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    Deus Avatar von Sir Ewek Emelot
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    Post [Story]Eine Geschichte über den Fehler, die falsche Person zu unterschätzen

    I. Die Eröffnung



    „Die durch sexuelle Erregung hervorgerufenen, physischen Reaktionen sind eine Erhöhung von Puls und Blutdruck, eine Öffnung der Sperrarterien an Penis und Klitoris, und infolgedessen eine Schwellung jener Sexualorgane. Während der Kopulation wird der Penis des Mannes in die weibliche Vagina eingeführt, die sexuellen Stimuli erhöhen das Erregungsniveau, und führen schließlich im Orgasmus zu Muskelkontraktionen und beim Mann zur Ejakulation.
    Bei alledem handelt es sich um eine denkbar simple Angelegenheit. Die meisten uns bekannten Tierarten mit Ausnahme der meisten Fische scheinen sich dieser Art der Fortpflanzung zu widmen. Die Stimuli sind größtenteils körperlicher Natur, die sich daraus ergebende, sexuelle Befriedigung von nur kurz anhaltender Dauer.
    Um es kurz zu machen: Ich kann die traurige Anhänglichkeit vieler Menschen an diese Betätigung von höchst fragwürdiger Appetitlichkeit nicht verstehen. Die Vorstellung alleine bereitet mir ein wenig Unbehagen. Dass ich mit dieser Einstellung offenkundig recht alleine dastehe, das gehört zu der Vielzahl an Enigmen, mit denen ich mich täglich konfrontiert sehe. Dass dieses Enigma mir ausgerechnet bei den Menschen am häufigsten begegnet, zu denen ich mich in der allergrößten, emotionalen Nähe sehe, macht mir den Umgang damit mitnichten leichter.
    Einerlei: Ich bin es gewohnt, und so war ich keineswegs überrascht, die Plätze meiner Eltern einstweilen verwaist vorzufinden. Bereits im Vorfeld war mir ihr Balzverhalten keineswegs entgangen. Ich vermutete, dass sie sich in die nebenan liegende Erkerkammer zurückgezogen hatten, um sich ihrer Lieblingsbeschäftigung zu widmen. Ich bin mir relativ sicher, dass viele andere ob derlei scheinbarer Gleichgültigkeit zu einer gewissen Entmutigung geneigt hätten. Ich dagegen weiß die Triebbefriedigung meiner Eltern problemlos als dasjenige einzuschätzen, was sie ist: Eine lästige, aber im Übrigen nicht sonderlich gewichtige Schwäche, eine, die hier zu erwähnen kaum berechtigt erscheint. Ja, ich frage mich in der Tat, warum ich hier so viel Raum darauf verschwende. Zugegeben: Ich finde die Vorstellung, insbesondere in Bezug auf meine Eltern, ein wenig unbehaglich (sagte ich das bereits?). Aber es ist ja nun wirklich keine große Sache. Ich weiß damit umzugehen. Nein, wirklich! Wer dies nicht glaubt, wird schnell eines besseren belehrt: Damals geschah dies in der Tat binnen 21 Zügen, denn ebenso lange dauerte es, bis die Gesichtszüge meines Kontrahenten kurzzeitig entgleisten, um sich kurz darauf zu einem etwas zerknirschten Lächeln zu verziehen. Mein Kontrahent reichte mir die Hand und gratulierte mir zu meinem Sieg.
    Obwohl er wirklich kein sonderlich guter Schachspieler war, muss ich ihm doch zugutehalten, dass er die Niederlage ungewöhnlich sportlich aufgenommen hat: Die meisten anderen Meister reagieren weit unleidlicher darauf, von einem Dreizehnjährigen geschlagen zu werden.


    Die Reaktionen im Publikum beliefen sich weitgehend auf überrascht-höflichen Applaus. Eine Ausnahme bildeten natürlich meine Eltern, die sich etwa beim 16. Zug zu ihren Plätzen in der vordersten Reihe begeben hatten, was mich zu der Rechnung bewegt, dass ihr Aufenthalt in der Erkerkammer ungefähr einundzwanzig Minuten und dreiunddreißig Sekunden gedauert habe, was meinen Berechnungen zufolge ungefähr sieben Minuten zu wenig war, um einen beidseitigen Orgasmus herbeizuführen. Ich kann an dieser Stelle nur meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass der Sieg ihres Sohnes meiner Mutter einen hinlänglichen Ausgleich verschaffte, und angesichts ihres durchaus stolzen Gesichtsausdruckes bin ich durchaus davon überzeugt, dass dem in der Tat der Fall war. Allerdings will ich nicht ausschließen, dass dies eher einer gewissen, durch Wünsche bedingten Störung meines Urteilsvermögens geschuldet sei.
    Mein Vater jedenfalls, wie üblich, applaudierte mit einigem Elan, was zwar seinem Temperamente ganz und gar, der Würde der Veranstaltung aber nicht so ganz entsprach, und bei den Umsitzenden doch ein wenig Stirnrunzeln hervorrief. Ich persönlich aber nahm die Freude meiner Eltern sehr wohlwollend zur Kenntnis. Markus, der Hausdiener der Familie, der mir auf Bitten meiner Eltern kaum je von der Seite wich, gratulierte mir mit wohlwollender Zurückhaltung, reichte mir Mantel und Hut und verzichtete auf den Versuch, mir auch den albernen Spazierstock auszuhändigen, dessen Gebrauch ich standhaft zu verweigern pflege: Lieber will ich auf allen Stand verzichten, als mich mit solchem Firlefanz der Lächerlichkeit preiszugeben! Dass mir Markus das dämliche Dinge beständig hinterherträgt, das ist schon schlimm genug.

    „Hervorragend, Sohn, ganz hervorragend“, lobte mich mein Vater, mir auf die Schulter klopfend, nachdem ich mich nach der offiziellen Kundgebung des Ergebnisses zu meinen Eltern begeben hatte.
    „Mich hat der Bauer auf B5 ein wenig gewundert“, stellte meine Mutter sachlich fest, „doch im Endeffekt war das ziemlich genial.“
    Mein Vater runzelte verwundert die Stirn. „Wann war das denn?“, fragte er.
    Meine Mutter verdrehte die Augen. „Das war Zug 14, da waren wir... äh, da waren wir noch nicht da.“
    Ich wusste, dass meinem Vater die Frage auf der Zunge lag, woher sie denn wusste, was mein 14. Zug gewesen sei, wo sie der Partie doch erst ab dem 16. hatte beiwohnen können. Doch er verkniff sich die Frage, wusste er doch, dass er die Antwort nicht verstanden hätte. Meine Mutter verfügt über ein ausgesprochen begnadetes, strategisches Denkvermögen. Sie selbst hätte sicherlich ebenfalls an dem Turnier teilnehmen können. Nicht ganz so erfolgreich, wie ich, aber gleichwohl mit respektablen Ergebnissen. Mein Vater ist bei derlei Dingen eher zur Passivität verdammt, was ihn aber in der Regel nicht stört: Es hat vor allen Dingen den Anschein, als steigere die Zurschaustellung der Intelligenz meiner Mutter seine ohnehin schon ausgeprägte Libido noch weiter, was denn in der Regel eher zu intensiverem Balzverhalten als zu sachbezogenem Austausch führt.

    An dieser Stelle möchte ich kurz einhaken, um etwas unmissverständlich klarzustellen: Es mag nämlich den Anschein haben, als sei mein Respekt gegenüber meinen Eltern, insbesondere meinem Vater, unangebracht gering ausgeprägt. Sollte dem so sein, so muss ich dies in aller Entschiedenheit dementieren. Im Gegenteil: Ich empfinde die allergrößte Zuneigung und den höchsten Respekt gegen sie. Zugegeben: Ihrer Fehler sind viele. Doch ändert dies nichts daran, dass sie sich der Befriedigung meiner emotionalen Bedürfnisse mit einigem Erfolg widmen. Zudem muss ich, gerade in Bezug auf meinen Vater, durchaus eine gewisse Begabung einräumen, deren spezifische Qualität sich meinem Verständnis mehr oder weniger entzieht – was übrigens eine relative Seltenheit ist. Sicherlich: In vielen Bereichen lässt es mein Vater an grundlegenden Kenntnissen mangeln. Doch angesichts seiner erheblichen Erfolge in andern Belangen drängt sich mir zuweilen der Eindruck auf, als sei dies vor allem mangelndem Interesse geschuldet. Zwar verstehe ich nicht, wie man sich für Anatomie, analytische Geometrie oder Astronomie (um nur ein paar Beispielfelder zu nennen) nicht interessieren kann, doch bleibt mir nichts anderes übrig, als diese weitgehende Gleichgültigkeit wider die Wissenschaften zu akzeptieren. Ich nehme indes an, dass seine Neigung zu eher sentimentalischen Beschäftigungen einer der Gründe dafür gewesen sein dürfte, deretwegen er die anhaltenden und überschwänglichen Sympathien meiner Mutter errang – selbst, wenn ich für seinen Scharfsinn und seine musische Begabung keinerlei Achtung aufzubringen in der Lage wäre, hätte ich also gleichwohl einigen Grund, ihnen doch wenigstens mit einer gewissen Dankbarkeit zu begegnen.

    Derweil mein Vater, trotz seines Unverständnisses angetan von der scharfsinnigen Analyse des Spiels durch meine Mutter, dem Ausdruck seiner Affektionen keinen Abbruch tat, studierte ich den Turnierplan. An jenem Tage sollten insgesamt vier Begegnungen stattfinden, von denen jeweils zwei zur selben Zeit liefen. Derweil ich meinen Gegner Schachmatt gesetzt hatte, waren also noch zwei weitere Kontrahenten aufeinandergetroffen: Ein Kerl namens Pallas, der offenbar – wie ich! - das erste Mal an diesem Turnier teilnahm, und Jordan von Wizeck, der seit Jahren als der dominierende Schachspieler Myrtanas gefeiert wurde. Ich hätte dieser Partie zu gerne beigewohnt, schließlich hätte es mir wichtige Daten zu meinen Konkurrenten geben können, insbesondere zu von Wizeck. Die Aussicht, während des Turniers auch auf ihn zu treffen, löste einen gewissen Zwiespalt in mir aus: Auf der einen Seite die Vorfreude, bald gegen den offiziell besten Schachspieler der Welt zu spielen, aber auf der anderen Seite auch eine gewisse, nun, ich möchte nicht sagen Furcht, eine Art Nervosität. Immerhin war von Wizeck der einzige Spieler, dem ich echte Chancen auf einen Sieg einräumte.
    „Lasst uns nach Halle B gehen“, schlug ich meinen tändelnden Eltern vor. Ich vermutete, dass die besagte Partie noch im Gange war, hatte ich meinen Gegner doch ziemlich schnell bezwungen. Anstatt auf eine Bestätigung zu warten, setzte ich mich kurzerhand in Bewegung, den treuen Markus im Schlepptau. Meine Eltern würden schon aufschließen.

    Als ich mich der Halle B näherte, die für gewöhnlich das Musikzimmer des gelderner Schlosses war, und lediglich einmal jährlich für das weltbekannte und internationale Schachturnier zweckentfremdet wurde, fand ich die Türen des Saales geöffnet, und das Publikum in aufgeregt quasselnden Grüppchen herumstehen. Offenbar war ich doch zu spät gekommen. Von Wizeck hatte mit dem Neuen offenbar kürzeren Prozess gemacht, als ich erwartet hatte.
    Als ich die Tür des Saales passierte, fiel mein Blick auf die Bühne: An dem ansonsten verwaisten Schachtisch saß einsam und mit hängenden Schultern ein etwas älterer Herr. Mein Blick wanderte zu der Anzeigetafel, auf welcher Gehilfen laufende Partien dokumentierten, damit das Publikum dem Geschehen folgen könne. Die Endstellung des Spiels war darauf erkennbar, ebenso wie das Ergebnis: Die Partie hatte 22 Züge angedauert.
    Der Sieger war Pallas.


    Es ist wohl selbstredend, dass das Ergebnis dieser Partie für mich wie auch den Rest der Schachwelt einigermaßen schockierend war. Wie lange genau von Wizeck noch trauernd in der sich leerenden Halle saß, weiß ich nicht. Ich jedenfalls versuchte vielmehr, Informationen über den Verlauf zu erhalten. Bedauerlicherweise waren die während des Spiels erstellten Protokolle nicht einsehbar, und ihre Übertragung in öffentlich zugängliche Broschüren wäre erst am Folgetag abgeschlossen. So zog ich mich alsbald in meine und meiner Eltern Gemächer zurück, um mich innerlich für den folgenden Tag zu wappnen. Ich hatte damit gerechnet, dass die eigentliche Herausforderung für mich erst am 3. Tag des Turniers beginnen werde, an dem mir eine Begegnung mit Anastasia Jaklob bevorstand, einer hervorragenden Schachspielerin aus dem Königreich Khorinis. Nach dem Überraschungserfolg des unbekannten Pallas dagegen würde der Ernst des Turniers für mich nun früher beginnen. Denn meine erste Begegnung mit diesem unmöglich einschätzbaren Gegner sollte bereits am kommenden Tag stattfinden, gegen ein Uhr nachmittags. Gerade genug Zeit, sich am Morgen eine der Broschüren über die vergangene Partie zu sichern und die Strategie des Pallas zu analysieren. Bis dahin wollte ich meine Zeit in innerer Einkehr und Meditation verbringen.


    Meine Eltern hatten die Freundlichkeit besessen, mir die geforderten Unterlagen zu besorgen, so dass ich mich den ganzen Morgen bis zur Mittagsstunde ganz ungestört hatte vorbereiten können. Informationen zu diesem Pallas besaß ich absolut keine, er war ein gänzlich unbeschriebenes Blatt. So, wie ich. Dementsprechend hatte er mir gegenüber genau denselben Nachteil, wie ich ihm, bzw. ich ihm gegenüber denselben Vorteil, den auch er gegen mich hatte. Es bereitete mir ein wenig Wohlbehagen, mir vorzustellen, dass er unserer Begegnung mit einer ganz ähnlichen Nervosität entgegenfieberte, wie ich es tat. Doch zu meinem Leidwesen musste mein unbestechlicher Verstand eine höchst unangenehme Wahrheit immer wieder ins Zentrum meiner Erwägungen rücken: Pallas hatte gegen Jordan von Wizeck gewonnen, in nur zweiundzwanzig Zügen. Ich hatte meinen Gegner in einundzwanzig Zügen schachmatt gesetzt – allerdings war das auch lediglich Antonio Di Gallibri gewesen, der bei weitem nicht an das Genie eines von Wizeck heranreichte. Die Wahrscheinlichkeit also, dass mein Sieg dem guten Pallas eine ähnliche Unannehmlichkeit bereitete, wie es umgekehrt der Fall war, war ziemlich gering.


    Man muss meinen Eltern zugutehalten, dass sie in wahren Notlagen stets zur Stelle sind. Derweil mein Vater mir mit wohlgesetzten Worten Mut machte, half mir meine Mutter bei der Analyse des Spiels von Wizeck gegen Pallas, das ein wirklich grandioses Zeugnis von des letzteren Genialität war: Im Laufe des Spieles hatte Pallas einen Läufer, beide Türme sowie seine Dame geopfert, um seinen Gegner sodann mit den restlichen drei Leichtfiguren zu bezwingen. Es war leicht abzusehen, dass diese Partie in die Geschichte eingehen und unsterblichen Ruhm erlangen würde.
    Man mag es nicht unbedingt glauben, doch die Stunden bis zum Mittag vergingen mit besagter Beschäftigung recht schnell, und alsbald machte ich mich bereit, meine zweite Begegnung in dem Turnier anzugehen. Abgeschirmt durch meinen Vater zur linken, meine Mutter zur Rechten und Markus hintan, erreichte ich den Austragungsort recht früh, wie schon am Vortag Halle A. Meine Eltern hielten sich voneinander auffällig zurück, und Markus hatte den verhassten Spazierstock nicht einmal mitgenommen. Ich nahm auf meinem bereits bereitstehenden Stuhl Platz, schloss die Augen und ging in Gedanken noch einmal allerlei bekannte Schachpartien durch, verglich die üblichen Strategien mit dem wenigen, das mir bislang von Pallas bekannt war und versuchte, auf dessen allgemeine, strategische Denkweise zu folgern.

    Nur am Rande nahm ich wahr, dass sich die Halle langsam füllte, die Schiedsrichter die Bühne betraten, Gehilfen die Anzeigetafel vorbereiteten, auf der sie mittels Schilder, die in Form eines Schachbretts angeordnet waren, jede sich ergebende Konstellation darstellen würden.
    Endlich schien auch mein Gegenspieler einzutreffen. Derweil sich das allgemeine Gemurmel unter den Zuschauern legte, und die beiden Kontrahenten angekündigt wurden, zog ich mich langsam aus meiner inneren Versenkung zurück, gerade rechtzeitig, um meinem Gegner zum rechten Zeitpunkt zur Begrüßung die Hand zu reichen. Ich öffnete meine Augen, gespannt, wie dieser ominöse Pallas aussehen würde.
    Man kann sich meine Verwunderung sicherlich denken, als ich mich einem ziemlich kleinen, dunkelhaarigen Mädchen gegenübersah.


    Ich bin mit Worten bei weitem nicht so gut, wie mein Vater. Mitunter beneide ich ihn ob seiner Eloquenz. Er erfreut sich damit bei allen Schichten der Gesellschaft, insbesondere aber beim weiblichen Geschlecht – allen voran meine Mutter – einiger Beliebtheit. Nicht, dass mir letzteres sonderlich erstrebenswert wäre. Vor allem aber weiß er bestimmte, spezifische Eindrücke außerordentlich treffend zu beschreiben. Ich persönlich bediene mich in der Regel einer eher sachlichen Ausdrucksweise. Die liebste Sprache ist mir in der Tat die Mathematik. Im Grunde sollte es so sein, dass es nichts geben dürfte, das sich nicht durch Mathematik oder doch zumindest in logischen Formeln ausdrücken ließe. Und doch: Ich kann nicht leugnen, dass diese doch so eindeutigen und präzisen Ausdrucksformen zuweilen kläglich scheitern.
    Dementsprechend möge man mir bitte verzeihen, wenn meine nun folgenden Worte dem Eindruck, den Pallas auf mich hatte, kaum gerecht zu werden vermögen. Wenn ich mir ihr Antlitz vor Augen rufe, oder besser noch: Jene erste Begegnung mit ihr, dann... nun, dann kann ich nicht anders, als die mir in den Sinn kommenden Worte als schal und sonderbar unzulänglich aufzufassen.
    Sicherlich: Wenn ich das Wort „schön“ benutze, so scheint mir dies eine eigentlich adäquate Beschreibung zu sein. Logisch betrachtet bedeutet dies nur, dass die Aussage „Pallas ist schön“ wahr ist, bzw. dass es wahr ist, dass die Eigenschaft „schön“ ihr zukommt. Man könnte auch sagen, dass es wahr ist, dass Pallas zu der Menge derjenigen Objekte in der Welt gehört, denen das Attribut „schön“ zukommt.
    Doch nichts von alledem weiß auch nur im Mindesten zum Ausdruck zu bringen, was ich damals empfand – oder heute, wenn ich mich daran erinnere.

    Pallas ist jung. Ziemlich jung. Ich würde sie auf vielleicht zehn Jahre schätzen. Darum sei an dieser Stelle klargestellt, dass die Schönheit, von der ich spreche, eine in keinster Weise erotische Schönheit ist. Wer mir eine irgendwie physisch geartete Affektion unterstellen wollte, könnte von der Realität kaum weiter entfernt sein. Die Schönheit der Pallas war eine eher... nun, ich kann sie möglicherweise am ehesten durch einen Vergleich beschreiben: Wer die Werke des meisterlichen Malers und Bildhauers Lodovico d'Onibro kennt, dem wird womöglich zuallererst das Deckengemälde der Kuppel des Vengarder Domes in den Sinn kommen. Nämliches Gemälde nun beinhaltet eine Reihe von Darstellungen von Motiven aus der heiligen Schrift. Die Schönheit der Pallas nun scheint mir am ehesten durch einen Vergleich mit den Engeln jenes Deckengemäldes erfasst. Als ich Pallas das erste Mal sah, strahlte mir eine gewisse Würde entgegen, eine Grazie, wie ich sie nicht einmal bei Mutter erlebt habe. Markante, durchaus kraftvolle Gesichtszüge, ein recht niedliches Näschen, und schillernd grüne Augen, aus denen in jenem Moment nicht nur ein unschlagbarer Intellekt, sondern vor allem Kampfeslust blitzten.
    Ihr Anblick wäre sicherlich vollkommen ehrfurchtgebietend gewesen, hätte sie nicht nervös auf der Unterlippe herumgekaut und aufgeregt herumgehibbelt.

    Bevor mir Pallas eine zartgliedrige Hand entgegenstreckte, blies sie sich eine recht widerborstige Strähne ihres Haares aus dem Gesicht und verzog etwas unwillig ihr ansonsten reizendes Gesicht zu einer etwas unleidlichen Miene. Ihr Händedruck war keineswegs so schwach, wie ich es angesichts ihres doch recht schmächtigen Leibes erwartet hätte, doch muss ich einräumen, dass ich selbst auch nicht gerade zu den stattlichsten Vertretern meines Jahrgangs gehöre, und mein Urteil andernfalls vielleicht anders ausgefallen wäre.
    „Hallo“, sagte sie nur, mit piepsiger Mädchenstimme und ein wenig trotzigem Unterton, entzog mir ihre Hand und setzte sich. Auch ich nahm wieder Platz, und führte bald den ersten Zug, als mir durch das Los die weißen Steine zugeteilt waren.

    Diesmal waren meine Eltern das ganze Spiel über anwesend, doch wünschte ich beinahe, sie wären es nicht gewesen. Dabei ist es keineswegs so, dass ich Pallas unterlegen bin. Ich war nur wohl an jenem Tage nicht ganz in Form. Ich nehme an, dass die Überraschung doch zu groß war, ich sie wohl ihres geringen Alters wegen unterschätzt habe. Das ist aber nun wirklich keinerlei Grundlage für eine sichere und zutreffende Einschätzung unseres Vermögens. Ganz und gar nicht.
    Es ist also nur einem gewissen, nun, sagen wir einer Art Unglück geschuldet, dass ich eine Reihe von höchst bedauerlichen Fehlern machte. Die Fehler, die ich machte, waren von recht subtiler Art, und so blieben sie den Zuschauern und Richtern ebenso verborgen, wie zunächst auch mir. Einzig meine Mutter dürfte vielleicht eine Ahnung gehabt haben, was dieses Gör von Schachmeisterin da ausheckte. Einerlei: Als ich den Plan durchschaute, war es zu spät. Ich fand mich in einer Situation, in der ich entweder innerhalb der nächsten sieben Züge verloren haben würde, oder aber so viele meiner Figuren hätte opfern müssen, dass ich im Folgenden keinerlei Chance mehr gehabt hätte.
    Ich betrachtete meine Gegnerin, die mit gerunzelter Stirn das Spielbrett musterte. Trotz der für sie vorteilhaften Lage war sie offenkundig noch immer recht nervös. Ich vermutete, dass sie vor allen Dingen durch die Größe des Turniers und das Publikum eingeschüchtert war.
    Da kam mir eine Idee.
    Da mir ohnehin kein gangbarer Weg hin zu einem Sieg offenstand, konnte ich es ebensogut riskieren: Den Zug, den ich machte, kann man nur als allergröbste Dummheit bezeichnen. Es war ein so offensichtlich falscher Zug, dass es selbst die Zuschauer bemerkten, und ihrer Verwunderung durch erstauntes Raunen Ausdruck verliehen. Pallas blickte auf, und ich erwiderte ihren Blick mit der größtmöglichen Herablassung, zu der ich mimisch in der Lage bin.
    Und was soll ich sagen: Mein Plan ging auf!
    Sie hätte an dieser Stelle die Partie schnell beenden können. Nur eine kleine Bewegung der Dame, und meine Niederlage wäre unabwendbar gewesen. Doch sie wollte richtig gewinnen. Nicht wie ein Kind, das man gewinnen lässt, sondern als vollwertiger und vollkommen ernstgenommener Gegner. Diese Möglichkeit hatte ich ihr mit meinem Zug genommen – zu einem Zeitpunkt, als wohl noch niemandem meine drohende Niederlage aufgefallen war. Pallas wusste: Wenn sie auf meinen Köder einging, wäre ihr Sieg in den Augen der Leute schal und leer.
    Pallas zog ihre Dame zurück. Und öffnete mir damit den Raum, mein Spiel wieder zu sammeln.

    Ich würde gerne von der Befriedigung sprechen, die Pallas immer größere Nervosität in mir ausgelöst habe, dass es eine Genugtuung gewesen sei, ihr immer öfter ertönendes, empörtes Schnauben zu hören, zu beobachten, wie sie immer unruhiger auf ihrem Stuhl auf und ab hibbelte, sich immer häufiger diese Haarsträhne aus dem Gesicht blies.
    Doch mein Sieg war letztlich nur die Folge eines ziemlich gemeinen Tricks.
    Ich muss es eingestehen: Strategisch hätte mich Pallas geschlagen, wäre sie nur abgebrühter gewesen. So war es letztlich nur ihr kindlicher Trotz, der mich gewinnen ließ. Als ich schließlich das Schachmatt ankündigte, standen ihr Tränen im Gesicht, doch dem Blitzen in ihren Augen war deutlich anzusehen, dass es vor allem Tränen der Wut waren. Dem Blitzen in ihren Augen – und dem Auftreten des in Sandalen steckenden Füßchens, mit dem sie ihre Niederlage kommentierte.
    Obwohl es wirklich kein sehr sauberer Sieg meinerseits gewesen war, hätte sie den Ausgang doch durchaus mit etwas mehr Sportlichkeit aufnehmen können. Doch wirklich verdenken kann ich es ihr nicht. So erleichtert ich doch war, muss ich doch gestehen, dass ich auf meine Leistung damals keineswegs stolz bin.
    Und das Gefühl, das ich empfand, als Pallas wutschnaubend und mit Tränen in den Augen die Bühne verließ, ist schwer zu beschreiben. Ich glaube fast, dass es Bedauern war.
    Geändert von MiMo (30.03.2017 um 22:01 Uhr)

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    II. Für Freizeit hab' ich nicht genug Erfahrung


    Es spricht wohl für ihr Einfühlungsvermögen, dass sowohl Markus als auch mein Vater die Situation umgehend begriffen hatten, obwohl sie den eigentlichen Spielverlauf – im Gegensatz zu meiner Mutter – wohl kaum verstanden haben dürften. Dass sie es begriffen hatten, war ihren Reaktionen jedenfalls deutlich anzumerken.
    „Mach Dir nichts draus“, sagte meinte Vater, „sie wird über die Niederlage schnell hinwegkommen. Und ein bisschen Lehrgeld mussten wir noch alle zahlen.“
    „Denk nur an Deine eigene Partie damals“, pflichtete meine Mutter ihm bei und spielte dabei auf meine erste Teilnahme an einem Wettbewerb an, als ich gegen eine lokale Schachlegende gewonnen hatte. Der alte Knacker war kein Gegner gewesen, doch hatte er mich mit einem ähnlich miesen Trick, wie ich ihn gegen Pallas verwendet hatte, zeitweilig aus dem Konzept gebracht.
    Markus dagegen sagte kein Wort, sondern drückte mit zusammengekniffenen Lippen seine Missbilligung aus. Im Gegensatz zu meinen Eltern ist ihm eine chevaleske Erziehung meiner Person ungemein wichtig, und mein Verhalten gegenüber der armen Pallas war ihm ein offenkundiger Verstoß wider Ritterlichkeit und Ehre.
    Ich indessen hielt mich eher bedeckt. Es gab keinen Grund, meine eher gemischten Gefühle mitzuteilen, zumal ich vollkommen regelkonform gespielt hatte. Dass ich also eine gewisse Unzufriedenheit verspürte konnte nur eine höchst sonderbare Verwirrung meiner Emotionen bedeuten, möglicherweise eine Art mir unerklärlicher, pubertärer Anwandlung. Oder... irgendeine Sentimentalität. Oder sowas. Ich... nun, ich kann wirklich nicht genau bestimmen, was damals in mir vorging, und offen gestanden hat sich dies bis heute nicht geändert. Ich bin persönlich der Auffassung, dass Gefühlen ein viel zu großer Platz eingeräumt wird. Es ist doch offensichtlich, dass es sich dabei um eine Art psychischer Störung handelt. Nun bin ich mir natürlich vollauf im Klaren, dass viele ausgesprochen kluge Köpfe hier eine gänzlich andere Meinung vertraten, darunter selbst dergestalt verehrte Persönlichkeit wie Barthos von Laran, Melchior Candidus, Garnau Klaufen oder Meister Saturas. Doch ich bin der Ansicht, dass es sich bei den diesbezüglich affirmativen Äußerungen besagter Persönlichkeiten eher um eine Art Konzilianz gehandelt haben muss, ein Entgegenkommen für das gemeine Volk, das eigentlich mit der Rationalität dieser großen Denker nicht recht übereinstimmt. Möglicherweise spielte auch eine gewisse Resignation dahinein, die Kapitulation vor der menschlichen Natur, die Gefühle ja nun einmal beinhaltet. Doch nur, weil wir sie nun einmal haben, müssen wir ihnen doch nicht beständige Nachsicht zuteilen, nicht wahr?

    Die Besorgnis meiner Eltern jedenfalls rührte mich, verfehlte allerdings doch den eigentlichen Kern meiner Befindlichkeit. Denn nicht so sehr die Scham ob eines halb erschummelten Sieges trieb mich um. Nein, meine Gedanken kreisten schlicht und ergreifend um dieses Mädchen, um Pallas. Sie hatte mich doch irgendwie beeindruckt, was nun wirklich nicht sehr vielen Menschen gelingt. Da mag man die Tugend der Bescheidenheit auch noch sehr loben, letztlich ist sie doch nur eine Art Selbstbetrugs – eines altruistischen Selbstbetruges vielleicht, aber Betrug nichtsdestotrotz. Zumindest in meinem Falle.

    An jenem zweiten Tage des Turniers würden keinerlei bedeutende Spiele mehr stattfinden, und so beschloss ich, mich nicht weiter damit zu beschweren. Stattdessen gedachte ich, den übrigen Tag der Entspannung und der emotionalen Erbauung zu widmen. Das schien mir wichtiger, als den übrigen Begegnungen beizuwohnen und dabei eventuell Daten zu sammeln. Dies mag angesichts meiner früheren Worte widersprüchlich erscheinen, doch mitunter ist die emotionale Ausgeglichenheit von größerer Bedeutung als die bloß sachbezogene Vorbereitung.
    Da ich alleine zu sein wünschte, weckte ich meiner Eltern reziproke Begierde durch die beiläufige Erwähnung einiger, gewisser Poesien, und erinnerte den verblüfften Markus an den vergessenen Spazierstock. Nicht, dass er meine List nicht durchschaute, doch blieb ihm wohl oder übel nichts anderes übrig, als das blöde Ding holen zu gehen, derweil sich meine turtelnden Eltern anderweitig absentierten.

    Ich war also alleine, und hatte also die Möglichkeit, zu tun, was immer mir beliebte. Das stellte mich vor das Problem, eine Entscheidung treffen zu müssen. Im Grunde bin ich nicht gerne unter Menschen, insbesondere nicht unter Fremden. Darum ist mein natürlicher Aufenthaltsort wohl mein jeweiliger Wohnraum, im damaligen Falle also die Gemächer, zu denen aber ja leider der gute Markus unterwegs war.
    So beschloss ich, erst einmal durch die prächtigen Korridore des Schlosses gen Ausgang zu schlendern. Der Fürst von Geldern hat ein ausgesprochen opulentes Schloss, von moderner Architektur und noch modernerer Einrichtung. Anders als die alten Burgen im übrigen Myrtana diente das Fürstenschloss vornehmlich der Repräsentation und dem Komfort, und wusste es in dieser Hinsicht mit den varantiner Palästen oder den Prachtbauten von Biblur und Jharkendar aufzunehmen.
    Als ich erst in die große Eingangshalle und schließlich durch das Tor auf den Vorhof gelangte, bot sich mir der den Augen überaus angenehme Anblick des fürstlichen Lustgartens. Bei diesem handelt es sich um ein Meisterwerk der Gartenarchitektonik, eine feinsinnige Komposition von Bäumen und Blumenbeeten, weitschweifigen, von Bächen und Teichen durchzogenen Rasenflächen und allerlei dazwischen verstreuten und mit Kieswegen verbundenen Lauben, Springbrunnen, Sitzgrüppchen und vergleichbaren Accessoires.
    Ich beschloss, einmal zu versuchen, ob nicht auch mir das Lustwandeln in Lustgärten einen gewissen Reiz bereiten möge, und setzte mich sodann in Bewegung.

    Ich muss einräumen, dass mir beim Begehen des Gartens die allseitige Faszination für derlei Orte nicht ganz verschlossen blieb. Sicherlich ist es eine sonderbare Sache, durch künstlich angeordnete Natur zu laufen, wo es doch ebenso gut möglich wäre, einfach in die richtige Natur zu gehen, wenn man denn schon das Bedürfnis nach Bewegung verspürt. Bereits Candidus pflegte die unendliche Vielfalt der Naturschönheit weit über die schnöde Kunst und ihre Einschränkungen anzusiedeln. Doch unangenehm war mir der Spaziergang jedenfalls nichts. Ich kann auch nicht behaupten, dass mir ein Stock dabei gefehlt hätte, eher bin ich der Meinung, dass ein solches Ding mir dabei lästig gewesen wäre. Ich beschloss also, Markus am Abend von meiner Beobachtung zu berichten, in der Hoffnung, ihn von der vollkommenen Nutzlosigkeit jenes Utensils zu überzeugen.
    Wie lange genau ich denn so lustwandelte, oder wie man auch immer solch eine Art des Spazierengehens nennen mag, weiß ich sehr genau zu bestimmen, nämlich am Stand der Sonne: Als ich an einem Pavillon angelangt war, der offenbar eine Art Etablissement beherbergte, in dem Erfrischungen für die fürstlichen Gäste ausgeteilt wurden, waren exakt ungefähr dreieinhalb Stunden vergangen, wie ich am Sonnenstande bemerkte, der relativ präzise eine Uhrzeit von zwischen viertel nach fünf und viertel vor sechs anzeigte. Die Sonne senkte sich also schon ein wenig, und ein Dichter wie mein Vater würde an dieser Stelle wohl von den besonderen Farbtönen am Himmel oder irgendeinem Schattenwurf der Bäume oder was weiß ich erzählen. Ich kann jedenfalls nicht behaupten, dass der Anblick mir unangenehm gewesen wäre.
    Da ich nun also doch einige Zeit unterwegs gewesen war, entsprechend müde und erhitzt, beschloss ich, in zuvor erwähnter Lokalität einzukehren, und mir an den unter den Bäumen aufgereihten Tischen irgendeine Erfrischung zukommen zu lassen.

    Meine Eltern haben bei meiner Erziehung sehr darauf geachtet, dass ich eine umfangreiche Bildung aufnehme. Zu diesem Zwecke besuche ich seit nunmehr drei Jahren das Quarhodron-Gymnasium in Jharkendar. Obgleich von meinem Zuhause weit entfernt, sind die hervorragenden Lehrkräfte aus dem Kreis des Wassers, der Zugang zu biblurer Wissenschaft, das pädagogische Konzept und die ausgezeichneten Kurrikula unumstößliche Argumente, das dortige Internat zu besuchen. Selbstverständlich erlerne ich dort nicht nur die Grundlagen moderner Wissenschaften, sondern die umfassende Ausbildung schließt allerlei historische, soziologische, sprachliche, philosophische und kulturelle Gegenstandsbereiche mit ein. Nicht alles davon liegt mir sonderlich, doch sehe ich ein, dass auch eine umfassende, kulturelle Bildung wohl in unserer Gesellschaft von Nutzen sein kann.
    Entsprechend bin ich mir sehr wohl bewusst, dass die nun folgende Wendung allzu konstruiert erscheinen mag. Da lerne ich heute, nach langer Zeit der gespannten Ungewissheit, dieses Mädchen Pallas kennen, und was geschieht mir, der ich nichtsahnend bloß ein Getränk zu mir nehmen will? Natürlich: Ich treffe auf ebenjene Pallas. Man möchte fast meinen, dass es sich um eine schicksalhafte Begegnung handle, oder dergleichen. So man denn an Fügung und Schicksal glaubt.
    In jedem Falle saß sie da, an einem der Tische, einen ziemlich kunstvoll gestalteten Glasbecher vor sich, aus dem sie eifrig etwas löffelte, das ich sogleich als Speiseeis zu erkennen wusste. Der Eisbecher war übrigens für ein so kleines Persönchen ausgesprochen groß, war doch die ohnehin schon nicht unbeträchtliche Eisportion durch einen ordentlichen Schlag Sahne, weiters allerlei Obst und Soße ergänzt. Trotz des mittlerweile ramponierten Aussehens des Eisbechers – Pallas hatte bereits einen erklecklichen Teil davon verspeist – sah er ziemlich appetitlich aus, was mich offengestanden etwas verwunderte, da ich mir für gewöhnlich nicht sonderlich viel aus Süßigkeiten mache. Schließlich haben sie einen nicht sonderlich guten Nährwert und lenken allzu sehr von rationaleren Betätigungen als dem Essen ab. Zudem ist sinnliche Lust nun wirklich eher zu vernachlässigen.
    Ich war selbstredend unschlüssig, wie ich mich verhalten sollte. Schließlich war Pallas wohl kaum sonderlich gut auf mich zu sprechen. Andererseits konnte ich ja nicht so tun, als kenne ich sie gar nicht, das wäre doch wohl ebenfalls recht unhöflich gewesen. Ich beschloss also, mich ihr ein wenig zu nähern, zu schauen, ob sie mich denn erblicke, und dann von ihrer Reaktion abhängig zu machen, ob ich sie begrüßen würde oder nicht.
    Selbstverständlich sah sie mich, und verzog denn auch gleich ihr wunderschönes, um den Mund herum mit Schokolade und Eis verschmiertes Gesicht zu einer etwas unfreundlichen Grimasse. Und ja: Ich bin durchaus in der Lage, einen freundlichen von einem unfreundlichen Gesichtsausdruck zu unterscheiden.
    Aber, auch wenn es eine eher unfreundliche Reaktion war, so war es doch immerhin eine Reaktion, und so sah ich mich denn gezwungen, ihr ein zaghaftes: „Oh, hallo. Was machst Du denn hier?“ zuzuhaspeln.
    „Hallo“, erwiderte sie meine Begrüßung etwas weniger unfreundlich, als ich erwartet hatte. Ich stand unschlüssig herum und wusste nicht recht, ob ich mich zu ihr oder an den Nachbartisch setzen sollte. Ich bin, was allgemeine Konventionen und zwischenmenschliche Interaktionen anbelangt, mitunter ein wenig unbeholfen.
    „Du hast heute ziemlich gut gespielt“, versuchte ich von meiner Unsicherheit abzulenken, in der Hoffnung, dass ich aus der Art ihrer Reaktion folgern könne, wie ich mich im weiteren zu verhalten habe.
    „Aha“, antwortete sie wenig aufschlussreich.
    „Ja... also, fast hättest Du mich geschlagen. Ich rechne Dir ziemlich gute Chancen auf den Gesamtsieg aus.“
    Pallas hob eine Braue. „Was Du nicht sagst! Ich Dir leider keine, wenn Du weiterhin so dumme Fehler machst.“
    Ich hätte sie gerne darauf aufmerksam gemacht, dass ich die Partie ja nunmal gewonnen hatte, und sie somit formal betrachtet nicht gerade in der Position war, mich auf diese Weise zu kritisieren.
    „Formal betrachtet ist es ja nicht gerade so, als wäre ich in der Position, Dir sowas zu sagen“, fuhr sie fort, „aber seien wir mal ehrlich: Mit so einem billigen Trick kommst Du sicher nicht zweimal durch.“
    Ich scharrte etwas verlegen mit dem Fuß im Boden herum und setzte einen etwas zerknirschten Gesichtsausdruck auf.
    „Tur mir...“
    „Das muss Dir nicht leidtun“, fuhr sie dazwischen und blies sich ihre Haarsträhne aus dem Gesicht, „ich bin Dir auch nicht böse oder so. Jedenfalls nicht sehr. Willst Du eigentlich noch lange da so rumstehen? Irgendwie sieht das ziemlich lächerlich aus.“
    Ich machte einen Schritt auf sie zu, hielt inne, immer noch unschlüssig, da ich nicht wusste, ob ich dies als Aufforderung zu gehen aufzufassen hatte, oder als Aufforderung, mich zu ihr zu setzen.
    „Jetzt setz Dich doch endlich hin“, sagte sie, „ich habe hier doch nun wirklich genügend Stühle am Tisch!“
    Das war selbst für mich eindeutig genug.
    „Ist das Speiseeis?“, fragte ich sie beim Hinsetzen. Ihr Gesicht hellte sich auf.
    „Das ist ein Joghurt-Fruchtbecher, mit allem. Da sind Früchte bei, Joghurtsoße, drei verschiedene Fruchtsoßen, Schokoladenstreusel und ganz viel Sahne. Das Eis hier ist superlecker!“
    „Ist das nicht ein bisschen viel?“, wunderte ich mich. Pallas bedachte mich mit einem Blick, als habe ich etwas ausgesprochen dummes gesagt.
    „Natürlich nicht“, erklärte sie mit gewichtiger Miene, „aber Du kannst Dir selbst natürlich etwas Kleineres bestellen. Wenn Du meinst, dass Du so einen richtigen Eisbecher nicht schaffst. Ich jedenfalls kann so einen Becher ganz alleine essen!“
    Stolz demonstrierte sie mir die Wahrheit ihrer Worte, indem sie den länglichen Löffel in das Eis versenkte, eine ordentliche Portion herausschaufelte und sich genüsslich in den Mund steckte.
    „Du bist übrigens auch nicht schlecht“, nuschelte sie vollen Mundes, „nur ein kleines bisschen... hm, wie soll ich sagen? Ein bisschen altbacken. Beim Schach meine ich.“
    „Altbacken? Was... was meinst Du denn damit?“ Ihr Kommentar ärgerte mich doch etwas.
    „Najaaa“, sagte sie gedehnt, „Du spielst ein bisschen wie dieser andere Typ... wie heißt der noch gleich?“
    „Von Wizeck?“, fragte ich. Sie nickte.
    „Genau der. Der ist ja auch nicht schlecht, verlässt sich aber etwas zu sehr auf seine üblichen Kombinationen. Du solltest Dich nicht so sehr nach ihm orientieren. Sei mal lieber etwas flexibler!“
    „Man orientiert sich an etwas“, verbesserte ich sie ein wenig pikiert, „und von Wizeck nutzt die seit Jahren brillantesten Strategien, die beim Schach jemals entwickelt wurden.“
    „Es heißt nutzte“, verbesserte mich Pallas, „denn jetzt nutze ich ja die besten Strategien und so weiter. Außerdem brauchst Du nicht gleich pampig werden, nur weil ich Dein großes Idol geschlagen habe.“
    „Von wegen großes Idol!“, empörte ich mich, „von Wizeck ist nicht mein Idol. Im Übrigen geht es nicht darum, dass Du ihn geschlagen hast. Sondern darum, dass Du ihn schlechtredest.“
    „Hah! Also ist der doch Dein Idol“, fehlfolgerte sie triumphierend aus meinem letzten Satz. Denn in der Tat ist es keineswegs so, dass von Wizeck für mich eine Art Idol darstellte. Ich erkannte lediglich seine überlegenen Fähigkeiten im Schachspiel an, so, wie ich etwa die überlegenen Fähigkeiten eines Meister Saturas in der modernen Mathematik anerkannte, oder die eines Melchior in der Philosophie usw. Ich meine: Nur, weil man die Arbeit eines Menschen besonders schätzt, ist diese Person doch darum noch lange kein Idol. Doch wie erkläre ich so etwas einem zehnjährigen Mädchen, das sich seine Meinung bereits gebildet hat?
    Ich wurde durch das Erscheinen der Bedienung von diesem eher unangenehmen Gespräch erlöst. Ich bestellte mir einen Becher mit Mokkaeis, um zu demonstrieren, dass ich die kindliche Vorliebe meiner Gesprächspartnerin für allzu süße Speisen mitnichten teilte, sondern einen etwas auserleseneren, erwachseneren Geschmack habe. Ich hätte wohl eigentlich einen Kaffee bestellt, doch wäre es wohl unhöflich gewesen, kein Eis zu bestellen, nachdem es mir doch eindringlich anempfohlen worden war. Ich versuchte, das Gespräch von dem etwas unerquicklichen Thema „von Wizeck“ wegzulenken, und stellte alsbald fest, dass Pallas nicht bloß eine begnadete Schachspielerin war, sondern überhaupt eine erstaunliche kluge Person. Es gibt nicht viele Menschen in einem dem meinen ähnlichen Alter, mit denen befriedigende Konversationen möglich sind. Die meisten Kinder und Jugendlichen scheinen ihre Zeit weitestgehend mit Belanglosigkeiten zu verschwenden. Pallas bildete in dieser Hinsicht keine vollkommene Ausnahme, doch hatte es den Anschein, als beschäftige sie sich doch außerdem noch mit interessanten Dingen. So rechnete sie mir zum Beispiel vor, dass der Nährwert eines täglichen Konsums von Joghurt-Fruchtbechern, angesichts des durchschnittlichen Nährstoffbedarfs von im Wachstum befindlichen, präbupertären Mädchen, in Kombination mit Fruchtgummies und Karamellbonbons eine ideale physische Entwicklung ermögliche. Ich persönlich glaube ja, dass ihre Ausgangszahlen durch ihre geschmacklichen Präferenzen nicht unbeeinflusst waren, doch ihre Rechnungen an sich erschienen mir richtig.
    „...und das ist total doof, dass ich daran nicht arbeiten soll“, beschwerte sich Pallas gerade, nachdem sie mir irgendeine sonderbare, von ihr ausgedachte Gerätschaft erklärt hatte. Mein Mokkabecher war indessen serviert worden, und die Füllung meines Mundraumes hinderte mich an einer Erwiderung.
    „Als wenn das so gefährlich wäre! Wenn meine Schwester mit ihrem Bogen herumhantiert, oder ihrem Speer", ein Ausdruck von Traurigkeit huschte über ihr Gesicht, "dann sagt niemand, dass das zu gefährlich sei. Dabei sind Waffen viel gefährlicher. Aber meine elektrochemische Energiezelle darf ich nicht bauen. Dabei wäre die viel praktischer als so ein Bogen. Damit könnte man zum Beispiel mechanische Flügel betreiben. Nach Möglichkeit solche, die nicht schmelzen, wenn sie der Sonne zu nahe kommen. Das wäre doch super, oder?“
    „Du hast da Schokolade um den Mund“, traute ich mich endlich zu sagen.
    „Wobei das mit den Wachsflügeln ja eh Quatsch ist. Wer sich den Unfug ausgedacht hat!“
    „Ich würde ja die Aerodynamik so ansetzen, dass die Flügel selbst gar keine Eigenbewegung ausführen müssen“, wandte ich ein und begann ihr vorzurechnen, dass sie auf diese Weise weit effektivere Flugmaschinen konstruieren könne, sofern es nur möglich sei, eine hinreichende Vorwärtsbewegung zu erzielen.
    „Aber das soll doch nicht für richtige Menschen sein, Dummerchen! Das ist für meinen Strigidus!“
    „Für wen?“
    „Für meinen Strigidus. Mein Kuscheltier. So könnte er dann fliegen. Das wäre toll, oder?“
    Ich war einigermaßen davon beeindruckt, mit wieviel Elan Pallas ihren nicht unerheblichen Ideenreichtum auf nutzlosen Firlefanz vergeudete. Doch nehme ich an, dass die Suche nach Banalitäten einen nicht unerheblichen Teil des kulturellen, menschlichen Fortschritts ausgemacht haben dürfte. Die Gedanken eines Großteils der Menschen scheinen üblicherweise um irgendeinen Unsinn zu kreisen. Wenn dabei brauchbare Kollateralideen entstehen sollten, so sei mir dies nur Recht!
    Tatsächlich waren Pallas' Vorstellungen alles andere als unbrauchbar, wenngleich ich ihre Umsetzung für eher unpraktisch halte. Sicherlich wären Automaten, wie sie ihr vorschweben, keine schlechte Sache. Doch erscheinen sie mir im Vergleich zur allgegenwärtig verwendeten Magie eher umständlich. Und eine Erfindung, die bloß der Mobilität eines Plüschtiers dienen soll... nunja.
    Spaß aber, das muss ich gestehen, machten die Gedankenspiele durchaus, und ich beteiligte mich durchaus mit einer gewissen Regheit daran. So verging die Zeit denn recht schnell, und so erhitzt ich auch bei meiner Ankunft in der Laube gewesen war, als wir schließlich aufstanden, stand die Sonne bereits tief, die Temperatur war erheblich gefallen, und das Eis tat sein übrigens, es mir ein wenig kalt werden zu lassen.
    So verließen wir im dämmrigen Lichte der Abenddämmerung die Laube, und begaben uns gemeinsam auf den Weg zurück zum Schloss.
    „Das war lecker! Ich könnte direkt noch einen solchen Becher verputzen!“, seufzte Pallas und nickte im Vorbeigehen einem Mann zu, der an einem der Tische saß und irgendein Getränk konsumierte.
    „Das wäre eher unbekömmlich“, warnte ich sie, und nickte einer Frau zu, die im Wesentlichen das gleiche wie der zuvor erwähnte Mann tat.
    Schwatzend legten wir den Weg zurück, und ich ließ es mir nicht nehmen, ihr einige detaillierte, botanische Informationen zu den allerlei Pflanzen zu geben, an denen wir vorbeikamen. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr die wirklich neu waren, doch schienen meine Ausführungen sie nicht zu stören.
    „Also, mein Zimmer ist da entlang. Ich wünsche Dir noch eine gute Nacht“, sagte sie schließlich und wandte sich zum Gehen. Gerne hätte ich ihr mitgeteilt, dass es noch immer einige hartnäckige Reste an Schokolade an ihrem Mund gab, doch zu schnell war sie meinem Blickfeld entschwunden. Ich machte mich also auf den Weg in meine eigenen Räumlichkeiten, recht zufrieden mit dem Tag, der mir einen weiteren Sieg im Turnier beschert hatte, und außerdem einige angenehme Unterhaltung.
    Ich ging schweigsam, doch wohlgelaunt die Flure des Schlosses entlang, als mir etwas einfiel. Etwas, das mir zuvor sonderbarerweise entfallen war: Pallas hatte vergessen, ihren Eisbecher zu bezahlen!
    Geändert von Sir Ewek Emelot (02.09.2015 um 20:33 Uhr)

