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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Willkommen in Calador


    Gewidmet dem Neumoderator JüdeX
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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Unsägliche Schmerzen waren es, die ihn aus seinem Ohnmachtsschlaf wieder zurück ins Hier und Jetzt holten und ihn von da an begleiteten. Schmerzen im Gesicht. Schmerzen in den Augen. Schmerzen in den Beinen, im Rücken, Magenschmerzen. Schmerzen an Stellen, von denen er vorher gar nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten. Schmerzen, die seine Lebensplanung erschütterten – „aus der Traum von der Großfamilie“ hatte man früher immer gesagt, wenn man am Herumflaxen war. Auch damit war es jetzt aus.
    All dieser Schmerz trat momentan jedoch hinter jenen Schmerzen zurück, die Veit in seinem rechten Arm empfand. Sie waren beißend, stechend, aber doch irgendwie taub, nicht pulsierend sondern matt und allgegenwärtig, zogen seine gesamte rechte Körperseite in Mitleidenschaft.
    Veit war nicht so naiv. Er erinnerte sich, hatte die Bilder des schnaubenden Seelenfressers vor seinem inneren Auge. Und deshalb musste er auch nicht mit seinem linken Arm zu seiner rechten Körperhälfte greifen, um zu erkennen, dass der Arm, der ihm so sehr wehtat, längst nicht mehr da war. Er tat es trotzdem, und als er den nachlässig verbundenen Stumpen erfühlte, der wie ein kantiges Geschwür knapp unterhalb seiner Schulter aus seinem Leib herausragte, schossen ihm Tränen in die geschlossenen Augen. Salziges Wasser, welches seine zahlreichen Brand- und Schnittwunden im Gesicht nur noch mehr zum Brennen brachte. Als er seine Augen öffnen musste, sah er zunächst nur milchige Schleier und von irgendwoher das warme Licht einer Fackel. Er blinzelte ein paar Mal, bis die kleine, stickige Kammer, in der er lag, Gestalt annahm. Sie entpuppte sich als Lagerraum.
    Zu gerne hätte Veit nun jemanden gehabt, der sich bei seinem ersten Augenaufschlag zu ihm heruntergebeugt und sich um ihn gekümmert hätte, mit sanften Worten wie „Ah, endlich bist du wach“ oder „Alles wird gut“, aber dieser Wunsch war so unrealistisch, dass Veit selbst schlafend nicht an ihn geglaubt hätte. Realität war, dass er hier alleine in einem Bett lag, welches unsichtbare Spuren seines eigentlichen Besitzers an und in sich trug. Immerhin hatte Veits Geruchssinn seinen Dienst quittiert.
    Er unterdrückte das Gefühl des Ärgers und der Enttäuschung. Seine Emotionen wollten den Dämonenjägern vorwerfen, dass er hier alleine irgendwo in der Zitadelle lag. Doch sein Verstand überzeugte ihn davon, dass ihn niemand im Stich gelassen hatte. Ganz im Gegenteil: Die Dämonenjäger hatten die Schatten vertrieben, ihn offenbar irgendwie noch über die Brücke herübergerettet, ihn notdürftig verarztet und ihm eines der raren Betten zugeteilt. Und das jemandem, der ein Neuling war und mit seinen unbefriedigten Rachegelüsten mehr geschadet als geholfen hatte. Man hatte sich also sehr wohl um ihn gekümmert. Aber es war ein kaltes, geschäftsmäßiges, von militaristischer Räson getragenes Kümmern und keine menschliche, warmherzige Anteilnahme. Gerade diese hätte Veit jetzt gerne gehabt; gerade diese aber fand er hier in dieser Zitadelle am allerwenigsten.
    Schließlich hörte er doch Schritte. Ein einzelnes Paar Stiefel ließ die zusammengezimmerten Holzplanken dieses Geschosses knarren. Veit konnte nur heraushören, dass es ein großer, schwerer Mann sein musste, was ihm aber nicht half, den Personenkreis einzugrenzen. Groß und schwer waren hier schließlich alle – bis auf den Druiden. Und ihn selbst.
    Reflexhaft blinzelte Veit erneut, auch, um die Überreste seiner Tränen zu beseitigen. Die Augen hielt er halb geschlossen, um ruhig abwarten zu können, was nun passierte. So erkannte er auch nur Rüstung und Beine des Dämonenjägers, der in seine Richtung kam. Als er kurz vor dem Bett war, atmete Veit einmal tief durch. Der Dämonenjäger aber schritt schnurstracks an ihm vorbei und ließ es im hinteren Bereich der Kammer etwas rumpeln. Offenbar suchte er irgendetwas, nicht aber irgendwen – wegen Veit war er ganz offensichtlich nicht hergekommen.
    Veit starrte zur Decke, denn die Kraft, sich aufzusetzen, besaß er nicht. Er konnte durch ein paar Holzlatten hindurch ins obenliegende Stockwerk spähen, sah aber bei diesen kleinen Spalten nichts. Die Zitadelle schien oben vollkommen dunkel zu sein, aber das konnte täuschen. Wahrscheinlich reichte das Licht der kostbaren, aber schwachen Fackeln schlicht nicht bis zu ihm herunter. Veit fragte sich, was passieren würde, wenn hier ein für alle mal das Licht ausging. Er zuckte und blinzelte hektisch, als von oben eine Prise Dreck oder Staub herunterrieselte und in sein Auge fiel. Seine Augen brannten sowieso schon, er wertete dies als spöttischen Angriff der Zitadelle. Er fühlte sich unerwünscht. Und dann tauchte das Gesicht eines Dämonenjägers vor seinen Augen auf.
