Propaganda


Es gibt ja Leute die sagen, in Zeiten der Not oder des Krieges würden wir Menschen die größten Errungenschaften und Neuerungen hervorbringen und schließlich gestärkt aus der ganzen Scheiße hervorgehen. Keine Ahnung, ob da irgendwas dran ist.


„Rekruten vorgetreten!“, brüllte Inquisitor Ernesto und der Reihe nach setzten sie sich in Bewegung. Der erste kam vor dem Inquisitor zum Stehen, senkte sein Haupt und kniete vor ihm nieder. Dann überreichte er Ernesto symbolisch seinen alten Kampfstab. Der Inquisitor nahm die Waffe entgegen und hielt sie für die Menge sichtbar in die Höhe.
„Gut gekämpft haben unsere tapferen Conquistadores mit diesen Stäben. Viele Echsen haben sie erschlagen oder sind bei dem Versuch einen Heldentod gestorben. Dank ihnen ist Faranga wieder ein sicherer Ort. Aber...“
Inquisitor Ernesto legte eine Kunstpause ein und die Menschen warteten angespannt, was er nun verlauten möge.

Gespannt und auf das Schlimmste vorbereitet wie die Zünder der Musketen, hab ich in dem Moment gedacht. Daran erinnere ich mich noch gut.

„Aber mit dem Schiff aus Caldera, das mich nach Mendozas tragischem Tod hierher gebracht hat, bringe ich eine neue Waffentechnologie der Inquisition, die uns den Kampf gegen das Chaos gewinnen lassen wird!“
Nun griff er in eine der vielen hinter ihm aufgetürmten Kisten und zog einen Gegenstand daraus hervor, ungefähr halb so lang wie den Kampfstab. Der Rekrut, der noch immer vor dem Inquisitor kniete und den Kopf gesenkt hielt, streckte die Hände nach oben, als wolle er eine großzügige Gabe empfangen.
„Ich lege die Rettung des Reiches in deine Hände, junger Kämpfer!“, donnerte der Inquisitor und übergab dem jungen Mann den Gegenstand. Blitzschnell richtete sich der Rekrut damit auf und schoss mit der Muskete drei Salven auf die über den Kisten angebrachten Bogenzielscheiben. Drei zielsichere Schüsse, so donnernd wie die Stimme des Inquisitors, sprengten die Zielscheiben in tausend Stücke. Die Menge staunte in einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen.

Das war eine groß angelegte Propagandaschau der Inquisition. Nur Stunden zuvor wurden die Magier aus der Vulkanfestung in aller Öffentlichkeit verurteilt. An den Strick konnte man sie nicht bringen, dafür hatte die Kirche noch zu viele Anhänger in der Bevölkerung. Aber sie wurden alle verbannt auf irgendeine abgeriegelte Insel der Inquisition. Weil ihre Magie gefährlich und den Titanen nützlich sei, hieß es. Die ganze Bevölkerung von Faranga, ja selbst die Bauern von den Höfen außerhalb sind an diesem Tag auf dem Marktplatz gewesen. Aber nicht etwa aus Interesse, nein: Man hat sie dazu gezwungen. Alle sollten sie die neue Waffe der großen Inquisition sehen und neue Hoffnung und Vertrauen schöpfen. Und am besten noch ihre Söhne freiwillig in den Kampf schicken.
Und der Junge übrigens! Der Junge, der da die Muskete abgefeuert hat – so als Zeichen der kräftigen wehrhaften Jugend, in die man seine Hoffnung setzen sollte blabla... – Der Junge hat mehrere Tage vorher rund um die Uhr trainieren müssen. Emilio war sein Name und wir anderen Rekruten hatten furchtbares Mitleid mit ihm. Waren aber auch höllisch erleichtert, dass es uns nicht selbst getroffen hat. Er ist dann jedenfalls einer der ersten gewesen, die auf einer „freiwilligen Expedition“ nach Arborea verreckt sind. Und er war ein guter Schütze, bei Innos, das war er! Hat ihm aber einen Scheißdreck gebracht letztendlich.

„Hört, ihr Bewohner von Faranga! Auf ausdrückliche Anordnung des ehrenwerten Inquisitors Ernesto ergeht folgender Erlass: Da die Insel und die heilige Flamme als sicher gelten und die Truppen des Verbrechers Esteban ausreichend dezimiert sind, wird fortan nur noch eine Minimalbesatzung an Inquisitionsstreitkräften zurückbleiben. Die auf Faranga eingezogenen Rekruten werden in den großen Ausbildungszentren der heiligen Inquisition auf Caldera den fortgeschrittenen Umgang mit den Musketen erlernen. Außerdem sei jeder wehrhafte Mann dazu angehalten, sich in den nächsten drei Tagen freiwillig unseren Streitkräften anzuschließen und seinen Beitrag im Kampf gegen die Titanenlords und ihre...“

Ja... Das war dann der Moment, wo ich es für angebracht hielt, mit dem Leben abzuschließen. Die Schiffe der Inquisition sind doch Spielzeuge für die Kraken im Meer gewesen. Man konnte nur hoffen, dass sie gerade mal keine Lust zu spielen hatten, aber da ich schon immer Pessimist gewesen war, hab ich das nicht gewagt. Und da stand ich nun in einer Reihe mit den anderen Rekruten von Faranga und präsentierte stolz das Schießeisen. Dabei war das ein richtiges Scheißding. Auf zehn Metern konntest du noch zielen, danach gabs größere Abweichungen in der Flugbahn der Kugel. Die haben in ihrer Not einfach das erste halbwegs funktionierende Modell in Masse produziert. Was ein Glück, dass die Kraken riesig sind, hab ich mir gedacht, aye, das hab ich. Und dass sie so nah an einen rankommen. Naja, irgendwie haben wir es dann ja doch noch nach Caldera geschafft. Aber schon als ich dort angekommen war, lag das Hinterland in Flammen und die Feuer hörten niemals auf zu lodern. Feuertitanen, sagte man uns, die angeführt von Titanenlords sich gegenseitig bekämpften. Der heilige Kristall unter unserer Festung war das einzige, was uns davor bewahrt hat, gegrillt zu werden.
Aber ich meine, ist das nicht Wahnsinn? Das ganze Hinterland wird von riesigen Feuerkolossen in Brand gesteckt und wir trainieren am letzten sicheren Ort den Umgang mit Musketen. Auch wenn die Waffen schnell weiterentwickelt und zielsicherer wurden – was waren wir denn für die Titanen, außer lästige Ameisen? Wie viel Schaden konnte eine Kugel am Körper eines Feuertitanen anrichten? Es trieb mich bald zum Wahnsinn. Jeden Abend wurde der Sonnenuntergang untermalt von den Feuern, die bei uns auf Erden loderten.
Und als sei das noch nicht genug gewesen, haben die Piraten das Elend auch noch als Chance gesehen, sich gegen die Inquisition aufzulehnen.
Ich habe die Inquisition auch nicht gemocht, ich hasste sie sogar. Sie hat mich gegen meinen Willen rekrutiert und von meiner liebsten Magdalena getrennt, die dann einen anderen geheiratet hat. Anfangs habe ich die Piraten also schon etwas beneidet und gewisse Sympathie für sie gehegt. Aber als sie dann das erste Mal mit Mara im Bunde mein Schiff angriffen und ich meine Freunde neben mir durch ihre Kugeln sterben sah, habe ich nur noch Verachtung empfunden und ihnen wo ich sie nur sah die Seele aus dem Leib geschossen. Spätestens da hatte die Inquisition mich endgültig für sich gewonnen.

