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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Post [Story]Schnapsexperimente

    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Herwig
    Person B: Wambo
    Person C: Barry
    Person D: Attila

    Grund A: Der Tod von Herwigs Vater

    Gegenstand A: Schnaps
    Gegenstand B: Paladinrune "Böses Vernichten"

    Ort A: Xerobars Laden




    Herwig schluckte, sodass sein großer Kehlkopf sich unansehnlich bewegte. Herwig hatte sich extra die sieben Haare geschnitten, die ihm in einem Büschel auf eben diesem Kehlkopf wuchsen. Er hoffte, so einen gepflegteren Eindruck zu machen. Die roten Schnitte in seinem Gesicht bezeugten, dass er sich bei der Rasur immer noch so jämmerlich anstellte wie beim letzten Mal, als er diesen Ort aufgesucht hatte.
    Über ihm wölbten sich die schweren Mauersteine in allen erdenklichen Rot- und Rosttönen. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er meinte, dass sie hier schwärzer waren als überall sonst in der Stadt. Das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen ließ genügend Platz für dick hervor quellendes Moos, das ein Mal im Jahr von einem Stadtgärtner gerupft wurde.
    Es hatte schon den ganzen Tag vor sich hin getröpfelt, doch erst jetzt begann es richtig zu regnen. Das Wasser lief die Steine hinunter, benetzte das Moos und erreichte selbst die Steine, die dank der großen Unterführung eigentlich im Trockenen lagen. Herwig wusste nicht, worauf er wartete, während er zwei Meter vor der Holztür mit den stählernen Beschlägen stand. Es war die einzige Tür, die direkt an der Unterführung lag.
    „Wie ein armer Bettler haust er unter einer Brücke – das ist doch ein Zeichen!“, hallte ihm die Stimme seiner Mutter durch den Kopf.
    Er wäre beinahe zusammen gezuckt, als ein heller Knall durch das Plätschern des Regens donnerte wie ein Paukenschlag im tiefsten Wald. Doch es war nur der Schmiedehammer Harads, das wusste Herwig. In den ersten Wochen seiner Lehre hatte er den Schmied für sein Handwerk regelrecht verflucht. Er hatte sich bei dem ständigen Lärm nicht konzentrieren können und nichts von dem behalten, was ihm sein Lehrmeister erzählt hatte. Doch irgendwann hatte er sich daran gewöhnt und war besser geworden, bis selbst sein Lehrmeister halbwegs mit ihm zufrieden gewesen war.
    „Hauptsache der Jung tut was, was ihm Spaß macht!“, dröhnte die Stimme seines Vaters durch seinen Kopf. Sie klang wie üblich so laut und überschwänglich als hätte er mindestens zwei Met getrunken, doch Herwig wusste es ja besser. Sein Vater hatte nie einen Tropfen Alkohol getrunken.
    Herwig schluckte noch einmal. Worauf wartete er? Er strich sich über sein früh licht werdendes Haar und kratzte sich dann verlegen im Nacken. Adanos sei Dank waren die Straßen wie leer gefegt. Nicht einmal Harad konnte ihn von seinem Amboss aus sehen. Hätte er es gekonnt, hätte er ihn scheel beäugt, das konnte Herwig sich denken.
    Irgendwann – ganz plötzlich hatte er sich doch noch bewegt – klopfte er an die Tür. Nervös schüttelte er seine Arme aus. Vielleicht half das, lockerer zu werden. Eine Dame mit Regenschirm, die sich in den Arm ihres Mannes eingehakt hatte, warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Herwig lächelte verschämt zurück und sah dann zu Boden.
    „Sterbenskrank?“, schnarrte eine Stimme durch das dünne Holz der Tür. Sie hatte sich kein bisschen verändert.
    „Nein“, antwortete er ein wenig zittrig vor Aufregung. „Ich…“
    „Dann scher dich fort und komm morgen wieder. Ich hab zu tun!“
    Herwig war enttäuscht. Sein ehemaliger Lehrmeister hatte seine Stimme nicht wieder erkannt.
    „Der hat dich doch längst vergessen! Wie lange warst du schon nicht mehr bei ihm? Vier oder fünf Jahre? An sowas hättest du früher denken müssen!“, keifte seine Mutter in seinem Kopf. Genau diese Worte hatte sie am Morgen verwendet, als sie ihr seinen Beschluss mitgeteilt hatte.
