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„Du hast Besuch“, erfolgte die erlösende Mitteilung.
Seit Dima wieder in seine Zelle gebracht worden war, hatte er sich in geduldigem Warten geübt, wie so oft, da es ohnehin der einzige Zeitvertreib war, den man in San Quentin hatte. Mit steifen Gliedern erhob er sich, streckte seine Gliedmaßen und knackte mehrfach mit seinen Nackenwirbeln. Angenehmer Schwindel krabbelte seinen Hinterkopf herauf und ein Funkeln trat in seine Augen, als er seine Hände dem Wärter darbot. Der kühle Stahl der Handschellen drückte gegen seine Handgelenke, was er mit teilnahmslosen Gesichtsausdruck hinnahm. Schweigend wurde er von dem Sicherheitsbeamten zu den Besucherräumen geführt. Der Weg dorthin war ihm natürlich vertraut, wechselten doch nur die Gesichter der Zellenbewohner, an denen er vorüberging. Erst vor einer Woche war Insasse 29853 aus der Zelle am Ende seines Traktes gegen einen neuen Sträfling mit der Nummer 24478 ausgetauscht worden. Die Ziffern schienen wahllos aneinander gereiht zu sein und keinem festen System zu folgen. Auch fand durch sie keine Unterteilung in die verschiedenen Trakte des Gefängnisses statt. Gedanken an derlei Belanglosigkeiten wurden aus der Langeweile geboren, zu der sie hier alle verdammt waren, weshalb sich Zverikow nicht einmal die Mühe machte, sich selbst zu unterbrechen. Dahingehend hatte er sich tatsächlich in seiner Zeit hier verändert, hätte er früher doch niemals zugelassen, den Blick für das Wesentliche auch nur eine Sekunde aus den Augen zu verlieren.
Ein zweiter Wärter wartete bereits vor dem Besucherraum, in dem Foster und er sich besprachen. Die Tür wurde geöffnet und eben genannter wartete bereits sitzend auf den Häftling. Sein Anzug war vollkommen wie eh und je und passte wie angegossen. Vor ihm auf der Metallplatte, des fest im Boden verankerten Tisches, lag ein schwarzer, unscheinbarer Aktenkoffer, auf dem der Blick des Anwalts ruhte. Schweiß stand dem Mitarbeiter von Nonomoto Enterprises auf der Stirn, ahnte er doch, dass dieses Mal Verhandlungen bevorstanden, die er nicht würde umgehen können.
„Neunundfünfzig Minuten“, brummte der Wachmann, ehe er wieder die Tür schloss und Mace mit seinem Besuch alleinließ.
Durch die Jahre, die er sich fügsam den Wärtern unterworfen hatte, hatten sie ihm gewissen Freiheiten eingeräumt, die beispielsweise solche privaten Unterredungen möglich machten. Viele andere Insassen konnten ihre Familien nur unter strenger Aufsicht sehen und wurden beim kleinsten Anzeichen einer aggressiven Handlung gewaltsam von den Besuchern ferngehalten. Es gab mehr als nur eine Geschichte, wo ein Ehemann die neue Beziehung der Ehefrau nicht hatte akzeptieren können, was ohne das Eingreifen der Sicherheitsbeamten ohne Zweifel zu einer weiteren Straftat geführt hätte.
„Hallo Foster“, begrüßte der Russe den Rechtsanwalt, der noch immer nicht den Blick von seinem Koffer gelöst hatte,
„Wie war Ihre Anreise?“
Höflich wie immer begann Dima zunächst mit Floskeln, wie sie es gewohnt waren. So hielten sie es immer, ließen Zeit verstreichen bis das Gespräch schließlich auf den immer gleichen Kernpunkt zusteuerte. Über die ganze Zeit hinweg, die der Sträfling nun schon mit dem Vermittler in Kontakt stand, hatte er nichts weiter herausfinden können, als dass er offenbar einen Haufen maßgeschneiderter Anzüge besaß und einen Hang zu Sportschuhen pflegte, eine Kombination, die jedem Modekenner einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hätte.
