Das hellblonde Haar, das bis zu ihrer wohlgeformten Taille reichte, lag zu einem Teil eingeklemmt zwischen ihrem seitwärtsliegendem Körper und der rechten Seite der heruntergekommenen Pritsche. Das restliche Haar schmiegte sich über ihr schmales Gesicht bis unter einen vielfach geflickten Stofffetzen, der ihren nackten, bleichen und zugleich mit blauen Flecken übersäten Körper von den Schultern bis zu dem Fußgelenk umhüllte und gut proportionierte Brüste erahnen ließ. Die vollen und tiefroten Lippen waren zusammengepresst zu einem abwesendem, unwillkürlichen Lächeln, das die Stille des dunklen Nichts um sie herum auszeichnete. Bei näherer Betrachtung standen ihre grau-grünen Augen zwar weit offen, doch ihre Sinne waren wie ausgebrannt, lediglich ihre Gedanken strömten lebhaft und verworren umher. Tief in sich versunken, mit keiner alltäglichen Frage beschäftigt. Vielleicht sogar zu beschäftigt.
Wie durch einen schlagartigen Donnerknall, die Ankündigung eines Sturms, wurden ihre geruhsamen Gedanken auseinandergetrieben, als irgendwo in den Tiefen des Raums, die sie lediglich als unscharfe Konturen auffasste, eine schwere Holztür aufsprang und mit der Klinke kalt gegen die Wand knallte. Es strömten von außerhalb des Raums unkoordinierte Schritte eines einzelnen Mannes in Richtung der Pritsche und bildeten, begleitet von lallendem Getöse, einen unerwünschten Kontrast zur vorherrschenden Stille, kurz davor, diese komplett einzureißen. Doch dazu kam es nicht. Sie vernahm nur, dass von diesem Moment an zwei weitere Füße dem gespenstischen Theater beiwohnten, wobei diese jedoch geschickterer Abstammung waren und nahezu lautlos dem ausufernden Torkel entgegen schritten. Die Aufführung endete abrupt durch ein leises Klirren, ein halb gares Krächzen und mit einem zersplitternden Gefäß, das das stumpfe Aufkommen eines Körpers überhören ließ.
Die Situation, die den Bruchteil einer Minuten angedauert hatte, zerrte an den Nerven der irritierten Frau. Im nächsten Augenblick brachte jedoch wenigstens der sanfte Schein einer Kerze etwas Licht ins Dunkeln.
„Schönen Abend, holde Maid. Es gibt vieles zu erklären, doch ich hege Zweifel, dass die momentane Lage einen gemütlichen Plausch zulässt. Würden Sie mir bitte folgen?“ Ein markantes Männergesicht funkelte sie mit einem leichten Lächeln an. Ein zusammengeflochtener Kinnbart und scharfe Gesichtszüge, die mindestens so scharf waren wie sein Blick und seine Zunge, zeichneten das gewiefte Antlitz ihres bedenklichen Retters aus. Ein paar frische Bluttropfen klebten an seinen Wangen und sie war sich uneinig darüber, ob dies ein vertrauenswürdiges Zeichen war. Doch wenn es um Leben oder Tod ging, durfte sie nicht wählerisch sein, vor allem dann nicht, wenn man nackt und unbeholfen zwischen einem Mörder und der kopflosen Leiche ihres Zuhälters sitzt.
Der Anblick ließ sie verstummen und sie brachte lediglich ein unklares Nicken hervor, was dem Retter genügte. Kaum hatte sie sich die schäbigen Kleider übergezogen, warf er sich die Frau wie einen Sack auf den Rücken und trippelte gewandt über die Leiche und die zerbrochene Flasche von Schwarzgebranntem durch die Tür hinaus.
Er betrat einen langen Flur, der in etliche Zimmer und düstere Ecken abzuzweigen schien. Das schwache Licht des Mondes gewährte nur dürftige Einblicke in die bescheidenen Räumlichkeiten, wodurch potentielle Beobachter die Oberhand gewinnen würden. Beim Inspizieren der Umgebung geriet die Frau auf seinen Schultern aufgrund ihres abgemagerten Körpers fast in Vergessenheit. Was für ihn nur eine Nebensächlichkeit darstellte, war für sie ein äußerst unbequemes Unterfangen. Sie fühlte sich zudem wieder nur als Mittel zum Zweck missbraucht, denn wieder hing sie in den Händen eines Fremden, weshalb sie es als gerecht empfand, den gesammelten Frust an ihrem Retter auszulassen.
