Vor der Passagierluke des Linienshuttles färbten sich die Lichter der naheliegenden Sterne allmählich von ihrem Blaustich mehr und mehr in ihr natürliches Weiß oder Rot, als der ÜLG-Antrieb das Raumgefährt beinahe auf Reichweite der Citadel gebracht hatte und jetzt abbremste. Julian blickte nervös auf die immergleichen Farbspiele, die er als Wenigreisender aber noch immer äußerst faszinierend fand, und versuchte so sich selbst über seine Nervosität hinwegzutäuschen, die mit jedem Meter wuchs, den er sich der Landebucht annäherte. Die letzten Jahre hatte er jegliche Sehnsucht nach Orten außerhalb Omegas, vor allem denen im Ratssektor, vehement verdrängt – es war schlichtweg zu riskant gewesen, war es doch allzu wahrscheinlich, dass an jeder größeren Passkontrolle der Ratskolonien ein Spitzel für Cerberus saß und Julians Ausflug nach dem Einchecken sehr bald in irgendeinem schalldichten Keller dieser kriminellen Gruppe enden würde. Stattdessen hatte er sich auf Omega dem Ausbau seiner kleinen illegalen Praxis gewidmet in der Hoffnung, dass er sich mit genügend Geld und Erfahrung vielleicht doch irgendwann wieder in die Freiheit der Ratskolonien wagen konnte - Aber auch nur vielleicht.
Ein angenehmer Hinweiston und aufblendende Beleuchtung deuteten den rund fünfzig Passagieren an, dass die Reise bald abgeschlossen war. Der Turianer neben Julian erwachte plötzlich, er streckte sich und verfehlte dabei mit dem hervorschnellenden Arm nur knapp Julians Stirn – er war sich sicher, dass es Absicht war. Um sich selbst von seiner Empörung abzulenken, wühlte er wahllos in seiner Tasche, woraus er dann einen Zettel hervorzog, auf dem er in unlesbarer Handschrift „Aniko Ilona“ notiert hatte. Natürlich war es ihm ein leichtes, sich den Namen auch ohne Notizen zu merken, doch den Zettel immer wieder anzuschauen nahm ihm ein wenig die Aufregung. Immerhin war das Ganze trotz voriger Überlegungen keine ungefährliche Sache.
Zwei Tage zuvor hatte man Julian den größten Deal seiner neuen 'Karriere' angeboten: Der Tag hatte recht ereignislos mit der Reinigung der Instrumente vom Vortag begonnen, die natürrlich inzwischen schon völlig blutverkrustet waren, als die Türkamera einen batarianischen Besucher vor dem Eingang der heruntergekommenen Praxis ankündigte. Lustlos griff Julian nach dem Tischmikrofon, während die andere Hand weiter die Blutreste von einem Sägeblatt schrubbte.
„Tut mir leid, Sir, Batarianer lasse ich nicht mehr ohne Termin hinein. Das gibt immer so eine riesige Sauerei im Eingangsflur“, brummte er nur lustlos in das Mikrofon zur Rufanlage und ließ dabei in der Betonung offen, ob darin eine Drohung enthalten war.
„Hier ist Lendryk“, antwortete die tiefe, kratzige Stimme des Besuchers knapp durch die Lautsprecher. Der Doktor musste nicht lange überlegen: Der Name gehörte zu einem seiner Patienten von vor einem Monat – zwei neue Beinprothesen für einen offensichtlichen Piraten. Die Sache war ein Meisterstück geworden, und das, obwohl Julian mit batarianischer Anatomie nur mittelmäßige Erfahrung hatte. Entsprechend überrascht war er über den Besuch seines kleinen Meisterstücks.
„Entschuldigung, keine Rückerstattungen, Sir. Auch für beschädigte Prothesen übernehme ich keine Haftung. Einen schönen T-“
„Ich will mehr von Ihrer Arbeit, Ward“, unterbrach ihn die Stimme wieder, ohne dass der Mann vor der Tür sein vieräugiges Gesicht zur Kamera hob. Schon einige stille Sekunden später öffnete sich die Tür für ihn. Ward kam Lendryk mit einem äußerst breiten und freundlichen Verkäuferlächeln entgegen, behielt aber, um einen Grundrespekt herzustellen, die blutige Kreissäge in seinen Händen. Sein Gegenüber stampfte mit schweren Schritten in den Eingangskorridor. Ein aufrechter Gang, flüssige Bewegungen, kaum Motorengeräusche, beobachtete Julian zufrieden. Nur waren die mechanischen Beine des Kriminellen sicher dreimal so schwer wie die organischen Vorgänger. Aber da die massigen Körper der Patienten sich im Kampf noch immer genauso schnell bewegten und ihre höhere Körpermasse daher nur mehr Wucht in den Nahkampf brachte, nahmen die Piraten diesen Nachteil normalerweise gerne in Kauf. Der Mann war also wirklich nicht für eine Beschwerde aufgetaucht.
„Wie kann ich Ihnen dienen, Sir?“, übte sich Julian zur Begrüßung in gewohnt britischer Höflichkeit. Er liebte es, die Rohlinge Omegas mit Etikette aus der Fassung zu bringen.
„Meine Leute mögen meine neuen Beine. Man kann damit gut Menschenschädel zertreten“, brummte Lendryk aggressiv und bleckte dabei seine spitzen Zähne. Es war ganz offensichtlich eine Drohung gegenüber Julian, aber statt sie weiter zu kommentieren lächelte dieser nur wieder breit.
„Freut mich, dass Sie zufrieden sind. Ihre Männer wollen nun also aus Neid auch ein paar Extras?“
„Korrekt. Meine Leute wollen Schusswaffen. Verborgen in der Handfläche, so wie die der Cerberus-Spezialeinheiten“
Beim der Erwähnung der Orgnaisation sah Julian kurz skeptisch vom Sägeblatt auf, dass er noch immer unablässig schrubbte. Woher kannten nun sogar Batarianer die Waffen von einer rein menschlichen Geheimorganisation? Offenbar wurde man dort zunehmend aggressiver.
„Lässt sich machen. Ich baue Ihnen einfach bis in vier Tagen eine und -“
„Zwölf. Und nicht selbst bauen – GENAU die selben wie von Cerberus“
Wieder musste der Doktor aufflachen und schüttelte dabei den Kopf. Der Größenwahn dieser hässlichen Aliens überraschte ihn immer wieder.
„Unmöglich. Hi-Tech-Implantate und vor allem solche mit integrierten Schusswaffen sind nicht frei erhältlich. Tut mir leid, aber ich muss Sie bitten zu ge-“
„Hier ist mein Angebot“, antwortete der zwielichtige Batarianer ohne auch nur im Ansatz die Ruhe zu verlieren. Julian platzte hingegen allmählich der Kragen, als er schon wieder von diesem Kerl mitten im Satz unterbrochen wurde. Als man ihm dann aber ein voll ausgefülltes elektronisches Transaktionsformular entgegenstreckte, auf dem nur noch der Empfänger für eine wahre Unsumme an Credits eingetragen werden musste, fiel es Julian leicht, seine britische Höflichkeit zu bewahren.
„Darf ich Sie fragen, ob es sich dabei um den vollen Betrag handelt?“
„Die Hälfte. Der Rest, wenn Sie die Waffen besorgt und angeschraubt haben“
Julians Augenlid zuckte zweimal unmerklich, als man für eine komplizierte Operation, die bei den meisten Ärzten jahrelange Erfahrung erforderte, den Begriff 'anschrauben' benutzte, als sei er im Grunde nicht mehr als ein Mitarbeiter für ein schwedisches Möbelhaus. Doch so sehr er diesen Typen jetzt schon hasste, sein Angebot war so großzügig, dass Julian die Praxis für ein halbes Jahr hätte schließen können.