    „Siehst ja ganz schön schlimm aus.“

    „Na dann Prost Mahlzeit, Veit. Aus Myrtana, sagst du? Bereust du es schon, einen Fuß auf dieses Land hier gesetzt zu haben? Ich kann mich eigentlich kaum noch an meine Zeit vor Calador erinnern. Ich bin übrigens Nate.“
    Artig und manierlich ergriff Veit die Hand des grobschlächtigen Mannes und spürte den festen Druck. Die matten, grauen Augen musterten ihn eindringlich, wie, um sein Innerstes nach Schatten oder deren Einflüssen abzusuchen. Veit wurde ein wenig nervös dabei. Natürlich war er weder Schatten noch von Schatten befallen, aber wenn man von einem waschechten Dämonenjäger in voller Rüstung so angestarrt wurde, konnte man da schonmal an sich selbst zweifeln. Veit kannte die Anklänge dieses Blicks von seinem Vater und auch von seinem verstorbenen Onkel, aber hier auf Calador war das noch einmal ein Stück intensiver. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste Nate Hand und Blick von seinem Gegenüber. Seine Stirn und seine Glatze warfen nun Falten.
    „Du wirkst noch jung und unerfahren, auch wenn du das vielleicht nicht gerne hörst. Aber ich bin auch nicht hier, um dir zu sagen, was du gerne hören möchtest. Eigentlich genau das Gegenteil: Meine Aufgabe ist es, dir Horrorgeschichten zu erzählen, um dich möglichst sofort wieder auf dein Schiff und in dein Heimatland zu vertreiben. Also, Lust, dass ich dir ein wenig Angst mache, während ich dich zur Zitadelle bringe?“


    Das trübe Grau in den Augen ließ den Mann traurig über Veits Verletzungen wirken, doch wusste es dieser besser: Wenn überhaupt, dann symbolisierten diese leblos gewordenen, aber dennoch anklagenden Augen die Trauer über den Niedergang von ganz Calador. Vermutlich aber hatten sie schon längst wieder vergessen, warum sie überhaupt so grau geworden waren.
    „Du bist übrigens wieder in der Zitadelle, falls dich das interessiert.“
    Nate stand immer noch vornübergebeugt über Veits Gesicht. Er machte keine Anstalten, den kleinen Hocker, den Veit in der Nähe des Bettes erspäht hatte, heranzuziehen und sich darauf niederzulassen.
    „Danke. Aber das weiß ich selbst.“
    Veit zwinkerte noch ein paar Mal, um die letzten Tränen zu trocknen. Vor Nate wollte er am allerwenigsten schwach wirken.
    „Sehe ich etwa so schlimm aus, dass man mir nicht einmal mehr zutraut, zu wissen, wo ich bin?“, fragte er dann.
    „Naja, um ehrlich zu sein: Ja“, zögerte Nate die Antwort nicht lange heraus. „Aber da bist du in guter Gesellschaft.“
    Veit war sich nicht sicher, ob Nate unter anderem auf sich selbst anspielte, traute es ihm aber voll und ganz zu. Seit ihrer ersten Begegnung hatte Nate wie ein Verlorener auf ihn gewirkt, wie jemand, der gar nicht mehr richtig auf dieser Welt lebte, sondern auf dem schmalen Grat zwischen ihr und dem Schattenreich balancierte.
    „Hast dir die ganze Sache wohl auch anders vorgestellt, was?“

    „Das hier ist also die Zitadelle?“
    „Hält nichts von dem, was die Legenden versprechen, ich weiß. Urlaub würde ich hier auch nicht machen. Aber für unsere Zwecke reicht sie. So gesehen reicht hier aber auch alles für unsere Zwecke – und auch wieder nicht.“
    Veit sah auf und musste erst einmal lange nach der Decke der steinernen Halle suchen, bis er sie fand. So hoch, wie man ihm immer erzählt hatte, war die Zitadelle also tatsächlich. Und ihr gesamter Bau, ihre Wege, ihre Treppen und Türme, wie er sie bisher hatte erkennen können, ließen sie als Bauwerk eines großen Volkes erscheinen. Zumindest, wenn man eine Ahnung hatte, was man hier vor sich hatte. Denn nüchtern betrachtet war auch von der Zitadelle als solcher nicht mehr viel übrig. Sah man mit unverklärtem Blick auf sie, so erkannte man, dass Räume, Treppen und Decken dem Verfall erlagen und die einstigen Steine, die dieses Ungeheuer von Gebäude einst aufrecht erhielten, mehr und mehr durch spröde Holzlatten ersetzt worden waren. Die Zitadelle wirkte wie ein ehemals großartiger, legendärer Held, der schlicht und ergreifend alt und gebrechlich geworden war und dessen Erscheinung noch die ritterlichen Züge von damals trug, mit dem Unterschied, dass sie in Form und Farbe verblasst, verdreht, ausgewaschen und ausgebrannt schienen. Nicht zuletzt aber war die Zitadelle mit einem sterbenden Mann zu vergleichen – so wie fast alles auf dieser Insel.
    Zwischen den verbauten Räumen, den herumstehenden Tischen und den innerhalb des Gemäuers vor sich hin lodernden Lagerfeuern sah die Kammer des Druiden, die Veit beim Vorbeigehen erspäht hatte, noch am einladendsten aus. Eldric hieß ihr Bewohner, ein Walddruide, der sich, obgleich kein Dunkler Krieger noch sonstwie mit ihnen in Verbindung stehend, zum geistigen Führer der Dämonenjäger der Zitadelle aufgeschwungen hatte. Wie genau das passiert war, hatte Nate ihm nicht erklären können; freimütig hatte er bekannt, vermutlich auch das schon wieder vergessen zu haben. Die drohenden Schatten hatten aus der Zeit ein zähes Kautschukband und aus seinem Kopf eine hohle Muschel ohne Perlen gemacht, so hatte Nate sich ausgedrückt.
    „Kennst du das?“, knüpfte er an diese Worte an, während sie Seite an Seite die Turmtreppen hinauf zum ersten Obergeschoss stiegen, „Wenn alles den Bach runtergeht und du dich so richtig lebendig dadurch fühlst?“
    Veit schüttelt den Kopf. Nate nahm diese Reaktion mit einem Seitenblick auf, noch bevor sie Wendeltreppe wieder verließen.