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    Deus Avatar von Sir Ewek Emelot
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    III. Ein unwilliger Springer



    Gerne hätte ich Pallas ein Billet zugeschickt, sie an ihr Versäumnis zu erinnern, doch wusste ich nicht, wo genau im Schlosse ihre Unterbringung wohl gewesen sein mochte, und so blieb mir nichts, als zu hoffen, wir möchten doch an einem der folgenden Tage erneut aufeinandertreffen. Dies war denn auch, was wohl nicht weiter verwunderlich sein dürfte, schon am nächsten Tage der Fall, als nämlich meine Partie mit der Goblindame Anastasia Jaklob stattfand. Frau Oberst Jaklob, was zu erwähnen eigentlich kaum erforderlich sein sollte, gilt wohl zu Recht als eine der besten Strateginnen ihres Volkes, insbesondere seit dem Tode der alten Königin Sabatha. Aus diesem Grunde nahm ich die Begegnung mit ihr durchaus ernst. Ob eine ähnliche Erwägung nun auch der Grund für Pallas' Anwesenheit bei dem Spiel war, weiß ich nicht zu sagen. In jedem Falle bemerkte ich sie recht zügig inmitten des Publikums. Ich muss gestehen, dass mir dies nicht ganz unangenehm war, und ich mir gar ein klein wenig einbildete, dass sie zu meiner moralischen Unterstützung erschienen sei. Natürlich ist eine solche moralische Unterstützung ausgemachter Unsinn: Warum sollte ich besser spielen, bloß weil jemand unter den Zuschauern weilt, dem ich mich in irgendeiner Weise emotional verbunden fühle, zumal eine solche Verbindung zwischen Pallas und mir ja nun eigentlich gar nicht besteht, sondern wohl allenfalls von einer Art Sympathie die Rede sein kann? Doch Pallas ist ja noch sehr jung, und infolgedessen mag sie für solcherlei Gefühlsduseleien oder anderlei Verirrungen des Geistes noch empfänglicher sein, als ich es bin.
    In jedem Falle bemühte ich mich nach Herzen, die auf ihrem Treppenstuhl sitzende Anastasia schnellstmöglich zu schlagen, fand mich aber schließlich inmitten eines zähen Ringens wider, statt dass ich einen raschen und eleganten Sieg errungen hätte. Einerlei: Wie bereits bei den beiden Spielen zuvor gelang mir auch diesmal ein Sieg, was mir die Bewunderung des Publikums, den Jubel der Eltern und einen respektvollen Händedruck der Frau Jaklob einbrachte – und natürlich einen weiteren Punkt fürs Turnier!

    Nach dem Siege nun also, als ich die Gratulation meiner Eltern entgegengenommen hatte, gesellte sich Pallas alsbald und ziemlich unvermittelt zu uns. Bevor ich jedoch meine Bedenken bezüglich der geprellten Zeche zur Sprache zu bringen vermochte, trug sie bereits ihre Glückwünsche für das gewonnene Spiel vor: „Das war schon gar nicht schlecht, wobei ich an Deiner Stelle auf die kleine Rochade verzichtet hätte, um Dein Spiel auf der rechten Flanke noch etwas auszubauen, mit dem weißen Läufer zu ködern, und sieben Züge später mit der langen Rochade den gegnerischen Spielaufbau aus dem Konzept zu bringen...“
    Ich kann die Verblüffung, die sich in den Gesichtern meiner Eltern abzeichnete, nicht adäquat beschreiben, denn damit, dass die zuvor von mir vernichtend geschlagene Pallas sich so offenkundig wohlwollend zu mir äußern werde, hatten sie gewiss nicht gerechnet.
    „Dies ist Pallas“, stellte ich die junge Dame meinen Eltern vor, da mir nichts besseres einfiel und mir überdies nicht entgangen war, dass eine allgemeine Bekanntmachung bislang versäumt worden war. „Pallas, das sind meine Eltern. Mein Vater, Martion Freiherr von Südersloh, und meine Mutter Marianne, Vicomtesse de Montmarcolle.“
    Pallas nahm die Bekanntmachung mit meinen Eltern durch ein nüchternes „Hallo!“, entgegen. Meine Eltern ihrerseits tauschten einen möglicherweise irritierten, möglicherweise aber auch wissenden, in jedem Falle aber bedeutungsvollen Blick aus: Der Umgang mit Bekanntschaften ihres Sohnes ist eine relative Seltenheit, was aber, wie ich betonen möchte, keineswegs daran liegt, dass ich ein Außenseiter, Einzelgänger oder sonstwie eine sozial inkompetente Persönlichkeit sei. Wobei ich keineswegs behaupten möchte, dass ich es nicht sei. Doch habe selbstverständlich auch ich eine Reihe von Bekannten oder, nun, ich möchte nicht sagen Freunde, aber doch Personen, mit denen ich mich in relativer Regelmäßigkeit auszutauschen pflege. Der Grund also, dessetwegen meine Eltern mit jenen Personen recht selten zu tun bekommen ist vielmehr der, dass es sich dabei in der Regel um Mitschülerinnen und Mitschüler handelt, so dass ja, da meine Schule ja ein Internat ist, eine Begegnung sich kaum je ergibt.
    Wie dem auch sei: Um Pallas eine gewisse Peinlichkeit zu ersparen, erfand ich irgendeinen Vorwand, dass wir uns ungestört miteinander befinden konnten, der zwar von meinen Eltern ebenso wie von Markus und auch Pallas selbst sogleich durchschaut wurde, allerdings keinerlei Widerspruch irgendeiner Seite hervorrief. Eine gewisse Irritation aber will ich nicht leugnen.
    So war ich denn im Begriffe, Pallas endlich ob ihres Versäumnisses vom Vortage anzusprechen, als sie mir abermals dazwischenfuhr.
    „Wer war der andere Typ?“
    „Wer, Markus? Das ist unser Hausdiener. Ihn eigens bekannt zu machen wäre sicherlich wider jedes Protokoll, und im Übrigen auch ganz und gar nicht in seinem Sinne.“
    Pallas krauste Stirn und Näschen.
    „Wieso denn das?“
    Ich zuckte mit den Schultern: „Markus ist eine sehr konservative und peinlich korrekte Person, was ich übrigens als einen sehr positiven Charakterzug ansehe. Im Gegensatz zu meinen Eltern ist er auf eine standesgemäße Erziehung meiner Person sehr bedacht. Er würde es kaum billigen, wenn ich gegenüber einer jungen Dame einen gemeinen Hausdiener präsentieren würde.“
    Pallas kicherte: „'Er ist auf eine standesgemäße Erziehung sehr bedacht'“, äffte sie mich in Wort und Ton nach, „Du drückst Dich manchmal ziemlich komisch aus. Du weißt schon, dass das ziemlich altklug wirkt?“
    „So altklug in etwa, wie scharfsinnige Bemerkungen zu Schachstrategien?“, konterte ich.
    „Nicht halb so klug, aber doppelt so altklug. Markus ist also Dein Erzieher?“
    „Innos bewahre! Wenn es nach ihm ginge, müsste ich mit erheblichen Ausweitungen meiner Waffenausbildung rechnen.“ Ich schauderte ein wenig bei dem Gedanken.
    „Oh? Du erhältst also eine Waffenausbildung?“, fragte sie, offenkundig erstaunt, und musterte mich auf etwas eindringliche Weise, die mich ein wenig verlegen machte.
    „Nunja, ich bin schließlich ein Edelmann. Daher wird von mir erwartet, dass ich mit Schwert, Pferd und Lanze umzugehen weiß.“ Ich verzog etwas unwillig das Gesicht, da doch dieser Teil meiner Bildung zu den mir am meisten verhassten gehört. Ich bin außerordentlich froh, dass ich das khoriner Internat besuchen darf, an dem ein moderner, goblinistischer Bildungsbegriff vorherrscht, in dem die klassischen, ritterlichen Tugenden, wie es sie in Myrtana noch immer gibt, kaum vorhanden sind. Der Lehrplan meines Internats beinhaltet derart antiquierte Bestandteile ausschließlich als Zugeständnis an myrtanische Schüler, und verwendet glücklicherweise nur wenig Zeit auf derlei Unfug, wobei ich übrigens nicht ausschließen möchte, dass es sich dabei um eine Art strategischen Kniff handelt. Schließlich wird damit eine gewisse Militärtradition, wie sie im myrtanischen Adel gegeben ist, doch ein wenig untergraben. Mir persönlich aber soll dies nur recht sein, sehe ich doch ohnehin nicht ein, warum ich für irgendeinen Lehnsherrn irgendeinen Waffendienst verrichten sollte, wo ich doch im Mindesten die Aufgaben eines Oberst zu leisten im Stande wäre. Im Felde zu stehen wäre dagegen eine geradezu lächerliche Verschwendung, selbst wenn ich ein passabler Schwertkämpfer wäre.
    „Du kannst also mit dem Schwert umgehen?“, fragte Pallas, die von meinen Gedankengängen natürlich nichts mitbekommen hatte, und auch von meiner Begabungslosigkeit in diesem Felde nichts wissen konnte, und zog mich etwas weiter den Garten hinein, den wir mittlerweile betreten hatten, hin zu einer Baumgruppe.
    „Dann zeig mir doch mal was!“, forderte sie mich auf, derweil sie sich an einen einigermaßen geraden, schmalen Ast hängte und diesen abbrach, grob von Laub und Zweigen befreite, und mir auffordernd entgegenhielt.
    Nun habe ich ja schon erwähnt, dass der Schwertkampf mitnichten meine Spezialität ist, doch zur Befriedigung der Neugierde junger Damen, die ja überhaupt keine entsprechende Ausbildung genießen, fand ich mein Können dann doch ausreichend, und so nahm ich denn den Stock entgegen, begab mich in die Grundhaltung, die mir mein erster Schwertkampflehrer, einer der jüngeren Brüder meiner Mutter, seinerzeit beigebracht hatte, und versuchte mich an einer Erklärung der Grundlagen.
    „Du stellst Dich so hin“, sagte ich, „dass Du einen festen Stand hast, und hältst das Schwert in etwa so... siehst Du? Dass es Deinen Körper schützt und Du schnell angreifen oder abwehren kannst... etwa so, siehst Du?“
    Pallas ließ ihr glockenhelles Lachen ertönen, was mir ein sicherer Indikator war, dass meine Körperbeherrschung noch immer genauso schlecht war, wie ehedem.
    „So geht das doch nicht!“, sagte sie, trat an mich heran, und zupfte und zerrte an meiner Haltung.
    „SO muss das aussehen!“, sagte sie schließlich zufrieden. Ich war etwas verblüfft darob, dass sie sich in dieser etwas undamenhaften Thematik auszukennen schien, und folgerte entsprechend, dass sie wohl einem nordmyrtanischen Geschlechte entstammen müsse, da dies die einzige Region ist, in der aufgrund des nordmarer Erbes auch eine weibliche Kriegertradition vorhanden war. Mir fielen allerdings lediglich drei Häuser ein, die diese Tradition noch praktizierten, womit Pallas entweder einer bestimmten Nebenlinie der Herzöge von Faring angehörte, eine Tochter des Markgrafen von Okara, oder eine Baronesse derer zu Düsterwald sein musste. In jedem Falle wunderte ich mich, dass eine derart hochrangige Edeldame so vollkommen unbegleitet umherlief.
    „Du beherrschst den Schwertkampf?“, fragte ich, und möglicherweise versagte ich darin, einen etwas echtkerlig herablassenden Tonfall zu vermeiden, denn ein unwilliger Zug huschte über Pallas schönes Gesicht, und ehe ich mich versah, hatte sie mich ich-weiß-nicht-wie entwaffnet, durch die Luft umher gewirbelt und zu Boden geschleudert, und mit einem lautstarken „Hah!“ ihr Schwert respektive den Holzknüppel zu meinem Gesicht herabschnellen lassen, dass die Knüppelspitze nur Millimeter vor meiner Nase zum Stehen gekommen war. Oder möglicherweise waren es auch Zentimeter, das weiß ich nicht mehr präzise zu bestimmen.
    Für einen Augenblick blitzten ihre Augen in einem strahlenden Grün triumphierend auf, doch kurz darauf weiteten sie sich, und eher so etwas wie Betroffenheit trat in ihren Blick. Sie wandte sich ab warf den Stock beiseite.
    „Entschuldige bitte!“, sagte sie, was mich etwas verwunderte, da ich nicht gedacht hatte, dass ihr Stolz so etwas wie eine Entschuldigung überhaupt zulasse, zumal sie irgendwie das Kunststück vollbracht hatte, mich zwar höchst effektiv, aber doch weitgehend schmerzlos außer Gefecht zu setzen.
    „Ich hätte von diesem Unsinn nicht anfangen sollen“, fuhr sie fort, und als ich zu einer Erwiderung ansetzte: „Lass uns was anderes machen! Wusstest Du, dass der Fürst in seiner Gartenanlage auch einen Streichelzoo hat? Die Schattenläufer haben vor ein paar Wochen ein Junges bekommen. Komm mit!“
    Von Pallas Begeisterung mitgerissen blieb mir an jenem Tage wohl oder übel nichts übrig, als mich einige Stunden der zoologischen Untersuchung des Brutverhaltens von Schattenläufern zu widmen.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (03.09.2015 um 20:17 Uhr)

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    IV. Das Verschwinden einer Dame



    Die Art, wie ich mich der folgenden Wochen entsinne, stimmt mich nachdenklich: Damals schien mir die Zeit dahinzufliegen, heute dagegen, wo ich zurückdenke, wirken die wenigen Wochen wie eine ungleich längere Zeitspanne. Pallas und ich besuchten einander bei unseren jeweiligen Partien, und sofern wir nicht selbst spielten, observierten wir die interessanteren Begegnungen gemeinsam. Ich muss sagen, dass mir die mit Pallas verbrachte Zeit ungemein angenehm war. Man mag meinen, dass ich es als kränkend empfunden habe, mich regelmäßig durch eine weitaus jüngere Person belehren zu lassen – denn nichts anderes tat Pallas, wenn sie mir die Stärken und Schwächen unserer Konkurrenten darlegte, und die besten Vorgehensweisen wider dieselben austüftelte – doch dem ist mitnichten so: Immerhin bin ich bei weitem nicht kindisch genug, mich von der vermeintlichen Überlegenheit einer anderen Person anfechten zu lassen. Indessen empfand ich es als die taktvollere Verhaltensweise, Pallas in der Illusion zu belassen, dass ihre Ausführungen für meinen weiteren Erfolg von entscheidender Wichtigkeit seien. Übrigens kann ich nicht leugnen, dass ihre zuweilen sehr kreativen Gedanken mir doch hin und wieder durchaus erhellend waren.
    Neben den mit dem Wettbewerb verbundenen Tätigkeiten befleißigten wir uns auch anderweitig gemeinsamen Zeitvertreibs, wobei Pallas eine unerhörte Ortskenntnis zur Schau legte, und mir die allerlei Vergnüglichkeiten zeigte, welche Geldern im Allgemeinen und der fürstliche Palast insbesondere zu bieten hatten. Dass sie allzu gerne eher physischen Tätigkeiten nachging trübte mir den Genuss dieser Zeit ein wenig, doch andererseits war ich froh, eine Begleiterin gefunden zu haben, die mich in diesen mir eher widerspenstigen Belangen ergänzen und anleiten konnte. So waren mir die Besuche in den fürstlichen Stallungen in Begleitung Pallas zum Beispiel weit weniger unlieb, als ich meine früheren Reitstunden bislang empfunden hatte. Ihre Begeisterung für den Reitsport und für Pferde im Allgemeinen irritierte mich allerdings ein wenig, handelt es sich dabei doch eigentlich um eine ritterliche, also genuin männliche Domäne.
    Wie dem auch sei: Ich denke von Pallas und mir gerne als die komplementären Teile einer Einheit, wobei Pallas den eher körperlichen Part unseres Gespannes ausmacht, wogegen mir ohne Zweifel die Rolle des Intellekts zukommt. Doch sei dies keineswegs irgend despektierlich verstanden! Vielmehr bin ich der Auffassung, dass die Kompatibilität mit meinen geistigen Höhen alleine hinreichend Zeugnis von Pallas' Exzellenz abgibt.

    Sowohl Pallas jedenfalls, als auch mir selbst gelangen eine Reihe aufsehenerregender Siege, wobei ich nicht unterschlagen will, dass insbesondere Pallas mitunter äußerste Eleganz an den Tag legte. Dennoch beschloss ich, in meiner Begegnung mit von Wizeck ihren Rat auszuschlagen. Ganz gewiss hatte sie ihm eine empfindliche Niederlage beigebracht. Jedoch war und bin ich der Auffassung, dass mein Verständnis seiner Strategie mich zu einem weitaus subtileren, grazileren und erfolgversprechenderen Vorgehen befähigte.
    Im Laufe der Siege nämlich, die von Wizeck in der Folge errang, meinte ich etwas Wesentliches erkannt zu haben: Dass nämlich der Großmeister das Geschehen auf dem Schachbrett in Form spezifischer Muster in einem zu überblicken schien, und dass seine Reaktion stets zu einem weiteren, ebensolchen und in einem überblickbaren Muster führte. Ich war darob der Auffassung, von Wizeck täuschen zu können, indem ich seinen Mustern zunächst scheinbar in die Hände spielte, um ihn dann umso vernichtender aus dem Konzept zu bringen.
    So erregte ich ihm denn für den ersten Teil unserer Partie den Eindruck, als spiele er gegen ein etwas weniger präzise agierendes Ebenbild seiner selbst, um sodann überraschend zuzuschlagen und ihn binnen weniger Züge schachmatt zu setzen. Ich weiß nicht, ob es meine Art des Spiels war, immerhin ja eine Art Tribut an seine Person, oder ob er seit der Niederlage gegen Pallas schlicht gefestigter in seine Partien hineingegangen war, in jedem Falle nahm er meinen Sieg durchaus würdevoll zur Kenntnis, und drückte mir ehrliche Anerkennung und Gratulation aus.
    So waren wir denn nach drei Wochen zu dem Punkte angelangt, dass ich an erster Stelle das Rennen führte, derweilen Pallas, mit nur einer Niederlage gegen mich, den zweiten Platz belegte. Von Wizeck hatte abgesehen von einem Remis gegen Anastasia Jaklob alle weiteren Spiele gewonnen, und rangierte somit auf dem dritten Platz. Erwähnenswert scheinen mir überdies noch die hervorragenden Leistungen von Frau Jaklob, Großmeister Abdul ibn Ramahn aus Mora Sul, sowie seiner Exzellenz Gottlob Sündikus von Haremsschreck, dem afterflorschen Gesandten am fürstlichen Hofe.

    Ich möchte hier einmal einhaken und überhaupt erklären, wie die Modalitäten des Schachturniers beschaffen sind. Es handelt sich um ein Turnier, bei dem alle Kandidaten einmal gegen einen jeden andern Kandidaten spielen. Da es sich um insgesamt vierzehn Spieler handelt, müssen somit 91 Spiele stattfinden. Bei vier Begegnungen pro Tag ergibt sich eine Dauer von etwa drei Wochen. Jeder in dieser Zeit errungene Sieg wird mit zwei Punkten, jedes Remis mit einem und eine Niederlage mit gar keinem Punkt gewertet. Nach Ende dieser Frist, sobald also jeder Spieler einem jeden andern einmal begegnete, wird dieser Modus wiederholt, wobei bei den einzelnen Paarungen die Farben getauscht werden, das heißt, dass wem in der ersten Begegnung gegen einen Gegner die weißen Steine zugelost wurden, nun wider diesen Opponenten mit den schwarzen Figuren wird spielen müssen. Weiters finden die Begegnungen in der zweiten Runde in veränderter Abfolge statt, nämlich mit den Paarungen niedrigster Punktzahl zuerst und jenen höherer Punktzahl zum Schlusse. Die zweite Partie zwischen Pallas und mir würde daher, da wir die beiden ersten Plätze belegten, die letzte Begegnung des Turniers sein.

    Die zweite Runde sollte allerdings nicht unmittelbar nach der ersten stattfinden, sondern es waren einige Tage zur Entspannung und Erholung von den nicht unerheblichen Strapazen vorgesehen. Diese Erholungsspanne freilich war in erster Linie ein Zugeständnis an die weniger belastbaren Geister, namentlich alle anderen als ich selbst. Doch da mir diese Zeit ja nun einmal gegeben, für die Unterkunft fürstlicherseits Sorge getragen, und zudem mit Pallas eine recht angenehme Gesellschaft vorhanden war, entschied ich, die wenigen Tage bis zur zweiten Runde ausgiebig dem Müßiggang zu widmen. Ich will nicht bestreiten, dass dies eine möglicherweise tadelnswerte Entscheidung war, immerhin ist der Müßiggang eine Zeitverschwendung sondergleichen (und übrigens auch der Trainer der jharkendarischen Damen-Minecrawlerpolo-Mannschaft), führt zu nutzlosen Abschweifungen der Gedanken, sentimentalischen Hirngespinsten und insgesamt einer Verlotterung von Körper und Geist. Doch nachdem ich mich ja nun schon einmal als maximal erfolgreich erwiesen hatte, und es im fürstlichen Schlosse sonst nichts zu tun gab, fiel mir nichts besseres ein, als mich zu vergnügen, das heißt mir Vergnügungen zeigen zu lassen, denn ich selbst hätte wohl aus eigenem Antrieb keine anderen Vergnüglichkeiten auszuwählen vermocht, als gelegentliche Besuche an der gelderner Universität sowie diverse schöngeistige Literatur (die doch mitunter einen nicht unangenehmen Kontrast zu wirklich wichtigen Texten darstellt).

    Es begab sich am zweiten Tage unserer Ruhepause, dass ich mich, einer Verabredung folgend, auf dem Wege durch die Korridore des Schlosses gen pallasschen Gemaches befand. Zuvor hatten wir den Tag damit zugebracht, eine von uns selbst entwickelte Maschine auszuproben, deren Zweck in der Simulation von Regenschauern bestand. Ich befand die mechanische Bewässerung von Rasenflächen oder Feldern als die sinnvollste Nutznießung dieses Geräts, doch Pallas hatte darauf bestanden, arglose Gartengänger bezüglich der Witterungsverhältnisse zu verwirren, und war partout nicht davon abzubringen gewesen, dass dies eine weit lustigere, mithin klügere Einsetzungsart der Regenmaschine sei. Da es trotz genauester Berechnungen nicht geglückt war, uns dem Einfluss unserer Erfindung gänzlich zu entziehen, hatten wir kurzzeitig voneinander Urlaub genommen, um uns ins trockenere Kleider zu... nun, zu kleiden.
    Wie dem auch sei: Mit frischer Hose, frischem Hemde und frischem Rocke, zudem trocknen Socken und Schuhen näherte ich mich dem Gemache meiner neuen Freundin. Sonderbar mutete mir die ungewöhnlich hohe Konzentration an Sicherheitskräften an, die offenkundig recht aufgeregt herumstanden oder hin und hergingen und offenkundig gewichtigen Geschäften nachgingen. Pallas' Zimmer denn, die Türe geöffnet, war der offenkundige Mittelpunkt der polizeilichen Aufmerksamkeit, und in dem allseitigen Gewusel gelang es mir denn alsbald, den Raum zu betreten.
    „Was machst Du denn hier?“, fragte mich einer der Beamten, ein Mann in nicht übermäßig teurer aber wohlgepflegter Garderobe, der trotz der in Geldern modischen Ringellöckchenfrisur einen durchaus strengen Eindruck erweckte.
    „Dieser Ort ist Gegenstand polizeilicher Ermittlungen!“, fuhr der Mann fort und wischte sich mit einem Taschentuch Schweiß von der Stirn. Auf eine Handbewegung hin schickte sich ein wohl niederrangiger Beamter an, mich aus dem Raum zu entfernen, was mich jedoch nicht davon abhielt, die Szenerie zu überblicken.
    Der Raum befand sich im Wesentlichen in dem Zustande, in dem ich ihn bereits bei vorherigen Besuchen erlebt hatte: Auf einem unordentlichen Himmelbett türmten sich allerlei Decken, Kissen, sowie aus Stoff gefertigte Puppen und Tierchen. Diverse Kleidungsstücke lagen über den Boden verstreut und gingen nahtlos zum opulenten Schreibtisch hin in eine Landschaft aus Büchern und diversen, beschrifteten oder mit mehr oder weniger gekonnten Skizzen versehenen Papierfetzen über. Auf dem Paravent erkannte ich die durchnässten Kleidungsstücke, die Pallas am Morgen getragen hatte, und auf einigen Regalen, dem Nachtkommödchen sowie dem Schreibtisch fanden sich diverse Tellerchen oder Tassen, deren vorheriger Inhalt in solcher Gründlichkeit konsumiert worden war, dass sich mir die Frage danach einzig durch mein Wissen um Pallas Vorliebe für Torten, Eiscreme, Pudding und Pralinen erübrigte. Auffällig war dagegen eine durchaus noch Dampf in die Umgebung entlassende Tasse auf der Kommode, sowie ein Porzellantellerchen mit geschmolzenem Amarenaeis. Von Pallas selbst indes fehlte jede Spur.
    „Sie wurden durch Rufe alarmiert, nehme ich an?“, fragte ich in Richtung des Kommissars, derweil ich mich mit einer raschen Bewegung dem braven Herrn entzog, der mich aus dem Raum zu komplimentieren versucht hatte, und das kurze Stück bis zur Kommode zurücklegte. Der verblüffte Kommissar und dessen Gehilfe kommentierten meine Dreistigkeit mit offen zur Schau getragenem Gaumen.
    „Ein Hausangestellter wird die bestellten Leckereien abgeliefert haben, und kurz darauf die Schreckensrufe aus dem Inneren gehört haben“, fuhr ich fort, „der Kakao ist noch ziemlich heiß. Sonderbar! Sogar das Eis ist nicht bloß geschmolzen, sondern warm. Das passt kaum zusammen. Und die Kleidung auf dem Paravent“, ich vergewisserte mich, „ist fast trocken. Aha! Das Fenster war vermutlich geschlossen, nehme ich an, wurde aber dann geöffnet, um die im Raum gestaute Hitze zu mindern? Die Schlussfolgerung ist ziemlich klar.“
    Ich wandte mich gen Ausgang, hatte ich doch alle Informationen, die ich bekommen konnte. Ich wusste, dass diese Beamten diesem Fall nicht gewachsen wären. Ich würde anderweitig nach Hilfe suchen müssen: Meine Freundin Pallas war entführt worden. Und das Ausführende Organ dabei, so viel stand fest, musste ein Dämon gewesen sein.

    „Nur ein Dämon emittiert so viel Hitze ohne rußendes Feuer“, führte ich meine Erklärung zu ihrem Ende, „und wäre in der Lage, jemanden aus einem geschlossenen Raum zu entführen, ohne einen Ausgang zu öffnen.“
    Selbstverständlich war es mir nicht gelungen, den Ort des Verbrechens so einfach und nonchalant zu verlassen, wie ich es geplant hatte. Ein derart effektvoller Abgang ist wohl allenfalls im Theater möglich. In der Realität dagegen wurde ich sogleich ergriffen, in einen anderen Raum gebracht und befragt, was ich denn an jenem Orte zu suchen gehabt habe, wie ich es mir denn habe erdreisten können, den Ort zu kontaminieren und damit die Ermittlungen zu stören, und wo denn meine Eltern seien. Ich nutzte die Gelegenheit, meine Hypothese vorzutragen und mit den gesammelten Evidenzen zu untermauern. Zugegebenermaßen waren meine selbstdarstellerischen Deduktionen zu jenem Zeitpunkt in erster Linie der Versuch, meine durchaus angespannten Nerven zu beruhigen. Denn ich muss einräumen, dass mich Pallas' plötzliches Verschwinden zutiefst erschrocken hatte, und mit schier brennender Sorge erfüllte. Natürlich ist es relativ wunderlich, dass ich nach schon so kurzer Zeit der Bekanntschaft derart heftigen Affektionen unterworfen war (und bin). Jedoch: Wie sollte denn das Turnier fortschreiten, wo doch die sichere Zweitplatzierte auf so gewaltsame Weise ausgeschieden und verschwunden war?
    „Was für ein Unsinn!“, wischte einer der Beamten, die mich befragten, meine Konklusion beiseite. Der modisch Gelockte dagegen, der sich als Kommissar Devette vorgestellt hatte, machte einen durchaus nachdenklichen Eindruck, als erwäge er meine Worte.
    „Fräulein Pallas kann den Raum nicht über die Tür verlassen haben, denn das wäre dem Fräulein Julia, das die Laute aus dem Innern vernommen hat, aufgefallen“, sagte Devette, „und durch das Fenster kann sie den Raum auch nicht verlassen haben, denn das Fenster war von innen verschlossen. Die ungewöhnlich warme und abgestandene Luft in dem Zimmer... nun, zumindest scheint es sich nicht um eine gewöhnliche Entführung zu handeln. Ob es sich allerdings um einen Dämon handelt, junger Mann, das ist wohl fraglich. Ein Einsatz von Magie ist an dieser Stelle jedoch nicht auszuschließen, sondern vielmehr wahrscheinlich.“
    Der Beamte, der meine Einlassungen belächelt hatte, verzog unwillig das Gesicht.
    „Wenn Magie am Werke war, dann...“
    „Ganz Recht“, unterbrach Devette, „dann ist dies ein Fall für die kirchliche Inquisition.“
    Er warf mir einen weit weniger ungnädigen Blick zu, als man wohl vermuten möchte.
    „Was Dich anbetrifft, junger Mann: Ich kann Deine Sorge um Deine Freundin durchaus verstehen. Allerdings solltest Du künftig darauf achten, dass Du unsere Ermittlungen nicht weiter störst. Nach Deinen Eltern wurde geschickt, Du kannst gehen, sobald sie Dich abholen.“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (03.09.2015 um 20:17 Uhr)

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    V. Mehr oder weniger begründete Hypothesen



    Als Kompagnon des Fräuleins Pallas kam mir auch fürderhin eine nicht unwichtige Rolle in den Ermittlungen zu, da ich doch mit Ausnahme des Fräuleins Julia die letzte Person war, welche Pallas bewusst gesehen und überdies die meiste Zeit mit dem Entführungsopfer verbracht hatte. Selbstredend handelte es sich also bei der ebenzuvor von mir geschilderten Vernehmung mitnichten um die letzte Konsultation meiner Person in dieser Angelegenheit.
    Dass ich indessen nicht ausschließlich um des Zeugnisses Willen in die Ermittlungen involviert wurde, das schmeichelte mir gar sehr, schien jedoch die zuständigen Ermittler nicht gar so sehr zu erfreuen.
    „Der Fürst selbst hat es angeordnet. Seine prinzliche Hoheit zeigte sich von den intellektuellen Leistungen des jungen Mannes beeindruckt und ist überzeugt, er könne uns behilflich sein.“ So, oder jedenfalls so ähnlich erklärte Devette meine Anwesenheit dem kirchlichen Inquisitor, einem Feuermagier namens Barnabas. Mir entging nicht, wie Kommissar Devette seine Äußerung mit tüchtigem Augenrollen untermalte. Daraus aber machte ich mir nicht viel. Vielmehr konzentrierte ich mich auf die vor mir liegenden Gegenstände.
    „Also? Fehlt irgendetwas?“, fragte Vater Barnabas.
    „Strigidus“, beantwortete ich die Frage, nachdem ich mir einen Überblick verschafft hatte. Ich hätte die Frage gewiss schneller beantworten können, wenn die mit der Spurensicherung beauftragten Beamten Pallas' Zimmer in seinem ursprünglichen Zustande belassen hätten, anstatt seine Inhalte ordentlich aufzureihen.
    „Wie meinen?“
    „Strigidus. Das ist die Eule, soll heißen: Die Stoffeule von Fräulein Pallas. Es handelt sich um ihr Lieblingsstofftier. Sein Fehlen ist auffällig.“
    „Und was folgern wir daraus?“, fragte der Feuermagier genervten Tonfalles.
    „Weiß ich nicht“, erwiderte ich, „Sie haben mich gefragt, ob etwas fehle, und ich habe die Frage beantwortet. Was oder ob Sie daraus überhaupt etwas folgern wollen, müssen Sie wohl selbst entscheiden.“
    Der Magier rümpfte verächtlich die Nase: „Ich hatte schon auf relevante Informationen gehofft, wenn mir denn schon so ein naseweiser...“
    Die weiteren Tiraden des Magiers beachtete ich nicht weiter, sondern ging die weiteren Dinge durch: Die vielen Bücher, Notizzettel und Papiere waren ebenfalls aufgeräumt worden. Es handelte sich dabei zum Großteil um mehr oder weniger sinnvolle Ideen über diverse Naturphänomene oder Erfindungen, eine Reihe technischer Skizzen, ein paar technisch nicht ganz perfekte aber gleichwohl gelungene, artistische Zeichnungen, Gedichte, Berechnungen und sonderbare Hypothesen. An Pallas neueren Arbeiten aus den letzten Wochen war ich selbst beteiligt gewesen, jedoch interessierten mich auch ihre sonstigen Ergüsse.
    „Seit wann lebt Pallas eigentlich schon in diesem Zimmer?“, fragte ich, und strich Staub vom Rand eines Stapels lose zusammengehefteter Blätter, „das sieht aus, als habe es längere Zeit hier herumgelegen.“
    „Fräulein Pallas lebt seit fast einem Jahr im fürstlichen Schloss“, antwortete Devette, „seitdem ihre Mutter... nun, sagen wir: Seit ihre Mutter die besondere Gunst seiner Hoheit genießt.“
    „Hm“, erwiderte ich vielsagend und ging zum Himmelbett herüber. Auf der Kommode zur Linken des Bettes stand eine Öllampe, und dort hatten auch die verräterische Kakaotasse sowie die Eisschüssel gestanden. Ich legte mich auf das Bett und überlegte, dass Pallas vermutlich gerne im Bett gelesen oder gearbeitet habe. Wenn sie ihre nächtlichen Arbeiten dann beendet hätte, hätte sie das Buch oder die Blätter lediglich auf die Kommode legen, und die Lampe löschen brauchen. Ich wandte mich nach links. Vermutlich wurde das Zimmer zwar nicht regelmäßig aufgeräumt und gesäubert – das hätte wohl gegen Pallas' Unordnungsprinzipien verstoßen – jedoch war wahrscheinlich, dass es zumindest regelmäßig gelüftet wurde. Auf der Kommode liegende Papierblätter würden bei offenem Fenster schnell Raub des Windes werden.
    Ich griff an die Stelle zwischen Matratze und Lattenrost, und tatsächlich erfühlte ich etwas: Ich zog einen Blätterstapel sowie einen Stift hervor. Ein Großteil der Seiten war vollgeschrieben mit Pallas' Handschrift, ähm, ich meine mit Pallas Handschrift vollgeschrieben, jedoch waren auch einige leere Blätter dabei.
    „Interessant“, sagte ich, nachdem ich den Inhalt überflogen hatte.
    „Glaubst Du, in dem Wust Anhaltspunkte zu finden?“, fragte Devette ehrlich interessiert.
    „Möglich“, antwortete ich, „ich würde gerne einige dieser Notizen zur weiteren Recherche behalten. Ich werde wohl der Universitätsbibliothek einen Besuch abstatten müssen.“
    „Ein Großteil der Notizen, die wir gefunden haben, bestand in wirrem und unverständlichem Zeug“, wandte Barnabas ein, „wir konnten damit inhaltlich nichts anfangen. Mir ist ohnedies schleierhaft, wie uns das bei den Ermittlungen helfen sollte.“
    „Mir auch“, entgegnete ich, „und genau darum möchte ich gern mehr darüber herausfinden.“
    „Ich nehme an, dass Du aus Fräulein Pallas Geschreibsel hier ermitteln möchtest, welche Bücher sie sich ausgeliehen hat?“, mutmaßte Devette.
    „Natürlich nicht. Wenn sich Pallas Bücher geliehen hat, dann wird es darüber Aufzeichnungen geben, die wir einfach anfordern könnten. Es geht mir um die Inhalte.“
    Barnabas seufzte: „Kommissar Devette, junger Mann, ich trübe Ihren Enthusiasmus wirklich nicht gerne, aber meine Untersuchungen haben bereits ergeben, dass es tatsächlich einen magischen Eingriff gab. Dies scheint mir die mit Abstand beste Spur zu sein.“
    „Was die Ausführung angeht haben Sie Recht“, pflichtete ich Barnabas bei, „allerdings interessiert mich eher die Motivation des oder der Entführer.“
    Barnabas zuckte mit der Schulter: „Was für eine Motivation sollte es schon sein? Natürlich wollen die Entführer ein Lösegeld erpressen.“
    „Gibt es denn bereits eine Forderung?“, fragte ich.
    „Ja“, antwortete Devette.
    „Wieso wurde ich darüber nicht informiert?“
    Devette schaute mich an, als habe ich eine überaus dumme Frage gestellt.
    „Wie ist denn die Forderung eingegangen? In Form eines Schreibens?“
    „Nein. Natürlich sind die Entführer persönlich bei seiner Hoheit vorstellig geworden und haben ihm die Forderung vorgetragen. In Hexametern. Natürlich durch ein Schreiben, Schlaumeier!“
    „Dürfte ich das Schreiben sehen?“, fragte ich und unterdrückte meinen Ärger über die kommissarische Impertinenz. Erkannte dieser Cretin denn nicht, dass er auf meine Hilfe angewiesen war? Ich gebe nun unumwunden zu, dass kriminalistische Expertise nicht zu meinen Spezialitäten gehört. Doch ein Verstand wie der meine wird nicht leicht durch neue Erfahrungsbereiche überfordert. Es war offensichtlich, dass die Ermittlungen ohne meine Hilfe nicht voranschreiten könnten. Außerdem wollte ich nicht gern untätig warten, ob Pallas gefunden würde, war mir doch das bange Hoffen ungemein unangenehm.
    „Das Schreiben verlangt in neutraler Sprache und etwas krakeliger Handschrift Goldbarren im Wert von dreißigtausend gelderner Kronen. Abgesehen von der Unverschämtheit an sich nicht weiter informativ.“
    „Hm“, machte ich, „ist es nicht sonderbar, dass jemand, der eine magische Entführung aus dem fürstlichen Schloss durchführen kann, eine solch lächerliche Geldforderung stellt? Wenn es sich um einen Magier handelt, dann dürfte der wohl andere Möglichkeiten haben, um an ein Vermögen zu gelangen. Zum Beispiel, indem er direkt Gold aus der fürstlichen Schatzkammer entwendet. Das dürfte kaum schwieriger sein, als eine Person aus einem geschlossenen Raum zu entführen – und dabei weniger riskant. Wenn es sich nicht um einen Magier handelt, dann müssten die Verantwortlichen in der Lage sein, sich beträchtliche, magische Ressourcen anzueignen. Die wären derart kostspielig, dass die Aussicht auf dreißigtausend Kronen kaum eine plausible Motivation sein dürfte.“
    „Du glaubst also“, fasste Devette zusammen, „dass die Lösegeldforderung eine Ablenkung von den echten Motiven der Entführer ist?“
    „Ja. Und wenn es nicht um Geld geht, dann muss es um Pallas selbst gehen, um ihre Person. Dabei können entweder ihre familiären oder sonstigen Beziehung ausschlaggebend sein, oder aber“, ich machte eine Handbewegung, mit der ich Pallas' gesammelte Notizen umschloss, „ihr Intellekt. Da ich vermutlich eher dazu in der Lage bin, diese Notizen zu verstehen, werde ich in ihnen nach einem möglichen Motiv suchen. Sie dagegen dürften eher in der Lage sein, ihr Umfeld zu untersuchen, Kommissar Devette.“
    Devette kratzte sich das Kinn und zuckte mit der Schulter. „Meinetwegen.“
    „Nehmen wir jetzt schon von diesem Kind Befehle entgegen?“, fragte Barnabas aufgebracht.
    Devette gluckste: „Sie waren doch der Meinung, dass in diesen Aufzeichnungen keine Spur zu finden sei, Pater Barnabas. Da sollten sie doch froh sein, dass der Junge diesen Hirngespinsten nachgeht, so dass er uns in den eigentlichen Ermittlungen nicht weiter stört.“

    Natürlich irrte Devette: Ich war und bin überzeugt, dass mein Ansatz überaus vielversprechend ist. Und im Übrigen gedachte ich natürlich, mich selbst über Pallas' Hintergründe zu informieren. Einräumen muss ich allerdings, das meine Theorie davon, dass Pallas' intellektuelle Fähigkeiten ein Grund für die Entführung sein könnten, an einem überaus offensichtlichen Fehler hapern: Sollte es den Entführern darum gegangen sein, sich höchster Intelligenz zu bemächtigen, so hätten sie ganz ohne Zweifel MICH entführt.
    Etwas ähnliches schienen jedenfalls meine Eltern zu denken, die zwar nicht auf eine Rückkehr nach Hause bestanden – die übrigens angesichts meiner Verwicklungen in die Untersuchung des Verbrechens ohnedies nicht gestattet worden wäre – aber doch immerhin Markus anwiesen, mir nicht mehr von der Seite zu weichen. Mein Hinweis, dass jemand, der Pallas unbemerkt mitten aus dem fürstlichen Schloss entwenden könne, in Markus wohl kaum ein Hindernis finden werde, wurde irrational beiseitegewischt und ignoriert. Ich hätte aber Markus Hilfe ohnehin nicht verachtet, ersparte er es mir doch, die vielen Regale in der Bibliothek abzulaufen. So konnte ich mich denn an einem der vielen Lesetische installieren, derweil Markus selbst die Bücher zusammentrug.
    'Schwächen und Widersprüche im Saturasischen Atommodell von Pom Popotkin Pommolsson' war der Titel eines der Werke, eine recht interessante Abhandlung über das saturasische Atommodell und dessen Schwächen und Widersprüche. Es war ein sehr neues Werk, das etwa neun Monate zuvor in einem gelderner Verlag erschienen war. Die Notizen aus Pallas' Zimmer entdeckten mir bald, dass der im Verlag angestellte Lektor durchaus gute Arbeit leistete.
    „Dass sich die Belionen ungefähr so wie ein gängiger Trabant verhalten sollen, und brav ihre Bahn um ihre Innosonen nehmen, das mutet dann doch ein bisschen arg drollig an“, entnahm ich dem pallasschen Manuskript, „denn wenn man die makrokosmische Physik auf eine elementare reduzieren will, dann sollte er für diesen elementaren Bereich doch auch sowas wie eine eigene Mechanik entwickeln, oder etwa nicht?“
    Das gedruckte Werk formulierte die Aussagen weit nüchterner und schnörkelloser, und an die Stelle der vielen Beschreibungen und Erklärungen wurde eine weitaus mathematischere Darstellungsart gewählt. Doch handelte es sich offensichtlich um dasselbe Werk. Dass Pallas nun ein Buch kopieren oder nacherzählen sollte, das wirkte auf mich dann doch etwas unglaubhaft. Vielmehr hatte es den Anschein, als habe sie in den vergangenen Monaten diverse Fachbücher unter falschem Namen veröffentlicht. Viele dieser Publikationen, nicht aber alle, waren mir noch unbekannt, doch allesamt wirkten sie durchaus originell und überaus beachtlich. Ich fragte mich, wer wohl von Pallas' Publikationen wissen mochte. Vermutlich nur eine sehr begrenzte Anzahl an Menschen. Da ihre Publikationswut offenkundig mit ihrem Einzug ins Fürstenschloss ihren Anfang genommen hatte, erschien mir eine direkte Protektion durch den Fürsten wahrscheinlich. Doch ob in ihren kognitiven Fähigkeiten und Kenntnissen im Allgemeinen, oder möglicherweise ihren Forschungsbereichen im Besonderen das Entführungsmotiv liegen mochte, dessen war ich mir durchaus unsicher.