Natürlich war es ein Leichtes, die benötigten Implantate ausfindig zu machen. Einige recht preiswerte Informationsquellen später war klar, dass ein ehemaliger Cerberus-Ingenieur sie noch immer heimlich nachproduzierte und sich so den vermeintlichen Schutz vor seinem unvermeidlichen Tod finanzierte. Aber es war klar, dass dieser Mann spätestens in ein paar Monaten einen Fehler begehen würde und die wachsamen Augen von Agenten seines ehemaligen Arbeitgebers nur auf diese Gelegenheit lauerten. Julian war dieses Risiko für sich nicht eingegangen und blieb der Citadel daher in der Regel fern. Einige verschlüsselte Nachrichten später kristallisierte sich jedoch heraus, dass der Waffenfabrikant nicht lieferte, weil es seinen Standort verraten könnte. Und weiter, dass er überhaupt niemals seinen Unterschlupf verlasse und seine Mittelsmänner nur innerhalb der Citadel die Ware verkaufen ließ. Ein sehr vorsichtiger Kerl. Da blieb wohl keine andere Wahl, als die eigene Sicherheit zu riskieren. Wie also würde Julian so unbemerkt und anonym wie möglich auf die Citadel kommen und sie zudem mit einer vollen Waffenlieferung wieder verlassen? So gut im Schmuggeln war niemand. Bestechung war der einzige Weg. Und wenn man bestechen konnte, das verriet ihm in der Regel schon ein (zugegeben recht teuer zu erwerbender) Blick in die Personalakten der C-Sec, insbesondere der Anhang zur Krankheitsgeschichte. Nach einer langen Liste von Auswahlkriterien war klar, wer als einziges in Frage kam. Aniko Ilona: Jung, anti-autoritär und – das beste – an einer sich verschlimmernden Nervenkrankheit leidend, für die Julian zufällig ein paar noch nicht zugelassene Medikamente besorgen konnte. Es passte alles so gut zusammen – und trotzdem konnte im Prinzip noch alles geschehen.
Er zerknüllte den Zettel in seiner Hand und steckte das Knäuel zurück in seine Hosentasche, als die ersten Passagiere in seiner Reihe sich von ihren Plätzen erhoben und das Shuttle verließen. Bis man ihm draußen vor dem Raumfahrzeug an der Gepäckluke seinen schäbigen Koffer an die Brust drückte, nahm er kaum etwas um sich herum wahr, war sttattdessen nur auf seine Gedanken konzentriert, die jetzt seine Chancen und Eventualitäten im Einzelnen abwogen, sich Worte und Gesten zurechtlegten und doch, trotz aller minutiösen Planung, still auch um Hilfe schrien. So legte er, zwar mit zitternder Hand, aber mit einem freundlichen und selbstbewussten Ausdruck im Gesicht seinen Pass auf den Tresen hinter der Gepäckkontrolle und nickte dem turianischen Sicherheitsmann dahinter begrüßend zu. Der Ausweis mit dem Alias 'Gale Boetticher' in großen Lettern darauf war natürlich gefälscht, und noch dazu schlecht. Aber für eine erste Sichtkontrolle sollte es genügen. Nur beim späteren Wasserzeichenscanner würde es Probleme geben. Davon ließ sich Julian aber natürlich nichts anmerken.
„Hier ist doch Aniko Ilona momentan stationiert, habe ich recht?“, fragte er in freundlichem Ton, während der Turianer vom pass in seinen Händen skeptisch aufsah und erst nach einer langen Pause antwortete.
„Und was wäre wenn?“
„Oh, nur eine alte Bekannte von mir, haben uns schon Jahre nicht mehr gesehen. Wäre es vielleicht möglich, dass Sie sie einen Moment an den Tresen holen könnten? Sie können ja derweil den Rest überprüfen“
Der Turianer fixierte die freundlichen Augen des Doktors für eine unendlich wirkende Dauer mit äußerster Skepsis. Dann, zu Julians stiller Erleichterung, legte er den Pass auf dem Tresen ab und drehte sich um.
„Warten Sie hier. Und keinen Ärger machen, klar?“, brummte er dabei grimmig und verschwand hinter einer Tür zu den Büros. Ein entnervtes Raunen ging durch die Schlange hinter Julian. Wenigstens hörte man so nicht sein erleichtertes Aufatmen.