen zu geringen Anteil erhalten zu haben.
Mit einem Seufzen schaute sie noch einmal zum Himmel. Der Tag neigte sich dem Ende zu und nach dem Essen hätte sie wieder einmal die erste Nachtwache. Am besten fand sie Naut vorher und nutzte die Mahlzeit, um sich einige erste Tipps einzuholen.
Der in die Jahre gekommene Quartiermeister war schnell gefunden und sie verlor keine schönen Worte.
„Hey Naut, darf ich dich was fragen?“
„Ravia? Natürlich!“
„Haben wir an Bord jemanden, der sich mit Schlössern auskennt? Oder jemanden, der eine kriminelle Vergangenheit hat?“
„Wir sind alle Kriminell, Kleine“, lacht er derbe und schaute dann auf die Schatulle in ihren Händen, „Aber ich verstehe schon. Tut mir leid, wir haben keinen Schlosser an Bord und ich weiß von keinem hier, mal Schlösser geknackt hat. Allerdings…“
„Ja?“
„Ich hab zumindest ein wenig Erfahrung damit.“
„Du?“, fragte sie überrascht, da sie nicht erwartet hatte, dass ein ehemaliger Marinesoldat über derartige Fähigkeiten Kenntnisse besaß.
„Naja, ich habe irgendwann mal den Schlüssel zu meiner Seemannskiste verloren und musste mir irgendwie behelfen“, zuckte er nur mit den Schultern.
„Hast du einen Tipp für mich?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Ja, üb erst an einem Schloss, dass du nicht unbedingt brauchst“, grinste er schief.
„Du hast die Truhe nie aufbekommen, oder?“, fragte sie mit ausdrucksloser Miene.
„Doch…schon. Aber sagen wir einfach, dass ich danach eine neue Truhe brauchte.“
„Danke…Naut!“
„Stets zu Diensten“, grinste er breit und ließ Ravia wenig schlauer als zuvor zurück.
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An Bord der Joka La Maji
Während des Abendmahls – Ravia hatte wie üblich Jabari in der Kombüse geholfen und die Gelegenheit genutzt den vielgereisten Koch zu fragen, ob er ihr nicht helfen konnte – rollte sie immer wieder die Schatulle über das Deck und beobachtete, wie der Schein der Laternen sich in den goldenen Intarsien spiegelte. Jabari hatte keine Ahnung von Schlössern und konnte ihr auch nicht sagen, ob jemand anderes an Bord Erfahrung damit hatte. Sein Vorschlag war wenig anders, als der von ihrem Baba gewesen; das Behältnis gewaltsam aufbrechen. Ein Teil von ihr stimmte diesem Vorgehen zu. Warum lange warten und sich mit komplizierten Dingen aufhalten, wenn ein kraftvoller schlag mit einem Hammer dasselbe Ergebnis erzielte? Doch ihr Ehrgeiz war geweckt und sie musste auch eingestehen, dass es schade wäre eine solche Chance verstreichen zu lassen. Vielleicht würde sie die Schatulle nicht öffnen können, bevor sie an ihrem neuen Zielort ankamen, doch zumindest würde sie bis dahin lernen, was es zu lernen gab.
Apropos neues Ziel. Scheinbar war ihr ungefährer Kurs vorerst Westen, wobei sie wohl in einigen Tagen wieder in die Gewässer um Khorinis stoßen würden. Wohin sie die Prise brachten, war bisher nicht vom Kapitän verlautet worden. Vermutlich musste zuvor überprüft werden, was in den Verträgen der Händler stand, die sie an Bord der Handelskogge gefunden hatten. Danach blieb abzuwägen, ob sie die Rolle der Händler einnahmen – ein riskantes Unterfangen, da weder die Joka, noch der Großteil der Crew den richtigen Anschein erweckten – oder aber einen ihrer üblichen Abnehmer aufsuchen sollten, bevorzugt an Orten, wo sie unbehelligt oder unter dem Schutz einer deftigen Bestechung agieren konnten. Sie dachte sogleich an Argaan, wobei sie bezweifelte, dass eine der dortigen Parteien bereitwillig riesige Summen von Gold lockern machen würden, um eine Ladung erbeuteten Wein zu erstehen. Krisengebiete tendierten dazu ihre Stadtkassen genauer im Blick zu halten und der Traubensaft aus Archolos gehörte zu den Prisen, die eine Mannschaft für einige Wochen Landgang versorgen konnte.