    „Soso“, sagte Pater Barnabas und zog die Brauen hoch, „'Das Problem der Monadologie in der Ontologie des Grenius' von Uhura Stnichtsoschnell, und was haben wir hier? 'Mathematische Grundlagen zur Wellentheorie' von Olla Stinkstiefel. Oh, und dann: 'Linguistische Literaturwissenschaft nach Garnau Klaufen' von Gerna Klauich von Dir.“
    Ich räusperte mich. „Erkennen Sie etwa kein Muster?“
    „Abgesehen von den idiotischen Künstlernamen? Nein.“
    „Ich auch nicht. Ist das nicht verdächtig?“
    Barnabas stöhnte.
    „Müssen wir wirklich mit diesem Quatsch unsere Zeit verschwenden? Ich sehe ja ein, dass angesichts der Ausführung des Verbrechens die Lösegeldforderung eine bloße Finte sein mag. Allerdings führt uns dieses blinde Herumstochern in fragwürdiger Literatur nicht weiter. Kommissar Devette, wie sieht es denn bei Ihnen aus?“
    Der gefragte zückte einen Schreibblock und begann, abzulesen.
    „Fräulein Pallas hat einen recht eingeschränkten Bekanntenkreis. Seit sie mit ihrer Mutter in das Schloss einzog, hatte sie insbesondere mit Dienstpersonal losen Umgang. Mit Ausnahme von Madame de Ponmadour, deren Abendkleid durch die Herrenkremeaffaire vor drei Monaten nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen wurde, scheint das Fräulein auch keinerlei Feinde zu haben...“
    „Es geht doch nicht um Pallas selbst“, unterbrach Barnabas die durchaus interessanten Ausführungen des Kommissars, „sondern um ihr familiäres Umfeld. Wie sieht es mit ihrer Familie aus? Die Fürstin dürfte es zum Beispiel nicht sehr gerne sehen, dass ihr Gatte...“
    Devette räusperte sich ungehalten: „Ihrer Hoheit könnten die fürstlichen Affären kaum von geringerem Belang sein. Es ist allgemein bekannt, dass die Fürstin selbst eine Reihe von Favoriten am Hofe hat – übrigens inklusive Monsignore Guetoni, seines Zeichens Magier des Feuers, wie ich anmerken möchte...“
    Der Kommissar stockte, und beide warfen mir etwas unbehagliche Blicke zu.
    „Vielleicht nicht gerade das ideale Thema für ein so junges Publikum“, entschuldigte sich Devette.
    „In der Tat“, pflichtete Barnabas bei.
    „Und wenn nicht die Geliebte des Fürsten, sondern der Fürst selbst das Ziel ist?“, mutmaßte ich, „unter den gegebenen Umständen wäre es doch möglich, dass Pallas als politisches Druckmittel verwendet werden soll.“

    Freilich hatte ich noch einen weiteren Verdacht. Der bestand im Grunde aus einer Mischung aus der zuletzt entwickelten Unterpfand- und der initialen Intellektnutzungshypothese: Und zwar fragte ich mich, ob eine derart kluge und erfindungsreiche Person wie Pallas nicht womöglich ihre beachtlichen Denkleistungen für den Fürsten selbst in Anwendung brächte. Ja, wer sagte denn eigentlich, dass der Pallas ihrer Mutter wegen an seinem Hofe leben ließ, und dass es nicht womöglich umgekehrt der Fall war? Etliche ihrer Entwicklungen waren zweifellos von einigem, unter Umständen auch militärischem Nutzen. Die fürstliche Protektion also mochte genuin Pallas selbst gelten. Und wenn dem so war, so mochte ihre Entführung das Werk ausländischer Agenten sein. Zweifellos hätten andere Staaten ein erhebliches Interesse, Geldern einer derart gefährlichen Kreativität zu berauben – und womöglich auch daran, diese für sich selbst wirksam zu machen. Zugleich erklärte diese Hypothese auch die beträchtlichen, magischen Ressourcen, welche den Entführern zur Verfügung stehen mussten. Insofern es sich also um die mit Abstand einfachste Hypothese handelte, zudem jene mit der größten Erklärungskraft, musste sie gemäß dem Laranischen Minimalprinzip die mit größter Wahrscheinlichkeit wahre sein.
    Neben der rein theoretischen Kraft dieser Hypothese sprach zudem noch ein ganz andrer, pragmatischer Grund dafür, ihr weiter nachzugehen. Ein Plan, der langsam in den unermesslichen Tiefen meines gesegneten Verstandes Gestalt annahm, und der womöglich der Schlüssel dazu war, meine Freundin zu finden und aus ihrer Bedrängnis zu erretten.
    Doch bevor ich dem weiter folgen konnte, bedurfte ich zunächst der Konfirmation. Und dazu, so war ich überzeugt, musste ich selbst Nachforschungen in Pallas' Umfeld anstellen.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (07.06.2015 um 10:39 Uhr)

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    VI. Glücklicher Zufall



    Ich weiß nicht, warum Markus alles mitmachte. Ich kann nur mutmaßen, dass mein Entschluss, bei der Rettung der Pallas behilflich zu sein, ihn mit einem gewissen Stolz erfüllte. Womöglich sah er darin die ritterlichen Ideale verwirklicht. Immerhin hat es doch durchaus etwas ritterlich-Heldenhaftes, eine jugendliche, weibliche Person aus dem illegalen Gewahrsam mutmaßlicher Verbrecher zu befreien. Wahrlich: Ritterlich, heldenhaft und auch edel ist das. Nicht, dass ich mich mit derlei Dingen sonderlich auskenne. Vielmehr fand ich die Heldenepen in der Regel eher etwas langweilig, man könnte auch sagen, dass sie mir, wann immer sich mein Gemüt mit ihnen zu beschäftigen gezwungen sah, doch ein bisschen auf die Nerven gingen. In der Regel nämlich sind Helden ausgesprochen dumm. Ihre Talente bestehen in der Regel darin, tollkühn ausweglose Kampfsituationen zu suchen, in denen sie entweder durch unverschämtes Glück die Welt erretten, oder aber kläglich zugrunde gehen (wobei mitunter beides zusammenkommt), in jedem Falle aber Ruhm erlangen (der, im Gegensatze zu den Helden selbst, metaphorisch gesprochen unsterblich ist).
    Im Allgemeinen wird diesen Helden eine erhebliche Faszination nachgesagt. Ich weiß nicht recht, worauf sich dies gründet, es entzieht sich meinem Verständnisse. Ich persönlich sah mich andern Figuren näher, etwa dem weisen Magier oder dem Orakel, welche in den Epen bloß unterstützende Funktion innehaben, obgleich unser Held, so edel, mutig und stark er auch sein mag, ohne diese doch nicht einmal an die Stätte seines ruhmreichen Sieges oder ruhmreichen Todes hätte gelangen können, geschweige denn, dass er gewusst hätte, was dort zu tun sei. Ja, ich möchte so weit gehen, zu behaupten, dass alle so ruhmreichen Helden ohne die allzu stark vernachlässigten Unterstützer in irgendeinem Sumpfe elendig verreckt, oder sich in end- und ergebnisloser Irrfahrt dem Vergessen ausgesetzt gesehen hätten. Und wer weiß, wievielen Helden vom Formate eines Akasha, eines Dominique, oder wie auch immer sie alle heißen mögen, ein derart kümmerliches Schicksal tatsächlich beschieden war?

    Genug der Abschweifung! Mein Ziel bestand nicht darin, mich in wilde Kämpfe zu stürzen, sondern Informationen zu sammeln und herauszufinden, wo sich Pallas befinden mochte. So gesehen waren meine Pläne also nicht gar so heroisch, als es zunächst erscheinen mag. Dennoch – aber davon wusste Markus nichts – beinhalteten meine Überlegungen sehr wohl Elemente, die doch immerhin ein bisschen in solch eine Richtung gehen. Denn wenn, so dachte ich mir, Pallas womöglich ihrer Fähigkeiten wegen entführt worden war, so mochte es durchaus möglich sein, dass die Schuldigen sich nicht nur ihrer, sondern eventuell auch anderer mit ähnlichem Vermögen würden bemächtigen wollen. Dementsprechend, so mein Calculus, mochte ich selbst einen durchaus tauglichen Köder abgeben, so ich denn ein wenig von mir reden machte. Mit meinen unerhörten Erfolgen beim Schachturniere nun war doch immerhin ein wenig an Popularität gewiss, doch befand ich es als notwendig, dem noch einen scientifischeren Impetus hinzuzufügen. Zu diesem Zwecke kurzfristige Publikationen herausgeben zu wollen, wäre sicherlich allzu optimistisch gewesen. Doch da ich mich nun einmal bereits in der Universitätsstadt Geldern aufhielt, zudem die fürstliche Aufmerksamkeit genoss und womöglich mit dessen weiterer Protektion rechnen konnte, wäre eventuell eine zumindest lose Beteiligung am akademischen Leben der Stadt möglich. Jedoch musste solch ein Schritt freilich wohlüberlegt sein, denn schließlich wäre niemandem gedient, begäbe ich mich so ohne weiteres in die Hände boshafter Schergen. Vielmehr wäre es erforderlich, eng mit den Sicherheitskräften zusammenzuarbeiten, auf dass diese denn auch tatsächlich dem Köder die Falle hinzufügten. Dies hinwiederum erforderte, dass ich glaubhafte Indizien dafür fände, dass die Entführer in solch einem Köder überhaupt eine Versuchung sähen.

    Ich hatte gerade einem phsyikotheologischen Seminar beigewohnt, dem ich durch seine prinzliche Hoheit als Redner anempfohlen worden war, nachdem ich ihm im Rahmen der Berichterstattung über den Fall Pallas einige Kostproben meiner tiefsinnigen, regelhaften Synthesis (d.i. meines Denkens) hatte verabreichen können. Der Fürst hatte sich als ausgesprochen angetan erwiesen, und mir sogleich vorgeschlagen, meine Teilnahme an derlei Veranstaltungen zum Behufe der Kommunikation meiner Ideen in die Wege zu leiten – immerhin war der Schachwettbewerb einstweilen unterbrochen worden, so dass ich aus fürstlicher Sicht durch keine sonstigen Verpflichtungen abgehalten sei.
    Mein Vortrag war, so möchte ich meinen, durchaus ein Erfolg gewesen, und Markus und ich befanden uns nunmehr auf dem Rückweg zum Schloss.
    „Seit wann“, fragte Markus mich, „interessieren Sie sich für Spitzentischdecken?“, dabei auf die Waren in dem Schaufenster anspielend, das ich mit scheinbar größter Konzentration zu mustern schien. Ich meine, dass ich mit scheinbar größter Konzentration musterte, oder aber das ich mit größter Konzentration zu mustern schien. Den Schein indessen mehrmalen zu erwähnen, mag doch etwas tautologisch sein, wobei, wenn ich es mir recht überlege, dies wohl tatsächlich als rhetorisches Mittel gelten möchte.
    Nun, wie dem auch sei: Natürlich interessierten die Spitzendeckchen mich nicht im Mindesten, sondern vielmehr die Reflexion einer Person, die uns seit einiger Zeit zu folgen mir keineswegs entgangen war (dies sei bitte als Accusativus cum Infinitivo zu lesen!). Der Verfolger, mutmaßlich ein gefährlicher Spion, hielt recht unumwunden auf uns zu.
    „Wir werden verfolgt“, war ich versucht, Markus mitzuteilen, doch gab es zwei Gründe, dies zu unterlassen: Zum Ersten hätte er darauf mit einer offenen Konfrontation reagiert, da ihm Heimlichkeit jedweder Art, sofern nicht durch höfliche Diskretion legitimiert, ein Graus war, und zum Zweiten hatte Markus selbst den Verfolger nun ebenfalls bemerkt und wandte sich denn auch offen zu diesem um.
    „Vielen Dank“, begrüßte er den Verfolger höflich und nahm mit einer Verbeugung den neuen Hut entgegen, den wir beim Seminar vergessen hatten, ein ausgesprochen modisches Ding, das mir von meinen Eltern am Tage zuvor gekauft worden und zu tragen aufgenötigt worden war.
    „Sehr gern“, sagte der junge Mann, der wohl zu den Studenten gehörte, die an besagtem Seminar partizipiert hatten, „übrigens war das ein höchst interessanter Vortrag. Diesbezüglich möchte ich gerne eine Frage stellen... es ist eher eine persönliche Sache, daher habe ich während des Seminars davon Abstand genommen.“
    Die Aussicht, von einem Fremden, den ich zudem fälschlich verdächtigt hatte, persönliche Fragen gestellt zu bekommen, erfüllte mich zwar eher mit Unbehagen, doch hatte der Mann seine Frage so höflich vorgetragen, dass ich ihm die Bitte kaum abschlagen konnte.
    „Einige der Denkfiguren waren eindeutig an einschlägige Publikationen von Lasse Laufen sowie Ernst vom Leben angelehnt – zwei Autoren, über deren Person absolut nichts bekannt ist.“
    „Und?“, fragte ich.
    „Nun, ich dachte... nun, sind SIE womöglich derjenige, der hinter diesen Namen steht? Ich frage rein aus Neugierde.“
    Durchaus war ich versucht, die Frage zu bejahen. Schließlich war das eine Gelegenheit, mich für etwaige weitere Aktionen von Pallas' Entführern zu einem attraktiveren Ziel zu machen. Doch kam es mir allzu unlauter vor, mir Pallas' Leistungen widerrechtlich zuzuschreiben. Abgesehen davon dürften die Entführer sie wohl lange genug beobachtet haben, um eine solche Lüge erkennen zu können, womit ich damit eher Misstrauen gesät hätte, so mutmaßte ich.
    „Nein, es tut mir leid. Dass es sich allerdings um Pseudonyme handelt, ist wohl offensichtlich. Es tut mir Leid, dass ich ihnen nicht helfen konnte, aber wenn der Autor dieser Werke anonym bleiben will, dann wird er wohl kaum als Redner im Rahmen einer akademischen Veranstaltung auftreten.“
    „Sie haben Recht. Danke für Ihre Zeit!“
    „Oh, nicht doch. Ich habe zu danken. Wegen dem Hut.“

    Sich bezüglich Pallas' Umfeld zu informieren erwies sich für mich als schwieriger, als ich erwartet hätte. Zwar ignorierte mich der Fürst nicht gänzlich, sondern gewährte mir durchaus die ein oder andere Audienz, da ich doch immerhin eine Art Freund der Tochter seiner Geliebten, zudem auch der Führende in dem ihm so am Herzen liegenden Wettbewerb war, und ihm wohl auch durchaus dergestalt imponierte, dass er sich für mich interessierte, doch war dies Interesse weit davon entfernt, mich zu regelmäßigem oder gar intimeren Kontakt zu ermächtigen. Noch schwieriger war das Erlangen von Eindrücken aus erster Hand von den sonstigen Mitgliedern der fürstlichen Familie. Von besonderem Interesse war für mich natürlich die Fürstin, welche, Devettes Einwänden zum Trotze, durch eventuelle Eifersucht gegen Pallas' Mutter umgetrieben sein mochte, und natürlich Pallas' Mutter selbst. Wie gesagt: Stimmte meine Hypothese, mochte es mit der Liebschaft zwischen Fürst und Edeldame nicht gar so viel auf sich haben, als es dem äußeren Anschein entsprochen hätte. Was ich also wissen wollte, war: Ob denn diese Liebschaft echt war, oder ob in der Tat Pallas selbst das eigentliche Interesse des Fürsten ausmachte. Doch wie sollte ich dergleichen herausfinden? Wohl kaum hätte ich einfach fragen können: 'Oh, und übrigens: Haben Sie wirklich eine Liaison mit einer gewissen Edeldame, oder geben Sie dies nur vor, um die Anwesenheit von der Edeldame Tochter am Hofe zu erklären, die in Wirklichkeit geheime Forschungen für Euer Hoheit betreibt?' Oder, wenn es mir denn gelungen wäre, die Dame zu sprechen: 'Ist der Fürst Ihnen wirklich in Leidenschaft verbunden, oder stellen Sie ihm lediglich den Verstand Ihrer Tochter zur Verfügung und geben hierzu die Liebschaft bloß vor?'
    So oder so wären dies allzu indiskrete, geradezu unverschämte Fragen gewesen. Gerne sage ich von mir, das Konventionen mir nicht viel wert sind, ich ihnen keine große Rolle beimesse. Ich bin der Ansicht, dass sie das Miteinander doch mitunter unnötig erschweren. Doch daran halten muss ich mich letztlich ja doch, so ich denn nicht allseitigen Unmut erregen will. Was ich sagen will: Auch, wenn es mir gehörig auf den Geist geht, und ich nicht verstehe, weswegen ein Verstoß wider die Etikette übel aufstößt, so begreife ich doch, dass dem so ist und es mir also zum Nachteile gereichte, würde ich derlei Regeln ignorieren. Mitunter ist es doch eine allzu große Bürde, zu dem kleinen Kreise wahrhaft rationaler Personen zu gehören, die es auf dieser Welt gibt.

    Eine Möglichkeit, die mir allerdings offenstand, war die Konsultation derjenigen, die sich zwar im Umfeld des... ähm, des Umfelds von Pallas aufhielten, aber zu diesem nicht gehörten, mich also beim Umfeld des Umfelds über das Umfeld zu erkundigen, sprich: Mich mit den Dienstboten und Mägden, den Knechten und Hausdienern, kurz: mit dem Gesinde anzufreunden. Denn diese Personengruppe war den Herrschaften gewiss nahe genug, um alle wichtigen Ereignisse und Verhältnisse bezeugen zu können, ohne deren Unnahbarkeit zu teilen.
    Nur: Wie sollte jemand wie ich mit Individuen geringeren Standes, die sich normaler Sozialverträglich erfreuten, in produktiven Kontakt kommen? Sicherlich: Erreichbar waren sie. Nur wie sollte ich mit ihnen interagieren? Pallas wäre gewiss dazu in der Lage gewesen, war sie doch eine überaus charmante Person. Ich dagegen... nun, die Erfordernisse der Geselligkeit erschließen sich mir in der Regel kaum. Also bedurfte ich entweder eines gesellschaftsfähigen Agenten, der für mich die Ermittlungen erledigte – oder aber einen sehr, sehr guten Lehrer, mich zu instruieren.
    Markus konnte ich getrost für beide Rollen ausschließen. Zwar billigte er meinen Wunsch, mich um die Auflösung des Verbrechens zu bemühen, jedoch hätte er eine Fraternisierung meinerseits mit etwaigem Gesinde, und sei es auch fürstliches Gesinde, entschieden abgelehnt. Und er selbst hätte die Gespräche an meiner statt nicht führen können, da er es doch in seiner Pflicht sah, mich allseits zu begleiten. Überhaupt hätte es allzu sonderbar angemutet, wären da zwei Personen umhergeirrt, von denen die eine freundschaftliche Bande zu knüpfen vorgäbe, derweil die andre unbeteiligt danebenstünde.

    „Sie hier?“, vernahm ich eine mir nicht ganz unbekannte Stimme, als ich gemeinsam mit Markus in Richtung unserer Gemächer die Flure des Fürstenschlosses entlangschritt. Wir hatten zuvor einer Anhörung beim Fürsten beigewohnt, der sich regelmäßig über die Fortschritte bei den Ermittlungen unterrichten ließ, und dabei auch stets auf die Anwesenheit meiner Person zu beraterischen Zwecken bestand. Das Treffen hatte nicht sonderlich viel ergeben: Anweisungen aus weiteren Schreiben der Entführer folgend, die ihren Weg in den fürstlichen Briefkasten gefunden hatten, war eine Lösegeldübergabe versucht worden, die jedoch an dem ungünstig verlaufenden Beerdigungszug einer lokalen Berühmtheit und dem dadurch verursachten Verkehrschaos in der gelderner Innenstadt gescheitert war: Laila von Rosenfels, eine bekannte Befreiungsmystikerin, war überraschend an einer Erdnuss erstickt. Die ehrenwerte Dame, so verlauteten die Zeitungen, sei bis zu ihrem letzten Atemzug ihren Prinzipien treu geblieben, in vollkommenem Göttervertrauen jede ärztliche Beihilfe abzulehnen. Angesichts der tausenden Trauernden Anhänger der ehrwürdigen Dame waren die komplizierten Auflagen, welche für die Geldübergabe verlangt worden waren, unmöglich einzuhalten gewesen, und so wartete man nun auf weitere Instruktionen seitens der Entführer.
    Wie dem auch sei, ich vernahm also jene mir nicht unbekannte Stimme und wandte mich deren Erzeuger zu, in dem ich sogleich den jungen Studenten erkannte, der mir so freundlich einen lästigen Hut hinterhergetragen hatte. Der junge Mann trug die beim fürstlichen Gesinde übliche Livree.
    „Oh, aber was machen Sie denn hier?“, begegnete ich der Frage mit einer Gegenfrage.
    „Nun, ich arbeite hier. Irgendwomit muss ich mein Studium ja finanzieren. Ich wusste jedoch nicht, dass Sie ein Gast des Fürsten sind.“
    „Ja doch, im Rahmen des jährlichen Schachturniers.“
    „SIE nehmen an dem Turnier teil? Dann sind Sie sicherlich auch durch das Verschwinden des Fräuleins Pallas betroffen, nicht wahr?“
    Womöglich war dies genau die Gelegenheit, auf die ich geartet hatte.
    „Allerdings. Sagen Sie: Kennen Sie Fräulein Pallas denn persönlich?“
    „Nun“, sagte der Mann, „ich habe das Fräulein bisweilen gesehen. Aber ich habe durch meine Arbeiten hier nie sonderlich viel mit ihr zu tun gehabt. Warum fragen Sie?“
    „Weil... naja, ich fühle mich sozusagen persönlich betroffen. Wir, also...“
    Der livrierte Student grinste. „Ich verstehe schon: Zwei so kluge Halbwüchsige werden kaum achtlos aneinander vorbeigehen. Keine Sorge: Der Fürst wird alles in seiner Macht stehende tun, um Fräulein Pallas zurückzuholen. Sie werden Ihre Freundin sicherlich bald wiedersehen! Nun, wenn Sie mich jetzt entschuldigen...“
    „Warten Sie noch einen Moment! Erinnern Sie sich an Ihre Frage? Darüber, ob ich hinter jenen Pseudonymen stecke?“
    „Hm? Ohja, natürlich.“
    Ich hielt kurz inne, war ich doch nicht sicher, ob es klug wäre, fortzufahren. Immerhin, so dachte ich, hatte es sicherlich seine Gründe, wieso Pallas ihren wahren Namen nicht zur Veröffentlichung ihrer Werke nutzte. Ein sehr wichtiger Grund bestand vermutlich in ihrem geringen Alter, durch welches man ihre Gedanken möglicherweise nicht recht ernst genommen hätte. Doch Diskretion bezüglich ihres Geheimnisses erschien mir letztlich weniger wichtig, als die Aussicht auf Fortschritte in den Ermittlungen.
    „Ich habe den Verdacht, dass Fräulein Pallas die wahre Autorin dieser Bücher ist. Allerdings brauche ich dafür... nun, ich bedarf weiterer Evidenzen zur Konfirmation. Wenn es Ihnen nichts ausmacht... sie haben ja vielleicht etwas Zugang zu den Leuten, die zum direkten Umfeld des Fräuleins gehören. Ich meine damit die andere Dienerschaft in ihrem oder ihrer Mutter Diensten. Wenn Sie sich da ein bisschen umhören könnten, dann ließe sich das Geheimnis um die Autorenschaft vielleicht lüften.“
    Mein Gehilfe in spe runzelte etwas verwirrt die Stirn.
    „Ist es nicht etwas unangebracht, Fräulein Pallas auszuspionieren, während sie gerade entführt wurde? Ich weiß nicht, also ich finde das ein bisschen pietätlos.“
    „Wir tun damit doch nichts Schlimmes. Ich persönlich habe während des Moratoriums über das Schachturnier ohnehin nichts zu tun, und da dieses Thema Sie doch besonders zu interessieren schien...“
    „Nun, zumindest kann ich mich ja mal umhören, Herr von Südersloh. Ach, mein Name ist übrigens Jan. Jan Schneider.“
    „Sehr erfreut.“
    „Ich muss nun aber wirklich los! Wir sehen uns.“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (07.06.2015 um 10:40 Uhr)

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    VII. Zu schlau als gut für ihn ist



    Über die Quelle der Materialien für die unterschiedlichen Geräte, die Pallas und ich konstruiert hatten, hatte ich mir keine sonderlichen Gedanken gemacht. Pallas schienen derlei Dinge eben irgendwie zur Verfügung zu stehen, und sie ging mit den Materialien und Werkzeugen so selbstverständlich um, und wusste mich so problemlos in ihre wunderlichen Projekte hineinzuziehen, dass ich niemals zu fragen die Gelegenheit hatte.
    Dennoch fügte es sich freilich sehr schön ins Bild, als mir Herr Schneider die Information zutrug, dass Pallas im Schloss einen eigenen Werkraum habe. Ob mir der von Devette und Barnabas verschwiegen worden, oder deren Aufmerksamkeit ebenfalls entgangen war, das wusste ich nicht. Doch gedachte ich, es herauszufinden. Von Schneider über die Position des Raums unterrichtet, fand ich mich gemeinsam mit Markus recht schnell dort ein. Der Raum befand sich im Erdgeschoss des alten Turmes, der am Westflügel des Schlosses gelegen war und offenbar in seiner Gänze von Pallas ihrer Mutter genutzt wurde, mit Ausnahme eben jenes Werkraumes. Ich mutmaßte, dass die polizeilichen Ermittlungen diese pallassche Wirkstätte wegen dieser Sphärenüberschneidung womöglich tatsächlich übersehen hatten.
    „Kein Eintritt“, informierte das erste, an der Tür befestigte Schild, „Privat!“ ließ das nächste verlauten, und endlich erklärte das letzte Signal, dass der „Eintritt auf eigene Gefahr“ sei.
    Doch davon wollte ich mich natürlich nicht aufhalten lassen. Dennoch stellte sich die Frage, wie ich das Türschloss überwinden sollte. Im Einbruchshandwerk kenne ich mich nun leider kaum aus, Sachbeschädigung war unvertretbar, und einen Schlüssel besaß ich nicht. Überrascht musste ich jedoch feststellen, dass es für einen solchen Ohnehin keinerlei Öffnung gab, womit sich die Frage stellte, durch was für eine Art von Mechanismus die Tür zu sperren oder zu entsperren war. Vermutlich hatte Pallas bei der Installation des Schlosses ihrer Kreativität freien Lauf gelassen.
    An der Stelle, wo normalerweise Schloss samt Schlüsselloch zu erwarten wären, befand sich ein geschlossener Kasten. Es war anzunehmen, dass dieser genau die gleiche Art von Mechanismus beherbergte, wie es bei normalen Schlössern eben üblich ist: Also einen Riegel, der sich ein oder ausfahren ließ, um damit die Tür zu blockieren. Jedoch die Betätigung musste anderweitig erfolgen. Ich trat einige Schritt zurück, um mir die Tür im Ganzen noch einmal besser beschauen zu können, wobei ich dem guten Markus vor den Bauch stieß.
    „Entschuldigung!“
    Markus kommentierte mein Missgeschick nicht weiter, sondern trat lediglich zur Seite. Er verhielt sich ungewöhnlich schweigsam, womit er mir wohl seine Missbilligung darüber ausdrücken wollte, dass ich ungebeten das Boudoir einer Dame zu betreten gedachte, oder doch zumindest eine solche Lokalität, die als Äquivalent eines Boudoir gehandelt zu werden verdiente.
    Einerlei: Aus meinem nun etwas übersichtlicheren Blickwinkel betrachtet ergab sich das Bild einer gewöhnlichen Tür: Metallverstärktes Holz in einem Holzrahmen. Die Metallverstärkung zog sich in zwei in der Mitte durch ein Querband verbundenen Streben über die gesamte Länge der Tür, reichte also von deren Schwelle bis hin zum Sturz. Das heißt: Tatsächlich war das Querband mittig unterbrochen, durch eine Auslassung in Form eines Kupferpfennigs. Ob dies wohl den Mechanismus darstellte? Ich zog einen Pfennig hervor und legte ihn ein. Nichts geschah.
    Erneut trat ich zurück, zu schauen, ob ich etwas übersehen hatte.
    Wie, so fragte ich mich, würde Pallas eine solche Tür zu einem ihr wichtigen Raum sichern? Die Antwort musste ebenso originell wie effektiv sein, soviel war klar. Ich forschte in meinen Erinnerungen nach den vielen Ideen, von denen sie mir in unserer gemeinsamen Zeit erzählt hatte.
    „Markus, würdest Du mich bitte kurz hochhalten? Ich muss etwas überprüfen!“
    Markus zog die Brauen hoch und betrachtete mich mit kühlem Blick, sagte jedoch kein Wort. Ich seufzte also und versuchte, springenderweise einen Einblick in den Übergang von der Tür zum oberen Türrahmen zu bekommen, was mir zwar einiges an Schweiß und Schnauben abnötigte, sonst jedoch kaum einen Erfolg brachte. Endlich erbarmte sich Markus meiner, packte mich unter den Achseln und hob mich etwas in die Höhe. Und tatsächlich: An dem Ende des Metallbandes setzte ein dünner Draht an, der aus Metall zu bestehen schien. Mit weißer Farbe versehen war er vor dem Hintergrund der weiß getünchten Wand kaum auszumachen, insbesondere dann nicht, wenn man nicht danach suchte. Der Draht setzte sich in Richtung eines Fensters fort, durch das der Korridor erhellt wurde. Da es sich um einen etwas älteren Teil des Schlosses handelte, der wohl vor einiger Zeit noch Bestandteil einer Wehranlage gewesen war, war das Fenster noch in einem altmodischen, ardeanischen Stil gehalten: Ein Rundbogenfenster mit Glaseinsätzen und Holzläden. Eine Untersuchung zeigte, dass der Draht von der Tür her genau zu den Scharnieren des Fensters führte.
    Natürlich! Pallas hatte schon einige Male davon gesprochen, dass der Schlüssel zur Lösung der meisten, technischen Probleme in der Umwandlung von Energie bestehe: Ließe sich Energie beliebiger Art beliebig in eine beliebige, andere Energieform umwandeln, so ihr Gedanke, so ließe sich dadurch auf technische Weise nachgerade alles tun, was man wolle. Und sie hatte mir stolz Pläne eines Apparats vorgetragen, durch den sich kinetische Energie in elektrische, und sodann umgekehrt wieder in kinetische umwandeln ließe.
    Ich öffnete also das Fenster, das einen größeren Widerstand bereitete als erwartet. Ein tiefes Surren ertönte, und kurz darauf ein helleres Sirren von der Tür aus, und endlich ein Klicken. Ich sprang zur Tür und betätigte die Klinke, und siehe da: Die Tür war entriegelt!
    Ich entfernte den Metallkontakt in Form meines Pfennigs und schloss das Fenster wieder. Das tiefe Surren am Scharnier erklang erneut, das hellere von der Tür blieb natürlich aus.
    „So“, teilte ich Markus ein wenig selbstzufrieden mit, „wir können eintreten.“

    Stolz schickte mich an, die Tür demonstrativ aufzureißen, als mich ein sonderbares Gefühl beschlich. Also begnügte ich mich einstweilen mit einem schmalen Spalt. Kurzes Abtasten und ein Blick bestätigten meine Vermutung: Natürlich hatte Pallas die Tür mit einer simplen, aber effektiven Falle gesichert: Würde sie einfach so geöffnet, und jemand darunter durchgehen, so entleerte sich promt ein Eimer mit für mich nicht einsehbarer Flüssigkeit. Ein Umlegen eines Hebelchens sollte dies zu verhindern wissen. Ich grinste, dass ich diesen Trick so flugs durchschaut hatte, legte das Hebelchen um und betrat den Raum.
    Ein Schwall kalten Wassers ergoss sich über meinen Kopf, als das auf der andern Seite über der Tür angebrachte Behältnis umkippte. Ich bin mir relativ sicher, dass für einen kurzen Augenblick ein Ausdruck der Belustigung über Markus' Antlitz huschte, jedoch war dieser Augenblick so kurz, dass er darauf unmöglich festzunageln wäre, und auf Nachfrage hätte er wohl, Ehre und Ehrlichkeit hin oder her, alles abgestritten.
    „Hervorragende Arbeit, Sir“, sagte er mit absolut neutralem Tonfall und folgte mir in den Raum. Ich schloss die Tür, um eventuell daran vorbeikommende Passanten nicht zum Betreten zu ermuntern, immerhin wollte ich ihn ja in Ruhe untersuchen.
    „Herzlichen Glückwunsch zur Überwindung des Schlosses“, gratulierte mir ein Zettel an der Innenseite der Tür, „aber Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass ich jedes mal, wenn ich den Raum betrete oder verlasse, einen dummen Riegel umlege, oder? Das wäre doch wirklich viel zu umständlich, Dummerchen!“
    Handschrift und Signatur ließen keinen Zweifel am Urheber der Botschaft. Alarmierenderweise jedoch ließ die Anrede ebensowenig Zweifel am Adressaten: Pallas hatte offenbar damit gerechnet, dass ich den Raum finden und betreten würde. Ärgerlich riss ich den demütigenden Zettel herunter - und staunte im Stillen über Pallas' Scharfsinn.

    Derweil die Wassertropfen mir von Nasen- und Haarspitzen tropften, wandte ich mich zum Raum um: Wenn ich angesichts des Türschlosses nicht ohnehin gewusst hätte, dass den Raum vor mir niemand durchsucht hatte, so hätte sein Zustand mir dies ohne weiteres verraten. Denn es war völlig undenkbar, dass Devette und Konsorten ihn einem so gänzlich chaotischen Zustande bar jeder Ordnung belassen hätten: Rundum angebrachte Rundbogenfenster erhellten mir einen Anblick, dem nicht unähnlich wie ich ihn aus ihrem Schlafgemach kannte: Angefüllt war Pallas' Boudoir mit Büchern und bekritzelten Papierbögen, die sich überall dort befanden, wo denn irgend Platz war. Anders als im Schlafzimmer jedoch fehlten hier die Kleidungsstücke. Dafür aber waren etliche Arbeitsmaterialien vorhanden, von mechanischen Werkzeugen unterschiedlichster Feinheit, wie Schrauben und Nägeln, Zangen und Schraubendrehern, Holzlatten- und Röhrchen, Metallbändern- und Drähten, Federn, Klöppeln, Spannen und Zahnrädchen hin zu alchemistischem Gerät, wie Glaskolben, Gasbrennern, allerlei Behältern mit unterschiedlichen, unterschiedlich viskosen Flüssigkeiten und Pulvern. An einer Wand hingen getrocknete Kräuter an einer Schnur, an einer anderen befand sich ein Schränkchen mit vielen kleinen Fächern. Zwischen zwei Fenster stand ein halbfertiger, mechanischer Apparat, dessen Zweck mir nicht erkenntlich war, und auf mehreren Arbeitsflächen befanden sich diverse, halbfertige Apparaturen, die wohl recht feinsinnige Uhrwerke beinhalten mussten.
    Einen Gegenstand jedoch erkannte ich sofort: Strigidus. Es wunderte mich etwas, dass Pallas ihr Kuscheltier in so eine Umgebung brächte. Etwas versonnen nahm ich das Ding von einem der Tische, und wunderte mich etwas darüber, wie schwer es doch war.
    Ich wollte eine Bemerkung dazu machen, als ich von der Türe her ein Sirren vernahm.
    „Schnell!“, hauchte ich Markus zu und suchte inmitten der Werkbänke und Tische Deckung, „da kommt noch jemand!“
    Markus hob überaus missbilligend die Brauen und dachte gar nicht daran, sich ebenfalls zu verstecken. Stattdessen wandte er sich gen Tür und erwartete den Neuankömmling, der einen Augenblick später die Tür öffnete und das Zimmer betrat.
    „Oh“, hörte ich von meinem Versteck her eine Frauenstimme, „was machen denn SIE hier in diesem Raum? Ich glaube nicht, dass Sie sich hier aufhalten sollten!“
    „Ich bitte um Verzeihung“, hörte ich Markus sagen, „und gebe Ihnen unumwunden Recht. Jedoch kann ich versichern, dass ich für mein Hiersein gute Gründe habe. Die Frage wäre überdies auch: Was machen SIE hier?“
    „Ich“, sagte die Frau, „betrete lediglich einen der Räume, die mir seine prinzliche Hoheit, der Fürst von Geldern, zur Verfügung gestellt hat.“
    „Dann sind Sie also die Mutter des Fräuleins Pallas?“
    „In der Tat. Und angesichts ihrer Entführung – oh, hoffentlich geht es meinem lieben Kind gut! – ist Ihr Eindringen in diese Räumlichkeit sehr verdächtig! Ich hoffe für Sie, dass Sie eine gute Erklärung haben.“
    „Die habe ich in der Tat“, erwiderte Markus, „ich bin hier auf Anweisung des jungen Herrn von Südersloh, eines Freundes des verschwundenen Fräuleins Pallas. Mein junger Herr ist sehr an der Aufklärung des Verbrechens interessiert und wies mich daher an, Untersuchungen anzustellen. Daran, dass ich diese Tür überwinden konnte, werden Sie gewiss erkennen können, dass ich nicht lüge, sondern die Wahrheit sage. Schließlich muss ihm von Fräulein Pallas der Mechanismus erklärt worden sein. Bedauerlicherweise scheint entweder sie ihm, oder aber er mir zu sagen versäumt haben, wie der Mechanismus der Falle funktioniert. Glücklicherweise habe ich die Tür geöffnet, ohne sogleich ins Zimmer zu stürzen, ansonsten würden Sie mich nun in einem wesentlich derangierteren Zustand antreffen.“
    Ich muss sagen, dass mich Markus' Geistesgegenwart sehr beeindruckte, hatte er mit seiner Lüge doch nicht nur seine Anwesenheit, deren Legitimität und die Wasserpfütze, sondern sogar den Umstand erklärt, dass er selbst trockengeblieben war.
    „Gut denn. Ich muss Sie dennoch bitten, zu gehen. Dies ist schließlich ein privates Gemach, in dem ein fremder Mann nichts zu suchen hat. Mich wundert übrigens, dass der junge Mann – von Südersloh war das? – nicht selbst erschienen ist.“
    „Der junge Herr von Südersloh ist derzeit leider... unabkömmlich.“
    „Ich verstehe“, sagte die Dame, „nicht. Aber das muss ich wohl auch nicht.“
    Markus hüstelte.
    „Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden...“
    Die Frau schnaubte verächtlich. „Wenn Sie damit meinen, dass ich Ihr verschwinden begrüße: Allerdings! Verwechseln Sie das aber bitte nicht mit einer Entschuldigung! Dies wird, da können Sie sicher sein, ein Nachspiel haben. Und ich denke, dass ich wohl ein paar Worte mit Ihrem jungem Herrn werde sprechen müssen.“
    Ich vernahm Markus' Schritte, dann wieder das Geräusch der Tür. Nun war ich mit Pallas' Mutter alleine. Natürlich hätte ich die Gelegenheit nutzen können, sie sofort zu konsultieren. Dann aber hätte ich vermutlich darauf verzichten müssen, den Raum in Ruhe nach Hinweisen zur Untermauerung meiner Hypothesen zu durchsuchen. Und da die Dame ja ohnehin angekündigt hatte, dass sie mit mir reden wolle, war es der durchaus bessere Plan, mich versteckt zu halten und zu hoffen, dass sie den Raum bald verlassen werde.
    Die Frau machte einige Schritte in den Raum hinein.
    „Hmpf, da ist es nicht“, murmelte sie und wühlte etwas in dem Papierwust auf den Tischen herum. Ich versuchte, kein Geräusch zu machen und hoffte, dass ich nicht in das Blickfeld der Frau geraten würde.
    „Hmpf“, schnaubte die nach einer kurzen Weile des Suchens erneut, und murmelte: „man sollte meinen, dass das Mädchen etwas besser auf seine Sachen aufpasst...“
    Die Schritte der Frau verlegten sich dem Klange nach gen Tür, die dann auch geöffnet und durchschritten wurde. Ich unterdrückte ein allzu baldiges Aufatmen und verfrühtes Wiederhervorkommen aus meinem Versteck, doch endlich glaubte ich mich sicher.