„Hör mal, ich sehe mich in der Lage, selbst laufen zu können und nur weil ich etwas entkräftet aussehe, heißt es noch lange nicht, dass ich gehbehindert bin!“
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, sprang er auch schon mit ihr geschickt aus dem Fenster in die tiefe Nacht.

Sie wusste nicht, ob sie diese Freiheit genießen konnte, denn ihr bot sich ein frustrierender Anblick, der einst florierenden und stolzen Stadt. Die trostlosen Gassen wirkten noch kälter als sonst, das Leben, das rege Treiben waren wie ausgelöscht und keine Menschenseele war zu sehen. Selbst die Lichter der Stadt waren verkümmert zurückgeblieben. Doch vor allem der Hafen, an dem selbst nachts noch viel los war und an dem die Hafenarbeiter normalerweise ausgelassen ihr Gehalt verplemperten, schien nur noch durch die peitschende Gischt zu atmen. Die Schiffe und Boote, deren Segel vor nicht allzu langer Zeit gen Himmel ragten und für eine vielversprechende Zukunft standen, waren allesamt verschwunden.
Der Unbekannte bemerkte ihren bekümmerten Gesichtsausdruck.
„Die Welt verändert sich, ebenso wie die Menschen.“
„Was sind das für Veränderungen, die ganze Städte verschlingen?“
„Wir haben viel zu klären. Ich kenne einen sicheren Ort. Folge mir.“
Sie schritten nebeneinander durch die grimmigen Gassen, aus vereinzelten Häusern hörte man Hämmern und Geschrei.

Nach einem kurzen Fußmarsch durch verengte Häuserfassaden, dreckiges Kopfsteinpflaster und trübseliges Wetter kamen beide zu der äußerst suspekten Taverne „Kröte & Igel“ an, die fast schon verborgen in der hintersten Ecke der Stadt, neben einem Schweinestall und einem kleinen Laden für Wäschereinigung, vorzufinden war. Sie fragte sich, ob die Kunden das Wirtshaus manchmal mit dem Stall verwechselten, denn sowohl das Erscheinungsbild, als auch der Gestank der aus beiden Bretterverschlägen quoll, war nahezu identisch. Sie hätte am liebsten noch weiter darüber philosophiert, doch der Fremde rückte ihr den Ernst der momentanen Lage mit einem durchdringenden Blick ins Bewusstsein.
Er klopfte dreimal in schneller Folge gegen die schäbige Tür, doch vergebens. Selbst nach längerer Wartezeit und mehrmaligen Klopfen tat sich nichts und langsam wurden beide von der Kälte der Nacht umgeben. Er schien in vollkommener Ruhe das erlösende Knarzen einer sich öffnenden Tür zu erwarten, sie hingegen überkam bereits die mit Kälte gepaarte Ungeduld, wodurch sie kurz davor war, den ganzen Laden einzutreten, was ihr wahrscheinlich gelungen wäre. Doch verdächtige Schritte aus der Nähe hinderten sie an der Umsetzung. Die Ungeduld wich dem Misstrauen, das Misstrauen der Angst, denn das unterschwellige Stampfen näherte sich. Ihr verzweifelter Blick haftete sich an ihren Retter, der verstohlen in die Ferne blickte und nachdachte. Abrupt änderte sich sein Gesichtsausdruck, der nun dem seiner Weggefährtin glich.
„Du gottverdammter Vollidiot, hab ich dir nicht deutlich genug gesagt, dass du den Hintereingang benutzen sollst?“, krächzte eine raue Männerstimme aus einem unbestimmten Punkt hinter dem Haus.
„Kröte, du weißt doch, wie es um mein Gedächtnis bestellt ist. Seit du mir die Pfanne vor zwei Monaten auf den Kopf gehauen hast, nur weil ich grad zufällig nackt auf deiner Frau lag, kann ich mich an solche Kleinigkeiten nicht mehr erinnern. Ich hab sie jedenfalls dabei.“
„Da hättest du was erlebt, wenn du deinen Auftrag auch noch nicht erfüllt hättest. Kommt rein.“

Von innen machte die Bruchbude einen ganz anderen Eindruck. Sie war zwar vollkommen verdreckt, Tische und Stühle waren umgeschmissen und der penetrante Geruch von Bier und Kot blieb erhalten, doch es war jede Menge Kundschaft vorhanden.