Da noch immer keine Reaktion seitens Steves erfolgt war, ließ sich Zverikow auf den freien Stuhl auf der anderen Seite des kleinen Tisches fallen. Sein Mund war zu einem siegessicheren Lächeln geformt und auch, wenn ihn die Ungeduld plagte, wollte er diese eine Stunde voll auskosten –
Neunundfünfzig Minuten, korrigierte er sich in Gedanken selbst.
„Hören Sie Zverikow“, rang sich der Rechtsvertreter unter scheinbar größter Mühe die ersten Worte seit ihrer Zusammenkunft ab,
„Nonomoto Enterprises kann ihren Forderungen einfach nicht nachgeben. Das Risiko ist zu groß.“
Das Lächeln aus Dimas Gesicht schwand und Zornesfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Oh nein, er hatte nicht vier Jahre auf diesen Moment hingearbeitet, nur um gesagt zu bekommen, dass einem Weltkonzern wie Nonomoto Enterprises nichts an seiner Vormachtstellung lag. Er wusste genau, war sich sogar hundert Prozent sicher, dass Foster versuchte ihn durch geschickte Wortwahl von seinem Vorhaben abzubringen.
„Das Risiko?“, fragte der Russe angespannt, mit Mühe seine Wut beherrschend,
„Foster, ich glaube Sie haben mich beim letzten Mal nicht richtig verstanden.“
„Ich habe Sie sehr wohl verstanden, doch meine Vorgesetzten sind der Meinung, dass wir dieses Risiko nicht eingehen können. Die Gefahr, dass sie trotz Absolution die Daten veröffentlichen und damit das System, wie es jetzt besteht, stürzen, ist zu groß.“
Bitter lachte Mace auf. Zum Teufel mit diesen Feiglingen!
„Allerdings wurde ich mit einem Gegenangebot hergeschickt“, lenkte Foster ein, woraufhin er die Schnallen des Aktenkoffers klappernd öffnete.
Er drehte den schwarzen Behälter und offenbarte Dima den Inhalt. Eine Art Headset lag darin, sowie eine Brille, die darin integriert war.
„Eine mobile Neuraleinheit?“, fragte der Häftling verwundert,
„Was soll ich damit?“
„Nun“, erwiderte der Anwalt, breitete die Hände aus und lächelte nun seinerseits,
„Es ist das Angebot, dass Sie sich freispielen können.“
Zverikow glaubte sich verhört zu haben. Was hatte dieser Anzugträger da eben von sich gegeben? Er könnte sich freispielen?
„Was soll das heißen?“, fragte er argwöhnisch.
„Nun, wie Sie sicher wissen, wird Dai Shi in weniger als drei Tagen beginnen. Diese MNE ist so programmiert, dass Sie mit ihr über den Rechner, der sich im Übrigen ebenfalls in dem Koffer befindet, in Dai Shi einloggen können. Sie werden einen Avatar steuern und unter tosendem Applaus auf der ganzen Welt zu sehen sein.“
„Lassen sie den Scheiß“, fuhr Mace den Vermittler an,
„Ihre Werbekampagne können Sie sich sparen!“
„Wenn sie gewinnen“, fuhr Steve unbeeindruckt fort,
„sind Sie ein freier Mann.“
Erstaunt hob der Inhaftierte eine Augenbraue an.
„Ich muss nur ein dämliches Computerspiel gewinnen und Sie sorgen dafür, dass Haftbefehl und Todesurteil gegen mich aufgehoben werden?“, wollte sich der Russe vergewissern.
„Exakt“, bestätigte der Anwalt.