    Ich nehme an, dass ich wohl unbeabsichtigt an einen Schalter oder dergleichen geraten bin, doch ist dies nur Mutmaßung. Als ich jedenfalls die Plüscheule, die ich Zeit meines Verstecktseins in Händen behalten hatte, zur Seite legen wollte, um mich endlich an die Beschauung des Raums zu machen, geschah etwas Merkwürdiges. Etwas Unerhörtes. Etwas ganz und gar Schicksalhaftes. Was nun geschah, so sollte sich bald herausstellen, würde den Verlauf meiner Suche entscheidend ändern.
    Strigidus erwachte zum Leben.

    Natürlich wird das Stofftier nicht wirklich lebendig geworden sein. Vielmehr vermute ich, dass Pallas eine komplizierte Maschine in dessen Inneren installiert hatte, die nun das Lebendigsein simuliere. In jedem Falle begann sich der Vogel zu bewegen und – und das war wirklich unglaublich – zu sprechen.
    „Hallo, ich bin Strigidus“, sagte das Ding mit etwas blecherner Stimme schleppend, „ich hab Dich lie...“ Der Apparat stockte, „Fehler! Benutzererkennung gescheitert. Nicht autorisierter Zugriff. Notfallprotokoll wird initialisiert. Beginne Suche nach Administratorin. Bitte warten! Administratorin gefunden.“
    Das Plüschtier begann, recht schnell mit den Flügeln zu schlagen und sich in die Lüfte zu erheben. Ich war gespannt, was nun passieren würde.
    „Strukturelle Integrität von Hindernisobjekt zu hoch“, stellte Strigidus fest, nachdem er gegen eines der Fenster geflogen und sodann zu Boden geplumst war. Ich öffnete die Tür.
    „Alternative Route identifiziert. Neuberechnung, bitte warten!“
    Und schon machte es sich auf zur Tür. Ich folgte ihm. Konnte es wirklich sein, dass Pallas eine Maschine entwickelt und gebaut hatte, die nicht nur in der Lage war, zu sprechen und zu fliegen, sondern die ihre Herrin sogar von Ferne aufzuspüren vermochte? Nicht im Traume hätte ich mir dergleichen vorzustellen vermocht. Tatsächlich mochte es sich wohl ebensogut um Magie handeln, wie um einen mechanischen Apparatus. Ich habe bereits Golems gesehen, sogar die überaus hochentwickelten des khorinischen Königreiches. Pallas' Strigidus schien der dort angewendeten künstlichen Intelligenz in nichts nachzustehen.
    Natürlich wäre es besser gewesen, die Polizei von meiner Entdeckung zu informieren, oder die Palastgarde, oder doch zumindest Markus dabeizuhaben. Doch dafür war nun keine Zeit. Dies war eine einmalige Möglichkeit, Pallas zu finden. Ich dufte Strigidus nicht aus den Augen verlieren. Also folgte ich ihm, wie er durch die Flure des Schlosses sirrte. Bei dieser Gelegenheit nun begab es sich, dass ich zum ersten Mal ein Fenster anstelle einer Tür durchquerte, um ein Gebäude zu verlassen, denn ein ebensolches, zu Lüftungszwecken geöffnetes, war Strigidus Wahl gewesen. Die im Raume anwesenden Damen und Herren schauten nicht schlecht, doch darum konnte ich mich wirklich nicht bekümmern.
    So lief ich denn hinter dem künstlichen Vogel her, dessen Flügel ihn offenkundig nicht zum Erreichen sonderlicher Höhen bemächtigten, und der daher durchaus eine Route nahm, der ich folgen konnte, über einige Blumenbeete hinweg, durch das Gekeife des ob der von mir zertrampelten Rosen verärgerten Gärtners hindurch, endlich in die Straßen der Stadt hinein. Ich sah mich noch einige Male gezwungen, widerrechtlich fremde Grundstücke und Gebäude zu durchqueren, was sich angesichts meines vor Anstrengung geröteten Antlitzes jedoch kaum anatomisch bemerkbar gemacht haben dürfte, obgleich es mir außerordentlich peinlich war.
    Die Gegenden, durch die mich Strigidus führte, wurden zunehmend dekadenter, offenkundig begaben wir uns in die weniger elaborierten Gefilde der Stadt. Immer enger wurden die Gassen, auch düsterer, und das Publikum erschien mir zunehmend weniger vertrauenerweckend. Ein bisschen fürchtete ich, meine Kleidung könne in diesem Milieu doch Quelle einiger Probleme sein.
    Doch endlich, nach einer schieren Ewigkeit der körperlichen Ertüchtigung, jedoch bemerkenswert wenigen Zusammenstößen mit etwaigen Anwohnern, gelangten wir zum Ziel: Strigidus steuerte schnurstracks auf ein etwas düsteres Anwesen zu.
    Ich gestehe es unumwunden: Es war dumm von mir, ihm weiter zu folgen. Klüger wäre es gewesen, Kehrt zu machen und später mit Verstärkung zurückzukehren. Doch andererseits: Wer würde mir glauben, dass sich Pallas in jenem Grundstücke aufhielt? Zumal ich es ja selbst nicht bezeugen konnte, sondern lediglich das Vertrauen in einen Automaten mich zu dieser Überzeugung brachte. Und selbst wenn: Wie sollte ich dies Grundstück wiederfinden? Ja, wie sollte überhaupt wieder zu jenen Regionen zurückfinden, in denen ich Verstärkung akquirieren konnte?
    Das Ergebnis meines Handelns jedenfalls ist wohlbekannt.

    Nun sitze ich hier, in Ihrem Gewahrsam. Ihre Schergen haben mich schön außer Gefecht gesetzt. Fliehen zu können brauche ich mir gar nicht erst zu erhoffen. Stattdessen habe ich Ihnen alles gesagt, was Sie wissen wollten, unter Ihrem Wahrheitszauber, der mir selbst solche Details abnötigte, die mir allzu peinlich sind.
    Was mich jedoch am meisten umtreibt, ist die Frage: Warum? Warum diese Entführung? Welchen Zweck soll das haben? Denn Sie sind es doch, oder? Diese Frau. Ohja, Sie sind Pallas Mutter, und die Person, die hinter dieser ganzen Angelegenheit steckt. Ist es nicht so, Lady Medusa?“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (07.06.2015 um 10:42 Uhr)

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    VIII. Ziemlich verrückte Pläne



    „Oh, wie wundervoll!“, sagte Lady Medusa, und ihre Augen leuchteten freudig auf, „wie ganz und gar wundervoll! Noch nie hatte ich jemanden wie Dich. Es ist einfach erstaunlich. Wer hätte gedacht, dass ich auf so vorzügliche Art und Weise unterhalten würde? Wirklich, ich muss zugeben, dass ich noch nie auf einen Verstand wie den Deinen getroffen bin. Jedenfalls nicht bei einem Menschen. Dass Du Dir meines Zaubers bewusst bist, ist alleine schon bemerkenswert. Dass Deinem überquellenden Verstand jedoch selbst unter diesem Einfluss kein Einhalt zu gebieten war, das ist wirklich ganz außerordentlich!“
    Die Dame legte die Tasse, aus der sie während des Berichts getrunken hatte, auf die Untertasse und diese auf das Tischchen zwischen ihnen, beugte sich vor, und strich dem jungen Mann über Schläfe, Wange und Kinn, in einer fließenden, spielerischen Bewegung, näherte ihr Gesicht dem seinen an, bis sie sich fast berührten.
    „So ein süßer, kleiner Mann“, hauchte sie an seiner Wange vorbei in sein Ohr, „jetzt verstehe ich, wieso sie so in Dich vernarrt ist. Aber Du hast natürlich Recht. Es war ein Fehler von Dir, einfach herzukommen. Ein großer Fehler. Und den, mein Lieber, müssen wir nun beide ausbaden, nicht wahr?“
    Der Junge errötete. „S-Sie haben m-meine Frage noch nicht beantwortet“, stammelte er.
    „Nein, habe ich nicht. Und ich glaube, dass ich das jetzt auch nicht tun werde. Nicht sofort. Nicht nach diesem wunderschönen Bericht, den Du mir geschenkt hast. Das wäre einfach...“, sie legte in nachdenklicher Geste die Finger an die Lippen, „es wäre in gewisser Weise barbarisch. Nein, jede Erklärung, die ich jetzt geben könnte, wäre stumpf, schnöde und grob verglichen mit Deinen köstlichen Ausführungen. Lass uns lieber noch einige Augenblicke innehalten und den Moment genießen!“
    Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
    „Hm, was ist denn?“, sagte sie nach einer Weile verärgert, „siehst Du nicht, dass ich beschäftigt bin?“
    Der dunkelgewandete Mann, der den Raum betreten hatte, räusperte sich: „Habt Ihr den Knaben nun lange genug verhört? Ich denke, dass es an der Zeit ist, sich seiner endlich zu entledig...“
    „Weißt Du, wer das ist?“, fragte die Frau, „weißt Du, was er hier will?“
    „Er ist ein dummes Jungchen, das über unsere Operation gestolper...“
    „Nein, Du Dummkopf. Er ist nicht über unsere Operation gestolpert, sondern er hat sie aktiv gesucht. Denn er ist ein Freund unserer lieben Pallas. Dies, mein Guter, ist Odo von Südersloh, der Führende im diesjährigen Gelderner Schachturnier. Es ist ihm damit nicht nur gelungen, sich gegen die klügsten Strategen der bekannten Welt durchzusetzen. Nein, es ist ihm zudem geglückt, uns hier zu finden. Oh, und das nicht nur einfach so. Siehst Du das dort?“, sie zeigte auf den nunmehr abgeschalteten Strigidus, der auf dem Tischchen lag, „dieses Gerät war es, das ihn hergeführt hat. Unser guter Odo ist also in der Lage, eine effektive Suchmaschine in Betrieb zu nehmen. Also? Was folgern wir daraus?“
    Der Schwarzgewandete runzelte die Stirn.
    „Wollt Ihr etwa sagen, dass wir ihn gebrauchen könnten?“
    „Allerdings. Möglicherweise haben wir von Anfang an das falsche Opfer gewählt. Es würde mich wahrlich nicht überraschen, wenn sein technischer Verstand dem unserer Pallas noch überlegen wäre. Wobei ich davon ausgehe, dass beide zusammen umso bessere Arbeit leisten werden.“
    „Hm... dann werde ich den Meister darüber informieren. Er wird sicherlich sehr erfreut sein.“
    „Tu das, wenn Du nichts Besseres zu tun hast.“
    „Aber, wenn er uns wirklich gesucht und gefunden hat... womöglich wurde er verfolgt, was, wenn unser Versteck nun...“
    „Mach Dir keine unnötigen Sorgen!“, unterbrach Medusa den Schwarzgewandeten unwirsch, „Du zerbrichst Dir doch nur den Kopf. Er kam alleine, und ich bin sicher, dass niemand weiß, wo er jetzt steckt.“
    Das Gesicht des Mannes verzerrte sich zu einer Grimasse.
    „Und woher, wenn ich fragen darf, rührt diese Sicherheit?“
    „Dummkopf, also wirklich! Er hat es mir natürlich gesagt“, die Frau verdrehte die Augen, „und jetzt geh das tun, was Du am besten kannst: Unsern Meister informieren! Los, kusch!“
    Der Mann schnaubte, tat jedoch, wie geheißen.
    „So, und Du kommst nun mit mir. Nachdem Du und Dein Diener mich in Pallas' Werkstatt überlistet habt, Du Strigidus aktiviert und hierhergefunden hast, soll es doch nicht alles umsonst gewesen sein. Du sollst Deine Pallas wiedersehen. Aber vergiss bitte Strigidus nicht, Du wirst ihn brauchen!“

    Es ging durch eine Reihe von Fluren, die in einem besseren Zustand waren, als man dem Anwesen von außen angesehen hätte. Gelegentlich trafen sie auf weitere, in düstere Roben gekleidete Gestalten, die mit in den Ärmeln verschränkten Händen einherschlurften. Endlich erreichten sie eine Flügeltür, auf deren anderer Seite sich ein größerer Saal eröffnete, der aus an der Decke angebrachten Glasfenstern in helles Licht getaucht war, und von dem weitere Türen sowohl ebenerdig als auch von der über eine breite Treppe erreichbaren Galerie abgingen.
    Ein Großteil des Raumes war von einem riesigen Gerät eingenommen, das zu weiten Teilen aus unterschiedlichen Metallen zu bestehen schien, und an der Außenseite diverse Metalldrähte- und Rohre aufwies, die sich über den Boden schlängelten, teils in andern Geräten oder aber in Öffnungen an den Wänden endeten.
    „Was ist das?“
    „Das wird Dir Pallas selbst besser erklären können. Hier entlang!“
    Es ging die Treppe hinauf und durch eine weitere Tür.
    „Da wären wir. Pallas ist dort vorne. Ich denke, Ihr kommt zurecht!“

    Pallas saß inmitten von Kissen auf dem Boden zu Füßen eines recht gemütlich aussehenden Himmelbettes und hatte den Blick auf eine sonderbare Apparatur gerichtet, die aus einer in einem Kasten eingelassenen Glasscheibe bestand, auf der die Bilder höchst wunderlicher Kreaturen zu sehen waren. Der Kasten gab Geräusche von sich, von denen einige als sonderbare Sprache zu erkennen waren. Gelegentlich erklang ein belustigtes Zischen, wie von einem verborgenen Publikum, dem sich dann auch Pallas' Lachen anzuschließen pflegte.
    „Ähm, hallo“, sagte Odo zaghaft und trat einige Schritte in den Raum hinein.
    „Jetzt nicht“ entgegnete Pallas, „stells einfach ab und geh wieder!“
    „Pallas, ich...“
    „Das hier hat mindestens drei Millionen Jahre bis hier hin zurückgelegt. Wenn ich das jetzt nicht gucke, kann ich es gar nicht mehr sehen. Es sei denn, sie haben auch eine Wiederholung gesendet. Was immer Du hast kann sicher warten!“
    „Jetzt hör doch mal mit diesem blödem Kasten auf! Was ist das eigentlich?“
    Endlich, von Odos erhöhter Lautstärke aufgeschreckt, löste Pallas ihren Blick von dem Gerät und richtete ihn auf den Neuankömmling.
    „Odo?“, ihre Augen weiteten sich, während sie sich erhob, „was machst denn Du hier?“
    „Ich...“, Odo scharrte verlegen mit den Füßen im flauschigen Teppich, „naja, ich habe nach Dir gesucht und... naja, versucht, Dich zu retten.“
    „Du hast WAS getan?“ Pallas stampfe mit dem Fuß auf. „Bist Du eigentlich vollkommen verrückt geworden? Weißt Du eigentlich, wie gefährlich das hier für Dich ist? Weißt Du, was die mit Dir machen, wenn sie Dich erwischen? Oder nein, sag nichts! Sie haben Dich erwischt, oder?“
    Tadelnd schüttelte sie den Kopf.
    Odo war während Pallas' Tirade zunehmend in sich zusammengefallen. Sie hatte ja recht, er hatte es wirklich vermasselt. Er hatte sich selbst in Gefahr gebracht, und dabei auch noch Pallas' Hoffnung auf Rettung zunichtegemacht. Denn wie sollte sie nun gefunden werden, da er selbst ja ebenfalls gefangen war?
    „Ich habe Dir... also, ich habe Dir Deinen Strigidus gebracht. Siehst Du?“, sagte er endlich und versuchte sich in an einem entschuldigenden Lächeln.
    Es funktionierte: Pallas Miene hellte sich auf. Medusa hatte Recht gehabt, er hatte das Dinge wirklich gebraucht.
    „Oh danke!", rief Pallas und nahm ihr geliebtes Stofftier entgegen, drückte es sich glücklich an die Brust. „Mein lieber, lieber Strigidus!“
    „Ähm“, machte Odo, „Du weißt schon, dass er abgeschaltet ist und Dich nicht hören kann?“
    Pallas warf ihm einen Blick zu, als habe er einen ausgesprochen dummen Kommentar gemacht.
    „Natürlich weiß ich das. Ich drücke ihn doch nicht, um ihm was Gutes zu tun. Sondern für mich. Das Konzept von Kuscheltieren ist Dir aber schon bekannt, oder?“
    Natürlich wusste Odo, was ein Kuscheltier war. Er hatte sogar schon selbst eins besessen. Und möglicherweise hatte er es sogar gelegentlich geknuddelt. Erleichtert stellte er fest, dass er unter dem erlittenen Wahrheitszauber darüber nichts preisgegeben hatte. Wenigstens diese Peinlichkeit war ihm erspart geblieben.
    „Das ist doch jetzt nicht wichtig!“ versuchte er, das Thema auf das Wesentliche zu lenken, „Ich will lieber wissen, was hier eigentlich los ist! Lady Medusa hat nichts preisgeben wollen.“
    „Lady Medusa?“, Pallas runzelte die Stirn, „na, egal. Also, hast Du eine Ahnung, was das hier überhaupt für Leute sind?“
    Natürlich hatte er die: „Dunkle Kutten, bleiche, schweigsame Gesichter, ominöse Meister, die Bereitschaft, Eindringlinge einfach zu töten... ja, ich habe durchaus diesen Verdacht. Ich nehme an, dass wir einem Beliarkult in die Hände gefallen sind?“
    „Richtig“, bestätigte Pallas, „und weißt Du auch, was die Anhänger Beliars, des Gottes der Unterwelt, in der Regel so zu tun versuchen?“
    „Aber ja“, antwortete Odo, „sie versuchen die Weltherrschaft an sich zu reißen um die Macht ihres Gottes zu mehren.“
    „Genau. Nur ist es ihnen bislang noch nie gelungen. Weißt Du, wieso?“
    „Weil sie zu dumm sind?“
    Pallas lachte. „Sie sind wirklich dumm. Aber das alleine ist nicht der Grund. Sie wollen die Macht ihres Gottes mehren. Aber die Macht eines Gottes bleibt immer gleich. Man kann sie nicht mehren oder vermindern.“
    „Ah!“, Odo ging ein Licht auf, „es ist im Grunde das Prinzip der Energieerhaltung, nicht wahr?“
    „So ist es. Und da alle Götter dieselbe Macht haben, wird keiner davon jemals die anderen besiegen können. Egal, was ihre Anhänger tun, welche Siege sie erringen oder wie sehr sie sich anstrengen: Am Ende wird alles sich wieder ausgleichen. Es wird niemals ein Gott über die anderen triumphieren. Darum haben sich diese Beliardiener darüber Gedanken gemacht, wie man vielleicht die Macht ihres Gottes doch erhöhen könnte – und sind dabei zu einer eigentlich ganz interessanten Idee gekommen. Sag, kennst Du Viele-Welten-Theorie?“
    „In der Modallogik?“
    „Nein. In der Sphärologie.“
    „Ja. Bestimmte mathematische Modelle über die Bereiche der sphärischen Manifestation und der Teleportationsmagie legen die Vermutung nahe, dass es neben der unseren auch noch andere Welten gebe. Das heißt: Nicht einfach andere Welten, sondern andere Universen. Die Magier streiten sich offenbar darum, ob diese anderen Universen lediglich andere Raumzeitkontinuen unserer materiellen Welt sind, oder ob auch die anderen, nichtmateriellen Sphären mehrmals existieren. Soweit ich das mitbekommen habe, sind das bei diesem letzten Punkt aber eher philosophische als magiewissenschaftliche Erwägungen.“
    Pallas nickte. „Du bist ein ziemlicher Schlaumeier. Aber Du hast Recht. Und genau dieser Ansatz hat diese Leute auf eine interessante Idee gebracht: Wenn es mehrere Universen wie das unsere gibt, dann müssten in diesen Universen auch die Götter aktiv sein. Das heißt, dass Beliar, Adanos und Innos einen Teil ihrer Macht in diesen anderen Universen haben. Was würde nun also passieren, wenn man eine Verbindung zwischen den Universen öffnen und die Macht eines der Götter aus mehreren Universen in einem einzigen konzentrieren würde?“
    Die Antwort war recht simpel: „Dann würde dieser Gott in diesem Universum mächtiger sein, und die anderen beiden besiegen.“ Und doch, es gab da einen eindeutigen Denkfehler: „Aber wenn das geschehen würde, dann würde seine Macht in den anderen Universen geringer. Zwar würde er ein Universum dann ganz beherrschen, aber er würde ein anderes vollständig verlieren. Am Ende käme es dann doch wieder auf dasselbe hinaus. Oder nicht?“
    „Natürlich. Darum sagte ich ja, dass die ziemlich dumm sind. Wie dem auch sei: Trotz entsprechender Theorien ist es bisher nicht gelungen, mit magischen Mitteln eine Verbindung zu anderen Universen herzustellen. Und hier komme ich ins Spiel: Nachdem ich eine Reihe von Büchern zu diesem Thema veröffentlicht habe, dachten die, dass sie das mit meiner Hilfe erreichen könnten. Also haben sie mich entführt, um diese Maschine da draußen zu bauen. Das ist ein sogenannter Warpfeldgenerator, mit dem man Raum-Zeit-Singularitäten erzeugen kann, die interdimensionale Reisen möglich machen. Damit wollen die ein Portal zu einem Paralleluniversum öffnen, und dann Beliars Macht aus diesem anderen Universum in unser eigenes hier rüberholen.“
    „Unglaublich“, hauchte Odo, „sie wollen also ein Universum aufgeben, um ein anderes ganz für sich zu gewinnen.“
    Eine Sache jedoch verwirrte Odo nach wie vor: „Aber was macht Deine Mutter bei denen? Hat Lady Medusa ihren Kult unterwandert, um Dich zu befreien, oder sowas?“
    Pallas lachte: „Lady Medusa? Das ist doch Alzhara!“
    Odo verstand nicht: „Ich dachte, ich hätte sie wiedererkannt. Meinst Du, dass Lady Medusa in Wirklichkeit Alzhara heißt, oder sind das völlig unterschiedliche Personen?“
    „Also, es ist so“, hob Pallas zu erklären an, „dass Alzhara gar nicht wirklich meine Mutter ist. Sie hat nur so getan, um mich an den fürstlichen Hof zu bringen. Sonst wäre ich gar nicht so gut in der Lage gewesen, meine ganzen Bücher und so zu veröffentlichen. Der Fürst findet Wissenschaft ziemlich toll. Er will da wohl irgendwie mit diesen Goblins in Khorinis konkurrieren oder sowas. Darum unterstützt er intelligente, junge Menschen wie mich, weil er hofft, dass er dadurch wissenschaftliche Experten für sein Fürstentum gewinnen kann. Außerdem befinden sich am fürstlichen Hof alle möglichen Spione aus allen möglichen Ländern und von allen möglichen Gruppierungen. Da war es ja klar, dass diese Kultisten hier auf mich aufmerksam würden. Zur Sicherheit hatte Alzhara sich aber schon vorher bei ihnen eingeschlichen und auf die richtigen Ideen gebracht. Sie hatte wohl mal was mit deren ehemaligem Chef, Zuben oder so.“
    Odo konnte dies kaum glauben. Der varantinische Kalif und Schwarzmagier Zuben war zum Ende des zweiten Orkkrieges vor mehr als 60 Jahren gestorben. Diese Lady Medusa, oder Alzhara, oder wie immer sie auch heißen mochte, konnte doch unmöglich so alt sein! Sie sah aus, als sei sie höchstens 30 Jahre alt!
    „Du wolltest also entführt werden?“, fragte er.
    Pallas nickte: „Ja. Es war die einfachste Methode, weißt Du? Diese Leute hier sind ziemlich mächtig und total skrupellos. Man könnte auch sagen, dass sie die einzigen sind, die sowohl mächtig als auch verrückt genug sind, um mich so eine Maschine bauen zu lassen. Die meisten Fürstenhäuser oder Regierungen haben nicht genug magische Ressourcen, die anderen Kirchen würden mich an sowas nicht arbeiten lassen, ohne dass ich deren religiöses Brimborium mitmache. Denen hier ist das aber egal, weil sie ja glauben, dass ich das gegen meinen Willen für sie mache.“
    „Unglaublich“, murmelte Odo. Er war über diese Wendung der Ereignisse einigermaßen schockiert.
    „Dann habe ich mir die ganze Zeit umsonst Sorgen um Dich gemacht? Aber Du bist doch trotzdem in Gefahr, ich meine: Sie haben Dich doch wirklich entführt, oder? Und wieso willst Du eigentlich an dieser Maschine arbeiten? Nur aus wissenschaftlichem Interesse, oder wieso?“
    Ein sonderbar trauriger Ausdruck trat in Pallas' Augen.
    „Meine Gründe sind ziemlich persönlich. Entschuldige bitte, Odo. Aber ja: Sie haben mich wirklich entführt. Tut mir Leid, dass Du Dir Sorgen gemacht hast. Ich habe nicht gewusst, wann genau sie das machen würden. Aber Du brauchst Dir keine Sorgen machen: Alzhara ist ja da und sorgt dafür, dass es mir gut geht. Soweit ich weiß, gehört das Anwesen hier ihr.“
    „Und Ihr seid also gar nicht verwandt?“
    Ein Lachen drang von der Türe her.
    „Das wäre ja noch schöner!“
    Die Traurigkeit in Pallas' Ausdruck wisch kindischer Freude.
    „Ist es das, was ich glaube?“
    „Natürlich“, sagte Alzhara, „ich habe Euch Butterkremetorte und heiße Schokolade mitgebracht!“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (07.06.2015 um 10:43 Uhr)

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    Deus Avatar von Sir Ewek Emelot
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    IX. Zwischenspiel: Ein Läufer, eine Springerin und eine Dame betreten das Feld



    Die drei Reisenden waren ganz unvermittelt aufgetaucht, ohne dass Rafi ihr Eindringen aufgefallen wäre. Sonderbar, bemerkte er die Gegenwart von Fremden doch normalerweise wesentlich früher! Grund genug, die Fremden erst einmal eine Weile zu beobachten, bevor er sich zu erkennen gab. Falls er sich denn überhaupt zu erkennen gäbe, was wohl von dem abhing, was er da beobachten würde.
    Die Fremden waren, wie gesagt, zu dritt: Ein Mann und zwei Frauen. Rafi stellte fest, dass die beiden Frauen ausgesprochen schön waren. Eine davon, die größere, wirkte zudem sehr athletisch. Ihre Bewegungen, der sichere und leise Tritt sowie der silberne Bogen mit dem Pfeilköcher ließen keinerlei Zweifel daran, dass es sich um eine Jägerin handeln müsse, was Rafi seltsam fand, da Frauen nur recht selten einem solchem Beruf nachgingen. Die andere Frau hatte dagegen eine Sinnlichkeit an sich, die Rafis Blick immer wieder zu ihr hinzog.
    Der Mann wirkte von den dreien am wenigstens auffällig, doch mochte dies auch daran liegen, dass Rafi ihm nur mehr oberflächliche Aufmerksamkeit widmete.
    „Warum kommst Du nicht heraus und zeigst Dich?“, fragte die Jägerin, und Rafi wusste sofort, dass er damit gemeint war, obwohl sie es gar nicht in seine Richtung gesagt hatte.
    „Guten Tag“, sagte Rafi, derweil aus seiner Deckung hervortrat, und versuchte dabei, so harmlos wie möglich zu wirken.
    „Hallo“, begrüßte die kleinere der beiden Frauen ihn freundlich, „wie heißt Du denn?“
    „Ich heiße Rafi“, sagte Rafi, vom freundlichen Tonfall und der warmen Stimme ebenso angetan, wie von dem hinreißenden Antlitz.
    „Kennst Du Dich hier aus?“
    Rafi nickte: „Ja, ich lebe in dieser Gegend. Wieso?“
    „Wir suchen jemanden. Eine Person, die uns sehr wichtig ist. Vielleicht kannst Du uns helfen?“
    Rafi spürte jedenfalls das dringende Bedürfnis dazu.
    „Die Person, nach der wir suchen, ist ein Mädchen“, fuhr die Jägerin dazwischen, „sie dürfte diese Gegend vor vielleicht einem Jahr passiert haben. Sie ist ungefähr zehn Jahre alt, hat schwarze Haare und hellgrüne Augen. Ist Dir so jemand aufgefallen?“
    Rafi runzelte die Stirn.
    „Vor etwa einem Jahr? Das ist eine ziemlich lange Zeit. Aber ich glaube, dass tatsächlich so jemand hier durchgekommen ist. Komisch war das, so ein kleines Mädchen, ganz alleine in der Wildnis.“
    „Weißt Du, wo sie von hier aus hingegangen ist?“
    „Natürlich“, sagte Rafi stolz, „immerhin habe ich sie ja selbst zum Dorf gebracht. Ich würde Euch ja auch hinbringen, aber ich bin in die entgegengesetzte Richtung unterwegs, also...“
    „Och, bitte! Du möchtest uns doch nicht herumirren lassen, oder?“ Die kleinere der Frauen schlug höchst überzeugend die Augen auf und warf Rafi einen herzerweichenden Blick zu.
    „Natürlich bringe ich Euch hin!“, rief er aus, „Aber sie hat das Dorf mittlerweile wieder verlassen, ist fast sofort weitergezogen. Wohin weiß ich nicht.“
    „Das macht nichts“, sagte die Jägerin, „bring uns einfach hin!“

    Der Junge hatte knapp vor dem Dorf kehrt gemacht. Sie hatten es zugelassen, schließlich brauchten sie ihn ja nicht mehr. Es handelte sich um eine ziemlich kleine Ortschaft, umrundet von Bergen. Ein Ort primitiver Idylle.
    „Und?“
    „Hier war sie nicht, Tante.“
    „Bist Du sicher?“
    Die Jägerin warf der Kleineren einen genervten Blick zu.
    „Zweifelst Du etwa an meinen Fähigkeiten? Wenn ich sage, dass sie nicht hier war, dann war sie es auch nicht.“
    Die kleinere runzelte verärgert die Stirn.
    „Dann hat sich der Junge also geirrt?“
    „Vielleicht“, warf der Mann ein, „sollten wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er uns angelogen hat.“
    „Unmöglich!“
    Der Mann lächelte amüsiert.
    „Wie Du meinst, liebste Tante. Ich jedenfalls werde mich an dem Gedanken erfreuen, dass Du doch tatsächlich nicht jeden Mann um den Finger wickeln kannst. Derweilen kannst Du, Schwesterlein, die Witterung des Jungen aufnehmen, denn wenn er uns wirklich belogen hat, könnte er doch nützliche Informationen haben. Und das nächste Mal werde, wenn Ihr erlaubt, ICH ihn befragen.“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (09.09.2015 um 18:01 Uhr)

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    Deus Avatar von Sir Ewek Emelot
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    X. Stolz und Fehlurteil



    Odos zunächst recht intensive Angst ebbte rasch zu einem Gefühl dumpfer, aber stetiger Beunruhigung ab, das trotz der offenkundigen Gelassenheit von Pallas und dieser Lady Alzhara nicht verschwinden wollte. Sicherlich: Die Situation, in der er sich befand, war im Grunde doch recht komfortabel: Immerhin waren die Gefangenen den Schwarzmagiern so wichtig, dass es ihnen an nichts mangelte, und da Alzhara die Verantwortung über ihre Aufsicht trug, und sich von den andern Schwarzmagiern kaum jemand in den von ihnen bewohnten Abschnitt des Gebäudes verirrte, konnte sich Odo im Grunde doch der ihm natürlichen Lebensweise befleißigen: Nämlich in recht gemütlicher Umgebung seine Studien zu betreiben, in diesem Falle sogar noch ungestörter als es ihm sonst möglich gewesen wäre, und durch Pallas' Unterstützung und die vorhandenen Ressourcen so intensiv, wie überhaupt denkbar.
    Und dennoch: Alleine das Bewusstsein, ein Gefangener zu sein und das Gebäude nicht verlassen zu dürfen, bereitete ihm Unbehagen, und obwohl er es gewohnt war, über weite Teile des Jahres von seinen Eltern getrennt und weit ab von zu Hause zu verbringen, quälte ihn der Gedanke, dass sich seine Eltern um ihn sorgten, und ihn plagte das Gewissen ob der Tatsache, dass er diese Sorge durch seine Leichtfertigkeit selbst zu verschulden hatte.
    Die beste (und im Grunde einzige) Ablenkung gegen seine unangenehmen Gedanken bestand darin, sich ganz Pallas' Projekt zu widmen, das er als wirklich ausgesprochen faszinierend empfand. Woher Pallas ihre Kenntnisse hatte, die offenbar so vollkommen alles überragten, was ihm bisher aus der Wissenschaft bekannt war, war ihm völlig schleierhaft. Ihre Bemühungen, ihn einzuweihen und ihm die Grundlagen zu erklären, wusste er dafür umso mehr zu schätzen, wenngleich ihn die Tatsache, dass er wohl bis zuletzt nicht mehr als Hilfstätigkeiten würde ausüben können, doch sehr wurmte.

    Nach bereits wenigen Tagen hatte sich eine gewisse Routine eingefahren: Man begann den Tag nicht allzu spät mit einem recht ausgiebigen Frühstück, bei dem Alzhara Unmengen an Fleisch, wenn auch in recht gezierter Manier, in sich hineinschaufelte, dass Odo nur staunen konnte, wie diese doch relativ zierliche Person solche Mengen nicht nur aufnehmen, sondern sogar ohne merkliche Gewichtszunahme verarbeiten konnte. Odo mutmaßte, dass die Lady an einer metabolischen Erkrankung leide, und hatte sie bereits dezent darauf anzusprechen versucht und auf diskrete Weise signalisiert, dass er für eventuelle, opstinative Leiden durchaus Gegenmaßnahmen kenne. Lady Alzhara hatte jedoch lediglich die Stirn gerunzelt und anscheinend nicht verstanden, was er hatte sagen wollen, oder möglicherweise auch nur vorgegeben, dass sie es nicht verstehe.
    Pallas indessen stellte selbst Alzharas Essgewohnheiten in den Schatten, indem sie jeden morgen mit schier unerschöpflicher Kreativität die unterschiedlichsten Kombinationen an Süßspeisen ausprobierte: Diverse Früchte, Fruchtsoßen, Schokolade, Honig, unterschiedliche Nüsse, Cremes und Zucker, Sahne, Butterkreme und Milchprodukte fanden in den abenteuerlichsten Weisen zueinander und dann, in der Regel in nicht sehr gezierten Happen, Pallas in den Magen. Da Pallas aber nun einmal Pallas war, begnügte sie sich nicht mit der bloßen Zubereitung und dem Konsum dieser Kreationen, sondern machte sich zudem systematische Notizen in einem kleinen Schreibblock.
    Einzig Odo verzichtete auf solcherlei Luxus. Dies lag nicht etwa daran, dass er der zur Verfügung stehenden Kostbarkeiten abgeneigt wäre, oh nein! Es gab mehr als genug an Dingen, die seinen Appetit für Gewöhnlich durchaus erregt hätten. Allein: Die beständige Nervosität und allgemeine Besorgnis drückten ihm aufs Gemüt, verdarben ihm den Appetit und, noch schlimmer, schlugen ihm unangenehm auf den Magen. So beließ er es also, die Pflege seiner Darmflora im Blicke, bei einfachen Speisen, die er nur in Maßen zu sich nahm, trank bekömmliche Kräutertees und pflegte nach den Mahlzeiten zur Beruhigung des Sodbrennens Magensalz einzunehmen, das zwar die Beschwerden für einen kurzen Zeitraum zu intensivieren pflegte, dafür aber in einem in der Regel recht heftigen Ausbruch endlich für nachhaltige Erleichterung sorgte, zu dem sich Odo für Gewöhnlich nach den Mahlzeiten zurückzuziehen pflegte, wollte er seinen Mitbewohnern doch die mit jener Erleichterung einhergehenden olfaktorischen und akustischen Begleiterscheinungen lieber ersparen.

    „Hör bitte auf, so herumzuhibbeln“, zischte Lay Alzhara. Dabei konnte Odo gar nichts dafür! Eigentlich wäre dies nun der Moment, an dem er sich dezent zurückzöge. Jedoch war ihm dies heute verwehrt, da sie überraschend Besuch erhalten hatten: Großmeister Armatrion, der Anführer und oberste der Schwarzmagier, hatte sich unangemeldet eingefunden, um die Fortschritte ihres Projektes zu inspizieren, und da war es natürlich nicht denkbar, dass Odo einfach so in sein Zimmer verschwand. Also versuchte er nun, das Rumoren in seinem Magen einigermaßen zu unterdrücken, oder es sich zumindest nichts anmerken zu lassen, indem er etwaige Töne durch Räuspern oder lautstarkes Füßescharren zu übertönen versuchte.
    Ein Blick zu Alzhara zeigte ihm, dass seine Not sie eher amüsierte als ärgerte, was jedoch nichts daran änderte, dass die Gegenwart des Schwarzmagiers, der Odos Informationen zufolge wohl unglaublich mächtig sein musste, und dem Aussehen nach ungefähr aus der Zeit des alten Quarhodron stammte (die Jahre waren mit Armatrions Antlitz nicht sonderlich gnädig umgegangen), ihn noch nervöser machte, als es die Gesamtsituation ohnehin tat.
    Dabei wirkte Armatrion auf den ersten Blick eigentlich nicht sonderlich bedrohlich, sondern einfach nur alt: In seine lange, schwarze Robe gehüllt und die knöcherne Hand auf den Knauf eines Gehstocks gestützt, schlurfte der alte Mann durch den Raum und verströmte einen etwas säuerlichen Geruch, wie alte Menschen es bisweilen eben zu tun pflegten. Dabei räusperte er sich beständig, was Odo einer im Alter zuweilen vorkommenden, chronischen Verschleimung des Rachens zuschrieb, die er mit einem Aufguss aus Feuernessel sowie regelmäßige Inhalation mit Salz und Snapperkrautextrakt behandelt hätte. Jedoch wagte er nicht, eine entsprechende Empfehlung vorzubringen. Mochte der Alte zwar harmlos wirken, so wusste Odo doch, dass es sich um einen mächtigen und gefährlichen Mann handeln müsse, und schon bei seinem Eintreffen hatte dieser einen eher schlecht gelaunten Eindruck gemacht. Im Laufe der Inspektion hatte sich dieser Eindruck noch verstärkt, indem die ohnehin meist herabgebogenen Mundwinkel sowie die streng gerunzelte Stirn endgültig zu einer Maske der Missbilligung erstarrt waren. Ob dies nun an Odos Magenbeschwerden lag, die er eben doch nicht ganz verbergen konnte, an Alzharas offenkundig wohlgelaunter Gelassenheit, oder an Pallas Begeisterung, das konnte Odo nicht genau bestimmen.
    „Hier in diesem Rohr sollen dann die Innosonen zusammenkrachen, was theoretisch zu einer kontrollierten Koordinatensingularität führen sollte…“, setzte Pallas ihre Ausführungen fort, fuchtelte dabei aufgeregt mit den Händen herum und war, das sah man ihm an, Armatrion offenkundig entschieden zu gut gelaunt. Oder möglicherweise lag es auch nicht an Pallas Laune, sondern daran, dass er von ihren Erklärungen nichts verstand. Zumindest konnte sich Odo kaum vorstellen, dass Armatrion viel verstünde. Alzhara, das wusste er, versuchte gar nicht erst, die komplizierten, theoretischen Grundlagen des Experimentes zu begreifen, sondern ließ Pallas einfach gewähren. Er selbst hatte sich ein gewisses Grundverständnis erworben, wobei ihm insbesondere (weit mehr, als ihre doch meist ungeduldigen Erklärungen) ein in Pallas Besitz befindliches Werk namens „Quantensingularitäten und wie man sie erzeugt – eine praktische Anleitung in 20 Schritten (Olympia, 3. za)“ aus der Feder eines gewissen Hephaistos besonders nützlich gewesen war, so dass er nunmehr sich durchaus hilfreich an dem Projekt beteiligen konnte. Er war allerdings ja auch ein ungemein kluger, junger Mann, herausragend gebildet und insbesondere außergewöhnlich intelligent! Armatrion dagegen… Nun, Odo wollte dem alten Magier durchaus eine gewisse Schläue nicht absprechen, immerhin war er ja sehr mächtig usw.! Aber Odos Erfahrungen hatten bislang ergeben, dass nichtkhorinische Magier doch oftmals eher eingeschränkt begabt waren und auf profane Wissenschaften herabsahen. Er mutmaßte, dass die bloße Tatsache, sein Vorhaben nicht allein durch Magie ausführen zu können, dem alten Schwarzmagier zuwider war, und dass es ein kleines und allzu uneingeschüchtertes Mädchen war, dessen Mithilfe er so dringlich brauchte, das war ihm sicherlich erst recht ein Graus.
    „…vielleicht entsteht aber auch ein schwarzes Loch und verschlingt ganz Myrtana und den Rest des Planeten“, sagte Pallas lachend und hopste zu dem großen Kasten hinüber, der weite Teile des Raumes einnahm, „die Warpfeld-Spule hier in dem Ding soll natürlich dafür sorgen, dass ein Energie-Impuls-Tensor generiert wird, der die Raumzeit in dem für das Portal anvisierten Areal den Spezifikationen gemäß verzerrt, was im Ergebnis theoretisch ein Wurmloch erzeugen sollte, mit dem sich unsere Raumzeit mit der eines anderen Universums stabil verbinden lässt, sofern es nicht stattdessen zur Entstehung eines neuen Universums kommt, wobei die beiden Ausgangsuniversen dauerhaft zerstört werden.“
    Odo hätte ihr gerne mitgeteilt, sich doch ein wenig zurückhalten. Stattdessen teilten sich seine Magenbeschwerden mit, und zwar so lautstark, dass dies mit auch noch so intensivem Räuspern oder Füßescharren nicht mehr zu kaschieren war, und nicht einmal vom sonst so unbewegten Armatrion ignoriert werden konnte. Odo brauchte eine Weile, bevor er den neuen Gesichtsausdruck des Schwarzmagiers deuten konnte, da sich dessen sonst übliches Repertoir auf unterschiedliche Abstufungen und Formen von Ärger, Missbilligung, schlechter Laune und Grantigkeit beschränkten, und sich so tief in das alte Antlitz eingegraben hatten, dass dieses zum Ausdruck anderer Emotionen nur noch eingeschränkt geeignet war. Doch Odo war sich schließlich sicher, dass der durchaus etwas komische Ausdruck in Armatrions Gesicht wohl Verwunderung oder Überraschung sein müsse.
    „Das war höchst eindrucksvoll“, lobte Alzhara und ignorierte den sich im Raum verbreitenden Geruch, der mit dem des Alten zunächst konkurrierte, sich dann aber mit diesem zu einer völlig neuen Note vermischte, „man konnte dem sicherlich entnehmen, dass wir gute Fortschritte machen. Ihr könnt dann bitte weiterarbeiten, derweilen ich und Meister Armatrion noch etwas zu besprechen haben.“
    Über Alzharas Eigenmächtigkeit sichtlich verärgert ließ Armatrion sein obligatorisches Räuspern vernehmen, ließ sich jedoch anstandslos und zu Odos Erleichterung von Alzhara zur Tür und aus dem Raum geleiten.