    Doch er konnte sich genau vorstellen, was sein Vater dazu gesagt hätte. Laut gelacht und dann mit eisernem Ernst in der Stimme hätte er verkündet: „So einen Kerl wie meinen einzigen Sohn vergisst man nicht Elise, das glaub mir man!“ Und er stimmte seinem Vater ganz zu. Wenn Constantino ihn vergessen hatte, nach dem was passiert war…
    Herwig kam der Gedanke, dass es nach so einer langen Zeit vermutlich zu viel verlangt war, seine Stimme an nur zwei kurzen Worten wieder zu erkennen. Er sammelte noch einmal all seinen wenigen Mut und rief: „Kann ich reinkommen? Ich bin’s, Meister Constantino. Herwig.“
    Einen Moment lang geschah nichts. Harads Schmiederhammer schlug ein, zwei, drei Mal auf den Amboss. Dann wurde die Messingklinke der Tür heruntergedrückt und ein kleiner Spalt öffnete sich zwischen Rahmen und Tür.
    Das linke Auge seines ehemaligen Lehrmeisters kam zum Vorschein. Herwig musste ein Schaudern unterdrücken. Das Auge war noch blutunterlaufener, der Tränensack noch länger, die Haut noch bleicher und die Leberflecken auf der kahlen Kopfhaut noch dicker geworden. „Du?“ Dasjenige von Constantinos Augen, das er sehen konnte, verengte sich. „Was willst denn du hier? Hast du doch noch ein schlechtes Gewissen bekommen? Oder willst du mich doch noch dafür vergiften, dass ich dich rausgeschmissen habe?“
    „Ich möchte nur reden“, antwortete Herwig langsam. Obwohl es nicht ganz stimmte.
    Das Auge hinter dem Türspalt verengte sich noch mehr. Die teigige Wange darunter begann zu zittern. Dann zischte es bedrohlich und der kleine Teil des Gesichts verschwand von dem Spalt. Herwig blieb unschlüssig vor der geöffneten Tür stehen, während drinnen das Zischen verklang und Gläserklappern anhob. Irgendetwas brummelte der alte Alchemist auch vor sich her. Es klang nicht gerade einladend.
    Doch ein eisiger Wind zog durch die Unterführung, ließ Herwig frösteln und versetzte ihn zugleich in Angst, die Tür könne wieder zu fallen. Rasch machte er einen Schritt nach vorn und schob die Tür langsam und leise weiter auf. Er schlüpfte hindurch und schloss sie schnell wieder hinter sich, bevor der Alchemist den Luftzug spürte. Er stand mit dem Rücken zu ihm.
    Die Alchemistenstube hatte sich in den letzten Jahren stark verändert. Der Tisch, der nun an der rückwärtigen Wand stand, war doppelt so groß wie zu seinen Lehrjahren und trotzdem noch überfüllter als der damalige. Zusätzliche Regale an den Wänden hatten nichts daran geändert, das Pflanzen und Pulver immer noch in kleinen Gläsern und Döschen vor und auf den vergilbten Folianten Platz finden mussten, zum Teil atemberaubend gestapelt oder gleich unverpackt hingeworfen. Das in die Ecke gequetschte Bett hatte noch zahlreiche Löcher und Flecken dazu bekommen und vermutlich war selbst das Stroh in dem Kissen und in der Decke noch dasselbe wie vor vier oder fünf Jahren. Ein purpurfarbener Rauch hing unter der Decke.
    Constantino griff immer noch hektisch nach diversen Fläschchen, Reagenzgläsern und Erlenmeyerkolben, nahm sie vom Dreifuß über dem Bunsenbrenner oder stellte sie darauf, kippte ihre Inhalte zusammen oder teilte sie auf andere Gefäße auf. Dabei war das unablässige Brummeln aus seiner Kehle keineswegs leiser geworden. „Drei Äquivalente Königswasser mit fünf Äquivalenten Feuernesselsud, zehn verteufelte Prisen Waranklauenpulver, wo ist das verfluchte Moleratfett? Ah, da ist der Mist ja. Wolframgift und Blutfliegencarbonat, Hydroxidbergkristall und fluide Sumpfgasdrohneninnereien, Aquamarinschmelze, verfilztes Dämonenhaar, synthetische Drachenherzfaser, sechsunddreißig Tage getrockneter Blauflieder…“ Er hielt inne und begann mit seiner langen, krummen Nase zu schnüffeln. „Vielleicht ist das Mythriltoxin gerade noch so gerettet“, murmelte er argwöhnisch.