Es regnete. Zehn Galgen waren in einer Reihe aufgestellt und die Verurteilten trugen die Stricke schon um ihre Hälse. Einige von ihnen konnten kaum älter als 13 Jahre sein. Es waren keine zivilen Zuschauer zur Stelle. Man hat es für besser gehalten, die Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit außen vor zu behalten. Der Richter verlas den Urteilsspruch.
„... Ihr seid in folgenden Punkten für schuldig befunden worden: Piraterie, Mord, Vergewaltigung, Kollaboration mit den Feinden der heiligen Inquisition, Brandschatzerei, Angriff auf Schiffe und Soldaten der heiligen Inquisition. Möge Innos sich Eurer Seelen gnädig erweisen.“ Eine Handbewegung und Trommelwirbel setzten ein, „Vollstreckt das Urteil.“
„Wir sterben für Slayne, du Hurensohn von einem Richterschwei-“
Die letzte Loyalitätsbekundung eines Jungen vor dem Stimmbruch, dann ein hässliches lautes Knacken.

Als dann die Meldung eintraf, ein tapferer Conquistador hätte Mara und ihrer Krake den Garaus gemacht, haben wir neue Hoffnung geschöpft. Ich habe auch gar nicht lange darüber nachgegrübelt, ob die Meldung so stimmte, oder ob sie durch Propaganda der Inquisition ausgeschmückt worden war. Ich wollte es einfach glauben, weil mein Pessimismus mich fertig gemacht hat.
Wenig später kam aber erneut eine Meldung rein. Sie hatten den Aufenthaltsort des Titanenlords Ishmael ausfindig gemacht. Zehn Galeeren schickte die Inquisition zu seiner versteckten Insel. Sogar einige der geächteten Magier haben sie mitgenommen. Jetzt wo der Kampf unausweichlich bevorstand, befürchteten die Generäle und Inquisitoren wohl doch, einen Fehler in ihrer Verbannung gemacht zu haben. Ich war auf der Nueva Esperanza stationiert und eines Nachts weckte mich ein furchtbares Beben, das das Schiff beinahe auf die Seite gekippt hätte.

„SEEUNGEHEUER! ALLE MANN AN DECK! MUSKETIERE UND HARPUNIERE AUF EURE POSTEN!“
Ein erneutes Beben, diesmal weniger stark. Ein Horn wurde geblasen, um die anderen Schiffe zu kontaktieren, die sonst vermutlich nichts davon mitbekommen hätten und einfach weitergefahren wären. Ein Schiff erwiderte den Ruf, dann ein zweites, ein drittes... Sie machten Kehrt. Fangarme klatschten an Bord und erschlugen die ersten Männer. Sie klammerten sich an Masten wie Menschen fest und versuchten, das Schiff einfach auseinander zu reißen. Schüsse ertönten, sowohl von Musketen, als auch von den Bordkanonen. Gefährliche Manöver, da man auch sich selbst hätte treffen können, aber die Kanoniere galten als die besten der Inquisition. Mit Säbeln wurde eingehackt auf alles, was grün und glibberig aussah. Die anderen Schiffe umkreisten die Nueva Esperanza und schossen ihre Salven ab. Schließlich erschlafften die Glieder der Bestie und fielen ins blutgetränkte Meer.
„DIE LADERÄUME FÜLLEN SICH MIT WASSER“, brüllte einer der Offiziere, als eine Delegation von einem der Schwesternschiffe sich auf einem Boot näherte, „WIR MÜSSEN IN DEN HAFEN EINLAUFEN!“