Als die Glocke dann zur ersten Nachtwache schlug, richtete Ravia sich unbegeistert auf. Sie hoffte, dass sie sich die Zeit bis zum Wachwechsel mit der Schatulle vertreiben zu können, doch ihr klangen noch immer Nauts Worte in den Ohren. Üb erst an einem Schloss, das du nicht unbedingt brauchst.
Ein guter Rat, wenn auch recht offensichtlich. Doch bevor sie sich überhaupt Gedanken darüber machen konnte, an welchem Schloss sie sich austoben sollte, fehlte ihr etwas Wesentliches: Werkzeug. Sie konnte ja schlecht ihre Finger in ein winziges Schlüsselloch stecken und auch die größeren Truhenschlösser waren nicht breit genug, um ihren schlanken Fingern genügend Platz zu bieten. Dietriche hatte sie keine und so wie es bisher schien, besaß auch niemand sonst an Bord die kleinen Metallnadeln.
Routiniert lief sie das Achterdeck ab, spähte in die Dunkelheit hinaus, ohne etwas zu entdecken. Sie hörte das Rauschen der Wellen und den kühlen Herbstwind, der ihr durchs Haar fuhr. Saarina stand am Steuer und hing offenbar ihren eigenen Gedanken nach. Nachtwachen auf Hoher See waren meist ereignislos. Man hatte nur die nötige Mannschaft an Deck, die es im Ernstfall brauchte, um die Segel zu bedienen und man machte nur halbe Fahrt, um bei unerwarteten Hindernissen besser manövrieren zu können.
Am Heck stehend wandte sich die Piratin um, schaute über das Deck. Dabei fiel ihr der Hinterkopf der Steuerfrau auf. Die Korshaani hatte ihr Haar wie üblich hochgesteckt, da sie es nicht leiden konnte, wenn ihr Strähnen vom Wind ins Gesicht getrieben wurden. Glänzende Bronzenadeln mit einem Ring, der zwischen dem Haar sichtbar war, erhaschte ihre Aufmerksamkeit und ihre Augen weiteten sich ein wenig.
„Saarina?“, sprach Ravia sie an, während sie sich neben sie stellte.
„Na, Langeweile?“, fragte die ältere Frau und zwinkerte ihr verschmitzt zu.
„Nicht direkt. Hast du mitbekommen, dass wir eine seltsame Schatulle auf der Handelskogge erbeutet haben?“
Die Blonde hielt ihr das rundliche Kästchen hin.
„Ney, aber sieht spannend aus“, antwortete die Navigatorin mit offensichtlichem Desinteresse.
„Der Schlüssel fehlt. Du weißt nicht zufällig, wie man das Schloss ohne öffnen könnte, oder?“
Saarina hob skeptisch eine Augenbraue und ihre grünen Augen blickten direkt in Ravias dunkelbraune.
„Keinen Schimmer“, meinte sie und wandte nach einem viel zu langen Moment ihren Blick wieder nach vorn.
Irgendetwas war äußerst seltsam an der Reaktion der Steuerfrau, doch die junge Frau ahnte, dass es nicht klug wäre, weiter nachzuhaken. Der Eindruck, den die Korshaani gerade vermittelte, war alles andere als entgegenkommend.
„Mir sind deine Haarnadeln aufgefallen. Könntest du mir eine leihen? Ich würde auch gern mal versuchen Haare zu bändigen“, wählte sie eine andere Herangehensweise.
Wieder schaute Saarina sie an und Ravia dämmerte, dass der plötzliche Themenwechsel viel zu offensichtlich gewesen war. Doch nach einem weiteren Moment, in dem sie sie eindringlich musterte, seufzte die Navigatorin und zog die beiden Bronzenadeln aus ihrem Haar und reichte sie der Blonden.
„Wenn du mich dann in Ruhe lässt…“
„Ich…verstehe. Danke“, gab Ravia kleinlaut zurück und setzte ihre Runde fort, zwei Haarnadeln in ihren Fingern.
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