    Dann wandte er sich um und starrte Herwig böse an. „Alles deine Schuld! Was fällt dir ein nach so langer Zeit wieder hier aufzutauchen, hä? Du kannst froh sein, dass das Reagenz hier nicht für dich bestimmt ist sondern andere Verwendung finden wird!“ Sein heiseres Knurren endete in einem lang anhaltenden Husten.
    Herwig schluckte. Die Paranoia war noch schlimmer geworden, die Unordnung sowieso. Verwahrlosung mochte er sie allmählich nennen. Und um die Gesundheit seines Lehrmeisters schien es auch nicht gut zu stehen.
    „Hattest du seither schon mal wieder einen Lehrling?“, wagte er zu fragen. „Oder einen Gehilfen?“ Denn so etwas schien er dringend zu benötigen.
    „Der ist abgehauen!“, schrie Constantino fanatisch, sodass Herwig zusammen zuckte und rückwärts gegen die Tür prallte. „Halunke, nichtsnutziger, Tagedieb und Rumtreiber! Hat den ollen Blecheimern ihren Seelenverkäufer unter ihren veredelten Hintern weggeklaut, um auf hoher See unterzugehen! Dummer Lausebengel, hat nie gehört und war tagelang nicht da. Cholera soll er haben, und Tripper obendrein!“ Constantino tastete an der Tischkante entlang, bis er seinen Gehstock zu fassen bekam. Er riss ihn mit beängstigender Kraft an sich, stützte sich dann aber schnaufend auf ihm ab. „Und du, sein noch nichtsnutziger, destruktiver, potenziell lebensgefährlicher Vorreiter musst ausgerechnet heute wieder deine hässliche Fratze bei mir reintragen. Scher dich weg, dass die Ratten dich mit der Pest belohnen für das, was du mir angetan hast! Hurensohn!“
    „Meine Schwestern sind alle vom gleichen Vater!“, verteidigte Herwig sich, nicht ohne rot zu werden. „Nämlich von meinem“, fügte er vorsichtshalber noch hinzu.
    „Pah, der war doch schon vor über zehn Jahren bei mir und hat mich angebettelt, ihm was gegen seine Impotenz zu geben.“ Constantino lachte kurz auf. „Als ob ich ein Gott wäre.“
    Herwig schluckte. Ihm war schlecht geworden, obwohl der Alchemist bloß hartnäckig versuchte ihn zu einem erneuten Wutanfall zu bringen. Vermutlich hätte er nur zu gern die Gelegenheit, ihn in Notwehr mit einer hochpotenten Säure umzubringen.
    „Ich brauche Gold“, würgte Herwig hervor und war sich zugleich nicht mehr sicher, ob er sich nicht doch noch umentscheiden sollte. Vielleicht hatte seine Mutter ja recht gehabt.
    „Und dann kommst du zu mir? Du kennst mich. Du weißt, dass ich alle Menschen und insbesondere dich noch mehr hasse als mein Rheuma!“ Ein ekelhaft schleimiger Hustenanfall folgte auf diese Beschimpfung.
    „Mein Vater ist vor kurzem verstorben. Mama sagt… Ich will helfen, meine Schwestern zu ernähren.“
    „Ach, das ist also der Grund“, schaffte er es, sein immer schlimmer werdendes Husten für eine Sekunde zu unterbrechen. Er würgte und spuckte in einen Eimer, der allem Anschein nach genau zu diesem Zweck mitten im Raum stand. Herwig erhaschte mit einem Blick den schleimig grünen Brei in ihm. „Ich geb dir kein Gold. Du bist mein Sargnagel!“
    „Ich will aber bei dir als Gehilfe anfangen. Du brauchst einen!“, versuchte er das abflauende Husten zu übertönen.
    „Geh zu einem anderen Alchemisten und treib den ins Grab. Dann hab ich weniger Konkurrenz!“, konterte der Alchemist mit einem hinterhältigen Grinsen.
