Zitat von
Glorichen
Delia musste feststellen, dass Julian die Kunst der unangenehmen, prüfenden Pause perfekt beherrschte. Statt ihr zu antworten begnügte er sich zunächst, ihr direkt in die Augen zu sehen, der prüfende Ausdruck, den die seinen dabei ausstrahlten, entging Delia nicht. Sie fühlte sich unangenehm gemustert und war sich bewusst, dass er sie gerade las. Irgendwie. Und offenbar fand er Befriedigung in dem, was er las oder zu lesen glaubte. Sein Lächeln verriet ihm, und während er sich der ankommenden Bedienung zuwandte unterdrückte Delia ein unangenehmes Gefühl. So genau beobachtet zu werden behagte ihr nicht unbedingt, gerade von jemandem, den sie so schlecht einschätzen konnte.
"Und Sie?", wandte sich die Bedienung an Delia, die irgendwie froh war, unterbrochen zu werden. "Ich nehme noch einen Swiming Pool ... und könnten Sie mir auch einen Kaffee bringen?" Kaffee war ihr Allheilmittel, und half hoffentlich nicht nur gegen das leicht schummrige Gefühl in ihrem Kopf, sondern auch gegen die leichte Anspannung, die sich in den letzten Minuten in ihr aufgebaut hatte.
Nachdem die Bedienung sich verzogen hatte, hatte offenbar auch Julian beschlossen, das Schweigen zu brechen. "Oh, die Auswertung eines solchen Experimentes steht natürlich noch aus. Mit anderen Worten wird mich der Gedanke an diese Begegnung also noch die ganze Nacht beschäftigen."
Delia ließ sich zu einem Schmunzeln hinreißen. Die Ankündigung er müsse die ganze nacht an sie ... nein, an dieses 'Experiment' denken, sollte sie weiter aus der Reserve locken, vielleicht sogar ein bisschen flirty rüberkommen. Doch sie glaubte dies zu durchschauen und gab auf diese Ankündigung nicht viel, wie sie es bei jemand anderem in einer anderen Situation getan hätte. Sie würde in diesen Mann und sein Verhalten nicht zuviel hinein interpretieren.
Statt dessen ließ sie ihre Augenbrauchen fragend in die Höhe fahren, nicht bereit sich anmerken zu lassen, dass sie über den nicht gelungenen Themenwechsel enttäuscht war. Gleichzeitig war sie jetzt aber auch gespannt, was er ihr auftischen würde. Sie war sich ziemlich sicher, dass dieses 'Experiment' nicht wirklich bewusst und auch nicht im Interesse der Wissenschaft durchgeführt worden war. Daher war es vielleicht auch ganz interessant sich anzuhören, was er sich aus den Fingern saugen würde.
Ja, genau dies war die Einstellung, auf die sie sich jetzt besann.
Und ... es wurde tatsächlich ganz interessant. Was er sagte, traf unangenehm gut zu, und Delia war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er diese 'Experimente' nicht doch wirklich durchführte, für sich allein, sein Gegenüber analysierend, jede ihrer Bewegungen und Aussagen prüfend und einordnend. Sie war gelinde gesagt im ersten Moment etwas ... baff. Fast unbewusst verschränkte sie die Arme vor der Brust. So viel Menschenkenntniss hatte sie nicht unbedingt erwartet, und sie fühlte sich ein wenig zu sehr durchleuchtet. Trotzdem war da der kleine Teil von ihr, der genau davor Achtung und Respekt hatte, und nicht zuletzt deswegen lächelte sie.
"Beeindruckend, Doktor." Sie meinte das irgendwie ernst, auch wenn ihr das Ganze trotzdem noch unangenehm war. "Ich bin mal so frei Ihnen zu sagen, dass Sie sogar weitestgehend recht haben. Wenn ich ehrlich sein darf ...", diesmal war sie diejenige, die ihrem Gegenüber genau in die Augen sah, "... Sie sind furchtbar schwer einzuschätzen, ich möchte mal nicht so weit gehen zu behaupten, Sie seien unberechenbar."
Die Getränke kamen und sie hielt inne, die Bedienung musste ja nicht wirklich hören, worum es hier ging. Außerdem brachte sie den heißersehnten Kaffee, nach dem sie sogleich griff und an dem noch sehr heißen Getränk schlürfte.
Es war fast schon eine komische Situation, wie er hinter seinem Glas hervorlugte, und sie hinter ihrer Tasse - und sie musste lachen. Wahrscheinlich immer noch der Whiskey, aber ihr Lachen - mit dem sie selbst nicht gerechnet hatte - entlastete sie irgendwie.
Deutlich entspannter fuhr sie daher fort: "Sie haben mich nicht abgeschreckt, Jay. Im Gegenteil habe ich jetzt ein wesentlich besseres Bild, als noch heute Nachmittag, wobei diese Situation für mich immer noch völlig abstrus ist. Ich mag Sie irgendwie, wenn ich Ihnen das als meinen Vorgesetzten gegenüber so deutlich sagen darf. Aber Sie sind und bleiben ein völlig verrückter Kerl ... ähm, Mensch. Wenn Sie wollen, können Sie ein sehr sympathischer Mann sein, charmant sogar, auf eine ganz eigenwillige Art und Weise. Was die ... schrägen Seiten an Ihnen angeht, bin ich mir noch nicht sicher, ob Sie das mit Absicht so machen oder ob Sie tatsächlich so unterschiedliche Charakterzüge haben."
Der Kaffee klärte ihren Kopf ein wenig und sie genoss das starke Getränk, dass ihr irgendwie den Kopf etwas durchpustete.
"Ich glaube, Sie sind einfach so, wie Sie auch auftreten. Könnten aber wesentlich ... normaler auftreten, wenn Sie wollten. Sie wollen nur nicht, denn Ihnen gefällt es."
Sie lehnte sich zurück, selbst überrascht aber durchaus zufrieden mit ihrer 'Analyse'. Sie musterte ihn, interessiert an der Reaktion, mit einem Blick, der fast schon fragte: 'und? wie war das?'
Nach einer Pause fügte sie hinzu: "Und ja, ich möchte wirklich nichts über Ihr Sexualleben wissen; Sie sind immer noch mein Vorgesetzter und es gibt Dinge, die man von seinem Vorgesetzten einfach nicht wissen will und wissen sollte."