    Alzhara seufzte, derweil der Magier in seinem Schneckentempo einherlahmte. Sie bemühte sich nicht, ihre Gefühle zu verbergen: Armatrion ging ihr auf die Nerven, und das durfte er durchaus wissen. Sie hatte nur wenig übrig für diese albernen Versteckspielchen, in denen man umeinander herumscharwänzelte und sich bloß keine Blöße zu geben versuchte. Zumindest jetzt grade im Moment.
    „Ist das Euer Ernst, Alzhara?“, fragte der Magier leise und räusperte sich. Alzhara verzog das Gesicht.
    „Die… Kinder sind ganz offensichtlich nicht mit dem angemessenen Ernst bei der Sache. Und überhaupt: Wie sieht es in dem Raum da eigentlich aus? Man kann kaum einen Fuß vor den andern setzen, ohne in eine Schüssel mit angetrockneten Puddingresten zu treten, oder was immer das für Zeug sein mag!“ Der Magier knallte die Spitze seines Stockes zur Untermalung seiner Verärgerung fest auf den Boden, was ob des Teppichs jedoch die Wirkung ein wenig verfehlte. „Dies hier ist kein Kindergarten! Wir sind die Jünger Beliars, die Verkünder SEINES dunklen Willens! Ich verlange ergebnisorientiertes, ernsthaftes und ordentliches Arbeiten!“
    Alzhara schnaubte. „Wir machen durchaus gute Fort…“
    „Ich will keine Ausflüchte hören!“
    „Wir liegen vollkommen im Zeit…“
    „Und auch keine Erklärungen!“
    „Wenn Du mich…“
    „Sondern ich verlange Gehorsam! Gehorsam!“
    „JETZT SEI DOCH ENDLICH MAL STILL“, schnauzte Alzhara den alten Magier an und wandte sich zu ihm um. Zu gerne hätte sie diesem Würstchen die dürren Finger gebrochen, die sich an diesen albernen Stock krallten. Oder den Hals. Sie überlegte sogar, ob er nicht einen probaten Mittagshappen abgeben würde, entschied jedoch, dass er dafür ganz entschieden nicht frisch genug war.
    „Also: Zum einen gibt es keinen Grund, sich zu beschweren. Diese Kinder tun das, wofür wir sie entführt haben. Ich behandle sie so, dass sie ihre Arbeit optimal ausüben können. Wenn es dazu geboten ist, ihnen Schokoladenmousse zu besorgen – und ich möchte an dieser Stelle ganz eindeutig klarstellen, dass es Mousse und kein Pudding ist, was nämlich einen sehr großen Unterschied ausmacht -, dann werde ich ihnen, beim Beliar, Schokoladenmousse besorgen! Zum zweiten bist Du ohnehin kaum dazu in der Lage, einen Fuß vor den andern zu setzen, so dass mir Deine Beschwerde nicht allzu viel Substanz zu haben scheint…“
    Offenbar war sie zu weit gegangen. Armatrion riss die Augen auf, und der säuerliche Gestank, der von ihm ausging, änderte sich, bekam eine metallische Note. Alzhara reagierte sofort.
    Ein unbeteiligter Beobachter hätte zunächst nichts anderes gesehen, als zwei Menschen, die einander gegenüberstanden und sich unfreundlich gegenseitig anstarrten. Einem magisch begabten Beobachter dagegen, der die entsprechenden Erkenntniszauber verwendete, wären die erheblichen, magischen Energien nicht entgangen, die zwischen den beiden Kontrahenten hin und her zuckten.
    Doch bald schon begann ein auch für den Magieunkundigen wahrnehmbares, anschwellendes Sirren von den beiden auszugehen, und die Luft zwischen ihnen bildete Schlieren und Verzerrungen aus, wie von großer Hitze.
    Im Grunde genommen war Alzhara ziemlich sicher, dass der tumbe Tropf keine Chance gegen sie hatte. Sie irrte sich: Begleitet von einem Lichtblitz und einem plötzlichen, lauten Knall fühlte sie sich zurückgeschleudert und prallte recht unsanft gegen die Wand. Zum Glück hatte sie das Fenster verfehlt, sonst wäre sie nicht nur aus Gebäude gestürzt, sondern vor allem hätte sie sich auch noch um die Reparatur kümmern müssen! So verblieb lediglich ein dumpfer Schmerz in der Schulter.
    „Wie hast Du das denn überlebt?“, staunte Armatrion.
    Alzhara stand etwas ungelenk auf schaute an sich herab. Ihr Kleid hatte erheblichen Schaden genommen, und hing ihr in verkohlten Fetzen vom Körper. So ein Idiot, das Kleid war teuer gewesen!
    „Wie ich überlebt habe? Schau Dir mal lieber diese Sauerei an!“
    Sie hätte Feuer speien können, so wütend war sie.
    „Das war ein Benini Kleid aus Ardea, Du Tölpel! Eine handgefertigte Maßarbeit!“
    Im Grunde war das nicht allzu aussagekräftig, da alle ihre Kleidungsstücke handgefertigte Maßarbeiten waren.
    Armatrion legte den Kopf schräg, als dächte er über ihre Worte nach. Alzhara war als die Lehrmeisterin Zubens bekannt, der als mächtigster Schwarzmagier Varants in die Geschichte eingegangen war. Dies wurde in der Regel nicht auf die leichte Schulter genommen. Armatrion jedoch hatte zur Priesterschaft Irdoraths gehört, war sogar deren Vorstand gewesen, und dadurch, selbst nach der Vernichtung jenes höchsten Tempels Beliars auf Erden, das unangefochtene Oberhaupt der Beliarkirche. Man hätte annehmen können, dass er und sie miteinander um die Vormacht konkurriert hätten. Doch Alzhara hatte daran einfach kein Interesse, und Armatrion wusste das. Ob er wohl gerade erwog, ob er Alzhara bislang doch nicht ernst genug genommen habe?
    „Komm mit!“, sagte er schließlich, ohne auf Alzharas Worte weiter einzugehen. Sie wartete eine Weile, bis Armatrion schon einige Schritte zurückgelegt hatte, damit sie ihr eigenes Tempo gehen konnte, anstatt sich dem langsamen Schlurfen des Magiers anzupassen.
    Sie durchquerten den Flur und kamen in einem Zimmerchen an, in dem einige Novizen an einem Tischchen saßen. Mit klapperndem Gehstock näherte sich Armatrion der Sitzgruppe und scheuchte einen der Novizen mit wedelnder Handbewegung auf, setzte sich in den Sessel. Alzhara näherte sich dem andern Sessel, der ohne weitere Aufforderungs geräumt wurde.
    „Gibt es etwas?“, fragte sie, an die Novizen gerichtet, die ihr durch das nach der magischen Konfrontation löcherige Kleid auf die freigelegten Brüste starrten.
    „Nein, Herrin!“, beeilten sich die Novizen zu versichern und nahmen Reißaus.
    „Denkt bitte daran, die Tür hinter Euch zu schließen… Danke!“, rief Alzhara ihnen hinterher, und wandte sich Armatrion zu.
    „Nun?“
    Armatrion saß mit unbewegtem Gesicht steif da, die Hände um den Knauf des Stocks gekrallt, dass die Haut an den Knöcheln noch blasser wurde, als sie es ohnehin schon war.
    „Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich alt bin. Sehr alt.“
    Alzhara lachte. Sicherlich: Mit seinen gut einhundertdreißig Jahren war Armatrion selbst für einen mächtigen Magier außergewöhnlich alt, insbesondere für einen Schwarzmagier, der sich wohl der regelmäßigen Anschläge ambitionierter Konkurrenten erwehren musste. Doch Armatrion wusste, dass Alzhara selbst mindestens genauso alt sein musste, und im Gegensatz zu ihm nicht aussah wie ein schimmeliger Käse.
    „Es wird nicht mehr lange dauern, bis Beliar mich zu sich rufen wird.“
    Ach oje! Wurde der alte Zausel jetzt sentimental?
    „Bevor ich gehe, und die Führung anderen, jüngeren überlasse, will ich der Welt etwas hinterlassen. Ein Geschenk an die kommenden Generationen von Schwarzmagiern. Verstehst Du das?“
    Natürlich verstand Alzhara das nicht. Sie teilte durchaus die menschlichen Gefühle der Eitelkeit und Geltungssucht, und auch Macht gefiel ihr mitunter recht gut. Doch die Neigung der Menschen, an ihre Nachwirkung in einer Welt zu denken, an der sie gar nicht mehr teilhaben würden, fand sie überaus befremdlich.
    „Ich will dieser Welt die Herrschaft Beliars zum Geschenk machen. Auch Du wirst davon profitieren, Alzhara. Siehst Du, ich verstehe, dass Du gerne Deinen exzentrischen Schrullen frönst. Wer wollte Dir das verwehren? Eine Edeldame aus dem exotischen Varant ist es gewohnt. Oder man könnte auch sagen: Hat nichts sonst zu tun. Außer dem Überleben ihrer Gatten, versteht sich. Aber nicht alle von uns leisten sich den Luxus weibischer Kapriolen. Ich bin mir bewusst…“
    Weiter kam Armatrion nicht. Er kam gerade noch zu einem überraschten Blinzeln, als sich auch schon eine Hand von hinten auf seine über den Knauf gefalteten Hände legte, und eine andere ihm die Luft abschnürte. Er versuchte, seine Hände zu befreien, doch mehr als ein halbherziges Zucken des Ellenbogens kam dabei nicht heraus. Alzhara näherte ihren Mund seinem Ohr.
    „Nein, das war keine Magie“, zischte sie, „ich bin einfach nur schnell. Und versuche gar nicht erst zu zaubern: Bevor Du zu irgendwas kommst, ist Dein schmales Hälslein bereits mitten durchgeknickt. Verstehst Du?“
    Ein Rucken von Armatrions Kopf bestätigte, dass er verstand.
    „Ich will also jetzt mal etwas klarstellen, etwas ganz Grundsätzliches“, fuhr Alzhara fort, „Du magst mich für leichtfertig halten. Für weibisch affektiert und schrullig. Das kümmert mich nicht weiter. Du darfst denken, was Du willst. Genauso kannst Du Dich mit Deinen Titeln und Ämtern brüsten und Dich als den großen Messias der Beliarkirche feiern. Das kümmert mich auch nicht. Aber Du wirst mich nicht angreifen, nicht beleidigen und mir vor allem nicht sagen, was ich zu tun habe. Ich weiß nicht, was Du denkst, womit Du es zu tun hast. Du weißt gut, dass ich mindestens so alt bin, wie Du. Sicherlich geht Dir jetzt die Frage durch den Kopf: Wie alt genau? Aber soetwas fragt man eine Dame natürlich nicht, und daher wird es bei der bloßen, unausgesprochenen Frage bleiben. Du weißt, dass ich nicht altere. Du weißt, dass ich als Magierin weit mächtiger bin, als Zuben, der ach so große Kalif, es war. Und Du weißt, dass ich sehr viel zu mächtig bin, als dass Eure lächerlichen Tempelintrigen für mich wichtig wären. Ich interessiere mich, sozusagen, nur für die Macht und die Glorie Beliars. Alles andere ist mir unwichtig. Die Kirche mit ihren Schwarzmagiern und Novizen, die myrtanische Politik, die Orkkriege, alles: Darum darfst Du Dich kümmern. Du darfst auch gerne allen Ruhm für Dich beanspruchen, wenn Du magst. Daraus folgen zwei Dinge für Dich: Erstens bist Du nicht in der Lage, mich herauszufordern. Und zweitens musst Du es auch gar nicht. Verstanden?“
    Ein erneutes Rucken des indessen rot angelaufenen Kopfes.
    „Gut.“
    Alzhara entließ den alten Magier aus ihrem Griff.
    „Ich werde mich jetzt wieder unserem Projekt widmen. Diese Kinder bedürfen der Aufsicht“, sagte sie, und wandte sich zum Gehen. Gerne hätte sie noch eine Weile dem Japsen und Schnaufen Armatrions zugehört, der wohl dem Erstickungstod etwas knapper entkommen war, als Alzhara eigentlich beabsichtigt hatte. Doch hätte dies ihren Abtritt wohl leider ruiniert, ganz davon abgesehen, dass es nun wirklich wichtigeres für sie zu tun gab. Eine Tasse Tee, deren Inhalt langsam kalt wurde, kam ihr in den Sinn.
    An der Tür hielt sie noch einen Augenblick inne: „Die Rechnung für das Kleid lasse ich Dir zukommen“, sagte sie, und ließ Armatrion sitzen.

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    XI. Zwischenspiel: Etwas Ablenkung



    Als Rafi auf dem Boden aufsetzte, war er doch recht erleichtert. Die Reise war ihm nämlich gar nicht angenehm gewesen, so ständig gehetzt durch diese drei komischen Figuren, die ihm wirklich gar keinen Moment Ruhe gelassen hatten! Und nicht einmal jetzt, da er sein Ziel fast erreicht hatte, konnte er sich einen Augenblick der Ruhe gönnen, waren ihm seine Verfolger doch dicht auf den Fersen. So musste er denn wohl oder übel zügig zum Eingang der Behausung hinein, und eilte weiter, einen Korridor entlang und an einigen Türen vorbei, bis er einen recht großen Raum erreichte, der einige sehr interessante Einrichtungsgegenstände aufwies. Die Bücher, die einen Teil der Wände ausmachten, interessierten ihn dabei gar nicht so, immerhin konnte er gar nicht lesen und fand dergleichen überhaupt eher langweilig. Aber die vielen, sonderbaren Geräte erregten seine Neugierde durchaus, und wäre er nicht plötzlich in seiner Raumbeschau unterbrochen worden, wäre er der Ablenkung wohl erlegen.
    „Guten Tag. Darf ich fragen, was Du hier zu suchen hast?“
    Der Mann der Rafi angesprochen hatte, saß an einem kleinen Schreibtisch mit Schublade und Klappschränkchen, von dem Rafi wusste, dass es dafür einen bestimmten Namen gab, den er aber vergessen hatte, und hatte sich bei Rafis Eindringen von der Lektüre eines Buches ab- und Rafi zugewandt.
    „Oh, hallo“, sagte Rafi, „Ich bin Rafi. Wie geht es denn so?“
    Der Mann runzelte die Stirn und schien auf etwas zu warten. Da fiel es Rafi ein: „Oh, ich bitte um Entschuldigung“, zirpte er, und bemühte sich um ein menschlicheres Aussehen, „ist es so besser?“
    Der Mann stand auf und kam auf Rafi zu.
    „Ja, jetzt ist es besser. Entschuldige bitte, dass ich Dich vorher nicht verstanden habe.“
    „Das macht doch nichts. Diese komischen Figuren haben mich anfangs ja nichtmal erkannt. Naja, andererseits habe ich da ja auch versucht, mich zu verbergen, was ich jetzt ja nicht getan habe. Hm, komischerweise konnte sie mich auch so erkennen, obwohl ich mich erst getarnt hatte. Hm, das liegt wohl an ihren Augen, denke ich."
    Der Mann zog die Augenbraue hoch und starrte Rafi aus eisgrauen Augen heraus an. "Wie meinen?", fragte er.
    "Also", Rafi schnappte nach Luft, "was ich hatte sagen wollen: Ich bin Rafi, und ich hatte Dich gefragt, wie es Dir geht. Aber das war eher eine Frage aus Höflichkeit, denn eigentlich interessiert mich das gar nicht so. Was viel wichtiger ist: Bist Du Melchior?“
    Ein amüsiertes und, wie Rafi fand, überraschend warmes Funkeln trat in die Augen des Mannes.
    „Ja, der bin ich in der Tat. Wir kennen uns nicht, oder?“
    „Nein“, schüttelte Rafi mit dem Kopf, „ich habe aber von Dir gehört. Ich bin hier, um mit Alzhara zu sprechen. Kann ich mit Alzhara sprechen?“
    „Alzhara?“ Offenkundig ließ die Erwähnung dieses Namens den Mann namens Melchior aufhorchen, ja, Rafi fühlte sich geradezu von einer Welle des Interesses, die von Melchior ausging, überflutet. Er hatte sich also ganz richtig verhalten, indem er hier hergekommen war.
    „Alzhara ist zur Zeit nicht...“
    Melchior hielt inne und blickte an Rafi vorbei zum Eingang.
    „Oh, weitere Gäste? Guten Tag. Ich bin Melchior, Graf von und zum Pass. Willkommen in meiner Behausung.“
    Rafi wandte sich um, und natürlich hatte er seine drei Verfolger vor sich. Unwillkürlich nahm er hinter Melchior Deckung.
    „Guten Tag, werter Herr Graf“, sagte die kleinere der beiden Frauen, die Rafi noch immer so attraktiv fand, wie als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, „wir bitten für unser ungebetenes Eindringen um Entschuldigung. Jedoch sind wir hinter diesem jungen Mann dort her.“
    Die Frau deutete mit einem ihrer langen, schmalen Finger und graziler Handbewegung auf den halb versteckten Rafi.
    „Oh?“, fragte Melchior, „darf ich fragen, wieso? Hat der junge Mann hier denn etwas ungebührliches getan?“
    „Nunja“, sagte die Frau, „er hat uns angelogen. Wir waren auf der Suche nach jemandem, einer engen Verwandten. Wir hatten ihn um Hilfe gebeten, doch anstatt uns diese zu gewährend, täuschte er uns und führte uns in die falsche Richtung. Jetzt haben wir ziemlich viel Zeit verloren. Ich kann versichern, dass wir dem jungen Mann nichts tun wollen, sondern lediglich...“
    Die Frau mit den silbernen Pfeilen unterbrach ihre Gefährtin: „Genug mit dem Unsinn! Wir sind nicht hier, um Höflichkeiten auszutauschen! Es ist offensichtlich, dass der Junge uns zu unserm Ziel geführt hat. Ist es nicht so? Also, wo ist sie? Rede endlich!“
    Melchior trat einen Schritt auf die drei Verfolger zu.
    „Soso, ihr wollte also von diesem Knaben wissen, wo ihr eine gewisse Verwandte von Euch finden könnt? Der junge Herr jedoch war offenkundig der Meinung, dass er Euch lieber in die Irre führen solle. Da stellt sich mir die Frage, ob er dies tat, um Euch zu schaden – oder um diese Person, die ihr sucht, zu schützen?“
    Der männliche Häscher schnalzte missbilligend mit der Zunge: „Dies geht Euch, mit Verlaub, nichts an, werter Herr Graf! Wir werden den Jungen jetzt befragen, und dann verschwinden. Nichts für ungut.“
    Melchior schnalzte zurück: „Wer, wann, wie und ob überhaupt in meinem Hause jemand verhört wird, das bestimme, mit Verlaub, ich lieber selbst. Und ich denke, dass ich - Ihr werdet gewiss verzeihen, liebe Gäste - lieber Euch als ihn verhören werde. Immerhin habe ich den Eindruck, als trieben den jungen Mann ganz ähnliche Loyalitäten wie mich selbst. Vor allem anderen werdet Ihr also erst einmal darüber Rede und Antwort stehen, was ihr von der Dame, die ihr sucht, wollt!“
    „Es gibt keinen Grund, Dich in Familienangelegenheiten einzuweihen, Du alter Zausel!“, schnaubte die Jägerin.
    „Ich glaube doch, dass ich es wüsste“, sagte Melchior, und seine Stimme nahm einen so eisigen Tonfall an, dass es Rafi geradezu erzittern ließ, „wenn die Frau, um die es geht, Verwandte wie Euch hätte.“
    Die Jägerin, offenbar am Ende ihrer Geduld, spannte mit ungemein fließender und außergewöhnlich schneller Bewegung ihren Bogen.
    „Ich habe genug von diesem Unsinn“, fauchte sie.
    „Ich auch“, sagte Melchior, und die Eiseskälte, die dabei von ihm ausging, war ganz entschieden buchstäblich.


    „Wie siehst Du denn aus?“, begrüßte der Mann die Frau mit dem Bogen, als diese aus der Höhle trat.
    „Du solltest mal den anderen sehen! Ihr hättet mir übrigens schon helfen können.“
    „Von wegen, das hattest Du Dir ja wohl selbst eingebrockt! Hast Du denn wenigstens noch etwas herausfinden können?“
    „Ja. Der Junge hat uns an der Nase herangeführt. Wir hätten ihn einfach nicht beachten und alleine nach ihr suchen sollen. Aber nein, der Herr Bruder war natürlich der Meinung, dass er uns genau zu ihr führen werde!“
    „Das war eine plausible Annahme“, antwortete ihr Begleiter beleidigt.
    „Jetzt können wir den ganzen Weg zurück um von dort die Witterung aufzunehmen. Die Spur ist ohnehin schon kalt! Selbst ich werde Probleme haben, sie aufzuspüren!“
    „Ich dachte halt, das wir auf diese Weise Zeit sparen könnten! Deine Jagdkunst ist immer so langwierig!“, quengelte der Mann.
    „Jetzt hört schon auf, Euch zu zanken!“, fuhr die dritte im Bunde dazwischen, „und lasst uns endlich aufbrechen. Ich will diese Angelegenheit so schnell wie möglich beenden. Euer Vater wird schon ungeduldig sein!“


    „Es wundert mich, dass Du nicht die Gelegenheit genutzt hast, um zu verschwinden. Du weißt wohl, dass ich Dich wohl bestrafen muss, dass Du mich so getäuscht hast?“, sagte Melchior recht unfreundlich, und knickte den Pfeil um, den er gerade aus seiner Schulter gezogen hatte.
    „Habe ich doch gar nicht!“, rief Rafi , ehrlich entrüstet.
    „So?“, zischte Melchior mit kaltem Zorn, „und ich hatte den Eindruck, Du hättest mich glauben machen, das sie hinter Alzhara her sind. Von der Du wohl weißt, dass mich gewisse Dinge mit ihr verbinden.“
    „Das sind sie doch auch“, beeilte sich Rafi zu erklären, „Das Mädchen, dass die suchen, heißt Pallas, und ist zur Zeit mit der Frau Alzhara zusammen. Ich weiß zwar nicht, warum die Pallas finden wollen, aber ich weiß, dass Pallas nicht von ihnen gefunden werden will. Und Alzhara will das bestimmt auch nicht. Darum wollte ich die beiden warnen, und darum muss ich mit der Frau Alzhara sprechen.“
    „Du bist nicht sehr helle, oder?“, fragte Melchior, „oder dachtest Du Dir nicht, dass Du sie direkt zu ihrem Ziel führen würdest?“
    „Nein“, antwortete Rafi, „ich wusste doch, dass sie nicht hier sind.“
    Melchior schwieg eine Weile.
    „Du wolltest sie herlocken. Damit ich sie bekämpfe?“
    „Nein. Ich wusste, dass nicht einmal Du sie besiegen kannst. Ich wollte einfach nur, dass sie Zeit verlieren. Dafür hätte ich irgendwohin flüchten können. Aber es gab einen Grund, ausgerechnet hierher zu kommen: Denn obwohl Alzhara und Pallas nicht hier sind, kannst Du doch mit ihnen Kontakt aufnehmen, oder? Und das bedeutet, dass ich ihre Verfolger von der richtigen Spur weglocken konnte, UND sie nun außerdem noch warnen kann. Ziemlich clever, oder nicht?“
    „Mhm“, brummte Melchior, und wirkte dabei schon weit weniger unfreundlich, als zuvor, „ich sollte sehen, was Alzhara zu sagen hat, bevor ich Dich bestrafe. Und um ehrlich zu sein: Ich hatte ohnehin einen Vorwand gesucht, mit ihr zu sprechen.“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (07.06.2015 um 10:44 Uhr)

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    XII. Nachrichten



    Es war wieder einmal soweit: Alzhara musste ihren gesellschaftlichen Pflichten als die vorgebliche Mutter Pallas‘ nachkommen. Sie tat dies nicht gerne, jedoch wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein allzu großes Aufsehen, wie es ihr Verschwinden verursacht hätte, nicht in ihrem Sinne. Dass nun auch der junge von Südersloh entführt worden war, hatte der Angelegenheit ohnedies bereits eine größere Brisanz verliehen, als ihr lieb war.
    Zu allem Überfluss fand sie sich in einer höchst sonderbaren Position wieder: Nachdem der Fürst sich dazu entschlossen hatte, zur allgemeinen Zerstreuung und Ablenkung von den jüngsten Entführungen eine festliche Jagd in den umliegenden Wäldern auszurichten, an der, als offizielle Geliebte seiner prinzlichen Hoheit, natürlich auch sie teilzunehmen hatte, wurden ihre schauspielerischen Fähigkeiten vor eine ganz neue Probe gestellt: Als vorgebliche Lady Medusa und Mutter der jungen, entführten Pallas musste sie natürlich besorgt erscheinen, obwohl sie das gar nicht war, und daher natürlich eine angemessene Abneigung gegen die Lustbarkeit an den Tag legen. Da man von ihr als Dame von Stand jedoch erwartete, dass sie dem Aufmunterungsversuch des Fürsten mit immerhin geheuchelter Freude begegnete, musste sie so tun, als tue sie so, als mache ihr das Spektakel Spaß, aber eben so, dass durchaus die Bedrücktheit über das Verschwinden der angeblichen Tochter durchklinge. Das Problem dabei bestand darin, dass sie ja die Jagd durchaus mochte: Das lag ihr sehr, und auch die Aussicht auf die Beute war ihr höchst angenehm. In der Tat hätte sie die Rehe und Hirsche, Keiler und Truthähne oder was sonst den Adeligen vor den Bogen geriet am liebsten auf der Stelle verschlungen.
    Das war aber natürlich nicht möglich, denn zuerst hätte man die Viecher häuten und ausnehmen müssen, ein Anblick, der dem vorwiegend adeligen Publikum nicht sehr genehm gewesen wäre. Stattdessen hatte man ein großes Picknick von wahrhaft fürstlicher Opulenz vorbereitet, das wohl zur Folge haben würde, dass sich das Jagdglück nach der Pause erheblich zugunsten der Beute wenden würde, machte sich doch schon nach recht kurzer Zeit eine allgemeine Beschwipstheit unter den Jagenden breit. Alzhara selbst pflegte den ekeligen Sekt, der in Geldern in so persistenter Mode war, unauffällig zu entsorgen, versuchte, nicht allzu gierig zu den Kadavern der erlegten Tiere zu schielen und nicht allzu beißend auf die in der Regel schlechten Scherze und langweiligen Gesprächsthemen zu reagieren: Ihr sonst üblicher, beißender Spott wäre einer sorgenvollen Mutter nicht sehr angemessen.
    So bedachte sie denn eine nicht sonderlich geistreiche Bemerkung des Monsignore Sentenza mit einem gequälten Lächeln, als sich ein Kribbeln in ihrer Stirn bemerkbar machte. Ein überraschter Ausdruck huschte ihr übers Gesicht, und sie entschuldigte sich bei den umstehenden, bevor sie sich diskret entfernte. Sie spürte die Quelle des sonderbaren Gefühls tiefer im Unterholz des Waldes, an einer Stelle, an der sich ein Bach befand, den die Jagdgemeinschaft passiert hatte.
    Es dauerte nicht lange, bis sie den Ort erreicht hatte. Das Wasser sprudelte lustig in seinem Bett umher, und warf die hin und wieder durch das Blätterdach schimmernden Sonnenstrahlen zurück.
    Alzhara ließ sich an dem Ufer nieder und schaute erwartungsvoll auf die Wasseroberfläche.
    Schon nach wenigen Augenblicken änderte sich das Fließverhalten, die schäumenden Wellen und Tröpfchen erstarrten zu Kristallen, und begannen, eisige Kälte auszustrahlen. Das Eis änderte seine Form, bildete erst eine Kugel aus, dann die erst vage, dann immer deutlichere Gestalt eines Oberkörpers, änderte schließlich gar die Farbe, bis sie sich einem eigentlich recht wohlgestalteten, ihr nicht unbekannten Antlitz gegenübersah.
    „Melchior, wie siehst Du denn aus?“, fragte sie.
    Die Eisskulptur machte eine wegwerfende Handbewegung.
    „Du solltest mal die andern sehen! Sag, wie geht es Dir? Du wirkst ungewöhnlich wohlwollend. Ich hätte erwartet, dass Du meinem unangemeldeten Anruf ärgerlicher begegnen würdest.“
    Alzhara rollte die Augen: „So eine fürchterliche Schreckschraube bin ich doch nun auch nicht. Du hast mich übrigens von eher unangenehmen, gesellschaftlichen Verpflichtungen abgehalten, wofür ich Dir nachgerade dankbar bin!“
    Melchior runzelte eine etwas lädierte Stirn.
    „Ich verstehe nicht, was Du immer mit Deinen gesellschaftlichen Verpflichtungen hast: Du konntest den Leuten wohl kaum mitteilen, dass Du mal kurz einen magischen Anruf beantworten gehst, denke ich. Wenn Du dafür einen Vorwand finden konntest, der Situation zu entgehen, hättest Du ihr auch ohne meinen Anruf entkommen können. Oder?“
    Nun war es an Alzhara, eine unwillige Handbewegung zu machen.
    „Was willst Du, Melchior? Hast Du nur angerufen, um Deine Sehnsucht nach mir zu stillen?“
    „Selbige Sehnsucht ist soeben sicherlich gestillt, säuerlich, wie Du mal wieder reagierst! Du könntest auch ruhig mal nett sein. Das brauche ich, hin und wieder.“
    „Als ob Du es nicht mögen würdest, wenn ich Dich schlecht behandle!“
    „Ich mag es, wenn Du mich überhaupt behandelst, liebste Alzhara, was viel zu selten vorkommt.“
    „Wissenschaftliche Exkurse und lange Vorträge sind eben nicht so meins, muss ich leider zugeben.“ Sie krauste das Näschen, „davon habe ich in letzter Zeit ohnehin schon zu viel.“
    „Ach?“, Melchior hob eine Augenbraue, „wie kommt’s?“
    Alzhara zuckte mit den Schultern: „Das geht Dich, mit Verlaub, nichts an. Anders gesagt: Das ist geheim. Na, bist Du jetzt eifersüchtig?“
    Melchior schwieg einen Augenblick.
    „Wenn Du das langweilige Gelaber eines anderen dem meinigen vorziehst, ja, dann bin ich da in der Tat eifersüchtig. Was ist aus Deinem Ritter geworden?“
    „Der Ritter?“, Alzhara lachte, „der ist doch schon ein alter Mann! Verheiratet, mit Kindern. Also nicht meinen, natürlich. Dafür, dass damals Du mich dazu überredet hast, hast Du vom menschlichen Leben wirklich erstaunlich wenig Ahnung. Weißt Du: Es gehört da durchaus mehr dazu, als nur in Büchern zu lesen oder sich schöngeistigen und erbaulichen Kunstformen hinzugeben.“
    „Das mag wohl sein“, erwiderte Melchior, indem er den Zeigefinger erhob, „aber in Büchern zu lesen oder sich schöngeistigen und erbaulichen Kunstformen hinzugeben ist das entschieden Beste am Menschlichen.“
    „Man merkt“, sagte Alzhara in etwas mitleidigem Ton, „dass Dir gewisse Genüsse doch allzu arg entgangen sind. Dem Umstand müsste man beinahe Abhilfe schaffen!“
    „Vielleicht“, fragte Melchior lächelnd, „könntest Du Dich dazu erwärmen?“
    „Melchior!“, rief Alzhara aus und schnalzte schockiert mit der Zunge, „Du weißt doch genau, dass ich IMMER, und zwar ganz außerordentlich erwärmt bin. Geradezu brennend heiß!“
    Melchiors Eiskörper machte eine etwas sonderbare Bewegung, und sein Gesichtsausdruck nahm einen sehr unwilligen Ausdruck an. Alzhara fragte sich schon, was sie Falsches gesagt haben mochte, als sich Melchiors Antlitz einigermaßen glättete und ihr wieder zuwandte.
    „Ich habe hier einen etwas ungeduldigen, jungen Mann bei mir, der mir in den Ohren liegt, doch endlich zur Sache zu kommen“, ein Grinsen bemächtigte sich Melchiors Gesicht, „sollen wir also zur Sache komm… jaja, schon gut, ich frage sie ja, jetzt reg Dich nicht auf. Meine Güte, man wird ja wohl noch scherzen dürfen! Also, Alzhara, kennst Du eine gewisse Pallas?“
    Alzhara zog verwundert die Brauen hoch.
    „Woher“, fragte sie, „kennst Du diesen Namen?“
    „Es hat den Anschein, als wäre dem oben genannten, jungen Mann die besagte Person sowohl bekannt, als auch recht wichtig. Er lässt ausrichten, dass sich derzeit eine Gruppe von drei nicht ganz ungefährlichen Personen auf der Suche nach ihr befindet.“
    „Wer soll dieser Junge sein?“
    „Er meint, Rafi sei sein Name. Er gehört wohl zu Deinen Bekannten auf Khorinis.“
    „Ah. Ja, in der Tat. Du weißt, um wen es sich dabei handelt?“
    „Ich habe eine gewisse Ahnung. Keine Sorge, ich werde da schon vorsichtig sein, niemandem vor den Kopf zu stoßen.“
    „Und diese drei Personen, von denen Du gesprochen hast. Sind das die, die Dich so zugerichtet haben?“
    „Ja“, sagte Melchior und schnaubte empört, „kommen einfach in mein Haus gestapft und pöbeln mich an…“
    „Ich gehe davon aus“, unterbrach sie ihn, „dass die noch am Leben sind?“
    „Äh, ja, sicher.“
    „Gerade so?“
    „Eher so mit viel Platz und Luft.“
    Alzhara gab einen anerkennenden Pfiff von sich.
    „Nicht schlecht! Sie haben Dich wohl überrascht, und dann waren es gleich drei auf einmal…“
    Melchior hüstelte verlegen: „Lass uns das ein andermal besprechen. Etwa dann, wenn Du Dich meiner Wunden auch angemessen annehmen kannst.“
    „Oh, armer Melchior! Bis dahin werden wohl nur die Wunden Deiner Eitelkeit noch zu behandeln sein!“
    „Das“, sagte Melchior, „sind auch die einzigen Wunden von Belang. Also, bevor mein Gast hier wieder unruhig wird…“
    „Sag ihm, dass ich ihm für seine Nachricht dankbar bin. Es war ein kluger Zug von ihm, Dich aufzusuchen.“
    Melchior wandte kurz den Kopf zur Seite.
    „Er lässt ausrichten, dass er das Fräulein Pallas grüßt.“
    „Ich lasse ausrichten, dass ich es weitergeben werde. Wenn ich daran denke.“
    „Rafi hört Dich gut, da brauche ich gar nichts ausrichten. Darf ich fragen, worum es bei dieser Pallas-Sache geht? Wer ist das, und was habt Ihr miteinander zu schaffen?“
    „Wie gesagt“, antwortete Alzhara lächelnd, „das ist geheim. Oder, besser gesagt: Das soll eine Überraschung werden!“
    „Eine mit Auflösung?“
    Alzharas Miene wurde ernst, und ein glimmen trat in ihre Augen.
    „Allerdings. Und Du kannst mir glauben, dass…“
    „Alzh…“
    „…das ein ziemlicher Knall…“
    „Alzha…“
    „…UNTERBRICH MICH NICHT! Du kannst mir also glau…“
    „ALZHARA! Da steht jemand hinter Dir!“
    Alzhara stockte, schluckte und wandte sich ruckartig um.
    „Guten Tag, Frau Alzhara!“, sagte der Mann, der da hinter ihr gestanden hatte und mit ziemlich unangenehmen Lächeln gegen einen der Baumstämme gelehnt dastand, „oder sollte ich lieber sagen: Lady Medusa? Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie verwundert ich war, als ich Dich da an der Seite des Fürsten gesehen habe!“
    „Was machst denn Du hier?“, wunderte sie sich und richtete sich auf, „und dann auch noch dem Aufzug!“
    Der Mann trug ebenso modische wie kostbare Kleidung, was einer Jagdgesellschaft eigentlich unangemessen war, und in der Tat waren an einigen Stellen frische Flecken von Erde oder Gras zu sehen. Es war das erste Mal, dass Alzhara diesen Mann in etwas anderem als einer dunklen Robe sah, und tatsächlich standen ihm die Junkersklamotten nicht schlecht.
    „Oh, ICH bin hier als offizieller Vertreter des Sultans von Mora Sul, inoffiziell aber natürlich als Spion unserer Gemeinschaft. Viel interessanter ist doch, dass ich Dich das gleiche fragen könnte!“
    Alzhara sah stirnrunzelnd an sich herunter. Sie trug ein noch eleganteres und also sogar noch unangemesseneres Kleid, allerdings ganz ohne Flecken. Eigentlich trug sie solche Dinge immer, oder zumindest dürfte der Kerl sie nie anders erlebt haben.
    „Ich meine: Was Du hier machst, das könnte ich Dich genauso fragen!“
    „Achso. Ja nun, ganz offensichtlich unterhalte ich mich. Was ist damit?“
    Ein Moment der Unsicherheit zuckte über das Gesicht des Mannes.
    „Was damit ist? Ist das Dein Ernst?“ Er verließ seine lehnende Haltung und machte eine unwirsche Handbewegung in Richtung Melchiors. Alzhara schaute sich kurz um und zuckte mit der Schulter.
    „Na und? Eine elementare Repräsentation eines anderen Magiers. Ganz normale, magische Telekommunikation. Irgendwie nichts Besonderes für eine Magiern, oder? Für die mächtigste Schwarzmagierin Myrtanas, meine ich?“
    Ihr Tonfall hatte zuletzt die leise Andeutung einer Drohung anklingen lassen.
    „Verarsch mich ni…“
    „Hoppla, seit wann duzen wir uns eigentlich?“, unterbrach sie ihn, und berichtigte sich dann, „oder besser: Seit wann duzt Du mich?“
    „Mich täuschst Du nicht! Das hier hat nichts mit unserer dunklen Mission zu tun! Was soll das? In Wahrheit bist Du Medusa, die Geliebte des Fürsten und Mutter dieses Görs? Was führst Du hier wirklich im Schilde?“
    Alzhara zuckte abermals mit den Schultern: „Ich unterwandere die Beliarkirche, um den Einfluss des dunklen Gottes ein für alle Male aus dieser Welt zu tilgen. Bei Innos, ich schleuste die wackere und tapfere Pallas, jene gute Dienerin unseres Herrn, durch unsern rechtschaffenen Plan in Eure finstere Organisation ein, um durch Eure eigenen, verdorbenen Ressourcen die Vernichtung des Bösen voranzutreiben! Der tugendhafte Zorn des Guten wird Euch hinwegfegen aus dieser Welt! Erzittert, Schergen der Finsternis, denn das Licht und die heilige Flamme werden Euch verzehren!“
    Das Gesicht des Mannes hatte unterdessen einen immer ungesünderen Farbton angenommen.
    „Du hast uns all die Jahre über betrogen?“
    „Jap.“
    Der Mann war baff, schnappte nach Luft.
    „Wenn ich Meister Armatrion davon berichte, dann wird er…“
    „Tu das!“
    Alzharas Gegenüber schaute etwas eingeschnappt drein.
    „Ich… das werde ich! Und weißt Du, was dann mit diesen Blagen geschieht? Wir werden sie…“
    „Jaja. Mach Du nur!“
    Der Mann schaute sie noch eine Weile an, als erwarte er, dass da noch etwas komme. Dann wandte er sich um und eilte davon.
    „War das klug?“, ließ sich Melchior vernehmen, „ich weiß ja nicht, um was es geht, aber es klingt schon nicht so recht danach, dass das so geplant war.“
    „War es auch nicht“, antwortete sie, „aber wir sind zu nahe an der Jagdgesellschaft, als dass ich ihn hier ohne Risiko ausschalten könnte.“
    „Welche Jagdgesellschaft?“
    „Außerdem“, fuhr sie fort, und ignorierte die Frage, „zwingt uns das dazu, die Sache etwas schneller zu einem Ende zu bringen. Insbesondere, wenn Pallas‘ Verfolger uns nun auf den Fersen sind. Mich ärgert trotzdem, dass ich ihn nicht früher bemerkt habe. Eigentlich hätte ich ihn ja riechen müssen. Ich will nicht wissen, wie oft er sich baden musste, um den Gestank des Beliarkultes loszuwerden.“
    „Blut und Moder von verrottenden Leichen?“
    „Der einfache Mief von ungewaschenen, schwitzigen Klamotten.“
    „Und was hast Du jetzt vor?“
    „Weiß ich noch nicht.“
    Melchior schwieg eine Weile.
    „Das scheint Dich nicht sonderlich zu beunruhigen. Ist diese Pallas jetzt nicht in Gefahr, oder so? Also ich persönlich fand Deine Verbindungen zu diesen Fanatikern immer schon sehr befremdlich.“
    „Ich bin nicht mit diesen Leuten verbunden“, erwiderte Alzhara, „sondern ich benutze sie – und das mit Erfolg! Und nein“, ein sehr gemeines Lächeln umspielte ihre Lippen, „Pallas ist keineswegs in Gefahr. Jedenfalls nicht durch diese Schwarzmagier. Im Übrigen ist diese Wendung schlimmstenfalls nervig. Wenn diese Verfolger auftauchen, die Du erwähnt hast, dann müssen wir womöglich ohnehin bald weiterziehen. Und dann wäre es auch egal, wenn wir nicht weiter auf diese Kultisten zählen könnten. Sag, glaubst Du, dass diese ominösen Leute uns ausfindig machen können? Was kannst Du mir über sie sagen?“
    Melchior legte den Kopf zur Seite und horchte einige Augenblicke, nickte dann: „Mindestens eine von den dreien ist überaus gefährlich und eine sehr gute Fährtensucherin. Rafi meint, dass sie Euch sehr wahrscheinlich bald aufspüren wird. Und ich meine, dass sie mit den beiden anderen zusammen sogar Dich besiegen könnte. Wenn Du nicht aufpasst, versteht sich. Sie ist schnell, stark, und hervorragend im Umgang mit ihrem Bogen. Über die anderen beiden weiß ich nichts, die haben nicht mitgekämpft.
    „Das ist schon etwas demütigend, oder?“, fragte sie, „wenn sie Dich so schwach einschätzten, dass sie ihrer Freundin nicht geholfen haben.“
    „Sie wirkten eher genervt. Ich denke, dass die andern beiden einfach keine Lust hatten.“
    Alzhara nickte: „Gut, ich werde mich vorsehen.“ Ihre zuvor ernste Miene hellte sich auf. „Oh, wenn die Ereignisse sich nun überschlagen, muss ich auch nicht mehr lange an diesem langweiligen Fürstenhof die Edeldame spielen! Also, danke für die Informationen, lieber Melchior! Wenn Du mich jetzt entschuldigen würdest…“
    „Gewiss doch, werte Alzhara. Ich habe mich auch noch um einige Dinge zu kümmern.“
    „Eine neue, alchemistische Tinktur?“
    „Apfelkuchen. Der muss aus dem Ofen. Also, bis dann!“
    Melchior winkte ihr noch einmal zu, und zerfiel dann in tausende kleine Eiskristalle, die auf dem Wasserspiegel schwimmend von der Strömung davongetragen wurden.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (07.06.2015 um 10:46 Uhr)

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    XIII. Die Königin und Dame


    Als Alzhara ihren Bericht beendet hatte, blies sich Pallas ihre Sträne aus dem Gesicht und schnaufte.
    „Das war ja irgendwie nicht so klug“, sagte sie tadelnd.
    „Wieso?“, verteidigte sich Alzhara, „was hätte ich denn tun sollen? In unmittelbarer Nähe zur Jagdgesellschaft einen magischen Zweikampf bestreiten?“
    „Naja“, merkte Odo an, „für die magische Kommunikation mit diesem Melchior war besagte Nähe offenbar kein Anfechtungsgrund.“
    Alzhara warf dem Jungen einen ungnädigen Blick zu, kommentierte dessen Äußerung jedoch nicht weiter. Stattdessen, an Pallas gewandt: „Du solltest lieber froh sein, dass ich Dich über diese ominösen Verfolger informieren konnte. Die wirken auf mich weit gefährlicher als etwaige Maßnahmen, die meine werten Ordensbrüder angesichts unserer Entlarvung ergreifen könnten.“
    „Du hast Recht“, räumte Pallas ein, „wir müssen uns jetzt wohl ohnehin beeilen. Hm…“, nachdenklich kaute Pallas auf ihrer Unterlippe herum, „das bedeutet jetzt, dass ich meine Arbeit hier schnellstmöglich beenden muss. Dabei wird mir Odo helfen. Du kannst in der Zeit dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden. Was meinst Du, wann Armatrion aktiv wird?“
    „Es wird wohl noch ein paar Stunden dauern, bis dieser Kerl Armatrion erreicht hat. Das ist genug Zeit für mich, mich um die hiesigen Kultisten zu kümmern. Für so einen Fall habe ich genau die richtigen Werkzeuge parat.“
    „Sag mal: Wie konntest Du eigentlich so viel schneller sein als er?“, fragte Odo.
    Alzhara warf ihm einen spöttischen Blick zu: „Ich bin geflogen.“


    Armatrion stürmte Alzharas Domizil nicht, sondern schluffte über die Schwelle, und es war nicht das Rasseln von Kettenhemd oder das Klirren von Klingen, das sein Eindringen begleiteten, sondern bloß das regelmäßige, dumpfe Klopfen seines Gehstocks auf dem Teppichboden. Die Totenstille, die ihn abgesehen davon im Inneren umfing, war ihm behaglich – immerhin war er ja der Hohepriester des Totengottes, und da kümmerte es ihn auch nicht, wenn die Leichen, auf die er ohne Zweifel treffen würde, seine eigenen Glaubensbrüder sein würden: Selbst im Tod würden sie ihm noch nützen können, zumindest sofern ihre Leichen durch Alzharas Magie nicht allzu sehr beschädigt oder vereinnahmt waren. Vorsorglich hatte er seine eigenen Diener mitgebracht, bei denen es sich nicht etwa um gewöhnliche Zombies oder belebte Skelette handelte, sondern um weitaus mächtigere Exemplare, Andenken, die er aus dem letzten Orkkrieg behalten hatte. Einst waren diese drei Paladine oder Ritter gewesen, doch nach ihrem Tode waren ihre Kadaver auf mehr oder weniger abenteuerliche Weisen in Armatrions Besitz gelangt, und die dunklen Rituale, durch er ihre Seelen verdorben und die Körper reanimiert hatte, gehörten zu den finstersten Geheimnissen der Nekromantie. Er vermutete, dass außer ihm nicht einmal eine Handvoll weiterer Personen auf der Welt sie beherrschte.
    „Beliar!“, hauchte Fasim, dessen Zeugenaussage Armatrion hergeführt hatte, als sie auf die ersten Toten trafen. Angesichts der Leichen, deren schwarze Roben sich mit dem Blut ihrer Eigentümer vollgesogen und darüber braun verfärbt hatten, erblasste der junge Gesandte aus Varant. Armatrions Antlitz hätte sich zu einer Grimasse der Missbilligung verzogen, wäre sie nicht ohnehin darin erstarrt gewesen. Doch was wunderte er sich über die Schwächlichkeit des Varantiners? Seiner Auffassung nach waren alle Varantiner verweichlicht, und ihre Schwarzmagier, die sich für die Spitze der Anhängerschaft Beliars hielten, waren dabei noch am Schlimmsten.
    „Das wurde offenbar von Schwertern oder Äxten angerichtet“, bemerkte einer von Armatrions anderen Begleitern, ein Magier namens Domian, sachlich.
    „Natürlich“, keifte Armatrion und verdrehte die Augen, „Alzhara ist eine mächtige Nekromantin. Sie hat mit Sicherheit bewaffnete Untote in ihren Diensten.“
    „Die wären wohl kaum so stark, dass sie ohne eigene Verluste alle unsere Brüder hier hinmetzeln könnten“, wandte Domian ein , „und hätten sie Verluste erlitten, lägen hier noch andere Überreste.“
    Armatrion dachte an seine drei Todesritter, die es sicherlich mit den Akolythen im Hause hätten aufnehmen können. Ob Alzhara wohl ebenfalls…?
    „Ich glaube nicht, dass eine Feuermagierin Nekromantie einsetzt“, sagte Fasim, der seine Fassung wieder etwas zurückerlangt hatte. Armatrion schnaubte ungehalten: Er glaubte nicht einen Augenblick, dass Alzhara wirklich eine Dienerin Innos‘ war. Sie hatte den varantiner Gesandten aller Wahrscheinlichkeit nach bloß auf den Arm genommen. Dennoch bot sich ihm dadurch ein Vorwand, gegen die unliebsame Konkurrentin vorzugehen, die Armatrion nur zu gerne beim Schopfe packte. Danach würde er selbst das Projekt leiten, höchstpersönlich. Und dann wäre es mit dem Lotterleben für diese Kinder vorbei, dann würden Zucht und Ordnung in dieses Haus einziehen!
    „Was ist das denn?“, wagte einer der Akolythen zu sagen, der eigentlich den Mund zu halten hatte, bis man ihn ansprach. Doch Armatrions Tadel blieb ihm im Halse stecken, als er des Anlasses für den frechen Einwurf gewahr wurde.
    „Ist das… eine Echse?“, fragte Domian. Armatrion besah sich das tote Ding, dessen Erscheinung humanoid wirkte, dessen weitgehend nackte Haut jedoch aus roten Schuppen bestand, und dessen Haupt an den Kopf einer Schlange erinnerte. Er wusste, was das war, hatte er dergleichen doch bereits gesehen, damals, auf Irdorath. Es handelte sich um einen Echsenmenschen. Und Armatrion wusste: Wo Echsenmenschen waren, da lauerten Drachen in nicht allzu großer Ferne. Ob es sich bloß um Diener der Drachen handelte, oder um eine Art Larvenform, das wusste er nicht. Doch die Anwesenheit dieser Kreaturen war ein untrügliches Zeichen. Über die Implikationen, falls tatsächlich ein Drache hinter dieser Angelegenheit steckte, wollte Armatrion lieber nicht nachdenken. Waren Drachen nicht die Lieblinge Beliars? Wenn also Drachen seine Operation angegriffen hatten, war dies dann ein Zeichen von Beliars Missbilligung? Oder war Alzhara das Ziel des göttlichen Zornes, und die Sendboten hatten – wie es sich übrigens auch gehörte! – einfach alles vernichtet, was ihnen über den Weg gelaufen war?
    „Was immer es ist, es ist offenbar sterblich“, blaffte Armatrion, in der Hoffnung, dass diese Bemerkung seinen Leuten Mut mache. Ihnen sein Wissen mitzuteilen, das kam nicht in Frage, wollte er sie doch lieber nicht mit seinen Zweifeln belasten. Das hätte sie ja doch bloß nachdenklich gemacht, und das Denken tat er lieber selbst.
    „Last uns weitergehen!“, sagte er und schlurfte mit gutem Beispiel voran.