    „Sonst gibt es keinen, zu dem ich gehen könnte“, sprach Herwig halblaut aus, was sein Lehrmeister schon lange wusste. „Salandril nimmt niemandem ohne fertige Ausbildung und Ignaz niemanden.“
    „Und ich nehme keine Schwuchteln.“ Das gehässige Lächeln entblößte die wenigen, schwarzfleckigen Zähne, die der Alchemist noch vorweisen konnte. Dann musste er wieder husten.
    „Bist du krank?“, fragte Herwig ein wenig hilflos. Es passte gar nicht zu dem alten Knochen, Schwäche zu zeigen.
    Ein bestimmtes Pochen an der Holztür. Constantinos Keuchen verstummte sofort. Die Tränen waren dem Alchemisten vor Anstrengung in die Augen getreten, doch er musste nur einmal blinzeln, um seine blutunterlaufenen Augen wieder so trocken präsentieren zu können, wie sein Herz vermutlich schon seit Jahren war.
    „Sterbenskrank?“, krähte der Alchemist und lauschte mit auf den Türknauf gerichteten Pupillen.
    Als Antwort flog die Tür auf, sodass sie laut gegen das Regal krachte. Glasbehälter und Körbchen fielen zu Boden, leerten ihren kläglichen Inhalt aus und zerbrachen. Ein schwerer Wälzer, der auf der oberen Kante vermutlich schon seit Jahrzehnten geruht hatte, klatschte zu Boden und stieß eine Staubwolke aus. Herwig, der vor Schreck zur Seite gesprungen war, versuchte möglichst leise zu husten, als ihm der Staub in der Kehle brannte. Durch die sich legende Wolke trat ein bewaffneter Milizsoldat in vom Regen nasser, schwarzer Uniform in die Mitte des Raumes. Dabei trat er gegen den Eimer und beförderte ihn in eine der hinteren Ecken unter dem Tisch. Herwig unterdrückte einen Würgreiz, als er den Schleim gegen die Wand spritzen hörte. Sein Gaumen war in den Jahren seiner Abstinenz eindeutig empfindlicher geworden.
    „Was wollen Sie in meinem Haus?“, giftete Constantino den Mann an. Herwig rutschte das Herz in die Hose. Wenn der alte Knochen mit diesem Milizionär so sprach wie er es mit seinem ehemaligen Lehrjungen getan hatte, war es aus mit ihm.
    „Ich bin hier, Ihnen, werter Herr Constantino…“, die Lippen des Soldaten kräuselten sich vor Schadenfreude, „diese Räumungsklage auszuhändigen.“ Er hatte mit behandschuhter Hand eine kleine, mit rotem Wachs versiegelte Pergamentrolle hervorgezogen.
    Constantinos Blick wurde plötzlich noch viel böser als Herwig ihn je gesehen hatte. Wie ein Wolf, der bisher nur aus Spaß gebissen hatte, und nun töten wollte. „Wer sind Sie?“, betonte er diese kurze Frage so bedrohlich wie es nur ging.
    „Man nennt mich Wambo“, antwortete der Soldat herablassend.
    „Das ist mein Haus. Niemand kann mich hier rauswerfen, Wambo“, erklärte Constantino im Tonfall absoluter Gewissheit. Herwig betete, dass er Recht hatte. Wenn Constantino sein Labor verlor, war seine letzte Hoffnung auf eine Anstellung zunichte.
    „Der Stadtrat hat beschlossen das Stadtbild zu verbessern“, erklärte Wambo nun genüsslich. „Dazu gehört auch, die Häuser an den Hauptstraßen frei zu machen für attraktive, lukrative Geschäfte. Dieser Beschluss ist endgültig.“
    „Das können selbst die nicht machen!“, blieb Constantino hart. „Fällt denen nichts Besseres ein als kaum dass die Paladine abmarschiert sind und sie endlich wieder das Sagen haben, die angesehenen Bürger zu vergraulen?“ Er röchelte kurz, fing sich aber schnell wieder.
    Das fiese Lächeln auf dem grobschlächtigen Gesicht Wambos wurde nur noch breiter. „Wer ein angesehener Bürger ist, entscheidet kein durchgeknallter Alchemist, sondern der Stadtrat.“
    Herwig rutschte das Herz in die Hose.