„Das ist doch ein schlechter Scherz.“
„Mitnichten, denn sollten Sie verlieren…“
„Werde ich nicht!“
„Müssen Sie die Nanoeinheiten in ihrem Blut stoppen und somit die Verbreitung der Daten verhindern.“
„Und wenn ich ablehne?“
„Es gibt Dinge auf dieser Welt, die Sie besser nicht wissen, Zverikow. Seien Sie sicher, dass Nonomoto Enterprises zu weit mehr in der Lage ist, als sie es sich vorzustellen vermögen.“
„Bisher habe ich noch nicht viel davon gesehen, dass Sie sich die gestohlenen Daten aneignen können.“
„Die Technik hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, Zverikow.“
Der Exsoldat wirkte nachdenklich. Sollte er annehmen? Warum nicht, schließlich bedeutete dies nur, dass er ein Computerspiel gewinnen musste.
Foster lehnte sich in seinem Stuhl zurück, was ein quietschendes Geräusch hervorrief. Dima hingegen ließ einige Zeit verstreichen, ehe er sich zu einer Antwort durchrang.
"Also gut, ich mache mit", nahm er den Handel an und der Rechtsanwalt klatschte bereits freudig in die Hände, doch der Russe war noch nicht fertig,
"Aber nicht mit diesem Ding hier", fuhr er fort und stieß den Koffer mitsamt Inhalt von sich.
"Aber...aber", wollte Foster protestieren, doch Mace fuhr dazwischen.
"Ich nehme teil, aber nur, wenn ich mit den gleichen Voraussetzungen starte, wie jeder andere", forderte er mit einem tollkühnen Grinsen im Gesicht.
"Soll das heißen...Sie wollen...?", suchte der Mitarbeiter von Nonomoto Enterprises nach den richtigen Worten.
"Genau, ich will genauso sterben, wie jeder andere, dessen Avatar das Zeitliche segnet."
"Sind sie verrückt?!", schrie Steve plötzlich auf, erhob sich und schlug die flachen Hände scheppernd auf die Blechplatte des Tisches.
Vom Lärm alarmiert öffnete sich die Tür und der Wärter stürmte mit erhobenem Schlagstock herein, bereit, den Häftling niederzuschlagen und ruhig zu stellen. Völlig verwundert musste er jedoch miterleben, wie der Besuch die Fassung verloren hatte, während der Insasse die Ruhe selbst zu sein schien.
"Wollen Sie unbedingt sterben, Zverikow?"
"Ich weiß, dass Sie und ihre Vorgesetzten NICHT wollen. Das ist meine Bedingung für die Teilnahme. Sollten sie sie nicht akzeptieren können...nun, es gibt viele Wege sich ohne Hilfsmittel umzubringen, Foster", drohte er mit seinem eigenen Tod, ein Umstand, den er niemals für möglich gehalten hätte.
Der Sicherheitsbeamte stand unschlüssig in derselben Position, wie zuvor, ehe ihn eine wüste Handbewegung des Anwalts hinausschickte. Er selbst blieb jedoch stehen, die Hände weiterhin auf den Tisch gestützt. Ein resignierter Seufzer entwich ihm, ehe er wieder die Stimme hob:
"Also gut, wie Sie wollen. Morgen werde ich mit einem Techniker vorbeikommen, der Ihnen das entsprechende Equipment installiert. Unsere Zeit für heute ist ohnehin um."
Tatsächlich zeigte die schäbige Uhr hinter Steve eine Minute vor sechs an.
"Schön, dass wir uns einig werden konnten, Foster", meinte Dima glücklich und erhob sich schwungvoll mit rasselnden Handschellen.
Erneut öffnete sich die Tür und der Wärter schaute ein wenig nervös herein.
"Die Zeit ist um", meinte er und trat an Mace heran, der sich bereitwillig abführen ließ.
Beim herausgehen drehte er sich jedoch noch einmal um und schaute dem zerknirschten Steve in die Augen.
"Eins noch", meinte er,
"Sorgen Sie und ihr toller Konzern dafür, dass ich nicht mehr mit den anderen Insassen Duschen muss. Das kotzt mich an."
Ohne eine Reaktion abzuwarten machte er sich auf den Rückweg in seine Zelle.
Das lief ja besser, als ich es mir vorgestellt habe, dachte er und konnte sich ein siegreiches Feixen nicht verkneifen.