Der Kerl namens Kröte erwies sich als dickbäuchiger Halsabschneider. Sein Kumpane Igel, ein Liliputaner in einer mit Stacheln gespickten Plattenrüstung, war hingegen als skrupelloser Rausschmeißer tätig. Die Menschenmenge, bestehend aus allerhand Gesindel, deren Höhepunkt wohl ein einarmiger Lautenspieler bildete, drehte sich beim Knarzen der schweren Türe nahezu synchron um und klebte die Blicke auf die Erscheinung der Frau, die die schweren, lüsternen Blicke zu gut kannte, ihre Heißblütigkeit aber auf eine harte Probe stellten. Kröte und Igel war das Phänomen ebenso bekannt, weshalb sie sich mit sicheren Blicken dazu überwanden, die wohl letzte Kundschaft aus dem Wirtshaus zu verjagen.
Es folgte ein berühmt berüchtigtes Prozedere: Kröte stieß einen schrägen, kurzen Schrei aus, der die Masse auf ihn aufmerksam machte, wobei Igel auf die Theke kletterte, wild herum rollte und mit seinen Stacheln einen unüberwindbaren Feind, zumindest für die Bauerntölpel und Krüppel der Hafenstadt, abgab. Meistens verletzten sich die fliehenden Personen aber selbst, sei es weil sie aus Trunkenheit gegeneinander liefen oder weil sie sich nicht einigen konnten, wer zuerst rausrennen durfte und somit zu zweit zwischen der Tür stecken blieben.
Kröte und Igel lächelten die Neuankömmlinge an, die versuchten, dem entgegengesetzten Ansturm auszuweichen.
„Sieh mal einer an, Rodan ist zurück und hat uns eine prachtvolle Dame mitgebracht. Eine kleine Nutte namens Donna.“ Das Gesicht von Kröte verfinsterte sich.
„Hat dich unser lieber Rodan schon über die Vorkommnisse der letzten Tage aufgeklärt?“ Krötes Blick wanderte von Rodan, der mit emotionslosem Gesicht ein Bier schlürfte, zu Donna, die leicht den Kopf schüttelte, sei es zur Beantwortung seiner Frage oder weil sie die Situation nicht wahrhaben wollte.
„Also nicht. Dann fang ich mal an.“ Kröte trank einen Schluck aus einem gelblichen Gebräu und spuckte es sofort wieder aus.
„Es sind schlimme Zeiten angebrochen. Könige sterben, Titanen erwachen zum Leben und zerstören weitläufige Landstriche. Stell dir aber nun die Kontrolle so eines Titanen vor. Man könnte unfassbare Dinge damit anstellen, wie Welten erobern zum Beispiel. Ein Kinderspiel. Als Inquisitor Mendoza mir dieses Geheimnis anvertraute, wusste ich sofort, dass es hierbei einen Haken gibt. Du wurdest zur Hure, weil du deine Schulden nicht abbezahlen konntest. Die Schulden, die dein Bruder dir hinterlassen hat. Was glaubst du wo er hin ist? Genau, er ist abgehauen und zwar genau auf das Schiff des Inquisitors. Weitläufige Recherchen haben aber ergeben, dass er in der Lage sein wird, die Titanen aufhalten zu können. Genauso wird sie jeder aufhalten können, der das gleiche Blut hat, wie er. Doch das wollen wir natürlich nicht. Wir tun das für das allgemeine Wohl der Menschheit. Dafür muss man auch Opfer bringen, denn die Insel ist dem Untertang geweiht und die Leute, die es nicht rechtzeitig geschafft haben, werden jämmerlich zugrunde gehen. Ich und meine Freunde werden hingegen überleben, weil der Inquisitor es uns versprochen hat und in der Zwischenzeit wollten wir den Leuten hier eine angenehme Zeit ermöglichen. Deshalb wollte ich nicht, dass du unwissend stirbst.“
Rodan nickte ihr zu und holte seine Klinge raus.