    „Und ich hatte gehofft, wenigstens jemand aus Myrtana könnte mich verstehen. Naja, vielleicht bin ich schon zu lange hier. Ich glaube, von allen bin ich sogar fast am längsten hier. Aber die anderen wissen mehr als ich. Wie hieß dein alter Herr nochmal?“
    „Roderich“, antwortete Veit etwas atemlos. „Roderich Güldenring.“


    „Ziemliche Scheiße, das ist wahr. Ich werde mir meine Belehrungen sparen, dafür bin ich sowieso nicht der Richtige. Ich hätte es vielleicht nicht anders gemacht. Andererseits… wer weiß. Scheiß einfach drauf.“
    Obwohl Veit die Augen wieder offen hatte, sah er Nate nicht, denn dieser stand irgendwo im Raum und sprach von dort aus zu ihm. Dann und wann ließ er die Balken unter sich knarzen, wenn er ein paar Schritte machte. Und hin und wieder war er mehr ins Selbstgespräch als in einen Dialog mit Veit vertieft. Er konnte es dem Dämonenjäger schlecht verübeln – und trotzdem wünschte er sich, dass es diese verfluchten Dunklen Krieger, die Zitadelle, Calador, all das niemals gegeben hätte. Und die Schatten. Diese verfluchten Schatten, die für manchen reichen Kaufmannssohn nicht mehr als ein fernes Handelshemmnis darstellten, für viel zu viele Leute aber so real, greifbar und leidbringend waren. Veit war sauer auf sich selbst, war er doch ebenfalls einer dieser wohlhabenden Söhne gewesen, die das alles auf die leichte Schulter genommen hatten. Nicht einmal im Traum hätte er seinen Vater damals, als die grünen Feuer entzündet worden waren, ziehen lassen, wenn er gewusst hätte, welche Schrecken und Grausamkeiten tatsächlich durch die Portale kamen. Geschweige denn, dass er es selbst gewagt hätte, seinem Vater nachzureisen. Aber er hatte beides getan. Und nun war alles verloren.

    „Nie gehört“, gab nun auch der letzte der umstehenden Männer seine Antwort auf Veits Ersuchen. Anders als von Nate angekündigt, unterschieden sich dessen Kollegen nicht sonderlich von ihm – nicht einmal äußerlich. Veit fand das aber sehr ehrlich: Die Schrecken des Schattenreiches waren hier keine verdrängten und versteckten Ängste, sondern spiegelten sich direkt und ganz offen in den Gesichtern – und vor allem den Augen! – dieser Krieger wider. Und so war es auch kein Wunder, dass bei all diesem erduldeten Hass, dem ewigen Kampf und der andauernden Ruhelosigkeit kaum noch jemand an Vergangenes denken mochte. „Seit die grünen Feuer brennen, gibt es hier nicht mehr viel, um sich abzulenken“, hatte Nate ihm zwischendrin zugeflüstert. „Es sei denn, man beschäftigt sich gerne mit Leichen.“
    Nachdem er auf die Fragen nach seinem Vater nicht viel mehr als Schulterzucken und Kopfschütteln geerntet hatte, war Veit bereits so niedergeschlagen, dass er glaubte, sein Vater habe es möglicherweise gar nicht erst bis nach Calador geschafft. Sein Schiff selbst hatte einem Seeungeheuer ja nur knapp ausweichen können, und wer wusste schon, ob die Galeere, mit der sein Vater vor einiger Zeit aufgebrochen war, nicht in den Fängen einer gigantischen Ozeanschlange oder einer gierigen Riesenkrake verrottete. Aber selbst wenn, und Veit wollte überhaupt nicht darüber nachdenken: Musste das Kriegergeschlecht der Güldenrings nicht dennoch in dieser Zitadelle Erinnerungen wecken? Kannte denn niemand seinen verstorbenen Onkel? Oder seinen Großvater, der seinerzeit einer der ruhmreichsten Dunklen Krieger gewesen war?
    Schließlich bekam Veit doch noch unverhofft einen letzten Strohhalm gereicht. Derjenige, der sich als Porter vorgestellt und dabei am desinteressiertesten von allen gewirkt hatte, kam noch einmal auf ihn zu. Es war zu dunkel, um ihre Farbe zu erkennen, aber auch in seinen Augen vermutete Veit das gleiche Mausgrau wie bei Nate, und der Helm, den Porter nicht abzunehmen gedachte, verdeckte sicher ebenso eine bemakelte Glatze.
    „Die meisten von uns haben keine Zeit, um sich um solchen Kram zu kümmern, Junge“, ließ er verlauten und verzichtete dankbarerweise darauf, eine Hand auf Veits Schulter zu legen. „Unser Leben besteht aus Kampf und der unerfüllbaren Aufgabe, Calador wieder zu befreien. Und wer zu schwach zum Kämpfen ist, der ist damit beschäftigt, die Zitadelle in Schuss zu halten.“
    „Klappt ja ganz hervorragend“, entfuhr es Veit leise.
    „Hat auch nie jemand etwas anderes behauptet.“ Porter scharrte ein wenig mit den Stiefeln über ein paar Holzlatten, als hätte Veit ihn mit seinen Worten daran erinnert, dass sämtliche Stockwerke der Zitadelle jeden Moment in sich zusammenfallen könnten.
    „Aber es gibt einen unter uns – von Eldric mal abgesehen, aber der ist für deine Leute wohl noch nicht lang genug hier, der alte Waldgeist – einen unter uns, der schläft nie, und wenn er mal nicht kämpft und nicht in der Zitadelle für Ordnung sorgt, dann stöbert er in den alten Chroniken. Keine Ahnung, warum er das macht. Aber er macht’s. Drake heißt er. Du hast ihn da unten vielleicht irgendwo rumstehen sehen.“


    Nate war abermals hinter ein paar Kisten verschwunden, redete aber weiter auf Veit ein. Offenbar glaubte etwas in ihm, irgendwie für „den Neuen“ verantwortlich zu sein. Dieser selbst gewählten Aufgabe kam er zwar eher schlecht als recht nach, aber immerhin kam er ihr überhaupt nach.
