Leifs Kollegen ging in dieser Sekunde wohl der selbe Gedanke durch den Kopf, als er dem Chirurgen zusah, wie dieser das Skalpell an der Wirbelsäule ansetzte und abwärts schnitt. Schon ein scharfes Skalpell und ausreichende Sterilisation waren die Jahre zuvor in Julians privater 'Praxis' (wenn man sie sehr wohlwollend so nennen wollte) eher eine Seltenheit gewesen. Besonders aber genoss er es, sich auf fachlicher Ebene mit einem anderen Experten auszutauschen und die Freude war für einige Momente, bevor auch er seinen Mundschutz hinaufzog, offensichtlich.
Auf Omega hatten seine Kunden ja nichteinmal richtig den Zweck seiner Arbeit verstanden: Ein Implantat anzuschrauben, das konnte jeder Söldner nachvollziehen, doch warum man all diese hunderte Nervenstränge verbinden musste, dass war vielen ein Rätsel. Ein Batarianer hatte sogar einmal gefragt, ob diese zeitaufwändige Kleinstarbeit wirklich notwendig sei, wenn sich Julian auf Zeit bezahlen ließ. Es hatte dann einige Überzeugung gebraucht, klarzumachen, dass sein batarianischer Freund andernfalls mit dem neuen kybernetischen Arm zwar eine ziemlich teure Ergänzung hätte, diese aber wenig Nutzen haben würde, außer dekorativ an der Schulter herumzubaumeln. Kiurz gesagt: Es waren nur Idioten seine Kundschaft und seine Konversation gewesen. Hier auf Proteus aber wurde er nicht nur besser bezahlt und ausgestattet, viel wichtiger noch: man verstand, was er tat und schätzte es.
Doch jetzt war noch nicht seine Zeit; zuerst hatte der weitaus filigranere Methoden gewohnte Leif die Zügel in der Hand. Statt selbst das Messer anzusetzen, klemmte Julian lediglich zwei Spreizer in die Schnittöffnung und saugte mit einer Kunststoffröhre das Blut ab, um so Leif freie Arbeitsfläche zu verschaffen. Als das untere Rückgrat dann endlich freigelegt war, offenbarte sich die durch die Tomografie angekündigte Brisanz der Verletzung: Zwei der Wirbel waren ganz offensichtlich extrem aufeinander gesplittert. Wenn auch insgesamt noch größtenteils intakt, so war der abgesplitterte Teil so kleingliedrig und vielzählig getrümmert, dass man in der blutigen Fleischmasse nur mit Mühe alle auffinden konnte. Zunächst überließ Julian Leif das Privileg, seine ruhige Hand zu beweisen und einen Splitter nach dem anderen möglichst vorsichtig zu entfernen und dabei das Rückenmark möglichst zu umgehen.
Erst nach etwa zwanzig Minuten dieser mühseligen Prozedur stoppte Julian ihn plötzlich mit einem etwas zu energischen
"Nicht!" und hob beide Hände in abwehrender Geste, um Leif vom erneuten Ansetzen der Pinzette abzuhalten.
"Da ist ein Splitter bereits in das Knochenmark angedrungen - sehen Sie?"
Er griff nach einem Endoskopschlauch und führte diesen seitlich bis an die entsprechende Stelle heran, sodass auf einem Monitor seitlich der Trage schnell klar wurde, wie tief der Splitter bereits eingedrungen war. In der Überzeugung, diese Situation nicht mit bloßen Händen akkurat genug lösen zu können ließ er daher den Roboterarm heranfahren, dessen Pinzettenspitze er dann mit Gesten seiner Hände auf die entsprechende Stelle zusteuerte und dabei den Bildschirm neben sich genau im Auge behielt. Dort war gut zu erkennen, wie die mechanische Pinzette langsam zugriff und den weißen Fremdkörper langsam in Richtung des Eindringens wieder herauszog.
"Sieht beinahe so aus, als wäre die weiße Substanz stark beschädigt worden. Der Größe des Splitters zu Folge ist die graue Substanz aber wahrscheinlich intakt"
Mit einem metallischen Klirren ließ der Roboterarm den Fremdkörper nun in die Sammelschale fallen.
"Es könnte aber das pyramidale System und damit die Motorik der Beine betreffen. Ich könnte versuchen, die beschädigten Nerven durch synthetische Axonalfasern zu regenerieren, aber wenn die Fasern sich falsch integrieren, riskieren wir eine komplette Querschnittslähmung statt nur eine teilweise Einschränkung des Bewegungsapparates. Erfolgschancen bei 70-80%"
Hinter seinem Mundschutz versteckt sah Julian jetzt skeptisch zu Leif auf und beobachtete genau dessen Reaktion.
"Brauchen wir ihn als Soldaten oder als Mensch? Ihre Entscheidung, Doktor"