Sie kamen ihrem alten Zuhause immer näher. Und mit jedem Schritt schien die Welt zähflüssiger zu sein und die Zeit verlief langsamer. Es fühlte sich an, als müsse sie durch Wasser laufen und Feuer atmen. Und doch war sich Madlen sicher, dass sie keine andere Wahl hatte, als diesen Ort der Erinnerungen an ihre Vergangenheit betreten. Hier würde sich endlich eine Antwort finden. Vielleicht nicht auf alle Fragen, die sie quälten. Aber eine Sache war gewiss: Die junge Frau würde den Grund von ihrem momentanen Zustand erklärt bekommen.

Bald schon hatten sie das verfallene Haus erreicht. Es war ein wenig verwachsen, scheinbar eroberte sich die Natur Stück für Stück verlorenes Gebiet zurück. Und doch sah die Fürstin ein anderes Bild, als ihre Begleiter. Sie erkannte Marcel und Vinona, wie sie vor der Eingangstüre auf sie warteten. Glückliche Zeiten, beide lächelten und doch waren ihre Gesichter nicht gänzlich erkennbar. Aber sie mussten lachen, wie sollte es auch anderes sein? Schließlich waren sie eine Familie und sie kehrte nach Hause zurück. Mit jedem Schritt, den sie näher auf das Haus machte, verschwanden die beiden mehr und mehr. Sie wurden zu einem blassen Schimmer der Vergangenheit, verweht durch den kalten Hauch der Nacht. Und war dort nicht Elesil zu sehen? Und auch Dorumbar und Thranduil. Nein, das konnte nicht sein. Die drei waren schon seit langem aus ihrem Leben verschwunden. Und dort…war das Yinnesell? Und selbst Redlef schien sich ihr zu zeigen. Wie war das alles nur möglich?

Bevor Madlen auch nur einen weiteren Gedanken an das eben gesehene verschwenden konnte, fuhr ein weiterer eisiger Schauer durch die finsteren Gassen und sie kehrte in das Hier und Jetzt zurück. Allerdings…nun, auch dieser war scheinbar nur eingebildet. Denn die anderen beiden verhielten sich völlig normal, wie es diese Situation zumindest zuließ.
Auch wenn sie nun hätte inne halten wollen, um ihr weiteres Vorgehen und das gerade erlebte besser zu durchdenken, so wäre es nicht möglich gewesen. Sie wurde wie von Geisterhand in den ehemaligen Hauptraum getragen. Hier fand sie schon nach kurzer Zeit die zahlreichen Knochenfragmente und Kleidungsreste ihrer damaligen Expedition. Vorsichtig kniete sie sich hin, hob ein schwarzes Stück Stoff auf und schloss die Augen. Flüsternd sprach sie ein paar Worte des Gedenkens, ehe sie sich wieder aufrichtete und den Raum erkundete. „Wo einst eine junge Familie gelebt hat, herrscht heute die Finsternis!“, ergriff sie das Wort. „Willkommen in meinem Heim. Es ist mir eine Ehre, euch beide hier begrüßen zu dürfen. Nun, selbstverständlich würde ich euch etwas zu Essen und Trinken anbieten, allerdings…“ Madlen lächelte kurz, als hätte sie einen Witz erzählt und nur sie selbst hätte ihn verstanden. „…wir hatten kürzlich ein paar Probleme und jetzt ist es sehr unordentlich!“ Anschließend drehte sie sich von ihren Begleitern weg und ließ die versteckte Klinge aus ihrem rechten Handgelenk fahren. Mit einem schabenden Geräusch fuhr die Waffe heraus. Danach schnitt sie sich in die linke Handfläche und zuckte bei dem stechenden Schmerz kurz zusammen. Sie ballte die Hand zu einer Faust und ließ die Tropfen Blut in Richtung Boden fallen. Es wirkte wie ein billiges Klischee und sie wusste nicht, warum sie es tat. Nur schien es ihr richtig…