    Beim Durchqueren der Korridore des Anwesens trafen sie auf weitere Schlachtfelder, auf denen hin und wieder, zwischen niedergestreckten Akolythen des Dunklen Gottes, der ein oder andere, von Zaubern getroffene Echsenmensch lag. Armatrion war doch froh, dass die Hexe ihr Domizil so großzügig mit Teppichen ausgestattet hatte, obwohl dies ein widerlicher Luxus war, wäre er doch sonst Gefahr gelaufen, allzu leicht in Blutlachen auszurutschen.
    „Sengrath, Silvestro, Lothar! Geht voraus und tötet alles, was euch begegnet!“, wies er seine Todesritter an, die sich umgehend mit gezückten Waffen in Bewegung setzten. Er vermutete, dass es nicht mehr lange dauern werde, bis man sie angreifen würde, und dann wollte er lieber seine mächtigsten Nahkämpfer an vorderster Front wissen, insbesondere da ja hinter jeder Biegung ein Hinterhalt lauern mochte: Zwar fühlte sich Armatrion dank seiner Macht alles andere als hilflos, doch einem plötzlichen Axthieb eines muskelbepackten Echsenviechs hätte er wohl kaum etwas entgegensetzen können.
    Die drei Untoten bogen mit klappernden Rüstungen um eine Ecke, und kurz darauf waren auch schon das Klirren von Schwertern und das sonderbare Grunzen der Echsenmenschen zu hören. Armatrion wunderte sich ein wenig, dass er es nach all den Jahren noch immer erkannt hätte, selbst wenn er nicht ohnehin schon gewusst hätte, womit sie es zu tun hatten. Seine Begleiter stockten angesichts des Kampfeslärms, er selbst jedoch stapfte stoisch weiter, bog um die Ecke, und fühlte sich bestätigt: Seine Kreaturen hatten mit etwa einem halben Dutzend Gegnern, deren letzter gerade, von einem Hieb von dem mächtigen, aus magischem Erz gefertigten Zweihänder Silvestros getroffen, zu Boden ging, kurzen Prozess gemacht. Armatrion bedachte seine Streiter mit einem wohlwollenden Gedanken, den diese schweigend entgegennahmen.
    „Beeilt Euch!“, krächzte er über die Schulter seinen lebendigen Untergebenen zu, die etwas zaghafter als ihr Anführer endlich um die Ecke gebogen kamen. Armatrion wartete nicht groß, sondern schritt auf die doppelflügelige Tür zu, hinter welcher der von Alzhara und den beiden Kindern bewohnte Flügel des Anwesens anfing.
    „Domian, öffne die Tür!“, befahl er, und dann, zu seinen Todesrittern, „Ihr geht voran und brecht jeden Widerstand, der uns entgegengebracht wird. Doch tötet weder Alzhara noch die beiden Kinder!“


    Odo ging Pallas zur Hand, so gut er konnte, derweilen Alzhara an dem Tisch saß, an dem sie ihre Mahlzeiten eingenommen hatten, und Tee trank. Odo wunderte sich ein bisschen: Er hatte erwartet, dass sie mit dem Aufbau einer Verteidigung ebenso beschäftigt wäre, wie er und Pallas mit der Fertigstellung der Maschine. Stattdessen war sie nur einmal kurz für eine viertel Stunde vor die Tür gegangen, um sodann mit einem dampfenden Teegedeck zurückzukehren. Odo meinte, dass er nach Alzharas Rückkehr so etwas wie Kampfeslärm aus den entlegenen Teilen des Anwesens gehört habe, war sich dessen angesichts der Geräusche, die Pallas‘ Maschine mittlerweile von sich gab, jedoch nicht ganz sicher.
    „Nicht rumträumen, während Du mit schwarzem Erz herumhantierst!“, ertönte Pallas‘ Ermahnung und ließ Odo in seiner Beschäftigung fortfahren – bis er erneut abgelenkt wurde, diesmal ganz eindeutig von Kampfgeräuschen, die zu allem Übel aus weit größerer Nähe erklangen, als Odo lieb war.
    „Gib her!“, sagte Pallas, bließ sich ihre Haarsträhne aus den Augen, und riss Odo das schwarze Erz aus der Hand, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie nestelte etwas an dem Kästchen herum, an dem das Erzstück einzusetzen war, und setze das Kästchen sodann in den Apparat.
    „Auf die Konfigurationen, Simulationen und Testdurchläufe müssen wir dann wohl verzichten“, meinte sie, „aber ich habe das eigentlich alles schon vorher durchgerechnet. Das passt schon.“
    „Ja“, bemerkte Odo sarkastisch, „läuft bei uns.“
    Ein Poltern erklang von der Tür und ließ die beiden herumfahren.

    Domian hatte Armatrions Anweisung auf die diesem denkbar angenehmste Weise umgesetzt, nämlich mit einer deftigen Welle magischer Energie, welche die verzierte Tür pulverisiert hatte. Die drei Todesritter hatten sich flugs durch die so entstandene, noch etwas rauchverhüllte Öffnung begeben. Armatrion folgte den dreien und versuchte mit eher mäßigem Erfolg, den Hustenreiz zu unterdrücken, der ihn beim Durchqueren der Rauchwolke überkam.
    „Hallo Armatrion“, empfing ihn Alzhara von dem Tisch her. Sie nippte beiläufig an einer Tasse, aus der es dampfte. Da der Genuss von Heißgetränken jedoch kaum als Widerstand gelten konnte, verblieben die drei Todesritter nicht bloß schweigend, sondern auch untätig, standen nur da wie steinerne Wächter.
    „Du weißt, warum ich hier bin?“, fragte Armatrion mit leiser Stimme.
    „Wie bitte?“ Ein Klicken ertönte, als Alzhara ihre Tasse auf der Untertasse absetzte.
    „Ob Du weißt, warum ich hier bin?“, wiederholte er.
    „Ich kann Dich nicht verstehen, Du musst etwas lauter sprechen.“ Sie nahm die verzierte Porzellankanne und schenkte sich nach.
    Wut stieg in Armatrion empor, verstopfte ihm die Kehle wie ein Klumpen schleimigen Auswurfs und brachte seine Hände zum Zittern. Das Übelste war: sie hatte Recht. Er hatte es einst verstanden, leise zu sprechen, jedoch mit tragender Stimme. So, dass es die Menschen zum Verstummen brachte, seine Autorität untermalte und seine Würde und Erhabenheit zum Ausdruck brachte. Doch nun war seine Stimme nur noch ein Krächzen, wenn er laut sprach, oder ein Keuchen, wenn er leise sprach, und beides verfehlte die Wirkung, die er sich wünschte.
    „Oh, in gewisser Weise gönne ich Dir Dein Spielchen. Du hast ja schließlich nicht mehr lange zu leben“, antwortete er etwas lauter. Es gelang ihm dabei recht gut, seinen Zorn zu verbergen und stattdessen gelassen zu klingen.
    „Aber um auf meine Frage zurückzukommen: Weißt Du, warum ich hier bin?“
    Alzharas Blick ruckte zu Fasim.
    „Natürlich“, antwortete sie und sog genüsslich die Luft über der nun wieder befüllten Tasse ein.
    „Leugnest Du, was dieser junge Diener unseres Herrn Dir vorwirft?“
    Alzhara trank einen Schluck und antwortete: „Nein. Ich leugne jedoch, dass es sich um UNSEREN Herrn handelt.“
    Armatrion hob die Brauen. Wollte sie also bis zum Ende die Feuermagierin spielen? Oder war seine Einschätzung doch falsch gewesen, und ihr Geständnis vor Fasim echt? Doch warum hätte sie ihre Deckung dann aufgeben sollen? Und das ausgerechnet jetzt? Sie hatte seit Jahrzehnten immer wieder losen Kontakt zur Kirche Beliars gehabt, zumeist bis in die höchsten Ränge, wenngleich sie niemals eine aktive Rolle in der Priesterschaft wahrgenommen hatte. Als Frau hätte sie dies ohnehin nicht gedurft. Ihre Zurückhaltung war der einzige Grund gewesen, warum man ihr sowohl ihre Schrullen, als auch ihre Weiblichkeit hatte durchgehen lassen. Nunja, das, und natürlich der Umstand, dass sie als unglaublich mächtig galt, und dies mit dem regelmäßigen Ableben all derer, die ihre Feindschaft gefunden hatten, zu bestätigen wusste. Doch dass sie eine eher passive Rolle einnahm, hieß nicht, dass sie nicht durchaus über viele Belange der Kirche bestens informiert war. War sie also eine Feuermagierin, so stellte dies die Rückschläge der Beliarkirche in den vergangenen Jahrzehnten in ein völlig neues Licht. Ja, selbst der große Zuben mochte bloß eine Marionette des Feindes gewesen sein.
    Armatrion musste ihr irgendwie die Wahrheit entlocken, denn davon würden seine nächsten Schritte abhängen.
    „Diese Maschine da“, sein Kinn ruckte in die Richtung des Apparats, „wozu dient sie wirklich?“
    Alzhara zuckte mit den Schultern und fischte ein Teeblatt aus der Tasse: „Genau das, wozu sie immer gedacht war: Ein Portal in eine andere Dimension öffnen, damit ein Gott hindurchtreten kann.“
    Er runzelte die Stirn. Wollte sie seinen Plan doch alleine ausführen? Hatte sie diesen Angriff provoziert, um sich seiner zu entledigen, und sodann die Herrschaft über die Kirche zu übernehmen?
    „Allerdings ist damit ein anderer Gott gemeint, als Du es Dir gedacht hast“, fuhr Alzhara fort und streifte sich das Teeblatt am Tassenrand von ihrem Finger.
    „Willst Du ernsthaft behaupten, dass Du Innos dienst?“, fragte er.
    Zum ersten Mal sah sie ihm direkt in die Augen, ihre Miene wurde ernst.
    „Du hast meine Diener bemerkt? Sie sind Überbleibsel aus dem letzten Orkkrieg. Genau genommen die verwaisten Diener eines alten Bekannten namens Finkregh, die nur allzu glücklich waren, nach seinem bedauernswerten Dahinscheiden eine neue Herrin anbeten zu dürfen. Sie bewachen das ein oder andere Domizil von mir, und haben seit Beginn dieser Operation in meinem Keller gehaust. Da würde ich jetzt also nicht runtergehen, denn solche Echsenmenschen sind zwar recht gute Krieger, aber leider nicht so ganz stubenrein.“
    „Willst Du also behaupten, dass Du ein...“
    „Drache bist? Allerdings. Falls Du Dich über meine Gestalt wunderst: Das ist natürlich Magie. Ein Verwandlungszauber. In Wirklichkeit bin ich tatsächlich ein Drache. Ein Feuerdrache, um genau zu sein. Und was meinst Du wohl, welchen Gott ein Geschöpf des Feuers wohl bevorzugen wird. Na?“
    „Feuerdrachen sind also Diener Innos'?“
    Alzhara lachte: „Drachen sind gewissermaßen Manifestationen eines Elements. Wir sind Urgewalten. Und Urgewalten dienen nicht, sondern wir herrschen. Ein Gott ist für mich bloß ein abstraktes Konzept, keine Person. Mich kümmert Eure Religion nur bedingt. Was mich kümmert ist vielmehr die Aussicht auf ein Leben im Feuer.“
    Armatrions Blick wanderte zu der Maschine, an der die beiden Kinder noch immer emsig zu arbeiten schienen. Offenbar hatten sie sie bereits in Betrieb genommen, zumindest teilweise, denn ein anschwellendes Summen ging von ihr aus. Er musste handeln, wenn er nicht wollte, dass seine Welt zur Spielwiese des Widersachers seines Herrn wurde. Er hatte dieser Hexe in die Hände gespielt, ihr die Möglichkeit gegeben, diesen heimtückischen Plan umzusetzen. Nun musste er verhindern, dass sie auch noch den letzten Schritt ihres Planes tat!
    „Tötet sie!“, rief er seinen Todesrittern zu, und Sengrath, Silvestro und Lothar setzten sich in Bewegung. Wenn sie ein Drache war, musste Alzhara noch mächtiger sein, als er es bislang für möglich gehalten hätte – doch nicht in menschlicher Gestalt. Und wenn er Glück hatte, würde sie sich in Gegenwart der Maschine zurückhalten, um diese nicht zu beschädigen. Selbst mit übermenschlichen Kräften sollte sie seinen drei Champions unterlegen sein.
    Der einstige Ritter Sengrath näherte sich von der einen Seite, die im doppelten Sinne gefallenen Paladine Silvestro und Lothar von der anderen. Trotz der schweren, geschwärzten Rüstungen bewegten sich die Kreaturen mit schier unglaublicher Geschwindigkeit. Nur noch weniger Schritte, und der erste Todesritter hätte die verräterische Hexe erreicht, und...
    Es ging schnell. Sehr schnell. Armatrion sah irgendeine Bewegung, und schon torkelte der Untote, der im Leben auf den Namen Sengrath gehört hatte, zurück. Das Schwert, das er in Händen gehalten hatte, jene Klinge aus magischem Erz, die einst dem Gott Innos geweiht gewesen, nun aber verflucht war, hatte ihren Besitzer gewechselt. Jedoch nicht an Alzhara, die es in der kurzen Zeit kaum geschafft hatte, von ihrem Stuhl aufzustehen und sich über den bei der hastigen Bewegung vergossenen Tee zu ärgern. Sondern es war Pallas, dieses kleine Mädchen Pallas, das die Klinge nun in Händen hielt. Mehr als einen kurzen Augenblick gewährte sie Armatrion nicht, die Situation neu einzuschätzen, denn schon wirbelte sie voran, trennte mit einem kräftigen Hieb, den er einer so kleinen Person niemals zugetraut hätte, dem Untoten den Kopf von der Schulter. Die Kettenglieder, die den Hals des Ungeheuers geschützt hatten, boten der magischen Klinge kaum Widerstand. Noch bevor der Leichnam ganz auf dem Boden aufgeschlagen war, hatte Pallas sich bereits auf Alzharas andere Seite begeben, und sich des nächsten Kontrahenten angenommen: Todesritter Silvestro empfing das Mädchen mit einem Hieb des Zweihänders. Der Untote schwang die gewaltige Waffe ohne alle Mühe, so schnell, als handle es sich um einen Holzstock. Und Pallas... wich nicht aus. Das musste ihr Ende sein...!
    Ein lauten Klirren ertönte, begleitet von einem ohrenbetäubenden, widerlichen Sirren, als die beiden magischen Waffen aufeinandertrafen. Normalerweise hätte mindestens eines der Schwerter zerbrechen müssen. Doch Waffen aus magischem Erz waren nahezu unzerstörbar. Die zerstörerische Energie also, enttäuscht von ihrer Wirkungslosigkeit, schien sich über die Luft ausbreiten und an den Ohren der Anwesenden abreagieren zu wollen. Armatrion unterdrückte den Impuls, den Stock fallen zu lassen, um sich beide Hände auf die Ohren zu pressen, nicht etwa, sondern er hatte ihn einfach vergessen. Zu verdutzt war er: Denn dieses Mädchen, das ihrem Widersacher gerade bis zum Bauchnabel reichte, hatte den Schlag des Zweihänders pariert.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (05.08.2015 um 23:49 Uhr)

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    XIV. Der Verlust eines heimlichen Turmes



    Es war Odos Idee gewesen, Pallas‘ Stofftier Strigidus zu benutzen, um den Warpfeldgenerator zu justieren. Zwar war dessen künstliche Intelligenz dafür eigentlich gar nicht ausgelegt, doch für den Bau eines Rechenapparates war ihnen keine Zeit verblieben, also hatten sie improvisieren müssen. So ließen er und Pallas sich nun Messdaten vortragen, glichen diese mit den Berechnung ab, die sie zuvor angestellt hatten, und gaben dementsprechende Anweisungen an Strigidus weiter, die Feineinstellungen der Maschine zu ändern. Sie hatten erstaunlich wenige Korrekturen vorzunehmen.
    „Mach Du den Rest“, sagte Pallas plötzlich, und ließ den verdutzten Odo stehen. Der konnte sich nicht ganz dazu durchringen, unmittelbar mit seiner Aufgabe fortzufahren, sondern wandte sich der Richtung zu, in die Pallas verschwunden war. Das Scharmützel, dessen Zeuge er sodann wurde, war ebenso kurz, wie heftig, und stellte gewissermaßen alles auf den Kopf, was er über Mechanik zu wissen geglaubt hatte. Denn eigentlich, so hatte er gedacht, hätte sich Pallas wenigstens das Handgelenk brechen müssen. Angesichts der Größe und des Gewichts des Zweihänders, der Geschwindigkeit des Schlages und der Kraft, welche der schwarzgewappnete Krieger offenkundig in den Schlag legte, hätte Odo einen effektiven Widerstand des zierlichen Mädchens für physikalisch unmöglich gehalten. Er fühlte sich beinahe persönlich beleidigt, dass sie seine Berechnungen auf derart beiläufige Weise widerlegte. Das unangenehme Klirren, das ihm bei dem Vorfall in die Ohren schnitt, machte die Situation nicht besser.
    Pallas jedenfalls war natürlich mit dem bloßen Abwehren des Angriffs noch keineswegs am Ende, sondern legte alsbald nach, indem sie ihrerseits eine Reihe von Hieben gegen den Todesritter führte, die dieser mit seinem sperrigen Großschwert nicht so recht parieren konnte, so dass er sich kurzerhand einiger Gliedmaßen und schließlich auch des Kopfes beraubt am Boden liegend wiederfand.
    Der dritte Kontrahent machte auf Odo einen noch bedrohlicheren Eindruck, als es dessen Kampfgefährten getan hatten: Die dunkle Rüstung wirkte trutziger und prunkvoller, der Vollhelm war verziert, und mit Schwert und Schild ausgerüstet, machte der Krieger einen schier unüberwindlichen Eindruck. Zudem mutmaßte Odo, dass eine Art böse Aura von dem Geschöpf ausgehe, jedenfalls fühlte er sich bei dem Anblick doch recht unbehaglich. Einerlei: Je mächtiger und boshafter das Geschöpf aussah, desto stärker würde es sich der Lächerlichkeit preisgegeben sehen, sobald es, wie seine nunmehr doppelt toten Gefährten, von Pallas niedergestreckt würde. Odo glaubte jedenfalls nicht daran, dass das Ergebnis dieses neuerlichen Duells irgend anders sein würde.
    Pallas selbst schien denn auch nicht die mindeste Sorge zu verspüren: Sie bewegte sich gelassen auf ihren Gegner zu, und erst, als dessen erster Angriff sie beinahe erreicht hatte, wich sie zurück. Dieser Gegner war ganz entschieden mächtiger als die beiden vorherigen. Seine Schläge kamen schneller, prasselten geradezu auf das Mädchen ein, das Schritt für Schritt zurückwich. Angesichts der kontinuierlichen Angriffe und des Schildes schien sie kaum eine Möglichkeit zu haben, selbst einen Hieb auszuführen. Odo nahm wahr, wie sich die Entsetzensmiene auf Armatrions Gesicht etwas glättete, offenbar sah der Schwarzmagier seine Kreatur nun in der Oberhand. Was für ein schlechter Beobachter! So wenig sich Odo mit dem Kriegshandwerk auskannte, so offensichtlich war doch, dass Pallas mit ihrem Gegner bloß spielte. Und in der Tat: Als sie beinahe bis zur Wand zurückgewichen war, nutzte sie diese, indem sie zuerst in die Höhe sprang, sich sodann von der Wand abdrückte, eine halbe Pirouette vollzog und schließlich hinter ihrem Kontrahenten wieder aufsetzte, so dass sie nun dessen ungedeckten Rücken anzugreifen vermochte. Ihre Klinge zuckte zu den Schwachstellen der dunklen Rüstung unter den Achseln sowie in den Kniekehlen, und brachte den sich umwendenden Todesritter zum Schwanken.
    Mehr allerdings auch nicht.
    Logisch, fand Odo, immerhin war Magie ja auch in der Lage, Skelette zu beleben, oder sogar Steinskulpturen, die überhaupt niemals organische Lebewesen gewesen waren. Vermutlich brauchte der Todesritter funktionierende Muskeln und Sehnen also ebenso wenig wie anderweitige Organe.
    „Mach endlich weiter!“, riss es Odo aus dessen Beobachtung. Sein Blick glitt zu Alzhara, deren Augen unangenehm drängend zu ihm herüberfunkelten, bevor sie selbst sich wieder dem Geschehen zuwandte. So unfair Odo das auch fand, so wenig wollte er bei der Magierin, die sich ja nun sogar als Drache offenbart hatte, in Ungnade fallen, und also widmete er sich flugs wieder seiner Arbeit am Warpfeldgenerator. Nachdem die wesentlichen Einstellungen vorgenommen waren, musste das Ding nun eingeschaltet werden. Das bekam er hin, da war er sicher! Die Hauptenergiequelle aus magischem Erz war bereits aktiv und lief gerade warm, einige Hilfsmodule hatten den Betrieb aufgenommen, und somit waren nur die letzten Schritte in der stufenweisen Aktivierung noch zu tun, von denen die meisten zudem automatisch ablaufen würden. Er musste lediglich einige Schalter umlegen, und schon begannen Blitze die diversen Rohre und Spulen, die teilweise aus dem Appart herausragten, entlang zu zucken. Das monotone Brummen, das die Maschine von sich gegeben hatte, wuchs sich zu einem anschwellenden Sirren aus.
    „Ich werde das nicht zulassen!“, drang Armatrions Stimme an Odos Ohr, „ich dulde so etwas nicht!“, und kurz darauf erklang ein heftiges Fauchen wie von einem plötzlichen Flammenstoß, gefolgt von einer Hitzewelle. Odo wandte sich nun doch wieder um, trotz der Aussicht auf Alzharas Zorn, und sah gerade noch, wie einige Restflämmchen auf ihrer Handfläche verebbten.
    „Doch nicht mit Feuer, Ihr Idioten!“, keifte Armatrion seinen dümmlich glotzenden Begleitern zu. Er selbst blieb dagegen auffallend passiv, hatte lediglich die Arme emporgereckt und die Stirn in Konzentration gerunzelt. Seinen Blick fixierte er nunmehr auf Odo oder, wie Odo annahm, auf den Apparat hinter ihm.
    „Ähm“, machte Odo und hob zaghaft den Zeigefinger, um möglicherweise die Aufmerksamkeit Alzharas oder wahlweise auch die von Pallas auf sich zu ziehen, die jedoch beide anderweitig okkupiert waren, die eine noch immer im Duell mit einem Todesritter, die andere im magischen Gefecht mit Armatrions Untergebenen, die übrigens dazu übergingen, anstelle von Feuergeschossen Blitze, Eis und lilafarbigen Nebel auf ihre Gegnerin abzusondern – mit übrigens nicht wesentlich besserem Erfolg, fischte diese die ankommenden Geschosse doch mit einiger Beiläufigkeit aus der Luft, um sie entweder wirkungslos verpuffen oder gar auf die Angreifer zurückschnellen zu lassen. Doch so mühelos es auf den ersten Blick erschien, so deutlich konnte Odo die angestrengte Konzentration ausmachen, die sich auf Alzharas Gesicht abzeichnete.
    Armatrion begann eine Art Singsang, der jedoch irgendwie disharmonisch war, durchdringend und seltsam schauerlich. Die Augen des alten Magiers begannen, gefährlich aufzublitzen, und der sich von plötzlicher Energie straffende Leib begann Schwaden einer auf ungreifbare Art finsteren Aura abzusondern. Odo war sich ziemlich sicher, dass es nichts mit eigentlicher Optik zu tun hatte, dass das Licht im Raum gänzlich unbeeinträchtigt blieb, und dennoch wirkte es auf ihn, als verdunkelten und vergrößerten sich die Schatten, als nähmen sie plastische Gestalt an, und schluckten alle Helligkeit. Ein Kältegefühl machte sich in Odo breit, gepaart mit lähmendem Entsetzen, doch auch diesmal mit der Gewissheit, dass sich die eigentliche Lufttemperatur nicht änderte. Die Mächte, die Armatrion da beschwor, waren nicht von dieser Welt, und so war auch ihre Wirkung nicht vollkommen weltlich.
    „Beschützt den Meister“, riefen einige der Schwarzmagier. Der gut gekleidete, junge Mann an Armatrions Seite nahm den Ruf auf, verzog das Gesicht, und wandte sich gen Flucht, die andern dagegen, offenkundig loyaler, warfen sich zwischen Alzhara und ihrem Meister. Der Flüchtende erreichte die Türschwelle, wurde jedoch jäh zurückgerissen, sank zusammengekrümmt zu Boden. Armatrion, dessen Beschwörung wohl ihren Höhepunkt erreicht hatte, lachte triumphierend auf, derweil einer seiner Untergebenen von einem Zauber Alzharas niedergestreckt wurde. Das wachsende Grauen, das Odo empfand, schnürte ihm die Kehle zu, nahm ihm die Luft, als sei er heftig auf den Rücken gefallen.
    Einen Augenblick lang schien es, als habe Armatrion gewonnen. Er musste nur noch seine Macht gegen die Maschine – und den armen Odo – entfesseln, und all ihre Arbeit wäre umsonst gewesen – und, noch viel schlimmer, der gute Odo tot.
    Doch es kam anders.
    Ein Ruck ging durch Armatrions Leib, und es schien Odo, als rage plötzlich etwas aus dessen Brust heraus. Etwas Silbernes, das er nicht sogleich erkennen konnte. Armatrions irres Lachen wandelte sich zu einem Schreckenslaut, und der alte Magier torkelte, wandte sich gen Ausgang, und zuckte erneut zusammen.
    „Muss ich einen dritten Pfeil an Dich verschwenden?“, vernahm Odo die Stimme einer Frau, die, zwei weitere Personen im Schlepptau, den Raum betrat. Der Kampf stockte, sowohl die Schwarzmagier als auch Alzhara richteten ihre Aufmerksamkeit den Neuankömmlingen zu, die sich recht neugierig umsahen.
    „Nein“, sagte die Frau mit dem Bogen, als sie sah, wie Armatrions Diener sich anschickten, ihr die Arme entgegenzurecken, in dem Versuch, ihre magischen Attacken gegen diese neue Bedrohung zu richten, und führte eine elegante Bewegung aus, so schnell und fließend, dass Odo lediglich das Ergebnis wahrnehmen konnte: Die Beliaranhänger gingen zu Boden, ein jeder von einem der silbernen Pfeile niedergestreckt.
    „Ich dulde…“, brachte Armatrion noch krächzend hervor, brach dann jedoch ebenfalls – als letzter – zusammen. Ein dritter Pfeil war nicht notwendig gewesen.
    Stille breitete sich aus. Selbst der Todesritter, der mit Pallas gekämpft hatte, erstarrte wie vor Schock über das Ableben seines Meistens. Die Stille jedoch, in der eine unangenehme, nervöse Anspannung lag, war nicht etwa ruhig oder friedlich, sondern eher vergleichbar mit dem Gefühl der Taubheit eingeschlafener Füße, das ja zwar ein Gefühl von Taubheit sein, also demnach eigentlich die Abwesenheit einer Empfindung darstellen sollte, sich aber als beinahe schmerzhaftes Kribbeln bemerkbar machte.
    Nach einem Augenblick des Nachdenkens kam Odo zu dem Ergebnis, dass er einfach den Klang der Maschine hörte.
    „Was hast Du getan?“, zischte es durch den Raum, und zwar in einem Ton mühevoll unterdrückten Zorns. Zu seiner Verwunderung entdeckte Odo, dass es Pallas war, die da gesprochen hatte.
    „Ich habe ein Hindernis aus dem Weg geräumt“, antwortete die Bogenschützin achselzuckend, „und nun werde ich Dich mitnehmen. Deine Spielchen hören jetzt auf, hörst Du? Du wirst…“
    Weiter kam die Bogenschützin nicht, denn mit einem Wutschrei stürmte Pallas nach vorn. Ein beiläufiger Hieb, schneller und kraftvoller als alle zuvor, durchdrang mühelos die Deckung des Todesritters und führte diesen wohl auf seine verspätete Reise in Beliars Reich.
    Die Bogenschützin indessen war kein so einfaches Ziel. Vielmehr wich sie mit derselben Grazie zurück, mit der Pallas vorangestürmt war, entging mehreren Hieben ohne erkennbare Mühe und schaffte es dabei sogar, ihrem Köcher einen Pfeil zu entnehmen, aufzulegen und auf Pallas abzufeuern. Odo wusste nicht recht zu bestimmen, was ihn mehr beeindruckte: Die Gewandtheit der Bogenschützin oder Pallas‘ Reaktionsschnelligkeit, als diese den Pfeil mit ihrer Klinge abwehrte.
    „Hört auf!“, rief die andere Frau, die zusammen mit der Bogenschützin den Raum betreten hatte und in sorgenvoller und, wie Odo trotz allem wahrnahm, irgendwie sinnlicher Pose die Hände vor den Mund geschlagen hatte. Der Mann, bislang schweigend und reglos, schnellte voran, drang zwischen Pallas und die Jägerin, die beide innehielten.
    „Was soll das? Wollt Ihr Euch gegenseitig umbringen?“
    Die Bogenschützin schnaubte: „Als ließe ich mich so einfach töten. Um mich brauchst Du Dir wirklich keine Sorgen machen.“
    Pallas Augen verengten sich. „Du solltest mich nicht unterschätzen“, sagte sie in einem Tonfall, der Odo erschauern ließ.
    Doch die Bogenschützin ließ sich nicht beeindrucken, sondern fuhr gelassen fort: „Und um sie brauchst Du Dir auch keine Gedanken machen. Immerhin: ICH habe noch niemals jemanden aus Versehen getötet.“
    Ein Moment der Unsicherheit zuckte über Pallas‘ Antlitz, bevor sich ihre Mine verhärtete: „Nein“, sagte sie, „Du tötest stets mit voller Absicht, nicht wahr? Sagt, warum seid Ihr hier? Glaubt Ihr wirklich, dass ich mich von Euch einfangen ließe?“
    Die Bogenschützin lachte: „Als hättest Du eine Wahl!“
    „Bitte“, sagte die andere Frau, „wir wollen doch nur Dein Bestes. Bitte kommt mit uns! Du brauchst auch keine Angst haben…“
    „Ich habe keine Angst. Wie käme ich dazu?“, fauchte Pallas, „und ich werde ganz gewiss nicht mitkommen. Ihr mögt meine Pläne einstweilen verhindert haben, aber ich werde einen anderen Weg finden. Ihr wisst, dass ich das kann!“
    Odo verstand nicht recht, wo das Problem lag. Die Bogenschützin hatte doch bloß die Schwarzmagier getötet. Und war das nicht eigentlich gut? Es sei denn…
    „Nein, das hört jetzt auf“, schimpfte die Bogenschützin, „Du kommst jetzt mit uns nach Hause und da gibt es keine Widerrede, Du elendes Gör!“
    Pallas setzte zu einer Antwort an, hielt jedoch inne, offenkundig von irgendetwas abgelenkt.
    „Odo“, sagte sie, mit ruhiger Entschlossenheit, „ist alles bereit?“
    „J-ja“, beeilte er sich zu antworten, „ich muss nur noch diesen Hebel umlegen.“
    „Dann tu es!“, befahl sie.
    „Was soll das jetzt noch?“, fragte Alzhara, „wir können nicht mehr…“
    „TU ES!“
    Odo war zwischen den beiden hin und hergerissen. Auf der einen Seite die Magierin – und wohl auch Drachin – Alzhara mit ihren schrecklich funkelnden, dunklen Augen, der strengen Miene und der eindeutig sehr beachtlichen Magie, und auf der andere Seite das Mädchen Pallas, das immer noch das Schwert in Händen hielt, und dessen Blick aus klaren, hellen Augen auf den Leichnam des niedergestreckten Armatrion gerichtet war.
    Odo glaubte, dass er verstand – und legte den Hebel um.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (13.07.2015 um 17:08 Uhr)

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    XV. Bauernumwandlung und Rochade



    Schwärze umgab ihn, absolute Dunkelheit. Er mäanderte durch diese Dunkelheit, ohne besondere Richtung oder Ziel. Die Dunkelheit barg Kälte, so eisig, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte, und diese Kälte strahlte in jede Faser seines Körpers. Oder nein, sie strahlte nicht, sie kroch in ihn hinein, wimmelnd, wie von tausenden Käfern und Würmern, breitete sich in ihm aus, unter seiner Haut und in seinen Adern.
    Doch zwei Punkte störten die Stille, helle Flammen, gleißend und weiß, welche die Käfer verzehrten und die Kälte vertrieben.



    Das Summen der Maschine brach jäh ab. Odo fühlte sich an den Arm gefasst und weggezogen. Gerade rechtzeitig, denn plötzlich bildeten sich Verwerfungen um den Apparat herum, Blasen, durch welche hindurch die Dinge verzerrt aussahen wie durch stark geschliffene Gläser. Auch die Maschine selbst war betroffen, schien in manchen Teilen zu zerfließen, an anderen zusammenzuschrumpfen oder sich auseinanderzuziehen. Das alles geschah völlig lautlos. Eine Deaktivierung würde unter solchen Umständen wohl recht schwierig werden – sofern denn der Apparat nicht von selbst kaputt ginge!
    „Selbst wenn Du flüchten solltest, werden wir Dich aufspüren. Du glaubst doch nicht wirklich, dass Du entkommen kannst?“, fragte die Bogenschützin.
    Pallas ließ Odos Arm los und blies sich die Strähne aus dem Gesicht: „Glaubst Du ernsthaft, ich hätte nicht noch einen Trumpf in der Hand?“
    Die Bogenschützin setzte zu einer Antwort an, fühlte sich jedoch jäh unterbrochen, als Pallas voranstürmte und zu einem Hieb mit dem Schwert ansetzte, dem die Bogenschützin nur knapp entkommen konnte. Statt jedoch ihren Angriff fortzusetzen, stürmte Pallas weiter vor, erreichte in wenigen Sätzen den Leichnam Armatrions. Mit fließender Bewegung beugte sie sich herab, griff nach etwas, richtete sich, noch immer im Bogen rennend, wieder auf, und kurz darauf flogen zwei silberne Streifen in Richtung der Bogenschützin und ihres Begleiters.
    „Was soll das?“, fragte die Bogenschützin gelassen, nachdem sie die Pfeile recht mühelos aus der Luft gefangen hatte, „gerade von Dir hätte ich etwas mehr strategische Klugheit erwartet.“
    Natürlich war es nicht sonderlich klug, einem Gegner, der einen Bogen besaß, Pfeile und damit Munition zuzuwerfen. Doch war sich Odo doch recht sicher, dass Pallas hier durchaus einen Plan verfolgte. In jedem Falle ließ das Mädchen sich von der etwas hämischen Bemerkung nicht beirren, sondern ging wieder zum Angriff über. Odo fand, dass sie dabei nicht sonderlich überzeugend war. Pallas führte den ein oder anderen eher nachlässig geführten Streich aus, was zwar die meisten Gegner in arge Bedrängnis gebracht hätte, aber angesichts der nachgerade übemenschlichen Gewandtheit ihrer Kontrahenten vollkommen arglos ausfiel.
    „Das ist doch jetzt nur noch albern“, sagte der Mann und wich vor einem Hieb zurück, „bist Du wirklich so verzwAUA!“ Der Mann war beim Zurückweichen über eine der Leichen gestolpert. Irgendwie war es ihm gelungen, nicht hintüberzukippen, sondern über den Leichnam hinwegzussetzen, was fast so aussah, als schwebe er, wenn auch in Schräglage, über das Hindernis hinweg. Unachtsamer Weise war er dabei mit dem Hinterkopf gegen die hinter ihm liegende Wand gestoßen. Pallas wandte sich der Bogenschützin zu, nicht jedoch ohne den Vorfall mit einem Kichern zu kommentieren.
    „Es reicht jetzt!“, rief die Bogenschützin erbost, wehrte Pallas‘ Angriff mit der bloßen Hand ab und holte mit dem Bogen aus.
    „Verflucht!“, rief sie, als ihr Bogen gegen die Kante des Tisches traf, der zwar um einige Zentimeter in die Höhe ruckte, den Angriff aber trotzdem recht wirkungsvoll parierte.
    „Ich weiß doch, dass Ihr noch stärker und schneller seid“, lachte Pallas, „aber klüger seid Ihr leider nicht.“
    „Klug würde ich es nicht nennen“, erwiderte die Bogenschützin, gefährlich leise, „eine Person zu verärgern, die stärker und schneller ist als man selbst.“
    „Um Deinen Ärger brauche ich mich gleich nicht mehr zu sorgen. Schau mal!“
    Aller Augen folgten Pallas‘ Fingerzeig.
    In den zuvor reglosen Leichnam Armatrions war Bewegung eingekehrt. Die freiliegende Haut an Hals, Haupt und Händen wellte sich, als verbargen sich umherkriechende Würmer darunter, und die Glieder zuckten in krampfhaften, spasmischen Bewegungen. Ein Röcheln und Gurgeln entäußerte sich Armatrions Mund – und langsam, wie von Fäden gezogen, richtete der Leichnam sich auf.
    Und das ekelhafte Gefühl von Beklemmung und ungreifbarer Gefahr, das Odo in der Aufregung beinahe vergessen hatte, brach mit aller Macht wieder über ihn herein. Oder nein, tatsächlich, so stellte er fest, war es niemals wirklich weg gewesen. Es hatte lediglich geschlummert – so, wie die finstere Magie Armatrions, die nun, ihrer Fessel entledigt, erwachte und ihre Wirkung entfaltete.
    Odo erkannte, dass Armatrions Röcheln Worte darstellte, Sätze bildete, die er jedoch nicht verstehen oder auch nur klar hören konnte. Armatrions Arme ruckten hoch, und zwischen den Händen entstand eine Kugel aus Dunkelheit, deren Schwärze so absolut war, dass sie eher wie ein Loch im Raum selbst wirkte als wie ein darin befindliches Objekt.
    Und dann breitete dieses Loch sich aus, wurde zu einem Riss, der immer länger wurde. Genau in Richtung der Maschine.
    „Alzhara!“, rief Pallas, und die angesprochene reagierte sofort, warf sich in den Weg des dunklen Risses, fing diesen auf… und entließ ihn wieder, immernoch in dieselbe Richtung. Die Magie traf auf die Barriere aus Verwerfungen, durchdrang diese, und dann...