    Die Schmerzen in Veits Kopf ließen ihn mittlerweile doppelt sehen. Wenn er nach oben sah, sah er die Decke sogar dreifach, wie eine Vision eines besorgten Architekten, der angesichts der Statik dieser Räume hier schlaflose Nächte erdulden musste. Veit wusste nicht, ob er froh sein sollte, statt draußen zu verwesen, hier in diesem Lager zu liegen. Genau genommen wusste Veit mittlerweile gar nichts mehr, außer, dass er Schmerzen und überdies auch noch versagt hatte.
    „Der rechte war dein Schwertarm, oder?“, fragte Nate fast beiläufig, und Veit kaufte ihm sogar ab, dass er das während ihres gemeinsamen Kampfes nicht einmal mitbekommen – oder eben schon wieder vergessen – hatte. Allerdings wartete er nicht auf eine Antwort, sondern sprach einfach weiter.
    „Keine schöne Sache, das… aber weißt du was? Immerhin lebst du noch. Das können nicht viele von sich behaupten.“

    „Roderich Güldenring ist tot.“
    Es war eine Nachricht, die Veit weit weniger traf, als er erwartet hatte, und gerade das jagte ihm einen furchtbaren Schrecken ein. Drake ließ ihm keine Zeit, diesen Schrecken zu verdauen.
    „Dafür muss ich in keine Chronik schauen“, sagte er tonlos, während er sich beinahe lässig mit einem Fuß stützend an den Steinpfeiler anlehnte. „Das ist erst ein paar Monate her. In etwa ein halbes Jahr, wenn ich richtig rechne.“
    Veit wusste selbst nicht mehr, ob Drake oder er selbst nun richtig rechneten. Er wusste nur, dass er mit der Nachricht doch irgendwie gerechnet hatte. Zaghaft, fragend, hoffend. Aber er hatte damit gerechnet.
    „Keine Ahnung, warum das keiner mehr weiß“, führte Drake weiter aus. „Dabei haben sie ihn immer ’den Blonden’ genannt. Und wenn man dich so anschaut, hätte man da eigentlich sofort drauf kommen können.“
    Drake stieß sich kontrolliert vom Pfeiler ab. Er stand jetzt aufrecht, seine Arme irgendwo an seinen Körper gestützt, vor Veit. Er wirkte dabei drei Meter groß. Mehr noch. Er schien immer größer zu werden, zu wachsen. Auch er trug einen Helm. Veit bekam den Eindruck, dass die Männer dieses Rüstzeug nicht nur trugen, um sich vor physischen Angriffen zu schützen.
    „Vielleicht haben sie ihn aber auch wirklich schon vergessen oder verdrängt“, fuhr er fort. „Die grünen Feuer lockten mit einem Mal so viele… und noch so wenige sind davon übrig.“
    Drake sagte das weniger mit Wehmut als mit dem Tonfall einer nüchternen Feststellung, wie Veit es auch schon bei Nate erlebt hatte.
    „Wobei, wenigstens Henrik hätte sich eigentlich noch an ihn erinnern müssen. Die haben hier unten regelmäßig Armdrücken-Wettbewerbe veranstaltet. Aber Henrik hat immer verloren, vielleicht hat er deshalb nichts gesagt. Ist auch nicht mein Bier. Wir sind ja schließlich Krieger und keine Auskunftei. Ich spreche dir trotzdem mein Beileid aus. Niemand verliert gerne einen Waffengefährten. Schon gar nicht, wenn es der eigene Vater ist.“
    Die Worte Drakes verfingen sich in einem dunklen Strudel, dessen Sog in Veit entstanden war und alles durcheinanderwirbelte, was um ihn war. Das war alles zu viel, er konnte es nicht mehr geordnet aufnehmen. Veit lächelte bitter in sich hinein. So musste es sich wahrscheinlich auch anfühlen, wenn man das Schattenreich betrat. Diese Kostprobe schmeckte ihm überhaupt nicht. Veit spürte ein Pochen in seinem Körper. Sein Herz raste nicht, aber es schlug, hart, härter, immer härter. Sein Atem rasselte nicht, aber er wurde kalt. Seine Beine standen fest, aber die Muskeln zuckten innerlich. Er schwitzte nicht, aber sein Haupt glühte. Er wusste nicht, wie lange er so dastand, bis er sich endlich wieder sprechen hörte.
    „Ich will Vergeltung.“


    „Es ist aber machbar, den anderen Arm zum Schwertarm zu machen, mit dem entsprechenden Training“, sagte Nate, der jetzt wieder irgendwo neben der Pritsche stand, die sich Bett schimpfte. Veit hatte den Drang, seinem Gesprächspartner ins Gesicht zu schauen, vielleicht, um dessen Mimik zu lesen. Weil er sich das wenig ergiebige Ergebnis aber schon vorstellen konnte, ließ er seinen Körper weiterhin flach liegen. Er schmerzte auch so schon genug. Von seinem Arm aus stach es jetzt wieder hoch. Es versetzte seinen Körper in kleinere Beben, Erschütterungen, die seinen so geschundenen Leib nur noch mehr nach Hilfe schreien ließen.
    „Aber das ist gerade wohl weniger deine größte Sorge, was?“
    „Stimmt“, presste Veit zwischen seinen vertrockneten, sich unförmig anfühlenden Lippen als Antwort hervor. Er war nach wie vor im Zwiespalt: Einerseits war er froh, dass Nate ihm ein wenig Gesellschaft leistete. Andererseits war er in seinen Worten und Fragen so anstrengend. Veit wollte, dass jemand bei ihm war, wollte aber auch seine Ruhe haben. Nate war einfach nicht der richtige dafür. Wofür war Nate überhaupt der richtige? Und alle anderen der Dämonenjäger? Es waren Kämpfer, ja, aber es waren auch Verlorene. In einem normalen Leben konnte er sich keinen von ihnen vorstellen, und sie selbst sich wahrscheinlich auch nicht mehr. Aber gab es so etwas wie ein normales Leben überhaupt noch?