    Geändert von MiMo (28.04.2014 um 17:14 Uhr)

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    Constantinos Wangen zitterten vor unterdrückter Wut. Als wären auch sie Teil seines aufgewühlten Inneren, begannen drei der Gebräue auf dem Alchemietisch hinter ihm plötzlich kräftig zu blubbern und Dampf auszustoßen. Grüne, purpurne und schwarze Schwaden stiegen hinter dem Alchemisten auf und ballten sich unter der Decke zu einer beunruhigend undurchsichtigen Wolke. Constantino jedoch blieb wie erstarrt, fixierte immer noch finster den Überbringer der Hiobsbotschaft, dessen überlegenes Lächeln angesichts der aufbrausenden Chemikalien jedoch langsam versiegte.
    Herwig stand immer noch mit dem Rücken zu einem der Regale. Fieberhaft zermarterte er sich das Hirn, was da auf dem Alchemietisch abging und ob es nicht besser war, die Flucht zu ergreifen. Was hatte Constantino eben noch gesagt? Vielleicht ist das Mythriltoxin gerade noch so gerettet. Von einem solchen Gift hatte Herwig noch nie etwas gehört. Vermutlich forschte sein alter Lehrmeister mal wieder in Winkelzügen der Alchemie, die vielleicht nie zuvor jemand ergründet hatte.
    „Ich werde mein Labor auf gar keinen Fall räumen. Richte das deinen fetten Auftraggebern aus, du dahergelaufener Straßenköter!“, grollte Constantino. Ein Kessel begann durchdringend zu pfeifen. Wambo wich nun tatsächlich einen Schritt zurück.
    „Du drohst mir, Greis?“, schaffte er es dennoch verächtlich zu klingen. „Wenn du bis zum Monatsletzten nicht geräumt hast, komme ich vorbei und prügel dich eigenhändig aus deiner erbärmlichen Wohnstatt, freu dich schon mal drauf!“ Und mit einem ekelerregenden Geräusch sammelte er Spucke im Mund und rotzte aus einer wahrhaft beachtlichen Entfernung auf das Bett des Alchemisten.
    Noch ein Fleck, schoss es Herwig unwillkürlich durch den Kopf. Doch Constantino scherte es gar nicht. Der Erlenmeyerkolben, aus dem die purpurnen Schwaden austraten, platzte. Scherben prasselten über den Boden und Tropfen der scharlachroten Flüssigkeit spritzten durch den Raum, klatschten gegen Constantinos Rücken und auch über Herwigs linken Arm. Entsetzt hielt er sich seine benetzte Hand vor Augen, während er vor Schmerz keuchte. Doch die Substanz an sich schien nicht schädlich. Zumindest meinte er zu fühlen, dass nichts weiter als die hohe Temperatur des Gebräus ihm Schmerzen bereitete. Ängstlich sah er zu seinem Lehrmeister. „Was ist das für ein Zeug, Constantino? Du musst das beenden, sofort!“
    Wambo, der nur wenige Schritte vor dem Türrahmen stand und deshalb kaum drei Spritzer abbekommen hatte, die von seiner dicken Rüstung aufgehalten worden waren, rümpfte die Nase. „Ich warne dich noch einmal, Alchemist. Bis zum Monatsletzten bist du hier raus. Basta!“ Und mit einem letzten gehässigen Blick wandte er sich um.
    Constantino fletschte die Zähne. Das Pfeifen des Kessels wurde unerträglich schrill. Eine Naht des Metallkanisters platzte auf, ein blauer Dampfstrahl schoss aus dem entstandenen Loch hervor. Herwig beobachtete mit herunterfallendem Unterkiefer wie der Kessel abhob, scheppernd gegen die Decke krachte, an dieser entlang schrabbte, und dann, als der Strahl langsam versiegte, wieder gen Boden segelte. Für einen kurzen Moment war er sich sicher, dass es Wambo am Kopf treffen würde, doch der Soldat hatte sich nicht wieder umgewandt und tat gerade noch rechtezeitig einen Schritt aus der Tür heraus. Scheppernd schlug der nun leere Kessel dort auf, wo der unerbetene Besucher Sekunden zuvor noch gestanden hatte.