Mit einem Mal verfinsterte sich der Raum, die geborstenen Mauern und zerbrochenen Holzreste verschwanden. Ob es Sonja oder Adson auch so erging? Sie konnte es nicht erahnen, denn sie waren weg. Madlen befand sich in einem völlig finsteren Nichts. Alles umfassenden Dunkelheit umgab sie und dennoch schien es ihr nicht fremd. Ganz im Gegenteil, es wirkte so, als wäre das hier ein Teil von ihr. „Wo bin ich?“ Ihre Stimme hallte nicht wieder. Sie wurde regelrecht verschluckt. Niemand antwortete ihr. „Bin ich tot?“ Ein Lachen ertönte und es hörte sich an, als würden tausend Gräber erklingen. Sie fühlte die unendliche Kälte. „Bist du ich?“ Das Lachen wurde noch lauter und schriller, als würden Skelette tanzen. „Was mache ich dann hier?“ Langsam wurde die junge Frau verärgert. Und allein für sich genommen, war das schon verwirrend. Denn seit langem hatte sie nicht mehr so gefühlt.
Und dann tauchte eine Gestalt vor ihr auf. Sie war genauso groß, wie die Fürstin, hatte ebenfalls weißes Haar und sprach mit einem Mal mit der genau gleichen Stimme, wie Madlen. Ansonsten konnte man nicht viel von ihr sehen, denn der Rest war in unergründliches Schwarz gehüllt. „Du bist ich und ich bin du. Wir waren immer verbunden. Du bist die Brücke zwischen dem Jenseits und dem Diesseits. Nun, zumindest eine davon. Es gibt viele, wie dich! Du brauchst den Krieg und Krankheiten, Hunger und Leid, Tod und Verderben, denn nur so überlebst du!“ Ein klares Lachen erfüllte die Dunkelheit. „Sieh dich um und sag mir, was du siehst!“, kam die Aufforderung aus mehreren Mündern. Gehetzt blickte sich die Prinzessin um und erkannte viele Gesichter. Einige waren unbekannt, anderen erkannte sie sehr wohl. Darunter ihren damaligen Mann in Varant, Marcel und Yinnesell. Sie schienen nicht böse zu sein, vielmehr sprachen sie mit sanfter Stimme. „Du bist der Anker, welcher diese Welt mit unserer verbindet. Nie wird es dir möglich sein, ein normales Leben zu führen. Aber du bist wichtig für all jene, deren Zeit abgelaufen ist. Du wirst es bei den meisten ahnen können, aber nie kannst du dir sicher sein. Und doch wird es kommen, wie es kommen soll. Wichtig ist nur, du musst ihnen helfen, die Brücke zu überqueren, die du darstellst. Du bist ein verschlossenes Tor und nur ihr Blut kann es öffnen. Du wirst tausend Leben leben und tausend Mal sterben. Und doch ist dein Leid und deine Hoffnung, der einzige Weg für viele tote Menschen. Jeder Tropfen Blut fügt deinem Gedächtnis Erinnerungen hinzu, die nicht die deinen sind. Lerne, sie zu verbannen und du wirst weniger leiden.“ Für ein paar Sekunden herrschte Stille, während Madlen langsam auf die Knie sank und das ganze Gewicht ihres Daseins spürte. Wie konnte das alles nur sein? Mit einem Mal stand Ata vor ihr. Auch wenn Marcel ihr ein und alles war, so war Ata der Mann, welcher sie damals aus den Klauen der Sklaverei gerettet hat. So lange hatte sie seinen Namen nicht ausgesprochen. Diesen Mann, der ihr alles gegeben hatte und sie rammte ihn ein Messer in sein Herz. Tränen liefen ihr über die Wangen, als er sanft ihr Kinn anhob und mit beruhigender Stimme sprach: „Alles wird gut, Wüstenwind.“ Sie lächelte leicht bei diesem Namen. Er hatte sie immer so genannt. „Wir sind jederzeit bei dir. Du brauchst uns nur zu rufen und wir sind hier. Niemand zwingt dich, das alleine durchzustehen. Weißt du nicht mehr? Bis zum Horizont und darüber hinaus! Nach all der Zeit und immer werde ich an deiner Seite stehen. Eines Tages wirst du erlöst werden und alles ist verziehen! Aber nun…“

Und mit einem Mal war alles vorbei. Sie spürte immer noch einen Luftzug, aber roch salzig. Sie war wieder zurück in Setarrif und konnte dennoch nicht aufstehen. Weiterhin kniete sie am Boden, die Tränen liefen über ihr Gesicht und sie wusste nicht, was gerade geschehen war. Sie wusste nicht, wie viel die anderen beiden mitbekommen hatten. Nur eines war klar, Ara war immer noch da. Ihr einstiger Weggefährte und Seelenverwandter. Und das nach allem, was sie ihm angetan hatte. Sie musste ihn wiedersehen und auf der ganzen Insel kannte sie nur einen Ort, der dies möglich machen konnte. Das Kastell…