    „Mir ist schlecht“, teilte Veit unvermittelt mit, obwohl das gar keine Neuigkeit war. Nur schwoll die beständige Übelkeit gerade zu besonders bedrohlichen Ausmaßen an.
    „Soll ich dir einen Eimer holen?“, fragte Nate aus dem Nichts, zum ersten Mal mit einem besorgten Tonfall, wobei sich dieser wohl eher eher auf die Sorge um die Reinlichkeit des Lagers als auf eine Sorge um Veits Befinden gründete.
    „Ich schau mal, draußen vor der Tür müssten doch noch ein paar Blechdinger herumliegen… es findet ja kaum einer mehr die Zeit zum Aufräumen, bei dem ganzen Stress hier.“

    „Ahja, da haben wir es ja. Es ist zwar nicht gerade ein Geisterhammer, aber eben auch kein mickeriger Krabbenstecher! Zumindest besser als dein Zahnstocher da… ich hab’s ja gesagt, hier geht nichts verloren.“
    Der Dämonenjäger namens Cyril hatte nach einigem Herumstöbern im Lager nun doch das versprochene Schwert gefunden, und Veit musste zugeben, dass es gut in der Hand lag. Viel Zeit zum Ausprobieren hatte er allerdings nicht, denn Cyril war schon wieder aus dem Lager heraus um nach draußen zu den anderen zu gehen. Veit eilte ihm hinterher, noch kannte er sich in der Zitadelle zu wenig aus, um zügig aus ihr herauszufinden. Zumindest nicht auf eine Art und Weise, die ihn nicht nach fünfzig Metern Fallen als unförmigen Haufen von Knochen, Blut und Eingeweiden zurückließ. Veit erschrak nicht angesichts dieser Gedanken, es wunderte ihn gar nicht, dass die Abgestumpftheit der Dämonenjäger so rasch auf ihn übergesprungen war. „Bei der ganzen Scheiße, die hier passiert, hilft nur noch Galgenhumor“, wiederholte Veit flüsternd die passenden Worte von Nate. Der Mann kannte sich aus.
    Als sie aus der Zitadelle hinaus waren und schweigend den Weg herunterstiefelten – Cyril schien sich gar nicht mehr groß um Veit zu kümmern – kamen Veit erste Zweifel, ob das alles gut gehen würde. Klar, die Dämonenjäger waren guter Dinge, sofern man in diesem Land noch guter Dinge sein konnte. Sie hatten ja auch nichts mehr zu verlieren. Andererseits, so fragte Veit sich, während er den Lavafluss schon von weitem hören konnte, was hatte er selbst eigentlich noch zu verlieren?
    Der aufkommende Geruch stach ihn in Augen und Nase. Eine Mischung aus Feuer, Verbranntem, Vulkangestein und der modernden, pestenden Verwesung des dunklen Landes. Man konnte beinahe froh sein, dass ein Strom aus zähfließendem Magma die Zitadelle von dem Kristallportal, den Schatten und den Schergen trennte. Aber dieser hässliche Zwiegeruch war einfach zu viel.
    Die Dämonenjäger dagegen – wenig überraschend – schienen sich nicht groß darum zu kümmern. Aufrecht und ungerührt standen sie in einem Pulk an der Brücke, welche sie hinüber über den Lavafluss in das dunkle Land führen würde. Veit erkannte Mason, der mit seiner Größe und Statur sogar in dieser kräftigen Gesellschaft hervorstach. Eher am Rande stand Nate, auch Porter und Drake waren zugegen. Letzterer schien eine Art Führungsrolle einzunehmen, aber sicher war Veit sich da nicht.
    Die restlichen Männer kannte er nicht beim Namen. Sie ihn vermutlich auch nicht. Und trotzdem hatten sie sich bereit erklärt, mit ihm zusammen ins dunkle Land zu ziehen. Es sei ohnehin mal wieder Zeit, einen Ausfall zu wagen, hatte Mason auf diesen Vorschlag hin erklärt, auch wenn Veit an den Blicken seiner Kollegen erkannt hatte, dass diese Ansicht nicht unbestritten war. Dennoch: Nun standen sie alle hier und harrten der Dinge, die da kommen sollten.
    „Da bist du ja“, sprach Mason ihn auch direkt an, als Veit sich der Gruppe näherte. „Wir haben auf dich gewartet. Eigentlich solltest du der Anführer sein.“
    Obwohl sich Veit nicht wirklich eingeschüchtert von diesem Spaß zeigte, lachte die Gruppe rund um Mason ein wenig. Da war er wohl wieder, der Galgenhumor.
    „Auf Ratschläge, wie du dich im Kampf zu verhalten hast, werde ich mal verzichten“, brummte Mason. „Wer mit uns kommt, der muss es auch können.“
    Eine derartige Ansprache hatte Veit eigentlich von Drake erwartet, und nicht vom bisher so schweigsamen Hünen. Möglicherweise spielte Drake eher die Rolle des Verwalters, während der stramme Mason den Kriegsrat mimte.
    „Aber aus aktuellem Anlass ein Tipp“, mischte Nate sich ein. „Wenn der Seelenfresser kommt, bleibst du besser auf Abstand. Werden wir nicht anders machen. Höllenhunde okay, Schergen okay – außer die Magier natürlich. Aber vorm Seelenfresser kuschen sogar wir. Hat ja auch deinen alten Herrn auf dem Gewissen, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe.“
    Er machte einen Seitenblick auf Drake. Der schwer gerüstete Krieger nickte nur knapp.
    „Ansonsten… den Totengräbern Arbeit machen, hat man früher gesagt, als es noch welche gab“, fuhrt Nate fort. „Hau einfach alles um, was kalt ist und übel aus dem Mund stinkt. Außer uns natürlich.“
    Erneut lachten die Männer. Die Situation kam Veit ein wenig wie eine einstudierte Aufführung vor. Jeder wusste, wann er zu schweigen, zu reden oder zu lachen hatte. Die Dämonenjäger machten das alles nicht zum ersten Mal. Wie sein toter Vater ja bereits bewies. Vater…
    Als kein anderer mehr etwas sagte, ergriff Mason wieder das Wort.
    „Na dann“, raunte er, „auf in den Abgrund zur Hölle!“


    „Kommt doch nichts? Ich kenn’ das, wenn sich einfach nur der Magen umstülpt. Wenn du wieder laufen kannst, kannst du ja mal Connor nach ’nem Mittelchen dagegen fragen.“
    Mit welchen Kraftreserven auch immer hatte Veit sich halb aufsetzen und zur Seite über das Bett beugen können und hing nun über einem Blecheimer mit Loch am Boden. Unregelmäßige Schübe stießen durch seinen Körper, aber sein Magen gab nichts von seinem Inhalt – wenn denn überhaupt welcher da war – preis. Stattdessen hatte Veit einfach nur noch mehr Schmerzen. Es war überhaupt ein schäbiges Wunder, dass es so etwas wie mehr Schmerzen in seinem Zustand überhaupt noch gab. Aber es gab sie. Sämtliche seiner Rippen schienen gebrochen zu sein und jammerten nun mit jedem Stoß mit. Tränen schossen Veit mit jedem Mal in die Augen. Aber irgendwann war es zum Glück vorbei. Veit spuckte nochmal in den Eimer und ließ ihn dann stehen, wollte sich einfach wieder flach aufs Bett legen. Bei der anstrengenden Bewegung nutzte er die Chance, Nate ins Gesicht zu sehen. Außer ein paar Verbrennungen und Schnitten erkannte er dort wenig, am allerwenigsten Mitleid.
    „Siehst aber auch wirklich geschunden aus“, kommentierte der Dämonenjäger, während Veit sich wieder in eine Liegeposition brachte, die ihm nicht das Gefühl gab, dass sämtliche seiner noch intakten Knochen auf der rauen Pritsche ebenfalls durchbrechen würden.
    „Bist ja kaum noch wiederzuerkennen… wird aber auch nicht besser, wenn ich dir das ständig sage, was?
    Mit seiner linken Hand – mit der Hand – versuchte Veit in seinem Gesicht Wunden zu entdecken, die er auch bei Nate erspäht hatte. Bei der ersten Berührung schon traf er auf rohes, suppendes Fleisch, was ihn sofort zurückzucken ließ. Er wollte lieber nicht wissen, wie viel oder besser wie wenig von seinem Gesicht noch übrig war. Dennoch tastete er erneut an seinem Kopf herum, diesmal weiter oben – und spürte nur etwas an den Fingern, nicht aber am Haupt selbst. Seine Kopfhaut war komplett gefühllos geworden.
    „Ich sag mal so“, nahm Nate eindeutig Bezug auf Veits stille Suche und beugte sich dabei wieder mit dem Gesicht über ihn, „je eher du dich an dein neues Aussehen gewöhnst, umso besser. Eigentlich willst du ja doch wissen, wie es um dich bestellt ist, oder?“
    „Wenn du das sagst.“
    „Ich kann für dich hinten im Lager ein bisschen suchen… wir müssten da eigentlich noch irgendwo einen Handspiegel haben. Die Dinger fliegen eigentlich überall in den Ecken herum. Unbenutzt, klar. Der Anblick der anderen ist ja auch schon schlimm genug. Warte einen Augenblick, dann hole ich dir einen. Nicht weglaufen.“
    „Keine Sorge…“

    „Schwerter draußen lassen! Da drüben kommen noch welche nach!“
    Veit dachte gar nicht daran, sein Schwert überhaupt jemals wieder wegzustecken. Gerade hatte er es mit blinder Wut einem besonders verunstalteten Schergen mit Schädelhelm über den weißgrauen Leib gezogen, da gierte seine Klinge schon nach weiterem verdorbenen Fleisch. Der Ruf war von einem Dämonenjäger namens Burke gekommen, welcher im Kampf durch seine trickreichen Manöver aufgefallen war und nun hinauf in eine Bergpassage wies, aus der eine weitere Gruppe von Schergen heruntergerannt kam.
    Sie waren nicht weit von der Brücke und vom Lavafluss entfernt. Lediglich ein paar Schritte hinein ins dunkle Land waren sie gegangen, dann waren schon die ersten Höllenhunde auf sie zugestürmt. Mit ihnen hatte Veit leichtes Spiel gehabt, sie waren schnell, aber das war er selbst auch, und auf seine Finten fielen sie stets herein. Während die meisten anderen Männer – allen voran Mason und Henrik, die eine Art Wettbewerb um die meisten erlegten Schatten führten – mit roher Kraft und Brutalität agierten, sah Veit seinen eigenen Kampfstil eher bei dem von Burke oder Porter angesiedelt, nur noch ein wenig leichtfüßiger. Er hatte vorher nicht einmal gewusst, dass er überhaupt einen Kampfstil besaß. Die festgefahrenen Bewegungen im Training schienen in der echten Schlacht nicht mehr zu zählen.
    „Magier! Magier, Magier!“, gellte der panische Ruf von Cyril durch die Schluchten. Zwischen den herannahenden, stummen Schergen war einer zu erkennen, der keine der vergifteten Schattenwaffen bei sich trug. Stattdessen war seine rechte Hand mit einem blauen Leuchten umgeben – ein magisch begabter Scherge. Sie waren selten, aber die Dämonenjäger hatten vor ihnen gewarnt. Das war der zweite in diesem Kampf – den ersten hatten sie erst viel zu spät überwältigt, nachdem er mit seinen Energiestößen große Schneisen in ihre Reihen geschlagen hatte. Nicht einmal Mason konnte diesen Energiewellen standhalten, und den vergleichsweise leichten Porter hatte es richtiggehend durch die Luft gewirbelt. Das sollte jetzt nicht wieder passieren.
    „Henrik, Burke!“, rief Cyril noch einmal. „Auf den scheiß Magier! Schaltet diesen Mistkerl aus!“
    Unruhe ging durch die Reihen der Dämonenjäger. Den magischen Angriffen hatten sie mit ihren Kampfrunen, die ohnehin nur von wenigen der Krieger mitgeführt wurden, nicht viel entgegenzusetzen. Eldric war der einzige aus der Zitadelle, dessen magische Kräfte diejenigen der gewöhnlichen Schatten überstiegen, doch war er nicht mitgekommen. Als lediglich geistiges Oberhaupt hatte er den Kriegern zwar nicht verbieten können, diesen Ausfall ins dunkle Land zu wagen. Aber der Druide hatte seine Missbilligung deutlich ausgesprochen – gerade auch vor Veit – und war deshalb mit wenigen Leuten in der Zitadelle zurückgeblieben. Hass, so hatte er gesagt, dürfe nicht der Motivator in diesem Krieg sein. Drake hatte entgegnet, dass man Hass nur mit Hass bekämpfen könne, und schließlich hatte Eldric die Diskussion abgebrochen und ihnen seine aktive Unterstützung im Kampf versagt.
    Veit wurde zurück in die Realität geholt, als sein Arm wie von selbst das Schwert hochriss und im letzten Moment mit einer dunklen Schergenklinge zusammentraf. Funken legten sich auf seine Handschuhe nieder und brannten sich ein. Mit einem Tritt in den Bauch des Untoten entledigte er sich ihm für einen Moment, nur um dann mit einem Stich mit der Schwertspitze nachzusetzen. Ein Rinnsal dunklen Blutes quoll heraus und bedeckte die milchig weißen Steine der öden, nebelverhangenen Gebirgspassage.
    „Sauber, Junge, so musst du es ihnen geben!“, rief Nate, der soeben an seiner Seite aufgetaucht war. „Machst dich ja richtig gut!“
    Veit hörte gar nicht richtig hin. Er hob seinen Blick zur Anhöhe hinauf und sah, wie Cyril und Henrik bereits über dem toten Magierschergen standen und sich in Einzelkämpfe mit ein paar Höllenhunden und weiteren Schergen verstrickten. Um sie herum und unter dem Einsatz seiner Runen wirbelte Burke, welcher ihnen eine Rotte von Dunkeldürrern vom Leib hielt, die offenbar aus der östlichen Felswand herausgebrochen waren.
    Veit löste sich von diesem Anblick, um gemeinsam mit Nate dem Angriff zweier Ghule zu begegnen, als sie plötzlich das donnernde Brüllen Masons hörten.
    „Der Seelenfresser kommt! Vom östlichen Tal!“
    „Macht euch für den Rückzug bereit!“, krächzte Drakes Rufen kurz danach. Veit hatte gar keine Zeit, diese Hinweise richtig einzuordnen, als er spürte, wie Nate ihm hastig auf die Schulter klopfte und seine Aufmerksamkeit gen Osten richtete. Sie standen direkt vor dem Durchgang, den Mason meinte, und als die vorausrennenden Schergen den Blick weiter ins Tal preisgaben, sah auch Veit ihn.
    Es war ein eckiges und verkantetes Gerüst aus alten Knochen, welches den Körper des Seelenfressers bildete. Groß war er, stämmig, kein klapperiges Skelett sondern ein massiver Leib, der hinten in einem peitschenden Schwanz mündete und auf vier dicken, sehnigen Beinen stand. Sein riesiger Kopf vorne war ein einzelner, wuchtiger Schädel, der an den eines überdimensionalen Rammers oder Bisons erinnerte und an den Seiten Hörner trug, deren Funktionen keine anderen als die von Waffen sein konnten. Im Gegensatz zu den stummen, mundtoten Schergen oder den leise gurgelnden Ghulen war dieses Knochenbiest ein Hort des Schnaubens, Keuchens und Brüllens. Selbst das laute Schlachtengeklirr übertönte es mühelos mit einem infernialischen Schrei, bevor es schließlich aus dem Tal heraus zum Durchgang stürmte, an dessen Ende Veit und Nate noch immer standen.
    „Wir müssen hier weg“, ließ Nate verlauten und klang dabei nüchtern wie eh und je. Sein zupackender Griff an Veits Arm ließ jedoch keinen Zweifel daran, wie ernst er es meinte. Von weiter oben sah Veit die vorgerückten Dämonenjäger hastig wieder herunterkommen, wohlwissend, dass sie vor dem Seelenfresser nur noch tiefer ins dunkle Land hineinflüchten konnten, wenn sie es zuließen, dass er ihnen den Rückweg unten abschnitt. Veit sah wieder nach unten und beobachtete bewegungslos, wie der Seelenfresser sich mit urwüchsiger Kraft seinen Weg bahnte, sogar die ihm verbündeten Schergen rücksichtslos über den Haufen rannte oder gar auf seine Hörner nahm, nur um so schnell wie möglich zu seinen Feinden zu gelangen.
    Veit spürte noch einmal Nate an seinem Arm ziehen, aber er hörte schon längst nichts mehr. Sein Blick wurde zu einem starren Tunnel, der einzig und allein auf den Seelenfresser gerichtet war. Dieser Schatten hatte irgendetwas mit der Umgebung gemacht, sie gebogen, verzerrt, die Zeit schneller und zugleich langsamer gemacht. Es war eine Sogwirkung, die vor Veit nicht Halt machte. Ohne sich noch um die anderen Dämonenjäger oder Schergen Gedanken zu machen, brachte er sein Schwert in Position. Der Seelenfresser war bald nur noch einige wenige Sprünge und Sätze von ihm entfernt. Jetzt konnte Veit auch erkennen, was dort um den dicken Hals des vierbeinigen Schreckens baumelte. Es war eine Kette, ebenso aus Knochen, an dem ein birnenförmiges Etwas baumelte. Dieses Etwas hatte Veit nach einem weiteren Satz identifiziert, und das war der Moment, in dem er sich wünschte, keine Augen zu haben, nicht sehen zu können.