    „Glaub ja nicht, dass ich Angst vor dir habe, du aufgeblasener Ork! Wenn du meinst, mich aus meinen eigenen vier Wänden rausschmeißen zu können, dann hast du dich gewaltig geschnitten. Leg dich nicht mit mir an oder ich jag die ganze Stadt in die Luft!“, schrie Constantino aus Leibeskräften. Der schwarze Rauch, der sich unter der Decke gesammelt hatte, entwich durch die Tür nach draußen, wie ein Fluch, der sich Wambo doch noch schnappen wollte. Als hätten ihm die letzten Schreie die letzte Kraft geraubt, würgte und hustete Constantino schlimmer als je zuvor. Er krümmte und wand sich unter den heftigen Krämpfen.
    „Was ist mit dir?“ Herwig stürzte zu seinem ehemaligen Lehrmeister. „Constantino! Hörst du mich?“
    „Weg von mir, Sargnagel!“, keifte er, schlug mit seinem Gehstock nach seinem ungeliebten Lehrling und wandte sich dann dem Alchemietisch zu. Herwig hatte in über zwei Jahren Ausbildung genug gelernt, um abschätzen zu können, dass dort das reinste Fiasko herrschte. Becher schäumten über, Rauch quoll an allen möglichen und unmöglichen Stellen hervor, aus einem Reagenzglas schlugen sogar weiße Flammen empor. Herwig überlegte sogar kurz den Alchemisten am Arm zu packen und auf die Straße zu zerren, bevor er mitsamt seinem Labor in die Luft flog.
    Doch als er sah, wie sein alter Meister mit geübten Bewegungen zu werkeln begann, mit einer Präzision und Sicherheit, wie Herwig sie bisher noch bei niemand anderem gesehen hatte, beruhigte er sich langsam wieder. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da war alles Brodeln und Blubbern verstummt und jeder Rauch und jeder Dampf versiegt. Das weiße Feuer erloschen. Eine ungewohnte Stille legte sich über den bis eben noch mit so tosender Kulisse unterlegten Raum.
    Es folgte ein Moment, in dem weder Herwig noch Constantino etwas sagte oder tat. Der schwarze Qualm hing wie ein ekliger Klumpen regungslos unter der Decke.
    „Verpiss dich“, schnauzte Constantino mit einem Mal, ohne sich Herwig zuzuwenden. „Du bringst nichts als Unglück und Verderben! Das hast du gerade mal wieder…“ Er konnte einen erneuten Hustenanfall nicht zurückhalten. „… unter Beweis gestellt. Das Mythriltoxin ist hinüber. Drei Wochen Arbeit und eine Unmenge an Zutaten vergeudet. Beliar ist in dich gefahren. War er damals schon.“
    Herwig konnte sich nicht mal gegen die ungerechtfertigten Vorwürfe wehren, so mitgenommen war er nach dieser unglaublichen Szene, die er gerade miterlebt hatte. Stattdessen ließ er einfach Kopf und Schultern hängen und schlurfte aus der Tür. Über ihm wieder die roten Mauersteine. Die nun noch schwärzer wirkten als zuvor. Der Regen hatte nachgelassen.

    „Erzählst du mir eine Geschichte, Mama?“ Die vierjährige Evelyn stand vor ihrer Mutter und machte große Kulleraugen. Die angesprochene Frau war hochgewachsen und dürr, mit weit hervorstehenden Wangenknochen und streng nach hinten geknoteten Haaren. Sie trug ein schlichtes, schwarzes Kleid, das schon sehr verschlissen wirkte. Sie saß in dem einzigen Sessel vor dem leeren Kamin in dem Wohnraum ihrer ärmlichen Hütte am Rande des Hafenviertels. In einer Ecke spielte ein anderes Kind mit Steinen, die es auf der Straße gefunden hatte.
    „Nein, Evelyn. Ich will meine Ruhe. Spiel mit deinen Schwestern“, antwortete Elise frostig.
    Das Kind zog eine Schnute. „Aber Liz ist irgendwo in der Stadt und Valencias Steine finde ich do...“
    „Ich habe Nein gesagt!“, schnitt sie ihrer Tochter das Wort ab. Ehe eine von beiden noch mehr sagen konnte, klopfte es heftig an der Tür. Nicht nur zweimal, sondern gleich fünfmal. Elise verdrehte die Augen. Das konnte doch nur dieser unmögliche Junge sein. