So! Dies ist der vorerst letzte Teil von Friesenrecht Akt 1! Teil 18! (Es ist erwachsen geworden )
Viel Spaß beim Feiern und Danke für's "Zulesen".
Würde mich über Kommentare, Anmerkungen und dergleichen immer freuen.
Wann es mit Akt 2 weitergeht? Nun - Ich habe gerade Akt 6 fertig (2. Lesung) und hab nichts besseres zu tun...


Kapitel 10 – Die Feste feiern wie sie fallen



Zunächst galt es nach der Schlacht, alle Wunden zu lecken und sich drei Tage lang zu erholen und jene Schäden zu begutachten, die im Zuge der Kämpfe entstanden waren. Thunum und Ochtersum sowie jene Gehöfte, die auf den Wegen der Eschenmänner mit verheert wurden, hatte es mitunter am schlimmsten erwischt. Die Familien kehrten in zerstörte, ausgebrannte Heime zurück. Für die Dauer der Aufbauarbeiten kamen sie bei den umliegenden Gehöften und Verwandten unter. Dies gab in manchen Fällen allerdings Beschwerden, da sich einige der reicheren Kleibauern ungerecht behandelt fühlten, da die Hauptlinger ihnen mehr Flüchtlinge aufdrückten als den anderen, ärmeren Grundbesitzern.
Letztlich aber fügten sie sich, zumal Friedhelm Nordendi keinen Zweifel daran ließ, dass er zur Not selbst nachhelfen würde, um „Bott to maken“. Man verbrachte den halbtoten Behrend Attena nach Esens, wo man ihn mit Kräuterwickeln und bitteren Heiltränken aus Marienkamp beglückte: Etwas, was er nicht als Gnade empfand und offen zeigte: „Ich muss nur endlich saufen, dann flutscht die Scheisse wieder! Bwahahah! Au! Obacht!“ Das rüstige Esener Deel-Deern kannte aber keine Gnade mit dem Bären, der sich der Behandlung nicht wirklich erwehren konnte: „Ruhe jetzt! Bettruhe, sonst fliegen dir deine eigenen Eingeweide um die Ohren, du störrischer Bock, du elender! Die Nähte müssen ruhen! RU-HEN.“ „Jaja. Was für’n Weib!“
Die Liste der Verluste war lang, und unter den bekannteren Namen waren Tjarko, Hauptlinger der Chauken und Abt Wynfried, Herr von Marienkamp. Ihre Leichen wurden einbalsamiert und je für die Beerdigung und rituelle Verbrennung vorbereitet. Es war spätabends, als die Flammen in Werdum Funken sprühten und Tjarko nach altchaukischem Ritual im Feuer verging, mitsamt seinen Waffen, Schild und Rüstzeug - unter großem Geheul der chaukischen Klageweiber. Kea brach dabei ebenfalls in Tränen aus, und Hauke umarmte die Harugari, welche ihn von Kindesbeinen an begleitet und mitaufgezogen hatte: Nun war sie es, die getröstet werden musste. Hauke wurde hernach von den chaukischen Kriegern zum neuen Anführer ausgerufen. Der junge Mann nahm an, gestand aber sogleich, dass er ihre Hilfe benötigen würde, da er noch unerfahren war. Die Chauken antworteten ihm für diese Ehrlichkeit im Chor mit einem dreifachen: “HEIL! HEIL! HEIL!“ und Kea neckte ihn schon wieder: „Verkrümelt sich da einer in sein Schneckenhaus, ne? Ne? Neeeeeh?“ „Tu ich nicht, du Hühnchen!“ „Oho! Hehe.“ Leise raunte sie ihm zu: „Ich liebe dich. Und Tjarko ist stolz auf dich.“ Mit diesen Worten drückte der junge Mann die Frau fest an sich. Er schämte sich seiner Tränen nicht.

Jens kam ebenso wie Leevke und Abbo auf Hof Wiards unter. Hilde weinte Freudentränen darum, dass ihr Sohn und ihr Mann heil heimgekehrt waren und umsorgte sie so frenetisch, dass es Okko und Hinni bald peinlich wurde. Leevke wirkte zunächst erschöpft, lebte aber merklich auf, als Hinnis Geschwister sie umschwirrten wie Motten ein Kerzenlicht.
Bald schon lachte sie wieder und lief auf dem Hof umher, redete mit den Gänsen und Schweinen oder half eifrig – wenn auch bemerkenswert ungeschickt – beim Kochen und Pflegen der Wunden. Insbesondere bei Hinni gab sie sich große Mühe, seine erlittenen Schnittwunden mit einem eigens kreierten Kräutersud und Verband zu heilen. Allerdings verwendete sie Brennnesseln anstelle von Silberblatt, und das Ergebnis dieser Fehlinterpretation war bis zum Nachbarhof der Jakobs zu hören. Hinni fragte mit Tränen in den Augen: „W-Wieso machst du nicht einfach etwas Heilwasser?“ Sie stockte und schien für den Moment garnicht zu begreifen, was er damit meinte. Dann lächelte sie: „Achja! Ganz vergessen, heh…“ „Wie kann man das vergessen? Alle Welt spricht schon von der großen Welle, aber noch hat es nicht jeder begriffen, dass du es warst... Kann auch kaum einer glauben.“ Leevke lachte: „Ich ja auch nicht! Ich erinnere mich nicht mehr daran. Es ist komisch. Es ist… als würde mir da etwas fehlen. Aber daran, dass du mich geweckt hast! Daran erinnere ich mich!“ Sie schob ihren Leib seitlich näher heran, und heißes Blut schoss in Hinnis Kopf – sein Hals war schlagartig trocken. Leevke nahm seine Hand und sagte noch: „Danke… Ah!“ als sie auch schon zurückzuckte. Ihrer beider Berührung hatte sie statisch entladen. Hinni lächelte: „Würde ich jederzeit wieder machen. Du bist meine Freundin... Oder?“ Leevke leckte sich den schmerzenden Finger: „Das bin ich, klar.“ Hinni fielen gleich fünf Steine vom Herzen und er kam aus dem Grinsen nicht mehr raus.
Beim Abendessen in gemütlicher, feuriger Runde fragte Eiko, Hinnis zwei Jahre jüngerer Bruder: „Da war also wirklich ein Kraken?!“ Hinni antwortete brüderlich barsch: „Ja, glaubst du uns nicht? Untote, Draugr, eine Hexe und ein einäugiges Monster: Das alles war da.“ Jens lächelte matt und kratzte sich am Hals: „Dennoch ist es unglaublich, wenn man das alles so beim ruhigen Essen hört. Klingt wie ein Märchen.“ Abbo winkte ab: „Schlimmer: Es sind Vermächtnisse von Problemen, die andere vor sich hergeschoben haben und mit denen sich die Jüngeren herumschlagen sollten, weil man selbst nicht den Schneid hatte, es zu stoppen, als es abzusehen war. Bequemlichkeit und Furcht haben dies Elend ermöglicht. Dass es solche Formen annimmt, war abzusehen.“ Jens nickte: „Den Schneid, es zu beenden, hatten wir in jedem Fall. Aber haben wir das Problem nun auch endgültig beseitigt?“ Abbo legte den Teller beiseite und sah ihm tief in die Augen: „Das zu denken ist der Grundstein für die nächste Welle von ungelösten Problemen, Herr Janssen. Entschuldigung aber wenn man denkt, dass alles gut ist und sich sowas nie wiederhohlen kann, nur weil wir jetzt glauben, zu wissen, worauf wir achten müssen: In dem Moment wird man blind für die echte Gefahr, die sich nur neu einzukleiden braucht... Am besten unter umgekehrten Vorzeichen. Radbod kehrt so nicht wieder, wohl wahr. Aber eine andere Bedrohung kann uns immer noch fortschwemmen.“ Er sah in die Runde: „Wir müssen wachsam bleiben, Freunde; um der Toten Opfer zu ehren, und das Leben umso mehr.“ Der ehemalige Kreuzfahrer seufzte: „Denn ich befürchte in der Tat, dass Radbods Warnung an uns nicht seinem gekränkten Stolz geschuldet war: Er meinte es ernst mit der Bedrohung für Friesland. Ob von außen oder von innen, ein Geschwür wächst heran.“ Okko nickte: „Seit der großen Flut von vor zwanzig Jahren ist nichts mehr, wie es vorher war. Die Hauptlinger bekommen seitdem immer mehr Macht, verhalten sich mehr wie Feudalherren als Gleichgestellte.“ Okko verschränkte die Arme vor der Brust: „Aber das ist eine bittere Notwendigkeit; andernfalls hätten uns die Ministerialen des Reiches längst überrannt und die Hanse ausverkauft.“ Abbo erwiderte: „Ich will ihre Errungenschaften ja nicht schmälern, Okko. Es war nötig, ja, aber werden sie diese Macht auch wieder abgeben? Und wann genau? Bist jetzt tut sich da nichts.“ Jens trank seinen Becher Brombeersaft: „Tjah, jetzt werden sie sicherlich nicht ihre Posten aufgeben, wo die Nachricht von der Schlacht die Runde machen wird. Das wird viele angespannte Muskeln geben. Misstrauen und Vorsicht bei allen, die was zu verlieren haben... Hm. Nicht gut für den Handel. Nicht gut.“ Hinni grübelte: „Ach, und ich dachte Krieg und Krisen sind gerade gut für Kaufleute?“ Jens winkte ab: „Naiv. Das gilt nur für jene, die ihre Nische bereits gefunden haben, Hinni. Für Krämer wie mich ist es potenziell tödlich. Übrigens: Ihr habt nicht zufällig Interesse an ein paar Bohnen auf Hof Wiards?“ Hilde nickte Okko lächelnd zu und dieser rollte mit den Augen: „Ein Fass können wir sicher gebrauchen…?“ Jens meinte trocken: „Warum habe ich das Gefühl, man hätte Mitleid mit mir?“ Hinni grinste: „Weil‘s so ist!“ Leevke reichte Jens noch ihre Schüssel mit großen Augen: „Armer Jens. Musst nicht traurig sein. Komm. Iss. Feini – Feini. Da hast du.“ „Ich bin doch kein Hund!“ Klütje kläffte und erbat sich seinen Anteil vom Schafsfleisch. Hinni gab ihm einen Knochen und sie legten sich schlafen.
Am nächsten Tag kam dann ein Bote aus Esens an den Hof geritten. Die Botschaft machte die Runde, dass Attena ein großes Fest geben wollte...

Jens nippte an seinem Hornbecher mit Met und ließ den Blick über die Esener Festgemeinde schweifen. „Ach, da kommt ja die Spitznase!“ Er hatte Specht entdeckt, welche an Haukes Seite über den Marktplatz flanierte. Jens stand am Ausschankplatz des Wirtes, welcher heute all seine Fässer leeren würde. Esens war gefüllt mit geselligen Menschen, und der Platz voll mit Stühle, Fässer und Tische gestellt. Chauken wie Friesen hatten sich eingefunden; lachten, plauderten, tranken und aßen ihr Bestes. Geschichten vom Kampf wurden den Kindern großspurig erzählt: Von Attenas Kampf mit Radbod bis zu Grendels Erscheinen und der großen Welle, die so wundersam wieder ins Meer zurückgeschwappt war, ehe sie großes Unheil anrichten konnte. Jens genoss die laute Atmosphäre von aufkommender Heiterkeit und rustikaler Lebensfreude. Schon früh am Abend war Jens leicht beschwipst und unterhielt sich mit den örtlichen Händlern und Leuten. Er ging auch hinüber zu Attena, der in lauter Verbände gehüllt war. Neben ihm saß der schelmische Nordendi, und ihr beider Lachen schallte laut und schrill über den Platz. Die beiden Hauptlinger warfen sich ständig Beleidigungen an den Kopf, was man als Zeichen einer sich auswachsenden Freundschaft erkannte. Der jüngere Attena war mehr oder weniger unter Nordendis ständigem Einfluss aufgewachsen und es hieß, nur deshalb sei der Bär von Esens überhaupt in geringer Weise umgänglich geblieben.
Abbo und Hinni gingen derweil zu ihrem Zimmer, welches sich im örtlichen Gasthaus befand und welches im Moment überfüllt war mit Gästen, Reisenden und Schaulustigen, die von der Schlacht gehört hatten und mehr wissen wollten. Hinni klopfte an die Tür: „Leevke? Kommst du? Wir wollen auf das Fest.“ Anstelle von einer Antwort hörten sie nur lauten Krach und Schreie. Nach etlichem Poltern und scheppernden Geräuschen beschlossen Hinni und Abbo, die Tür aufzubrechen. Sie stürmten herein und sahen Leevke unter einem Berg aus Töpfen, Decken und Kleidung halb begraben. Der Kleiderschrank war umgekippt und Leevke lugte deprimiert aus ihrem Haufen. Eine Unterhose hing ihr halb über dem Kopf. „Ich wollte was Schickes anziehen.“ Hinni und Abbo fragten zeitgleich und entgeistert: „Und das ist dabei passiert?“ „Tut mir leid. Ich hab nur… nur…“ „Was denn?“ „Ich hab nur noch nie so schöne Hemden gesehen!“ Abbo und Hinni sahen sich verwirrt an und Abbo winkte ab, als Leevke das Zeug in den Schrank zurückstopfen wollte und dabei immer wieder ausrutschte: „Lass nur, Kleine. Ich mach das schon. Geht ihr Kinder nur raus und guckt euch die Leute an. Wer Arbeit über das Leben stellt, hat keines mehr, nicht?“ Hinni half Leevke aufzustehen – die sich ein Laken vor den gänzlich nackten Körper hielt. Hinnis Herz blieb stehen: „W-wa-wa…?!“ Abbo zog ihn eilig aus dem Zimmer und lächelte Leevke zu: „Zieh was Schönes an.“ Leevke schluckte, nun selbst rot angelaufen.