    Dort an dieser blanken Knochenkette hing, geschrumpft, verschrumpelt, haarlos, grau und präpariert, der Kopf von Roderich Güldenring. Die Schatten hatten den Kopf seines Vaters entstellt, zur Trophäe genommen und ihn ihrem Knochenbiest umgehangen. Stumm und wehklagend wirkten die verzerrten Gesichtszüge, die kaum noch menschlich wirkten, für Veit aber in unverkennbarer und schmerzhafter Weise die seines Vaters waren. Ab diesem Moment der Erkenntnis brach alles zusammen.
    Veit sah den Seelenfresser noch Feuer spucken, wie es sonst nur die Lindwürmer taten, und auf ihn zu rauschen, gefolgt von unzähligen Schergen, die sich im Kampfgetümmel mit ein paar zurückgekehrten Dämonenjägern mischten. Aus einem Gefühl heraus suchte Veit in dem Durcheinander nach Nate, doch er fand ihn nicht, Nate war vermutlich schon über die Brücke geflohen. Er glaubte noch, den stämmigen Körper Masons zu erkennen, aber dann lag Veit schon am Boden, bekam Tritte in Bauch und Brust, bis er auf einmal hochgeschleudert wurde und gegen eine der Felswände klatschte. Dann wurde es kurz hell, und dann heiß. Nur noch heiß. Heiß in seinem Gesicht, heiß an seinen Armen, seinen Beinen, seinem ganzen Leib. Veit wollte den Schmerz ignorieren, rappelte sich irgendwie auf und schlug wild und blind um sich, in der Hoffnung, dieses elende Biest, dieses verrottende Knochengerüst irgendwie zu erwischen. Aber dann erwischte es ihn selbst scharf im Gesicht, heißes Blut floss in seine offenen Brandwunden. Dann spürte er, wie er erneut gegen eine Felswand gedrängt wurde, bekam einen ordentlichen Schub und fühlte ein Horn im Bein. Doch der Schmerz konnte kaum aufbranden, da wurde er von einem Reißen an seiner rechten Körperhälfte abgelöst, welches seinen Körper vor Pein richtiggehend kreischen ließ. Ein letzter Ruck ging durch seinen Leib, Veit fiel zu Boden, und dann wurde es kühl, ganz kühl. Er spürte sein Schwert nicht mehr in seiner Hand und versuchte nach ihm zu greifen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Mit einem letzten verschwommenen Blick sah er dann, warum all das Tasten nach seinem Schwert vergebens war. Der Arm, mit dem er nach seinem Schwert suchen wollte, war nicht mehr der seine, sondern hing quer in dem fleischlosen Maul des Seelenfressers, welcher triumphierend brüllend umhersprang und schließlich mit seiner neuen Errungenschaft tief zurück ins dunkle Land trabte. Und dann endlich ging Veits Wunsch, nichts mehr zu sehen, in Erfüllung.


    „Der Spiegel funktioniert nur, wenn du auch die Augen aufmachst.“
    Veit spürte den unangenehmen Lufthauch auf seiner offenen Haut, der von Nate verursacht wurde, wie er den aufgefundenen Handspiegel vor seinem Gesicht hin und her schwenkte.
    In Veits Kopf dröhnte es, und selbst mit geschlossenen Augen schien sich alles um ihn herum zu drehen.
    „Vielleicht will ich es ja doch nicht sehen.“
    Nate brummte vergnügt. Entschieden zu vergnügt. In diesem Augenblick verabscheute Veit ihn.
    „Sei keine Memme“, forderte er ihn auf und fügte hastig hinzu: „Ich mein, dass du keine bist, hast du ja schon bewiesen. Hunderte von Schatten, der garstigste aller Seelenfresser, ’zig gebrochene Knochen und eine eingestürzte Brücke. Das übersteht nicht jeder. Da wird dich ein kurzer Blick in den Spiegel ja nicht mehr umbringen.“
    „Die Brücke ist eingestürzt?“, fragte Veit, um vom Thema abzulenken.
    „Naja… es ist irgendwie passiert. Eldric war alles andere als erfreut, als wir es ihm gesagt haben. Kann ich nicht verstehen. So kommen immerhin keine Viecher mehr rüber.“
    Nate wedelte noch ein paar Male mit dem Spiegel.
    „Nun komm schon“, ermunterte er Veit, „einmal Augen auf und dann ist der Schrecken auch schon wieder vorbei. Wirst merken, es interessiert hier keine Sau, wie du aussiehst. Auch wenn du den Spitznamen deines Vaters jetzt wohl nicht mehr annehmen kannst. Aber was soll’s, wenn man ehrlich ist, hat ihm der ja auch nichts genutzt. Haste ja gesehen.“
    Seine Augen rissen sich selbst auf. Der Spiegel war bereits in Position, Veits Antlitz bildete sich in der matten Scheibe ab. Zumindest das, was von diesem Antlitz noch übrig geblieben war.
    Statt blonder Locken eine Glatze, wie sie fast alle Dämonenjäger trugen, nur verschmort, verwundet und gezeichnet von seinem aussichtslosen Kampf gegen den Seelenfresser. Die Augenbrauen waren fort. Seine Nase war nur noch zur Hälfte da, Bisswunden zeugten vom Verbleib ihres Restes. Sein rechtes Ohr hingegen war fast vollends verschwunden. Seine vormals blauen Augen hatten an Farbe verloren. Sein Mund war in der Mitte von einer tiefen Wunde gespalten, die an der Unterlippe bis ins Zahnfleisch hineinragte. Und sein Hals war braunes Leder. Als er sich besah, dachte er, der Spiegel würde immer matter werden, doch in Wahrheit waren es seine Augen, die das Bild immer trüber machten. Er blinzelte ein paar Mal heftig, und es tat weh. Seltsamerweise noch mehr, als alles andere wehgetan hatte. Er hatte nie so werden wollen wie diese Dämonenjäger, aber nun sah er bereits so aus. Nach nicht einmal drei vollen Tagen. Seine Lippen begannen zu zittern, seine Wangen wurden nun endgültig feucht. Und dann spürte er Nates Hand auf seiner Schulter.
    „Willkommen in Calador.“
    John Irenicus ist offline Geändert von John Irenicus (30.10.2014 um 16:52 Uhr)

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