    ...ein Licht. So gleißend und hell, dass es selbst durch die geschlossenen Augenlider, selbst durch die vor das Gesicht geschlagenen Hände drang. Ein Lärm, ohrenbetäubend. Und Hitze, als bestehe die ganze Welt aus Feuer.
    Dann eine Umarmung.


    Die Maschine war verschwunden, und an ihrer Stelle befand sich nur noch ein rauchender, rußgeschwärzter Krater. Auch der Rest des Raumes war größtenteils von Ruß bedeckt, und alles, was sich an Brennbarem darin befunden hatte, war verschwunden. Bis auf die Bogenschützin mit ihren beiden Begleitern, stellte Alzhara fest. Auch Pallas und der Junge, welcher der Explosion am nächsten gestanden hatte, waren verschwunden.
    Sie drehte den Kopf, und natürlich: Armatrion, der wiederauferstandene Nekromant, hatte die Detonation überlebt – sofern man hier von „überleben“ sprechen konnte. Doch sie würde dafür sorgen, dass sein zweites Leben nicht allzu lange währen würde – und dass es zu einem dritten gar nicht mehr käme!
    Armatrion kam ihr zuvor und schickte ihr eine Lanze aus Eis entgegen. Eine rasche Handbewegung ihrerseits, und eine Mauer aus Flammen fing die Lanze auf. Eine weitere Handbewegung, und ein Strahl konzentrierten Feuers schoss auf Armatrion zu, schloss die dunkle Gestalt ein... und erlosch. Erneut ein Angriff des untoten Magiers, eine weitere Parade Alzharas, wer wusste schon, wie lange der Kampf auf diese Weise andauern würde? Darauf hatte Alzhara nun wirklich keine Lust!
    Sie hob die Arme, und wie sie die Arme hob, stob eine Flamme empor, die Armatrion umhüllte und sich ausbreitete, bald den ganzen Raum erfasste. Sie spürte seinen Widerstand, die magischen Barrieren, mit denen er sich schützte. So steigerte sie ihre Anstrengung, ließ die Wände glühen, den Steinboden schmelzen, das Dach in Flammen aufgehen und Feuer herabregnen.
    Doch inmitten des Infernos stand Armatrion, ein Klotz aus eisiger Schwärze, die den Flammen erst widerstand, und sie dann zurückdrängte, langsam, aber beharrlich.
    Die Bewegungen der Flammen änderten sich. Aus dem unkontrollierten, chaotischen Lodern entstanden Gestalten, erst unförmig, doch dann immer bestimmter, bildeten feste Klumpen aus glühender Magma, schließlich Arme und Beine. Die Kreaturen, erst behäbig und ungeschickt, stapften auf den untoten Magier zu, sonderten ihrerseits sengende Hitze und loderndes Feuer ab, drangen auf Alzharas Kontrahenten ein.
    Und dann war es vorbei.
    Eine Explosion aus Kälte und Dunkelheit fegte durch den Raum, als Armatrions Magie die Oberhand gewann, löschte die Flammen, zerstob die Gestalten und das Glühen von Wänden und Boden ebbte alsbald ab. Alzhara wankte einen Augenblick. Armatrion jedoch stand nicht mehr. Er schwebte. Von seinem Körper war nicht mehr viel übrig. Haut und Fleisch waren ebenso verbrannt, wie die dunkle Robe. Vom schwebenden Torso seines Skelettes hing ein Schenkelknochen herab, vom anderen Bein war nichts verblieben. Armatrion hielt die knöchernen Arme vor sich, die Finger auf Alzhara gerichtet, und in den Augenhöhlen des bleichen Schädels glommen zwei Kugeln roten Lichtes.
    „Das war gut“, lobte Alzhara ihren Gegner, als sie sich wieder etwas gefasst hatte, „ich muss sagen, dass ich jetzt absolut erschöpft bin. Ich glaube nicht, dass ich jetzt auch nur noch ein kleines Flämmchen herbeizaubern könnte. Wie sieht es bei Dir aus?“
    Der Skelettmagier blieb still, außer eines kaum merklichen Flackerns in den Augenhöhlen war keine Reaktion erkennbar. Alzhara lächelte böse.
    „Jetzt wäre die beste Gelegenheit, mir den Todesstoß zu versetzen. Ich bin ja jetzt quasi hilflos gegen Deine Magie, nicht wahr?“, fuhr sie fort, und setzte sich in Bewegung, „ein kleiner Blitz oder ein Eispfeil, nein?“
    Alzhara erreiche die Bogenschützin, die das Inferno recht gut überstanden hatte, und lediglich einige Verbrennungen an ihrer Kleidung hatte hinnehmen müssen.
    „Darf ich kurz?“, fragte Alzhara, und nahm den Bogen und einen Pfeil an sich.
    „Es ist wirklich unangenehm, nicht wahr, wenn man einfach keine Kraft mehr zum Zaubern hat? Das heißt: wenn man sonst keine Waffen hat. Tja, lieber Armatrion“, sie legte den Pfeil auf, spannte die Sehne, „vielleicht kannst Du ja nochmal auferstehen?“
    Alzhara war im Begriff, den Pfeil abzufeuern, als jemand die Hand ergriff, mit der sie den Bogen hielt.
    „Lausige Haltung“, kommentierte die Jägerin, „Wo hast Du Bogenschießen gelernt?“
    „Ich habe es nicht gelernt“, antwortete Alzhara.
    „Du musst Dich so stellen... siehst Du, dann hast Du einen sicheren Stand. Den Bogen hältst Du so... ja, gut... warte noch, achte auch die Beinstellung! Sooo, jetzt hast Du's.“
    Nachdem das Umherzerren- und Zupfen an Alzharas Körperhaltung zu einem zufriedenstellenden Ergebnis geführt hatte, trat die Bogenschützin zurück und nickte.
    „Du darfst die Sehne jetzt loslassen.“
    Alzhara ließ die Sehne los.
    „Sehr gut“, lobte die Bogenschützin und legte die wenigen Schritte zu dem Skelett zurück, beugte sich herab, und hob den Schädel hoch, in dem der silberne Pfeil steckte.
    „Was wohl diesmal passiert, wenn man ihn herauszieht?“, fragte sie in die Runde. Sie zog den Pfeil heraus.
    Nichts geschah.
    „Eine Auferstehung braucht wohl doch ein Quäntchen magischer Kraft, wie es scheint.“
    Sie zuckte mit den Achseln.
    „Dann können wir uns nun vielleicht wichtigeren Dingen zuwenden“, sagte der Mann.
    „Eine Verfolgung dürfte jetzt schwierig sein“, entgegnete die Bogenschützin und warf den Schädel achtlos zur Seite, „ich werde versuchen...“
    „Nein“, unterbrach sie die andere Frau, deren Kleidung von den Flammen wesentlich stärker verbrannt war, als die der anderen beiden. Alzhara fiel jedoch auf, dass die Brandlöcher alles andere als zufällig aussahen, und eher auf recht anreizende Weise auffallend makellose Haut freilegten.
    „Wir werden nichts tun.“
    „Aber Tante!“
    „Ich sagte nein. Liebende soll man nicht trennen.“
    „Liebende? Meinst Du etwa... dieser Junge...?“, die Bogenschützin verstummte.
    „Manchmal bist Du wirklich schwer von Begriff“, sagte der Mann. Die Bogenschützin furchte die Stirn. „Oh“, sagte sie schließlich, „aber von dort wird Pallas nicht zurückkehren. Niemals. Sie weiß das doch, oder?“
    „Natürlich“, antwortete die andere Frau.
    „Was machen wir also nun?“
    „Ahem!“ Aller Augen richteten sich auf Alzhara. „Wie wäre es, wenn ich erstmal etwas Wasser aufsetze?“


    Eine Zeit lang hielt Odo das Gesicht auf die dunkle Silhouette fokussiert. Sie war das einzige, was nicht blendete. Doch schließlich traute er sich, die Augen zu öffnen. Das erste, was er sah, war Pallas, die ihn anlächelte. Dann schaute er sich um, und sah um sich und Pallas herum nichts als milchiges Weiß.
    „Sind wir in dem Wurmloch?“
    Palls nickte und trat von ihm weg, ließ seine Hand jedoch nicht los. Ein Kribbeln breitete sich in seinen Füßen aus.
    „Sei unbesorgt, ich kann uns hier durch navigieren.“
    „Ich weiß“, sagte Odo.
    „Dann komm!“
    Pallas zog ihn an der Hand voran, und er stolperte hinterher. Plötzlich waren sie in einem Tunnel, dessen Wände, Decke und Boden aussahen, als bestünden sie aus zersplitterten Fensterscheiben, wobei jede Scherbe das Fenster zu einem anderen Ort war. Durch viele Scherben hindurch waren Bewegungen zu sehen, doch die meisten waren zu klein, um Details auszumachen.
    „Das ist ziemlich irritierend“, sagte Odo, dem es schwerfiel, einen Schritt vor den andern zu setzen, denn an die Stelle des Kribbelns in seinen Extremitäten trat Taubheit. Er kannte dieses Gefühl: Es war, wie wenn man zu lange mit untergeschlagenen Beinen gesessen hatte, oder auf einem Arm geschlafen. Nur der Arm, an dessen Hand Pallas ihn hielt, war nicht betroffen.
    „Du darfst mich nicht loslassen“, warnte Pallas ihn, „sonst... naja, vermutlich würdest Du es nicht überleben. Das hier ist kein Ort, an dem ein Mensch überleben kann.“
    Odo sagte nichts dazu. Damit, dass Pallas wohl kein Mensch sei, hatte er sich abgefunden.
    „Eigentlich ist das hier ja gar kein Ort, und darum kann man hier auch eigentlich gar nicht körperlich existieren. Dementsprechend ist die Taubheit, die Du spürst, eigentlich nur die tatsächliche Abwesenheit eines Körpers. Das, was Dir an Körpergefühl noch bleibt, ist sozusagen ein Nebenprodukt Deines Selbstbewusstseins. Ohne mich würde das einfach verschwinden.“
    Odo war für die Erklärungen dankbar.
    „Kann es sein, dass Du mir diese Informationen gibst, um mein Bewusstsein anzuregen, und dem von Dir beschriebenen Effekt entgegenzuwirken?“
    Pallas lächelte. „Ich bin froh, dass die letzten Ereignisse Dein Denkvermögen nicht beeinträchtigt haben.“
    „Ist es noch weit? Nein, streiche die Frage! Entfernungen kann es hier ja nicht geben.“
    „Stimmt.“
    „Es sei denn, dass Raum und Zeit tatsächlich bloß Formen unserer Wahrnehmung sind, wie es die transzendentalen Idealisten glauben. Dann wäre dieser Raum als Raum ebenso real, wie jeder andere Raum. Wenn dem also so wäre, wäre es dann noch weit?“
    „Nein.“
    „Es ist die Magie Armatrions, die uns führt, nicht wahr? Dafür brauchtest Du die Schwarzmagier?“
    „Richtig. Sie hat uns diesen Weg geöffnet.“
    Odo schluckte, denn er war sich ganz und gar nicht sicher, ob er das Ende des Tunnels erreichen wollte.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (19.07.2015 um 12:13 Uhr)

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    XVI. Der Teufel lässt bitten



    Odo schwieg eine Weile und versuchte, Details von den tausenden Scherben aufzufassen, die sie umgaben, und von denen er annahm, dass jede einen Zugang zu irgendeinem anderen Ort darstellte. Doch schnell wurde ihm dies zu anstrengend. Einzelne Fenster waren klein und schnell passiert, zugleich so unscharf von den angrenzenden abgetrennt, das alles zu einem wimmelnden Chaos verschmolz, in dem keine Orientierung möglich war. Er fühlte sich umgeben von Bewegungen ohne allen Sinn, befand sich in einem Raum ohne Struktur. Das einzige, was ihm – nicht nur im übertragenen Sinne – Halt gab, war Pallas, die gelassen einherging und offenbar nicht die mindesten Probleme hatte. Er entschied, sich auf sie zu konzentrieren.
    „Es ist bei einem Übungskampf passiert, oder?“
    Pallas blieb stehen und ihre hellen Augen richteten sich auf ihn. Er wusste nicht ganz, wie er ihren Blick deuten sollte. War es Verärgerung?
    „Wie kommst Du darauf?“
    Stechend, fand er. Ja, sein Vater würde diesen Blick wohl als stechend beschreiben, und darob bereute er es doch, diese Frage gestellt zu haben. Es handelte sich vermutlich nicht um ein Thema, das Pallas behagte.
    „Ähm, also... naja...“
    Ein Lächeln, und das Funkeln in ihren Augen wurde etwas stärker. Doch auf eine weniger furchterregende und dafür vielmehr spöttische Weise.
    „Erinnerst Du Dich an meine eher wenig eindrucksvollen, ich möchte fast sagen kläglichen Versuche, Dich in die Schwertkampfkunst einzuweihen?“
    Das Lächeln wurde breiter.
    „D-dumme Frage, natürliche erinnerst Du Dich. Wie dem auch sei: Die Erinnerung meiner unrühmlichen Entwaffnung ist mir doch immer noch sehr lebhaft. Danach wirktest Du etwas... nun, ich würde sagen, dass Du...“, er suchte nach dem rechten Wort, „Du wirktest reuevoll. Ja, ich denke, dass das der rechte Ausdruck ist. Und nach dem, was diese Frau mit dem Bogen da sagte... sie sind wirklich Verwandte von Dir, oder?“
    „Ja. Das waren zwei meiner Geschwister und meine Tante. Hm, eigentlich Großtante, sie ist die Schwester meines Großvaters.“
    „Wie dem auch sei: Nach dem, was sie gesagt hat, war es eigentlich nicht schwer zu kombinieren. Insbesondere wenn man bedenkt, wo wir jetzt hingehen.“
    Pallas starrte ihn eine Weile an.
    „W-was ist denn?“
    „Ich bin nur überrascht“, sagte sie, „dass Du so einfühlsam bist. Wer hätte das gedacht?“
    „E-es tut mir Leid. Ich wollte nicht...“
    „Schon gut. Ich meinte das jetzt auch gar nicht ironisch.“ Odo nahm erleichtert wahr, dass ihr Blick weicher wurde. „Das ist nur einfach noch immer kein Thema, dem ich mich gerne stelle.“
    Ärger zuckte in ihm auf: „Wieso schleppst Du mich dann mit in dieses Schlamassel?“, platzte es aus ihm heraus.
    Pallas seufzte. „Du hast Angst, nicht wahr? Das verstehe ich.“
    Sie wandte sich ganz zu ihm um und sah ihm in die Augen.
    „Ich habe nicht geplant, dass Du mitkommst.“
    „Wieso ist es dann passiert?“
    Pallas kaute auf ihrer Unterlippe herum, offenkundig verlegen.
    „Also gut, vielleicht habe ich es schon so ein kleines Bisschen geplant. Zumindest so, dass ich es nicht verhindert habe.“
    „Aber wieso?“
    „Weil ich“, sie knuffte ihn gegen die Schulter, „Dich mag, Du Dummkopf, wieso denn sonst? Oder würdest Du etwa alleine dahingehen wollen? Nicht, dass ich das nicht getan hätte, wenn es Dich nicht gäbe. Aber wieso sollte ich, wenn ich nicht muss? Jetzt hör auf, Dir Sorgen zu machen. Immerhin bin ich bei Dir, also kann Dir nichts passieren.“
    Er schanubte. „Solange wir keine Waffenübungen machen, meinst Du?“
    Pallas zog die Brauen zusammen und sah plötzlich sehr furchterregend aus.
    „Komm weiter!“, sagte sie, und zerrte ihn mit.

    Der Übergang kam plötzlich und ohne Ankündigung: Vom einen Moment auf den andern waren sie nicht mehr in dem Gang, sondern auf einer felsigen Ebene. Der Himmel war von milchigem Weiß, und Odo nahm an, dass dies nicht etwa von Wolken kam, sondern dass es dort schlicht nichts mehr gab, das irgendeine andere Farbe haben konnte. Das Licht kam von keiner besonderen Richtung, wie er an ihrem nicht vorhandenen Schattenwurf ausmachte, sondern absolut gleichmäßig von überall her.
    „Sind wir...?“
    Er stockte. Den Gedanken auszusprechen war zu fürchterlich.
    „Ja. Wir sind hier in der Unterwelt“, erwiderte Pallas gelassen, „genau genommen in dem Teil der Unterwelt, der von Beliar regiert wird, dem Gott des Todes in Deiner Welt.“
    Odo versuchte, zu schlucken, doch ein Kloß verstopfte ihm die Kehle.
    „Ich hätte natürlich meine eigene Macht nutzen können, um herzukommen. Vor allem von meiner Welt aus. Das wäre meiner Familie aber sofort aufgefallen. Sie hätten mich direkt aufgespürt und wieder nach Hause geschleppt. Beliar dagegen wird sich für meine Anwesenheit hier nicht sonderlich interessieren, und durch die Nutzung des Warpfeldgenerators in Kombination mit der Magie eines Beliar geweihten Schwarzmagiers hinterlassen wir keine interdimensionalen Spuren, die sich mir zuordnen ließen.“
    „Also können Deine Leute uns hier nicht aufspüren?“
    „Doch. Es war nicht geplant, dass sie dabei Zeugen sind, wie wir durch das Wurmloch treten. Sie können sich mittlerweile wohl auch bestimmt denken, wo ich hinwollte. Aber ohne Armatrions direkte Mithilfe dürfte es ihnen schwerer fallen, herzukommen. Und ich nehme an, dass Alzhara sie auch etwas aufhalten wird. Lange genug, hoffe ich.“
    „Lange genug, um... äh, um zu tun, wofür Du hier bist?“
    „Nicht ganz. Eher lange genug für ein Treffen mit dem Hausherrn“, sagte sie und wandte sich um. Odo tat es Ihr nach und schreckte zurück.
    „Guten Tag und willkommen in Beliars Reich“, sagte die Person, von der Odo nicht recht wusste, ob sie schon die ganze Zeit da gestanden hatte, oder erst später hinter ihnen aufgetaucht war, „es ist mir eine Freude, Sie beide im Namen meines Herren begrüßen zu dürfen.“
    Die Person machte eine artige Verbeugung, richtete sich wieder auf, und sah die beiden Eindringlinge mit beunruhigend stechendem Blick an. Sie sah menschlich aus, elegant gekleidet und nicht allzu imposant. Und doch glaubte Odo keinen Augenblick, dass er es mit einem Menschen zu tun habe. Von dem Geschöpf ging eine ungreifbare Macht aus – und ihr Anblick bereitete ihm Angst.
    „Wenn ich mich vorstellen dürfte: Mein Name ist Shalfarezehl. Ich bin, wie man so sagt, ein demütiger und treuer Diener meines Herrn. Daher ist es freilich nur meine Pflicht, Gäste in Empfang zu nehmen, nicht wahr?“
    Shalfarezehls Lächeln ließ ihn noch ein wenig fürchterlicher wirken.
    „Mein Herr lässt Sie beide zu sich bitten“, sagte er, und deutete mit einer weiteren Verbeugung zur Seite. Pallas und Odo folgten der Geste, und nahmen in der Ferne ein Gebäude wahr, das wie eine gewaltige Festung aussah, düster und drohend. Odo war recht sicher, dass es zuvor nicht dagewesen war. Als er sich wieder Shalfarezehl zuwenden wollte, stellte er fest, dass dieser verschwunden war.
    „Was machen wir jetzt?“, fragte er, und unterdrückte ein Zittern.
    Pallas zuckte mit den Schultern. „Was wohl? Der Herr dieser Dimension hat uns zu sich eingeladen, da nehmen wir natürlich an!“
    Natürlich? Odo konnte sich fürwahr Angenehmeres vorstellen, als ein Rendezvous mit dem Gott des Bösen und des Todes.
    „Nun komm schon“, sagte Pallas frohgemut und zerrte ihn mit sich, „ich wollte schon immer mal eine von Beliars berühmten Butterkremetorten probieren!“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (19.07.2015 um 21:54 Uhr)

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    XVII. Geplänkel mit der Springerin



    Odo schaute an sich herab. Seine Füße steckten noch immer in den Hausschuhen, die er im Versteck der Schwarzmagier getragen hatte. Pallas' Füße indes waren vollkommen nackt, was er etwas komisch fand, denn zwar hatte er selbst ja nicht damit gerechnet, einen solchen Ausflug zu machen, Pallas dagegen musst dies geplant haben, so dass sie sich durchaus etwas passendere Kleidung als ihren Pyjama hätte anziehen können.
    „So können wir doch nicht diesen ganzen, langen Weg zurücklegen!“, klagte er.
    „Wieso denn nicht?“, fragte Pallas.
    „Du wirst Dir die Füße wund laufen. Und ich habe auch nicht das rechte Schuhzeug. Wie wäre es, wenn wir stattdessen einfach nochmal zurückkehren und uns vernünftig ausstatten, dann können wir...“
    Weiter kam er nicht, denn Pallas zog ihn einfach mit sich.
    „Ich glaube nicht, dass wir uns hier weiter an den Händen halten müssen“, sagte Odo.
    „Ich muss mich sowieso nicht an den Händen halten“, entgegnete Pallas, „aber sag: Wie kommst Du zu der Erkenntnis?“
    Odo zuckte mit den Achseln und stellte dann fest, dass Pallas dies wohl nicht sehen konnte, da sie ja einige Schritte in Führung lag.
    „Ist das nicht offensichtlich? Immerhin ist dies eine Existenzebene, welche die Bewusstseine unzähliger Toter beherbergt. Ich kann hier also notwendig nicht Gefahr laufen, mein Selbstbewusstsein zu verlieren.“
    „Das ist klug gefolgert“, lobte Pallas.
    „Du kannst mich also ruhig loslassen“, keuchte Odo, dem es etwas Mühe bereitete, Schritt zu halten.
    „Dann bleibst Du aber vermutlich stehen, und dass will ich nicht.“
    Odo unterdrückte ein Stöhnen. Die Aussicht, stundenlang in dieser Öde herumzustapfen, war entschieden unangenehm.
    „Außerdem ist es gar nicht so weit: Schau!“
    Tatsächlich: Nun, da Odo darauf achtete, stellte er fest, dass das Schloss schon weitaus näher gerückt war, als angesichts der kurzen Distanz, die sie zurückgelegt hatten, möglich gewesen wäre. Er hatte den Eindruck, als bringe jeder Schritt sie um einige hundert Meter näher an ihr Ziel.
    „Wir sind gleich da!“
    Odo keuchte und stolperte voran. Das Schloss war jetzt sehr nahe, und sie liefen nicht mehr über eine Felsenebene, sondern über eine säuberlich gepflasterte Straße auf den Eingang zu. Das Gebäude war düster und sah verwunschen aus. Der Zugang zum Hauptgebäude war über einen großen Garten zu erreichen, oder zumindest etwas, das bei einem normalen Schloss ein Garten gewesen wäre: Es gab Kieswege und Blumenbeete, Bäume und Sträucher, Teiche und allerlei Zierwerk. Doch die Blumen waren welk, das Gras und die Bäume schwarz und tot, in den Teichen stand brackiger Schlamm. Die Plastiken stellten groteske Kreaturen dar, die in unnatürlichen Posen verrenkt waren, die Gesichter zu Grimassen des Zorns, Schmerzes oder Schreckens erstarrt. Das Schlossgebäude selbst war verwinkelt, gespickt mit Türmen, Erkern und Zinnen, von denen Wasserspeier klagend herabblickten. Um die Anlage herum führte ein ziselierter Zaun aus schwarzem Metall, der von einem großen, zweiflügeligen Eisentor unterbrochen wurden, auf das sie genau zuhielten. Das Tor war umrahmt von einem Säulenbogen, der über dem Tor eine Plattform bildete, auf dem eine große Gestalt saß, die allen Eindringlingen grimmig entgegenblickte. Odo erkannte den Leib eines Löwen, mit angelegten Flügeln und dem Kopf eines Menschen. Er wunderte sich nicht, dass er hier eine Sphinx antraf, galt diese doch aus alter, varantiner Mythologie als die Hüterin von Beliars Reich. Eher wunderte es ihn, dass diese hier tatsächlich nur eine Statue war.
    „Da wären wir“, schnaufte Pallas und legte die Hand an einen der Gitterstäbe des Tores. Sie schickte sich an, es zu öffnen, als die hallende Stimme einer Frau erklang, durchdringend und bedrohlich.
    „Habt Ihr vor, durch dies Tor zu gehen?“
    Pallas' Hand zuckte zurück.
    „Ja, schon. Hast Du ein Problem damit?“
    „Nur, wer sich würdig erweist, darf Beliars Burg betreten.“
    „Das ist aber keine Burg, sondern ein Palast. Allenfalls könnte man es noch als Schloss bezeichnen, aber ganz sicher nicht als Burg. Eine Burg weist in der Regel eine Außenmauer mit Wehranlagen auf, welche den Innenhof wirkungsvoll schützt und der oftmals noch eine Vorburg samt Zwinger vorgeschaltet sind. Im Burghof selbst sollten sich Wirtschafts- und Wohngebäude befinden. Hauptmerkmal ist freilich der Bergfried oder Palas, der das Zentrum der Wehranlage ausmacht. Dieses Gebäude dort hat nicht ein einziges dieser Merkmale. Es handelt sich um einen reinen Prachtbau, wenn auch von ausgesuchter Hässlichkeit, und damit ganz sicherlich nicht um eine Burg.“
    Die Stimme schwieg einen Augenblick, und Odo fühlte sich besser: Es gab doch kein besseres Mittel gegen Angst, als ein wenigstens semiwissenschaftlicher Vortrag.
    „Euch würdig erweisen müsst Ihr dennoch!“
    Odo fand, dass die Stimme nicht mehr ganz so furchterregend, sondern eher etwas eingeschnappt klang.
    Pallas legte den Kopf in den Nacken.
    „Wir werden aber erwartet. Vom Herrn dieser Burg. Er hätte uns bestimmt nicht eingeladen, wenn er uns nicht für würdig halten würde, oder? Also sei kein Frosch und lass uns rein!“
    „Schweig!“, donnerte die Stimme, „und spottet nicht! Ich bin die Wächterin der Pforte, und nur wer sich würdig erweist...“
    „Jaja, schon gut! Wir habens begriffen, ok? Jetzt komm aber mal da runter, sonst wird mir noch der Nacken steif!“
    Odo hörte ein ein dumpfes Poltern, fuhr herum und... wich hastig so weit zurück, bis sein Rücken an die eisigen Gitterstäbe stieß. Vor sich sah er das Geschöpf, das zuvor über dem Tor gewacht und das er für eine Statue gehalten hatte.
    „Seltsam“, sagte die Sphinx, deren Stimme nun nicht mehr schrecklich hallend ertönte, sondern eigentlich recht normal klang, „normalerweise versuchen die Leute, mein Herabkommen immer so weit wie möglich herauszuzögern.“
    Plötzlich sah Odo unzählige Gerippe, die auf der Fläche vor dem Tor zerstreut lagen.
    „Normalerweise sind die Leute ja auch nicht ich“, entgegnete Pallas, „also, Du sagtest etwas davon, dass wir uns würdig erweisen sollen? Lass mich raten: Du willst uns ein Rätsel stellen?“
    Pallas Augen blitzten freudig auf.
    „Woher...?“
    „Es ist der Mensch!“
    „Wie bitte?“ Die Sphinx schaute etwas perplex drein.
    „Na, die Lösung des Rätsels. Die Antwort lautet 'der Mensch'. Ist doch so, oder? Du und Dein Rätsel, Ihr seid ja nun wirklich hinlänglich bekannt!“
    Der Sphinx klappte der Mund herunter, was durchaus lächerlich aussah, doch schnell fasste sie sich wieder.
    „Keineswegs“, sagte sie hochnäsig, „und weil Du so dumm und vorschnell geantwortet hast, werde ich Euch nun beide fressen!“
    Das Ungetüm war im Begriff, sich in Bewegung zu setzen.
    „Äh, also Moment mal!“, rief Odo, „einfach so? Ich meine: Nach welchen Regeln spielt sich das hier denn ab?“
    Die Sphinx hielt ein, und zum ersten Mal wanderte ihr Blick von Pallas zu Odo, der seinen Einwand darob sogleich bereute.
    „Nach meinen Regeln natürlich.“
    „Ähm... also... äh, möchten Sie die nicht vielleicht zuvor verkünden... äh, Frau... äh... Sphinx?“
    Sphinx blinzelte pikiert und antworte: „Hätte ich, wenn Deine Freundin hier nicht so vorlaut gewesen wäre. Aber meinetwegen: Die Regeln lauten, dass ich Euch ein Rätsel stelle, und wenn Ihr richtig antwortet, dann dürft Ihr passieren und seid würdig. Wenn Ihr falsch antwortet, werdet Ihr von mir gefressen und seid nicht würdig. Du siehst, dass es sich um klare, einfache und vollkommen vernünftige Regeln handelt, an denen nicht das Mindeste auszusetzen ist. Und diesen Regeln gemäß, da nämlich Deine Freundin falsch geantwortet hat, werde ich Euch jetzt fressen. Alles klar?“
    „N-nein. Nein, das ist keineswegs klar.“
    Die Sphinx knurrte böse.
    „I-im Gegenteil. Um falsch antworten zu können, ist es notwendig, dass ein Rätsel gestellt wurde, auf welches falsch geantwortet werden konnte. Wenn also kein Rätsel gestellt wurde, so kann dieses auch nicht falsch beantwortet werden. Auf kein Rätsel kann man nämlich nicht antworten, nicht einmal falsch. Das ist... äh, das ist logisch, oder nicht?“
    Die Sphinx kaute nachdenklich auf der Unterlippe herum und nickte schließlich.
    „Gut, dem kann ich nicht widersprechen. Dann werde ich Euch also jetzt das Rätsel stellen, alles klar?“
    Odo nickte.
    „So höret denn, Ihr Sterblichen: Was geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien?“
    „Ach Mensch!“, rief Pallas, „das ist doch wieder genau dasselbe, blöde Rätsel. Kannst Du Dir nicht was anderes einfallen lassen? Und die Antwort lautet immernoch 'der Mensch'!“
    Die Sphinx schnaubte empört: „Wer sagt denn, dass ich Euch vorhin dasselbe Rätsel stellen wollte, he?“
    Pallas legte die Hände in die Hüften.
    „Wie lautete denn das Rätsel, das Du uns vorher stellen wolltest? Na?“
    Die Sphinx reckte stolz die Nase empor: „Was geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien?“
    „Das ist doch genau dasselbe Rätsel!“
    „Na und? Die Antwort ist trotzdem nicht 'der Mensch'! Ich meine: Wie langweilig wäre denn das?“
    Pallas blies sich nachdenklich ihre Strähne aus den Augen, und auch Odo dachte nach.
    „Ich habs!“. Sagte Pallas schließlich, „wenn es nicht 'der Mensch' ist, dann ist es ein Tanzbär!“
    Odo und die Sphinx schauten Pallas entgeistert an.
    „Wie bitte?“
    „Na, das ist doch logisch: Am Morgen geht der Tanzbär auf vier Beinen. So, wie das Bären eben tun. Am Mittag geht er auf zwei Beinen, weil er da ja tanzen muss. Und am Abend geht er auf drei Beinen, weil er immer eines seiner Hinterbeine hochhält, die ihm ja verbrannt sind und weh tun.“
    Odo schwieg verwirrt, und der Sphinx klappte der Mund noch klaffender auf, als zuvor.
    „Das ist... das...“, das Ungeheuer wirkte ehrlich entrüstet, „wer denkt sich denn bitte so ein Rätsel aus? Ich meine: Der arme Bär! Alleine schon deswegen sollte ich Euch fressen! Aber im Übrigen ist diese Antwort – wieder einmal – falsch. Insofern ist das, was ich jetzt tun werde, nicht nur gut und gerecht, sondern auch absolut regelkonf... ja, bitte?“
    Die Sphinx schaute genervt zu Odo, der zaghaft den Finger zu einem Einwand erhoben hatte.
    „Diese Antwort mag ja nun auch falsch gewesen sein, aber wieso sollen wir eigentlich beide für die falsche Antwort von nur einer von uns gefressen werden? Ich fände es doch etwas fairer, wenn ich meine eigene Antwort versuchen dürfte.“
    Die Sphinx verdrehte die Augen und seufzte, nickte dann aber zustimmend.
    „Also, die Antwort lautet: Der Mensch. Das ist nämlich als Metapher zu verstehen, indem mit dem Morgen des Menschen erster Lebensabschnitt gemeint ist, in demselbigen welchen...“
    „Das wissen wir“, unterbrach Pallas den Vortrag, „aber unsere geschätzte Sphinx hat doch schon gesagt, dass diese Antwort falsch sei.“
    „Das hat sie, streng genommen, nicht. Sie hat gesagt, dass diese Antwort für dasjenige Rätsel falsch sei, das sie zuerst habe stellen wollen.“
    „Das war aber doch genau dasselbe!“
    „Nicht notwendig. Nur, weil der Wortlaut identisch ist, muss darum doch die intendierte Antwort es nicht ebenso sein. Ist dem nicht so, geschätzte Frau Sphinx?“
    Die Sphinx verzog ärgerlich das Gesicht. „Du bist ein cleverer kleiner Kerl.“
    „Und?“
    „Und Du hast richtig geraten. Also gut, Du darfst passieren! Aber Du“, ihre Augen richteten sich wieder auf Pallas, „Du wirst jetzt gefressen!“
    „Moment noch!“, widersprach Odo, zuckte unter dem dräuenden Funkeln, das die Sphinx ihm darob entgegenwarf, zusammen. „W-was w-wäre denn nun die Antwort auf d-das erste Rätsel gewesen?“
    Die Sphinx verzog grimmig das Gesicht.
    „Muss ich Euch nicht beantworten!“
    „Wie sollen wir dann entscheiden können, ob Sie nicht Ihre Antwort beliebig ändern?“
    „Ob ich was bitte?“
    „Nun, solche Intransparenz öffnet möglichen Regelverstößen Tür und Tor! Woher nämlich sollte sichergestellt sein, dass Sie Pallas ursprüngliche Antwort nicht nur darum als falsch bezeichnet haben, um uns von der eigentlich richtigen Antwort auf das identische Rätsel abzubringen? Die Antwort auf das initiale Rätsel konnte ja, Pallas' a priorischer Antwort gemäß, ebenfalls 'der Mensch' gewesen sein. In diesem Falle wäre die initiale Ablehnung dieser Antwort regelwidrig gewesen.“
    „Das“, entgegnete die Sphinx, „ist Unsinn, wie Du selbst bemerkt hast. Immerhin konnte Deine Pallas nicht auf ein Rätsel antworten, das ich gar nicht gestellt habe! Und demnach kann es auf dieses Rätsel auch keine Antwort geben, die ich heimlich und regelwidrig abgeändert habe, nachdem ich die eigentlich richtige Antwort vernommen hätte.“
    „Ein antizipiertes Rätsel“, widersprach Odo, „ist gleichwohl ein Rätsel, und folglich grundsätzlich beantwortbar. Die Tatsache der mangelnden Äußerung alleine ist unzureichend, um eine Antwort a priori zu disqualifizieren. Folglich ist Pallas' erste Antwort zu werten. Um also ausschließen zu können, dass sie tatsächlich die richtige Antwort gegeben hat, wäre es notwendig, dass Sie die korrekte Antwort mitteilen.
    „Nun... also, äh...", stammelte die Sphinx, "also, die Antwort war... ach, die Antwort war natürlich 'ein Tanzbär'!“
    „Das klingt nicht sehr plausibel angesichts der vorigen und überaus glaubhaften Versicherung, Sie würden sich dergleichen niemals einfallen lassen! Der Sachverhalt ist also klar: Die ursprünglich intendierte Antwort wäre 'der Mensch' gewesen, die Ablehnung dieser Antwort ist also offensichtlich ein Regelverstoß. Sowohl Pallas als auch ich haben unsere Rätsel folglich richtig beantworten können und dürften folglich passieren.“
    „Beweise es! Beweise, dass ich die Antwort 'der Mensch' im Sinn hatte!“
    „D-das... wie soll denn das gehen?“
    Die Sphinx ließ eine Reihe glatter, weißer Zähne aufblitzen.
    „Das ist nicht mein Problem. Ich bin ohnehin unterdessen zu dem Ergebnis gekommen, dass Ihr beide unwürdig seid. Niemals würde ich so eine Nervensäge wie Dich zum Meister lassen, und Deine Begleiterin erst recht nicht!“
    Unvermittelt machte das Monstrum einen Satz nach vorne, direkt auf Pallas und den armen Odo zu. Odo sah fingerlange, gebogene Krallen auf sich zukommen, und der massige Leib des Ungetüms verdunkelte den Himmel.
    Odo presste sich noch fester an das Gatter und riss schützend die Hände vors Gesicht, schloss die Augen... und hörte einen dumpfen Aufschlag, gefolgt von einem wenig ehrfurchgebietenden „Aua!“ Er öffnete die Augen und erblickte eine seitlich auf dem Boden liegende Sphinx. Pallas, die ihn wohl irgendwie gerettet hatte, stand schützend vor ihm und starrte die Sphinx aus ihren grünen Augen böse an.
    „Du wolltest uns sowieso nicht passieren lassen, oder, egal wie wir antworten?“
    Die Angesprochene rappelte sich auf. „Und Ihr wolltet Euch nicht fressen lassen, oder, auch egal, wie Ihr antwortet?“
    „Niemand frisst mich!“, rief Pallas und machte einen Satz auf die Sphinx zu. Das Monster wich zurück, umkreiste die kleinere Gegnerin und setzte zum Gegenangriff an. Pallas wehrte den Klauenhieb ab.
    Nicht aber die Bissattacke.
    „Aua!“
    „Sag mal, bist Du blöde?“
    Pallas rieb sich die Schulter, gegen welche die Sphinx mit ihrer Nase geprallt war, als sie versucht hatte, Pallas in den Hals zu beißen.
    „Wieso klappt denn das nicht?“ Die Sphinx wirkte offenkundig verwirrt. „Das hätte ein klarer Kehlenbiss sein müssen!“
    Pallas Augen blitzten auf in plötzlicher Erkenntnis: „Sag mal, hast Du Dich selbst jemals selbst betrachtet?“
    Die Sphinx schnaubte. „Wie sollte ich denn das getan haben?“
    „Na, mit einem Spiegel? Oder in einem Teich?“
    Die Sphinx deutete mit dem Kopf in Richtung eines der brackigen Tümpel. „Darin spiegelt sich nichts. Aber was soll die dumme Fragerei?“
    „Naja“, antwortete Pallas, „ich dachte gerade... sag mal, kann es sein, dass Du gar nicht weißt, dass Du gar keinen Löwenkopf hast?“
    Die Sphinx lachte: „Bist Du eigentlich dumm? Natürlich habe ich einen Löwenkopf! Ich habe ja schließlich auch einen Löwenkörper!“
    „Und Flügel.“
    „Na und?“
    „Und Du kannst sprechen. Wie soll das bitte gehen, ohne menschliche Sprechorgane?“
    Die Sphinx blinzelte unsicher.
    „Und wenn schon, was spielt das für eine Rolle?“
    „Hm“, Pallas zuckte mit den Schultern, „keine, schätze ich. Ich fand es nur... naja, komisch. Wenn Du willst, können wir also weiterkämpfen.“
    Die Sphinx verzog das Gesicht und wandte sich um.
    „Offen gesagt ist mir der Appetit vergangen. Wisst Ihr was? Geht doch durch das blöde Tor! Ich denke, dass ich genug von diesem blödem Ödland gesehen habe. Vielleicht statte ich der Welt der Sterblichen mal einen Besuch ab.“
    Das Ungetüm breitete die Flügel aus und machte einen Satz, erhob sich die Lüfte und flog davon, wurde rasch zu einem immer kleiner werdenden Punkt am Himmel.
    „Das war so ziemlich das Skurrilste, das ich jemals erlebt habe“, sagte Odo und kicherte aufgekratzt. Pallas drückte endlich gegen das Gatter, das erst Widerstand leistete, dann aber unter einem Knacken ruckartig aufging. Ein Stück des zerbrochenen Schlosses fiel zu Boden.
    „Einbruch und Sachbeschädigung sowie Hausfriedensbruch“, sagte Odo, „Beliar wird ganz sicher erfreut sein!“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (25.07.2015 um 22:47 Uhr)

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    XVIII. Pakt mit dem Teufel