Draußen schluckte Hinni nach Luft: „D-Danke, Onkel Abbo. Hab mich wahnsinnig erschreckt. S-Sie war…“ Abbo schmunzelte: „Hast du wenigstens einen guten Blick erhascht?“ Hinni sah ihn entgeistert und aus großen Augen an. Dann senkte er den Blick: „N…nicht wirklich.“ Abbo klopfte ihm auf die Schulter: „Wird schon noch. Sie mag dich. Das sieht man…“ Hinni schwieg betreten. Sein Herz klopfte wie wild.
Leevke kam in einem knielangen, blauen Hemd über ihre üblichen Kleider heraus und trug eine Muschelspange an der Seite. Hinni nahm sie bei der Hand: „Siehst gut aus…“ „Echt? Du auch…“ Leevke strahlte so erleichtert, dass Hinni das Schwitzen seiner Hand vergass. Abbo schubste sie vor, und gemeinsam begaben sie sich zurück auf den Marktplatz.
Dort liefen sie bald in Jens hinein und Leevke fragte: „Was wirst du jetzt machen, Herr Jens?“ „Einfach nur Jens, Leevke. Nuuuun, ich wollte morgen meine Labskaus nehmen und nach Greetsiel zurückfahren. Dort laufen meine Geschäfte und ich muss dringend ein paar Dinge erledigen. Die Miete muss berappt werden, ob Untoteninvasion oder nicht. Außerdem macht sich Taalke sicher große Sorgen.“ „Taalke? Ist sie nett?“ Jens lächelte: „Will ich wohl meinen. Ich denke, ihr würdet euch gut verstehen. Sie kann Tiere gut leiden.“ „Ich auch!“ „Eben.“ Jens reichte Hinni den Metbecher, und Hinni nahm einen kräftigen Schluck davon. Er sagte: „Ich und Abbo haben übrigens schon mit dem neuen Abt von Marienkamp gesprochen, Abt Salpeterus!“ Jens verzog skeptisch das Gesicht und Hinni lachte: „Das hab ich auch erst gedacht. Aber er ist der erfahrenste Mönch im Kloster, und die Kutten haben die Hälfte ihrer Leute verloren. Das müssen sie erstmal verkraften. Aber dieser junge Bruder Witzelt soll ein äußerst emsiges Bienchen sein und schenkt den älteren Mönchen durch seine ungestüme Art neue Hoffnung. Der riet uns auch, Bischof Hunger Frisus in Emden aufzusuchen. Der könne uns vielleicht weiterhelfen, was Leevke anbelangt.“ Diese nickte entschlossen: „Ich will wissen, woher diese Kraft kommt und all so’n Zeug.“ Jens schmunzelte: „All so’n Zeug? Drollig. Frisus soll in der Tat vernünftig sein: Ein Logiker und Skeptiker.“ Hinni schluckte den Met hinunter: „Schmeckt ziemlich gut, das Zeug. Könnte mich dran gewöhnen.“ Jens stieß mit ihm an: „Prost-Freit! Heute Abend wirst du das auch wohl müssen! Wollen wir zur Tanzfläche?“ Sie begaben sich zum Ausschank des Wirtes, in dessen Nähe schon eifrig getanzt wurde. Ein Puppenspieler hatte seinen Stand augestellt und stellte die Schlacht rudimentär nach. Leevke blickte sich neugierig um und war überwältigt von den vielen Menschen, die auf so engem Raum zusammen lachten, tranken und aßen. Einige Männer und Frauen hatten ihre Musikinstrumente herausgeholt: Flöten, Hummeln, Lauten und Harfen, die zusammen mit dem Gemurmel der Menschen ein geselliges und heiteres Hintergrundgeräusch bildeten.