Faranga. Ich hatte gar keine Ahnung gehabt, dass unsere Route uns an dieser Insel vorbeibringen sollte und ohne eines dieser letzten verzweifelten Überbleibsel von Maras Seeherrschaft hätte ich es wohl auch nie erfahren. Die neun anderen Galeeren sammelten sich bei einem Treffpunkt auf hoher See, während die erheblichen Schäden an der Nueva Esperanza von den fähigsten Handwerkern und Schiffsbauern der Insel in Doppelschichten innerhalb von drei Tagen ausgebessert wurden. Ich nutzte die Gelegenheit um das erste mal seit fünf Jahren wieder durch die Hafenstadt zu schlendern, die alten Orte aufzusuchen und alles zu begutachten, was sich seither verändert hatte.
Ich hatte Magdalena ehrlich gesagt schon fast vergessen, als sie mir über den Weg lief. Im schummerigen Licht der Bordelle unzähliger Häfen vergaßen Inquisitionssoldaten seinerzeit viele alte Freundschaften.
Magdalena erzählte mir, dass ihr Mann vor zwei Jahren ebenfalls eingezogen und bereits auf der Überfahrt in eines der Ausbildungslager der Inquisition von Maras Ungeheuern ins Meer gestürzt worden war. Wir redeten den ganzen Tag und in der Nacht kam, was kommen musste.

„Morgen muss ich wieder aufs Schiff“, sagte der junge Soldat gedankenversunken und traurig, „Und dann fahren wir zu Ishmael, dem Titanenlord.“
„Geh nicht“, erwiderte die Frau in seinen Armen augenblicklich.
„Aber ich muss doch.“
„Du wirst sterben, so wie alle anderen auch. Ich weiß es.“
„Mara konnte ebenfalls besiegt werden. Wenn wir Ishmael und Ursegor auch finden, dann-“
„Die Titanenlords sind keine Menschen, erzählt man sich. Vielleicht waren sie das einmal, aber wer weiß schon mit Sicherheit, was sie wirklich sind? Du wirst sie jedenfalls mit keiner Muskete und mit keinem Kampfstab der Welt einfach töten können.“
„Und wie wurde Mara dann vernichtet?“
Die Frau stieß einen verächtlichen Laut aus, „Du weißt doch, wie diese Geschichten immer enden. Der große Held kommt hinter das Geheimnis, findet uralte magische Gegenstände und setzt sie gegen das Böse ein.“
„Und was, wenn ich der große Held bin?“, fragte der Mann grinsend.
„Du bist ein Soldat. Kein Held.“ Sie war offensichtlich nicht zu Scherzen aufgelegt, sondern sah ihn nur mit traurigen Augen an, „Und eigentlich bist du nicht einmal ein Soldat. Du bist ein jugendlicher Rumtreiber gewesen, den sie eingefangen haben. Versteck dich in der Wildnis, du kennst dich dort besser aus, als jeder andere. Bitte.“

Dann hat sie mich geküsst und mein Widerstand begann zu bröckeln. Noch in derselben Nacht kletterte ich über die Stadtmauern und suchte eine der wenigen alten Ruinen auf, von denen ich wusste, dass sie nicht von Untoten heimgesucht worden waren. Zweimal die Woche kam Magdalena und brachte mir, was ich zum Leben brauchte und mir in der Wildnis nicht selbst beschaffen konnte. Lange gesucht hat man mich nicht, die Nueva Esperanza musste weiter. Ihre heilige Mission zu erfüllen. Als Magdalena mich das vierte Mal besuchte, erzählte sie mir, dass alle zehn Schiffe dieses Kampfverbandes in einen Hinterhalt Ursegors geraten und vernichtet worden waren. Überlebende hat man nur ziehen lassen, damit sie die schrecklichen Nachrichten überbringen und verbreiten konnten.
Mein trauriger Blick fiel auf meine Muskete und verharrte dort eine Weile. Es gibt ja Leute die sagen, in Zeiten der Not oder des Krieges würden wir Menschen die größten Errungenschaften und Neuerungen hervorbringen und schließlich gestärkt aus der ganzen Scheiße hervorgehen. Mit den Musketen können wir uns nur gegenseitig erschießen. Einem Ursegor, Ishmael oder einer Mara können sie jedoch nichts anhaben.