    Odo fand, dass er die Situation mit der Sphinx gut gelöst hatte. Freilich: Hätte er Pallas nicht dabeigehabt, so wäre er ohne Zweifel dem Angriff der Bestie erlegen. Andererseits hätte es diesen Angriff ohne Pallas ja gar nicht gegeben. Das Rätsel hatte er ja schließlich ordnungsgemäß lösen können, zur vollen Zufriedenheit der Rätselstellerin. Folglich betrachtete Odo diese Episode als persönlichen Erfolg, und dieser erfüllte ihn mit einem gewissen Hochgefühl. Er mutmaßte, dass der plötzliche Angriff und das Heranschnellen des massigen Leibes eine somatische Reaktion ausgelöst hatten, wie es plötzliche Gefahrensituationen eben zu tun pflegten, durch die er nun ein etwas unwirkliches Gefühl von Aufgekratztheit und angestauter Energie empfand. So wartete Odo nicht etwa, dass Pallas voranginge, sondern drängte sich an ihr vorbei und auf den Eingang des Schlosses zu. Es ging entweder rechts oder links an einem Springbrunnen vorbei, der irgendeine leidende Kreatur darstellte. Er wählte den linken Pfad, immerhin war er heute in kühner Stimmung.
    „Die Proportionen stimmen nicht so ganz“, hörte er Pallas hinter sich sagen. Er wandte sich um. Pallas hatte am Brunnen Halt gemacht und betrachtete die Plastik mit kritischem Blick.
    „Ich denke, dass das Absicht ist“, erwiderte Odo.
    „Meinst Du?“ Pallas zuckte die Achseln und folgte Odo. Er setzte seinen Weg ebenfalls fort. Es ging eine recht opulente Treppe aus kränklich grauem Marmor hinauf, an deren Ende sie eine wohl bekannte Gestalt erwartete: Shalfarezehl, der mutmaßliche Dämon, der ihnen bereits die Einladung übermittelt hatte.
    „Willkommen!“, hieß der sie willkommen, und verbeugte sich höflich, wie man es von einem artigen Diener erwartet hätte. Das Lächeln auf seinen Lippen wirkte dagegen ausgesprochen spöttisch, um nicht zu sagen: respektlos. Mit den Armen machte er eine einladende Geste zur doppelflügeligen Tür hinein, die sich mit lautem Knarren von ganz alleine öffnete. Sonderlich unheimlich war dies nicht, waren doch mittlerweile magisch betriebene Türen bei gewissen Bevölkerungsschichten ein zunehmend beliebtes Statussymbol. Also zögerte Odo nicht, sondern trat ein.
    „Der Meister erwartet Euch. Geht nur durch!“, sagte Shalfarezehl. Odo indessen fragte sich, wohin genau er denn durchgehen solle, gingen von der Eingangshalle, in der er nun stand, doch drei ebenerdige Türen ab, sowie drei weitere Türen von der über eine Flügeltreppe erreichbaren Gallerie. Pallas schien sich über derlei keine großen Gedanken zu machen, sondern strebte eine der Treppen hoch.
    „Woher weißt Du denn, wo wir lang müssen?“, fragte Odo, erhielt zur Antwort jedoch bloß eine wegwerfende Handbewegung. Er nahm die Verfolgung auf.
    Es ging auf den Treppenabsatz, von dort auf die Gallerie und schließlich durch eine Tür in einen Flur, der von Oberlichtern erhellt war. Das Innere des Schlosses wirkte weniger heruntergekommen als grau, sämtliche Farben blass und verwaschen wie bei einem sehr alten Bild. Odo konnte nicht widerstehen, beugte sich herab, und legte die Hand auf den Läufer. Der Stoff fühlte sich erstaunlich weich und schmeichelnd an.
    „Hier entlang“, rief Pallas ihm zu, die schon ein paar Schritte weitergegangen war. Es ging an einer Reihe von Gemälden vorbei, die in erster Linie Landschaften zeigten. Hin und wieder blieb Pallas bei einem der Bilder stehen und betrachtete es mit Kennerblick.
    „Gute Pinselführung“, pflegte sie dann zu sagen, oder „interessante Farbgebung“, wobei Odo sich wunderte, da die Gemälde ebenso farblos waren, wie ihre Umgebung. Nun, da er darauf achtete, fand er, dass dies sogar auf Pallas und ihn zutraf, und mutmaßte, dass es am Licht liegen müsse.
    Sie gingen an einigen verzierten Türen vorbei, und endlich entschloss Pallas sich, eine davon aufzureißen und den Raum dahinter zu betreten.
    Odo fühlte einen plötzlichen Szenenwechsel über sich ergehen: War zuvor noch alles trist und gräulich gewesen, so strahlten ihn die verzierten Stuckornamente des Zimmers in allerlei kräftigen Farben entgegen, jeweils passend zu den Motiven, auf denen sie aufgetragen waren: Figuren von – oft nackten – Menschen, von Tieren, Blättern, Blüten und Früchten. Aus der geöffneten Balkontür drangen herrlich goldener Sonnenschein sowie eine angenehme Brise, unter der sich die Vorhänge leicht wiegten. Vor einem Kamin standen einige gemütlich aussehende Sessel und ein Sofa in einem dunklen Grünton, um einen Tisch in der Mitte des Raumes einige gepolsterte Lehnstühle, und in der dem Kamin entgegengesetzten Ecke des Raumes fanden sich zum Fenster hin ein Sekretär, auf dem allerlei beschriebene Blätter lagen, und auf der dem Hausinneren zugewandten Seite ein Flügel. An dem Flügel saß ein Mann in rot kariertem Morgenmantel, und das Lied, das dieser Mann spielte, klang auf feierliche Weise fröhlich. Mit einiger Irritation stellte Odo fest, dass es sich um „Ode an die Flamme“ handelte, eines der beliebtesten Lieder der Innoskirche.
    „Nehmt doch blitte Platz“, sagte Shalfarezehl, der plötzlich im Raum stand, und wies dabei auf die Sitzecke am Kamin. Pallas fischte sich eines der flauschigen Kissen und warf sich damit auf die Schwelle zum Balkon, legte sich auf den Bauch, bettete die Ellenbogen auf das Kissen, das Kinn auf die Hände und knickte die Unterbeine nach oben, um mit den Füßen in der Luft umherstrampeln zu können. Odo war etwas unsicher, ob er sich zu Pallas gesellen oder doch lieber einen der Sessel oder das Sofa benutzen solle, und setzte sich ob dieses Gewissenskonfliktes auf den Pallas am nächsten stehenden Stuhl.
    Der Mann im Morgenmantel gab vor, ihre Ankunft nicht zu bemerken, sondern setzte sein Spiel unverdrossen fort. Und er spielte absolut meisterlich. Odo konnte sich nicht erinnern, jemals solche technische Perfektion erlebt zu haben. Und tatsächlich entfaltete die Musik selbst in ihm ihre Wirkung, erregte ein Gefühl freudiger Rührung. Beinahe meinte er, nicht nur das Klavier, sondern ein ganzes Orchester zu hören, doch dies war vermutlich bloß eine Leistung seiner eigenen, durch die Klavierklänge angeregten Einbildungskraft – oder eine Art magischer Trick, wie man ihn von einer Gottheit wohl durchaus erwarten konnte.
    Odo beendete seine Bobachtung der eigenen Regungen, als das Spiel schließlich zu seinem Ende kam, und sich der Mann auf dem Hocker umdrehte und erwartungsvoll in den Raum lächelte. Odo stutzte. Irgendwie kam der Mann ihm bekannt vor, doch wusste er nicht recht zu bestimmen, woher. Der Mann schien weiterhin auf irgendetwas zu warten, und es dauerte einen Augenblick, bis Odo begriff, worauf: Applaus. Doch nun war es zu spät, denn jetzt noch zu klatschen hätte die Situation nur noch peinlicher gemacht. Odo schielte zu Pallas, der jedoch nicht anzumerken war, ob sie wie er den rechten Moment verpasst, oder doch von Anfang an in voller Absicht den Applaus verweigert hatte, um den Gastgeber womöglich in Verlegenheit zu bringen. Derlei Spielchen waren ihr in jedem Falle zuzutrauen.
    Der Mann stand auf und breitete die Arme zu einer Willkommensgeste aus.
    „Es ist schön, einmal vor frischem Publikum zu spielen“, begann er endlich das Gespräch, „wenn ich mich vorstellen dürfte: Ich bin, wie Ihr wohl gemutmaßt haben dürftet, der Herr dieses Hauses. Mein Name ist Beliar.“
    Nein, Odo war sich sicher, dass er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte! „Es... e-es ist uns eine Ehre“, erwiderte er etwas unsicher und strengte sein Gedächtnis an, derweil er sich erhob, „mein Name ist Odo von Südersloh. Und meine Begleiterin ist das liebliche Fräulein Pallas.“ Zwar war er hinsichtlich gesellschaftlicher Anlässe immer unsicher gewesen, doch erlaubte ihm seine Erziehung stets die Flucht in höfisches Protokoll.
    „Wir sind also, wie ich schon sagte, ungemein geehrt, Ihre Gastfreundschaft genießen und Ihnen unsere Aufwartung machen zu dürften, geschätzter Herr Beliar.“
    „Ich denke nicht“, sagte Beliar, leise lächelnd, „dass diese Förmlichkeit hier notwendig ist. Shalfe, hast Du Tee und Kuchen für unsere Gäste vorbereitet?“
    Der Dämon verbeugte sich vor seinem Herrn, und kurz darauf standen eine runde Platte mit überaus sahnig aussehender, mandelverzierter Torte auf dem Tisch, Gedecke und eine Teekanne. Pallas sprang umgehend auf.
    „Darf ich?“, fragte sie, und griff zu dem Tortenheber.
    „Äh, natürlich“, antwortete Beliar mir einem Stirnrunzeln, worauf sich Pallas ohne sonderliche Rücksicht auf irgendeine Höflichkeit ein Stück Torte auf einen Teller legte, eine Gabel schnappte, und sich anschickte, zu ihrem Platz am Boden zurückzukehren. Odo vermochte sie gerade noch am Handgelenk zu fassen.
    „Es wäre doch sicherlich angebrachter, am Tische zu essen“, sagte er laut. Es erfüllte ihn mit Erleichterung, dass Pallas sich auf den Platz neben ihn ziehen ließ.
    „Bist Du sicher, dass Du das essen willst?“, zischte er ihr zu, „wenn wir hier Irgendetwas annehmen, müssen wir doch bestimmt auf ewig hier bleiben oder so!“
    Pallas sah ihn mit überaus kritischem Blick an. Beliar hob eine Augenbraue, offenbar hatte er Odos Worte vernommen und verstanden. Odo schluckte.
    „So ein Unsinn, das schmeckt doch prima!“, sagte Pallas kauend, nachdem sie sich einen großen Happen in den Mund gesteckt hatte. „Probier auch mal! Du wirst es wirklich nicht bereuen.“
    Odos Mund wurde trocken, und das trotz des verführerischen Duftes. Er erinnerte sich spontan an vier mythologische Erzählungen unterschiedlicher Kulturkreise, in denen der Konsum von Speisen oder Getränken in der Unterwelt bestraft wurde, und zwar in der Regel durch Verlust der Seele und umgehende, ewige Bindung an den Gott des Todes. Er hätte also doch lieber abgelehnt. Doch der Diener Shalfarezehl servierte ihm ein ungemein appetitlich aussehendes Stück, und füllte ihm eine Tasse mit herrlich duftendem Tee. Odo wartete eine Weile, ob sich nicht irgendeine Reaktion bei Pallas bemerkbar machen werde, die sein Misstrauen bestätigt hätte. Die aber schmatzte nur auffordernd.
    „Nur zu!“, sagte Beliar freundlich, und das Lächeln war so vollkommen arglos, so vollkommen unschuldig und liebenswürdig, dass es verdächtig erscheinen musste.
    Odo griff unsicher zu der Gabel.
    „Das ist natürlich mein eigenes Rezept“, quatschte Beliar, „ich kann mit Stolz von mir sagen, dass meine Butterkremetorten in der Götterwelt sich einiger Beliebtheit erfreuen.“
    Die Gabel drang von oben in die Spitze des Tortenstückes ein, bahnte sich einen Weg durch dunkle Kruste, durch einige unterschiedlichfarbige Schichten kremiger Füllung und brach schließlich durch den knusprigen Teigboden. Mit etwas zitteriger Hand führte Odo das Stückchen zu seinem Mund.
    Er horchte etwas in sich hinein, ob er nicht vielleicht Anzeichen irgendeiner sich in ihm ausbreitenden Besessenheit ausmachte. Doch abgesehen von dem in der Tat vorzüglichen Geschmack war nicht viel zu bemerken.
    „Das ist sehr gut“, lobte er, „und nicht zu süß.“ Das war natürlich ausgemachter Unsinn, war diese Torte doch ausgesprochen süß, doch wusste Odo nicht, was er sonst hätte sagen sollen.
    „Es schmeckt ein wenig sonderbar“, meinte Pallas, die ihr Stück bereits gegessen hatte und sich ein zweites nahm, „nicht schlecht, aber irgendwie... anders.“
    Beliar nickte: „Das ist natürlich nicht aus normalen Zutaten. Das Korn für das Mehl stammt zum Beispiel aus eigener Ernte.“
    „Ernte?“
    „Natürlich. Wir betreiben hier unten zwar keine Landwirtschaft, aber meine Sensenmänner gehen regelmäßig zur Ernte in die Welt der Sterblichen. Das Korn, das sie ernten, wird sodann hier vor Ort in der Seelenmühle gemahlen. Das Ergebnis ist überaus feines Mehl, aus dem sich äußerst schmackhaftes Backwerk machen lässt.“
    Odo musste husten. „Das ist aus gemahlenen Seelen?“
    Beliar runzelte verwundert die Stirn. „Natürlich nicht. Wie kommst Du darauf?“
    „Naja,, Seelenmühle...?“
    „Achso!“, Beliar lachte. „Das hast Du falsch verstanden. Wir mahlen hier keine Seelen, sondern wir mahlen mit Seelen. Womit auch sonst? Wir haben hier unten ja praktisch nichts anderes als Seelen.“
    Odo war immernoch skeptisch.
    „Ansonsten ist das aus normalem Korn?“
    „Natürlich.“
    „Aus normalem Anbau?“
    „Ja.“
    „Und es wundert sich niemand, wenn er morgens aufsteht und seine Felder plötzlich abgeerntet vorfindet?“
    Beliar winkte ab: „Ach was! So viel brauchen wir hier auch wieder nicht. Hast Du etwa noch nie von Kornkreisen gehört? Jetzt weißt Du, woher sie kommen.“
    Odo schaute in die spöttisch funkelnden Augen des Gottes.
    „Das ist Unsinn. Ich bin auf dem Lande aufgewachsen...“
    „Du bist gar nicht aufgewachsen, sondern noch ein Kind“, unterbrach ihn Pallas.
    „Wie dem auch sei: ich komme vom Lande, und meine Familie besitzt selbst eine große Menge an Agrarflächen. Die werden zwar vor allen Dingen vom Gesinde bestellt, aber natürlich weiß ich, dass Kornkreise Spuren von Pflug- und Erntemaschinen sowie absichtlich angelegte Wege sind, die eine rasche Inspektion der Felder erlauben. Die Legende von der übernatürlichen Herkunft der Kornkreise ist ganz und gar urban, soll heißen: eine bloße Folge der Ahnungslosigkeit dummer Städter, die einmal einen Ausflug aufs Lande gemacht haben und sich darüber wunderten.“
    „Tse“, machte Beliar und begann, selbst ein Stück Torte zu essen, „wenn Du das sagst.“
    „Vielleicht können wir jetzt über wichtigere Dinge sprechen“, schaltete sich Pallas ein, die auch schon ihre zweite Portion vertilgt hatte, und also flugs zur dritten überging. „Odo und ich sind nämlich aus einem bestimmten Grund hier.“
    „Weil ich Euch eingeladen habe?“
    „Nein“, widersprach Pallas, „sondern weil ich etwas von Dir brauche.“
    „Torte?“ Das Lächeln des Gottes schmolz ob Pallas' ernster Miene dahin. „Also gut“, seufzte er, „dann also zum Geschäftlichen. Ich hoffe, dass Ihr Euch trotzdem nicht vom Genuss...“ Er hielt inne, war Pallas der Genuss doch trotz aller Geschäftsmäßigkeit deutlich anzusehen.
    „Was ich von Dir brauche“, mampfte sie, „ist zum einen eine Passage in einen anderen Teil der Unterwelt. Du kannst uns da bestimmt etwas helfen. Es wäre gut, wenn ich nicht meine eigene Macht einsetzen müsste, weil wir dann nicht so gut aufzuspüren sein werden. Und zum andern müsstest Du das Portal, durch das wir hergekommen sind, für meine Verfolger verriegeln. Das wird sie nicht sehr lange aufhalten, aber doch lange genug, damit ich meine Angelegenheiten hier regeln kann. Alles klar?“
    Beliar kaute bedächtig, schluckte, legte das Gäbelchen ab, griff zur Tasse und nahm ein Schlückchen dampfenden Tees.
    „Und wieso sollte ich das alles tun? Deine Absichten hier gehen mich doch wohl kaum etwas an, oder?“
    Pallas schaute von ihrem Teller auf. Ihr ruhiger, aber stechender Blick fing den des Gottes ein, stetig und ohne zu blinzeln. Odo wunderte sich über das sonst so hibbelige Mädchen. Vor allen Dingen aber schauderte es ihn. Denn Pallas Blick war der geduldige doch unheilschwangere Blick eines Raubvogels, der Blick einer Eule, die eine Maus beobachtete, bevor sie sich von ihrem Ast herabschwang und auf die Beute stürzte.
    „Glaubst Du wirklich, dass es klug ist, meine Forderung abzuschlagen?“, fragte sie, und nahm sich ein viertes Stück Torte, ohne den Blick von Beliar abzuwenden.
    Beliar blinzelte, ein kurzer Augenblick, in dem er Verunsicherung zeigte. Dann schien das Licht im Raum um ein gutes Stück nachzulassen, als Beliar seine Stirn mit einem äußerst ungnädigen Ausdruck umwölkte.
    „Gegenfrage: Hältst Du es für klug, mir zu drohen? In meinem eigenen Reich?“ Beliar sprach leise, und obwohl sein Ton nach wie vor milde und freundlich war, wirkte er ebenso schauderhaft wie Pallas' Blick. Ja, möglicherweise war dieser Tonfall sogar noch gruseliger, denn die darin enthaltene Drohung war noch weniger greifbar, und überließ damit viel mehr der plötzlich so lebhaften Einbildungskraft Odos.
    Pallas jedoch zeigte sich unbeeindruckt. Sie zog die Beine unter ihr Gesäß, kniete sich auf den Stuhl und lehnte sich weiter über den Tisch in Beliars Richtung.
    „Natürlich bin ich nicht so stark wie Du“, antwortete sie, „ich bin ja noch klein. Aber irgendwann werde ich nicht mehr klein sein. Dann werde ich mich ganz bestimmt hier an diesen Tag erinnern. Natürlich“, kam sie einer Antwort Beliars zuvor, „könntest Du mich ja jetzt hier töten um meinem Ärger zu entgehen. Aber das würde natürlich nicht unbemerkt bleiben. Ich habe da ein paar Geschwister und eine Tante, die sind ganz hier in der Nähe. Und die sind überhaupt nicht jung und klein. Du würdest es also sicher nicht riskieren, dass mir hier etwas zustößt.“
    „Es wird mir wohl niemand böse sein, wenn ich mich verteidige. Immerhin hast Du mich bedroht, nicht umgekehrt.“
    „Klar, ich bin ja auch ein Kind. Da kommt man mit einigem durch.“
    Pallas grinste und nahm sich ein fünftes Stück, obwohl sie das vierte noch gar nicht angerührt hatte.
    „Außerdem habe ich ja gar nicht gesagt, dass ich Dich hier jetzt zu irgendetwas zwingen will. Das könnte ich ja gar nicht. Ich sage nur, dass Dein Verhalten jetzt Konsequenzen haben wird. Die können gut oder schlecht sein. Wenn Du Dich auf einen Handel nicht einlässt, werden sie Wahrscheinlich nicht gut sein. Und Du hast keine gute Möglichkeit, schlechte Konsequenzen zu vermeiden. Denn die kommen entweder von mir, irgendwann, oder aber von meiner Familie, und zwar recht bald.“
    „Irgendwie glaube ich nicht, dass Deine Familie allzu glücklich mit mir wäre, wenn ich Dir bei der Flucht helfe. Anders gesagt: Ich finde es etwas dreist, mich auf der einen Seite darum zu bitten, sie Dir vom Hals zu halten, aber auf der anderen Seite mit ihrer Rache zu drohen, falls ich Dir etwas antun sollte. Nicht, dass ich dergleichen jemals vorhätte. Immerhin bin ich kein Ungott!“
    „Ach, Du brauchst Dir keine Sorgen machen!“, erwiderte Pallas, „Du würdest mich doch bloß meiner eigenen Welt und dem Reich meines Onkels näher bringen. Darüber würden sie sich wohl kaum beschweren können. Im Gegenteil, sie wären Dir vermutlich sogar dankbar. Du siehst also, dass es Dir durchaus nutzen könnte, wenn Du meine Bitte erfüllst.“
    „Aha“, sagte Beliar lächelnd, „jetzt ist es also nur noch eine Bitte!“
    „Und außerdem“, fuhr Pallas fort, als habe Beliar gar nichts gesagt, „ist es ja auch nicht so, dass ich selbst nichts anbieten würde. Wenn ich groß bin, werde ich ziemlich mächtig sein. Ich bin mir sicher, dass es sich für Dich lohnen wird, wenn ich dann positiv an heute zurückdenke.“
    „Das ist zugegebenermaßen wirklich kein allzu schlechtes Angebot. Wenn wir einmal von dieser Drohung absehen, die nun einmal wirklich absolut lächerlich ist, wie Du auch wissen dürftest, junge Dame“, sagte Beliar ruhig. Pallas schnaubte empört und blies sich die Strähne aus dem Gesicht. Odo war mittlerweile zu dem Ergebnis gekommen, dass dies wohl Anzeichen einer gewissen Nervosität sei. Dass sie es bei einer Verhandlung mit dem Gott des Todes, des Chaos, der Zerstörung und des Bösen an den Tag legte, beruhigte ihn doch etwas: Pallas mochte ihren Bezug zur Wirklichkeit noch nicht ganz verloren haben.
    „Ich glaube allerdings, dass wir gar nicht so lange warten müssen. Es gibt da etwas, das Du schon jetzt für mich tun kannst.“
    Beliar erhob sich und schritt zum Sekretär, wühlte eine Weile in den darauf zerstreuten Unterlagen umher, und kam schließlich mit einem beschrifteten Zettel zurück, den er Pallas vorlegte.
    „Hm“, machte sie und blies sich die Strähne aus dem Gesicht, „das sieht etwas knifflig aus.“
    „Natürlich habe ich intuitives, göttliches Wissen von der Materie. Aber es wäre doch schön, diesem Wissen eine dem menschlichen Verstande angemessene Form zu geben. Das ist so eine kleine Marotte von mir, die Du vielleicht verstehen wirst. Oder?“
    Pallas stützte das Kinn auf die Fäuste, starrte hibbelnd auf das Blatt herab, auf dem Odo eine Reihe von recht komplizierten Gleichungen ausmachen konnte.
    „Darüber muss ich selbst nachdenken“, sagte sie. „Ja, da kann ich Dir wirklich nicht so schnell helfen. Ich denke, das können wir dann machen, wenn Odo und ich zurück sind. Okay? Oh, und da wäre noch etwas!“, rief sie plötzlich und klatschte in die Hände, „das hätte ich fast vergessen. Ich hätte gerne das...“ Pallas richtete sich auf dem Stuhl auf, fiel dem Gott um den Hals und wisperte ihm etwas ins Ohr.
    „Oho!“, sagte der und machte große Augen, „diese Alzhara hat aber auch wirklich überall ihre Finger im Spiel, oder? Nun gut, ich denke, das lässt sich einrichten. Allerdings muss ich Dich bezüglich der schnellen Passage ein bisschen enttäuschen. Normalerweise hätte ich Euch ja von einer gewissen Dienerin transportieren lassen. Dummerweise hat sich die jedoch vor kurzem auf eine Selbstfindunsreise in die Welt der Sterblichen begeben, und wird wohl so bald nicht mehr auftauchen. Oh, aber Ihr könntet ja einmal Shalfe fragen!“
    Odo und Pallas schauten zu dem Dämon hin, der ein ungemein diabolisches Grinsen aufblitzen ließ.
    „Ich nehme jedoch nicht an, dass Ihr seinen Preis würdet zahlen wollen. Es sei denn, Du hättest den guten Herrn von Südersloh zu genau diesem Zweck mitgenommen?“
    Pallas Blick ruckte zu Beliar zurück. Der Gott zuckte zusammen.
    „Darüber solltest Du nicht einmal scherzen!“, zischte sie, mit klirrender Kälte in der Stimme.
    Beliar hob beschwichtigend die Hände. „Nun sei doch nicht so garstig“, sagte er, „natürlich würde ich nicht im Traum daran denken, die Seele Deines teuren Odo rauben zu lassen!“
    Odo schlug sich die Hand an die Stirn. Natürlich! Jetzt fiel ihm ein, wo er diesen Mann schon einmal gesehen hatte! Oho, und was für eine Erkenntnis das war! Pallas schaute besorgt zu ihm herüber.
    „Ich denke, dass Shalfe für einen Transport sowieso nicht so gut geeignet ist. Er dürfte eher geeignet sein, etwaige Nachzügler in Empfang zu nehmen. Nicht wahr, Shalfe?“
    „Du willst ihn nicht gegen meine Geschwister in den Kampf schicken, oder?“
    „Natürlich nicht. Aber man betritt nicht das Refugium eines Gottes und ignoriert dessen Herold. Oder seine Einladung. Ich bin also zuversichtlich, dass ich Deine Verfolge eine Weile aufhalten kann. Dennoch solltet Ihr Euch vielleicht bald auf den Weg machen. Für Euer schnelleres Fortkommen lasse ich mir vielleicht doch noch etwas einfallen.“
    Pallas nickte und wandte sich ihren Tortenstücken zu, die sie in erschreckender Geschwindigkeit vertilgte.
    „Ich finde, das schmeckt besser als Ambrosia“, sagte sie und erhob sich. Odo erhob sich ebenfalls.
    „Es war uns eine Freude, Ihre Gastfreundschaft genießen zu dürfen, Exzellenz“, sagte er steif. Ein Moment der Überraschung huschte über Beliars Gesicht, doch dann lächelte der.
    „Es freut mich, dass man mich offenkundig nicht vergessen hat.“
    Odo nickte nur. Es hatte eine Weile gedauert, doch schließlich hatte er Beliars Gesicht richtig zuordnen können. Vom Geheimrat und Komponisten Liareb waren nicht viele Bildnisse erhalten geblieben, doch immerhin hatte Odo einen Monat lang im Schloss des Gelderner Fürsten verbracht, der früheren Wirkungsstätte des Begründers der Gelderner Klassik.
    „Zum Ausgang geht’s hier entlang“, sagte Shalfarezehl und deutete zu Odos Überraschung auf die Balkontür. Pallas und er schritten über die Schwelle, und fanden sich statt auf einem Balkon auf einer Terasse wieder, von der aus sie einen herrlichen Blick auf einen üppigen Garten hatten, der gar nicht öde und tot aussah, sondern in so satter Blüte lag, dass es etwas Traumhaftes hatte.
    „Komm!“, sagte Pallas, ergriff Odos Hand und riss ihn mit sich.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (25.07.2015 um 23:44 Uhr)

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    XIX. Zwischenspiel in der Hölle des Drachen



    Beliar sah den beiden nach, wie sie auf die Terrasse heraus- und in den Garten hineintraten. „Das wäre dann alles“, sagte er in Richtung Shalfes, ging zu einem der Sessel, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Soso, Odo und Pallas also! Es hatte ihn ein wenig verwundert, als der Junge seine Begleiterin vorgestellt hatte, doch wenn das Fräulein sein Inkognito wahren wollte, so ging ihn dies wohl kaum etwas an. Andererseits hätte ihr wahrer Name dem Jungen wohl kaum etwas gesagt. Und wenn man bedachte, was sie mit ihm vorhatte, war ein allzu vertrauliches Verhältnis wohl ohnehin nicht wirklich angebracht. Er fragte sich auch, ob sie gegenüber Alzhara ebenfalls derart sparsam mit privaten Informationen umging. Nun, so, wie er die Drachenfrau kannte, wäre ihr derlei ohnehin eher egal, solange sie das bekam, was sie wollte. Einen Augenblick lang überlegte Beliar, den Handel platzen zu lassen. Wäre es nicht allzu amüsant, zu beobachten, was geschähe, wenn Alzhara den erwarteten Lohn doch nicht bekam? Doch da kam ihm ein anderer Gedanke, ein Gedanke an jemanden, der zwar schon seit einiger Zeit tot, dafür aber gerade für Beliar durchaus in Reichweite lag. Hatte Pallas nicht um ein Beförderungsmittel gebeten, durch welches sie selbst keinerlei Spuren hinterlassen würde?
    Beliar blinzelte. Es war ein kurzer Moment, der Bruchteil einer Sekunde, doch als er seine Augen wieder aufschlug, war die Umgebung vollkommen ausgewechselt. Anstelle der kunstvoll ornamentierten Wände und Decken und dem großzügig möblierten Zimmer fand er sich nun inmitten schwülen Regenwaldes, umgeben von tausenderlei Gerüchen und Geräuschen. Seinen gemütlichen Sessel hatte er aber natürlich mitgenommen. Er freute sich, wann immer er diese kleinen Tricks anwenden konnte, diese herrschaftlichen Privilegien eines Gottes in seinem Reich. Zwar schwelgte er nicht in seiner Macht, doch er genoss ihre Bequemlichkeit sehr wohl. Insbesondere seit seinem Besuch in der Welt der Lebenden, wo ihm die Dinge durchaus nicht mit solcher Selbstverständlichkeit zugeflogen waren.
    Er befand sich auf einer kleinen Lichtung, umgeben von riesigen Bäumen, die zum größten Teil ausgestorbenen Arten angehörten. Direkt vor ihm saß eine kleine, pelzige Kreatur, die im Begriff gewesen war, irgendeine exotische Frucht zu verspeisen, und den Eindringling erst verwundert, dann aber verärgert anstarrte.
    „Was willst Du?“, piepste das Äffchen, „Dich an meinen Qualen weiden? Genügt Dir meine Demütigung etwa nicht?“
    Beliar legte die Fingerspitzen aneinander und schüttelte bedauernd das Haupt. „Aber mein lieber Finkregh, freust Du Dich etwa nicht, dass ich Dich einmal besuchen komme? Du solltest nun wirklich glücklich darüber sein, dass ich Dich nicht vergessen habe. Oder eher: Das ich mich Deiner erinnert habe, denn um ehrlich zu sein hatte ich Dich unterdessen schon so ein bisschen vergessen. Aber jetzt bist Du mir wieder ins Gedächtnis geflutscht, völlig unvermittelt und unerwartet.“ Beliar hielt einen Augenblick inne. „Du bist erstaunlich schweigsam. Früher hättest Du mich wohl unterbrochen um Deinen Senf dazuzugeben. Kein Feuer mehr?“
    Das Äffchen verzog angewidert das Gesicht. „Was für ein schlechter Wortwitz! Was soll ich schon sagen? Ich bin tot und verbüße meine Strafe dafür, dass ich Dir Widerstand geleistet habe. Es zeugte zwar nicht gerade von gutem Humor, mich ein zweites Mal in ein Äffchen zu verwandeln, aber wer hätte vom Gott des Todes auch nur einen rudimentären Sinn für Pointen erwartet?“
    So ganz von der Hand weisen konnte Beliar dieses Argument nicht. Und das ärgerte ihn. Doch war dies letztlich nicht die Schuld des Äffchens.
    „Weißt Du, ich bin nicht hergekommen, um mich mit Dir zu streiten, sondern um Dir ein Angebot zu machen. Du würdest Doch bestimmt nicht gern den Rest der Ewigkeit so verbringen, wie jetzt, oder?“
    Die Augen des Äffchens zogen sich misstrauisch zu Schlitzen zusammen, was in beunruhigender Weise an einen Drachen erinnerte.
    „Ich wäre bereit, Dir die Erlaubnis zu erteilen, in Deiner eigenen Gestalt umherzugeistern. Und zwar wesentliche freier als bislang.“
    „Und warum solltest Du das tun?“, fragte Finkregh.
    „Weil Du mir einen Gefallen erfüllen würdest. Es gibt da zwei Personen in meinem Reich, die würden hier gerne an einen ganz bestimmten Ort kommen. Die Fähigkeit zu fliegen wäre da ungemein praktisch. In Deiner drachischen Gestalt hast Du diese Fähigkeit. Wenn Du also diesen kleinen Botengang für mich erledigst, werde ich Dir das Jenseits eine ganze Ecke angenehmer gestalten. Nun?“
    „Da gibt es doch einen Haken!“
    Beliar lachte. „Aber nein, wie kommst Du darauf? Es ist ein absolut fairer Handel ohne irgendeine Finte oder Täuschung: Du tust mir einen Gefallen, ich tue Dir einen Gefallen. Und die gute Alzhara wird sich am Ende ebenfalls freuen!“
    „Alzhara!“, quiekte das Äffchen, „es geht um Alzhara? Geht es eigentlich irgendwann nicht um dieses räudige Weibsstück?“
    Beliar lachte wieder. Das war ja genauso amüsant, wie er erwartet hatte!
    „Nun sei nicht so! Ich bin mir sicher, dass sie mittlerweile in ihrem Leben genug gestraft ist. Immerhin dürfte sie mittlerweile mit Deinem Bruder angebändelt haben.“
    Das Äffchen knirschte mit den Zähnen.
    „Aber wenn Du nicht willst“, fuhr er fort, „kann ich gerne wieder gehen. Ich werde Dich ganz sicher nicht dazu zwingen, in majestätischer Drachengestalt die Unterwelt zu erkunden...“
    Das Äffchen schwieg eine Weile. Doch Beliar wusste, dass dies nicht lange vorhalten würde. Er sah es am Ausdruck in dessen Augen.
    „Ich sehe schon“, sagte er lächelnd, „sobald Du bereit bist, gebe ich Dir die Position der beiden durch...“
    Geändert von Sir Ewek Emelot (28.07.2015 um 20:59 Uhr)

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    Eine angenehme Brise ließ die Blätter der Bäume im Garten rascheln und trug den Geruch dutzender unterschiedlicher Pflanzen herbei, von denen Odo die meisten mit ihrer botanisch korrekten Bezeichnung hätte benennen können. Er hätte wohl auch die wesentlichen alchemischen Bestandteile der Duftstoffe selbiger Pflanzen sowie ihre jeweilige Wirkung bestimmen können. Er wandte sich noch einmal zu dem Schloss um, das im goldenen Sonnenschein ungemein märchenhaft aussah, wie eine Bastion in Stein gemeißelten Kitsches: weiß getünchte Mäuerchen, mit wildem Wein überwucherte Erker, luftige Zinnen und rot glänzende Dachziegel. Es war, als hätten sie ein ganz anderes Schloss verlassen als das, welches sie betreten hatten, und als seien sie in eine völlig andere Umgebung gekommen, als welche sie zuvor durchquert hatten.
    Pallas hatte sichtlichen Genuss am Gang durch den Garten, bei dem sie ein Schwimmbecken passierten, einige fröhlich und mit kristallklarem Wasser sprudelnde Springbrunnen mit lustigen Figuren, unterschiedliche in satten Farben blühende Blumenbeeten und artig gestutzte Bäume, an denen unterschiedliche Früchte hingen, die ihren Teil zur Duftkomposition in dem Garten beitrugen.
    Odo wunderte sich: Waren Pflanzen nicht ebenfalls Lebewesen? Konnte Beliar in seinem Reich einfach Lebewesen erstehen lassen? Oder handelte es sich gewissermaßen um die Seelen toter Pflanzen?
    Von diesem Gedanken angeregt, schaute sich Odo genauer um: Und in der Tat machte er nicht nur pflanzliches Leben aus, sondern auch Insekten und Vögel, Eichhörnchen und Kaninchen. Er war im Begriff, Pallas zu fragen, ob dies alles verstorbene Wesen waren, die nun die Ewigkeit in Beliars Reich verbrachten, entschied dann jedoch dagegen: Er brauchte nicht alles zu wissen, fand er, und das Wissen gerade um solche Dinge stünde ihm wohl vor seinem eigenen Tode kaum zu. Doch nahm er sich vor, dies eingehend zu untersuchen, sobald er denn todeshalber in die Unterwelt zurückkehren würde. Ob dieser Ort schon einmal kartografisch erfasst worden war? Die Dämonologie hatte einige Kompendien und Lexika über die unterschiedlichen Arten an Dämonen zusammengestellt, doch eine ernsthafte Abhandlung über die Unterwelt selbst gab es nicht. Bloß das, was die Mythen hergaben, und die waren ja nun einmal Mythen, und damit grundsätzlich eher suspekt und von fragwürdiger Glaubhaftigkeit.
    Nach einiger Zeit des Wanderns wandelte sich das Bild: Der ordentliche Garten wich einer wilderen Landschaft, die jedoch nicht weniger idyllisch ausfiel.
    „Ich verstehe das nicht“, sagte Odo schließlich, „warum ist hier alles so schön und angenehm? Dies hier ist doch Beliars Reich. Müsste es nicht irgendwie alles... nun, dunkler und schrecklicher sein, wie als wir angekommen sind?“
    Pallas zuckte mit den Schultern: „Es ist hier so, wie Beliar es gerne hätte. Dies ist ja nunmal sein Reich.“
    „Aber er ist doch der Gott der Dunkelheit und des Bösen. Wieso sollte er das hier wollen?“
    „Ich sehe nicht, wieso er das nicht wollen sollte. Es ist doch viel angenehmer so. Nur, weil er böse ist, muss er doch darum nicht auf eine angenehme Umgebung verzichten. Übrigens denke ich, dass Du da ohnehin etwas verwechselst.“
    Odo hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
    „Die Unterwelt ist zu weiten Teilen ein düsterer Ort“, fuhr Pallas fort, „weil sie zu weiten Teilen von den schattenhaften Überresten der Verstorbenen bewohnt wird. Diese Gespenster sind meistens ziemlich empfindliche Viecher, weißt Du? Sie reagieren schnell aufgekratzt auf knallige Farben, und regen sich über intensive Wahrnehmungen sehr schnell auf. Darum sind sie ja auch in der Regel so aggressiv, wenn sie mal auch nach dem Tod in der Welt der Sterblichen verbleiben.“
    „Willst Du etwa behaupten“, fragte Odo erstaunt, „dass Beliar die Unterwelt aus Rücksicht so gruselig gestaltet hat?“
    „Ja.“
    Sie setzten ihre Wanderschaft eine Weile schweigend fort, und der sie umgebende Wald lichtete sich nach und nach. Die Sonne am Himmel verblasste, die Umgebung bleichte aus, und schließlich führte ihre Reise sie durch eine Umgebung, ebenso trostlos und tot und wie bei ihrer Ankunft in der Unterwelt.
    „Wohin genau geht es eigentlich?“, brach Odo das Schweigen.
    „Zum Hades“, antwortete Pallas, „das ist ein anderer Teil der Unterwelt, der von einem anderen Gott beherrscht wird.“
    „Und dort werden wir die Person treffen, die Du suchst?“
    „Ja.“
    „Und was machen wir dann? Willst Du... willst Du versuchen, sie wieder aus der Unterwelt herauszuführen?“
    Pallas blieb stehen und wandte sich Odo zu. Ihr Blick war so ernst, wie er es noch nie bei ihr gesehen hatte – außer in den Momenten, wo sie sehr wütend gewesen war. Doch dies nun war anders, viel weniger kindlich. Als ihr Blick Odo erfasste, trat für einen kurzen Augenblick ein Ausdruck kalter Berechnung in Pallas' Augen, und ihn überkam das Gefühl, wie ein Stück Stoff oder ein anderes Handelsgut gemustert zu werden, als versuche Pallas, seinen Wert zu bestimmen. Der Moment verging rasch, und doch hinterließ er ein Gefühl des Schreckens.
    „Bitte stelle mir nicht so eine Frage“, sagte sie schließlich und schickte sich an, weiterzugehen, hielt jedoch inne.
    „Es kommt jemand.“
    Odo blickte sich um.
    „Nein, nicht so. Schau dort hin, in den Himmel!“
    Odo folgte ihrem Fingerzeig, und in der Tat: Er machte einen rasch größer werdenden, weißen Fleck im Grau des Himmels aus, der sich bald als geflügelte Gestalt deutlich abzeichnete. Als er erkannte, um was für ein Wesen es sich handelte, war es zu spät: Der Drache setzte zur Landung an. Seine mächtigen Klauen gruben sich in die Erde, als die Kreatur aufsetzte, und der weiß glänzende, schuppige Leib ragte vor den beiden Kindern in die Höhe. Er hatte mittlerweile begriffen, dass Pallas sehr mächtig war. Dass sie die Sphinx hätte bezwingen können, daran zweifelte Odo nicht. Doch diese Kreatur hier war etwas völlig anderes!
    „Hallo“, empfing Pallas das gewaltige Geschöpf. Der Drache legte den Kopf schräg.
    „Hallo?“, fragte er knurrend, „ist das alles, was Du sagen hast, Mensch?“
    Der Drache wusste offenbar nicht, womit er es zu tun hatte. Wenn er Pallas für einen gewöhnlichen Menschen hielt, dann mochte er sie doch gewaltig unterschätzen. Und das wiederum mochte ihre Chancen im Falle einer Konfrontation doch erheblich verbessern.
    „Was sonst sollte ich sagen?“, erwiderte das Mädchen achselzuckend und offenkundig nicht sonderlich beeindruckt. Der Drache knurrte, mit Pallas' Gelassenheit offensichtlich unzufrieden.
    „Ich bin Finkregh, Herr über Schnee und Eis. Ihr tätet gut daran, mir mit Respekt zu begegnen!“
    Pallas verschränkte die Arme und setzte zu einer trotzigen Erwiderung an, wurde jedoch von Odo unterbrochen: „Es ist uns eine große Ehre“, sagte er und deutete schüchtern eine Verbeugung an. Von Finkregh hatte er natürlich schon gehört. „Dies ist einer der höchsten und mächtigsten Diener Beliars“, erklärte er Pallas, „Finkregh, ältester und mächtigster des alten Geschlechts der Drachen, Herr über Schnee und Eis, Wind über Nordmars Gipfeln und Hüter der Zusammenkunft ist der wohl bekannteste Vertreter seiner Art. Er war zu Lebzeiten der mächtigste Diener Beliars auf Erden, abgesehen vielleicht von Xardas dem Älteren. Seine bösen Machenschaften sind Gegenstand von Legenden. Magister Milten berichtet über die Zusammenkunft der Drachen im Minental von Khorinis vor ein paar Jahrzehnten, und vom Tod des Drachen durch die Hand des Namenlosen Wanderers. Eine wesentlich ausgeschmücktere Version findet sich bei Xardas dem Jüngeren in dessen 'Chronica Mundi Damnatorum', wo beschrieben wird, wie ebenjener Held der Götter den Drachen Finkregh zunächst in der Interogatio Draconis zur Offenbarung seiner Pläne zwingt, und ihn sodann im Zweikampf besiegt.“ Odo stockte einen Augenblick und fuhr dann fort: „Wenn ich es recht überlege, gehe ich davon aus, dass wir zum Teil in die Fußstapfen dieses Helden treten werden.“
    „Was meinst Du damit?“, fragte Pallas.
    „Naja“, antwortete Odo, „wenn mich nicht alles täuscht, sollen wir nun ebenfalls auf dem Rücken des Drachen reiten – aber natürlich ohne Kampf und all das. Beliar hatte doch gesagt, dass er sich etwas einfallen lässt. Für unser schnelleres Fortkommen, meine ich.“
    „Du bist ein vorlautes Bürschchen“, grollte der Drache missgelaunt, „und Deine sogenannten Chroniken kannst Du lieber für Dich behalten. Menschliche Aufzeichnungen sind jämmerlich ungenau, wie überhaupt alles an Eurer Rasse jämmerlich fehlerhaft ist. Aber in einem Punkt hast Du Recht: Der Gott will, dass ich Euch trage. Also trage ich Euch. Nicht, dass ich es gerne täte, und wenn Ihr nicht leise seid und Ruhe gebt, dann werde ich es mir mit Sicherheit anders überlegen und Eure Anwesenheit hier um eine klitzekleine Ewigkeit verlängern, egal, wie wütend Beliar dann sein mag. Ist das klar?“
    „Absolut klar!“, erwiderte Odo hastig.
    „Gut. Dann steigt endlich auf, Ihr kleinen Mistviecher!“
    Der Drache breitete seine Flügel so aus, dass diese wie eine Rampe Zugang zum zackenbewehrten Rückenkamm des Drachen boten. Pallas verkniff sich einen spitzen Kommentar, doch Odo sah ihr an, dass sie gerne eine scharfe Erwiderung geäußert hätte. Stattdessen kletterte sie den Flügel empor auf den Rücken des Drachen. Odo tat es ihr gleich. Die Zacken, obgleich eisig kalt, boten tatsächlich recht guten Halt. Pallas rief Finkregh die Richtung zu, in die er sie zu tragen habe, und der schlug sodann mit den Flügeln, erhob sich in die Luft und gewann rasch an Höhe. Odo wunderte sich: Der Flugwind, den er spürte, fühlte sich angenehm mild an. Er verbuchte dies unter den allerlei Kuriositäten an diesem sonderbaren Ort, der den ihm bekannten Naturgesetzen nicht so recht entsprechen wollte. Oder zumindest einigen dieser Gesetze. Das dafür andere Gesetze – etwa diejenigen der Schwerkraft – wiederum durchaus Anwendung zu finden schienen, war ihm eine schier unbegreifliche Inkonsequenz.
    Die Ebene tief unter ihnen war so öde und gleichförmig, dass sich ihre Geschwindigkeit kaum abschätzen ließ, doch ging Odo davon aus, dass sie wohl recht schnell fliegen mussten. Immerhin hatte der Drache sich zuvor bei seiner Ankunft ebenfalls sehr schnell genähert. Andererseits mochten Dinge wie Geschwindigkeit und Entfernung hier in Beliars Reich nicht dieselbe Bedeutung haben, wie in der Odo bekannten Welt.
    „Wir sind gleich da“, wehte der Wind das Knurren des Drachen schließlich an ihre Ohren, und Odo bemerkte, dass sie an Höhe einbüßten. Nach der Landung rutschte Odo erleichtert die Flügel der Kreatur herab, froh, endlich wieder auf den eigenen Beinen zu stehen.
    „Was für eine Erleichterung“, sprach Finkregh aus, was Odo dachte, „wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet: Ich habe wichtigere Dinge zu tun. Seid bitte so gut und lasst Euch vom nächstbesten Dämon fressen, ja?“
    Der Drache machte einen Satz und flog rasch empor. Odo fiel ein Stein vom Herzen: Tot oder nicht, dieses Ungeheuer war zweifellos gefährlich. Zumindest hier in der Unterwelt. Dass diese Begegnung doch nur als recht kurze Episode in seinem Abenteuer abzuhaken war, vermochte Odo daher nicht im Mindesten zu enttäuschen.
    „Wir sind jetzt an der Grenze zum Hades“, erklärte Pallas und blies sich ihre Strähne aus dem Gesicht. Die Nervosität war ihr deutlich anzuhören. Und ihre Miene zeigte etwas, das Odo dort bislang noch nie gesehen hatte, und wovon er angesichts dessen, was sie erlebt hatten, auch niemals geglaubt hätte, dass er es darin jemals sehen werde: Angst.
    Geändert von Sir Ewek Emelot (29.07.2015 um 22:23 Uhr)

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