Nach all dem Wahnsinn der letzten Tage schien diese Feier der Himmel auf Erden zu sein: Kinder huschten umher und knabberten an Brot und Fleischspießen, Attena stimmte ein stumpfsinniges Sauflied an, und Klütje huschte umher, um sich mit den Hunden um ein paar Knochen zu balgen, welche rülpsende Männer von ihren Fleischtellern fallen ließen. Hinni und Leevke johlten auf, als sie Modder-Joost entdeckten, der mit seinen dreckigen, nackten Füßen aussah, als käme er gerade aus dem Watt, was wohl auch der Fall war. Er setzte sich zu ihnen und erklärte nach kurzer Begrüßung den Grund seines Kommens: „Leevke, ich soll dir von deinen Großeltern ausrichten, dass es ihnen gut geht und sie sich große Sorgen machen, aber sie verstehen, wenn du länger fortbleibst, um die Geheimnisse deiner Herkunft zu ergründen. Sie lieben dich über alles und sagten, du solltest bei Allem, was passiert, nie die Hoffnung verlieren.“ Leevke schluckte ob dieser Worte und lächelte gerührt: „Sag ihnen, dass ich sie lieb habe und zurückkommen werde. Sie sind nicht meine echten Großeltern, aber sie waren für mich da. Das allein zählt. Sagst du ihnen das, Joost?“ Dieser nickte und lachte: „Auf jeden. Der olle Grummler hat auch nach dir gefragt: Er sagte, du solltest nie mit Fremden mitgehen oder dich in dunklen Gossen rumtreiben.“ Leevke zuckte mit den Schultern: „Ich kenn gar keine Gotzen…“ Joost schmunzelte und wandte sich an Hinni: „Und dir, Kerl, soll ich sagen, dass du auf euch beide acht geben sollst. Dich eingeschlossen, heißt das.“ Hinni hob seinen Becher: „Wird gemacht! Auf dich, Modder-Joost! Proscht-Freijt! Lass disch nicht von Schlickkrebsn fressen! Haha!“ Mit diesen Worten und einer Verneigung später ging Modder-Joost wieder von dannen. Als Hinni fragte, ob er nicht noch mitfeiern wollte, sagte er: „Ach, ich mag nur keine Massenansammlungen. Ist mir zu unübersichtlich. Und zu laut.“ „Sagt der Mann, der vor Riesenschlickkrebsen keine Angst hat!“ Joost meinte: „Die kann ich immerhin gut einschätzen, Menschen nicht. Naja, passt auf euch auf. Man sieht sich.“ Joost war ein Wattführer durch und durch und liebte die offene, leere Weite des Watts und des Meeres. Leevke nickte entschlossen und wand sich wieder Hinni und Jens zu. Jens sagte: „Du hast schon drei Becher intuuus, wie hast du das in der kurzen Zeit geschafft, Bruder Hinnarkus?“ „Wees nich, des is gar nicht so schwiär. Hossa!“ Leevke trank ebenfalls den süßlichen Honigwein und merkte nichts bis auf eine leichte Benommenheit. Ein dicklicher Mönch sprang irgendwo auf den Tisch und grölte: „Feiern bis die Schwarte kracht! Gott segne euch alle! Ein Hoch auf den Trunk!“ Unter seinem Gewicht barst der schmale Tisch. Das Gelächter und Jubeln hielt noch eine halbe Stunde an. Der Bann der Trauer war damit gebrochen; die Erleichterung und das Aufatmen waren greifbar.
Dies war der Abend der Lebendigen und Leevke fasste neue Zuversicht in die Zukunft, als sie es sah. Seit Treibholz-Theos Überfall auf Kleene Wacht hatte sie sich nicht mehr so richtig sicher und geborgen gefühlt. Aber nun – hier unter all den Menschen konnte sie erstmalig wieder ruhig durchatmen. Sie war nicht allein mit ihren Sorgen und hatte Freunde gefunden, die aufrichtig und freundlich waren. Die Welt war also gar nicht so schrecklich, gar nicht so trostlos. Zusammen mit Hinni und Jens feierte sie bis in die frühen Morgenstunden. Sie grölten Lieder, lachten über unlustige Dinge und tanzten auf den Tischen und dem Boden, wälzten sich auf den Heuballen.
Leevke lachte an diesem Abend so viel wie nie zuvor und klatsche bei jeder sich bietenden Gelegenheit Beifall. Sie selbst blieb bemerkenswert nüchtern, als der ganze Ort im Suff und Gelächter versackte: Hinni eingeschlossen, der sich mindestens zweimal übergeben musste. Es war der Abend, der als großes Esener Besäufnis in die Geschichte eingehen sollte... Es schien Leevke jedoch, dass der Nebel der Welt sich verzogen hätte, um endlich dem Morgen Platz zu machen. So konnte es bleiben.


[Bild: hppscan1336vdpij.jpg]
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ENDE AKT 1 - DER LETZTE KÖNIG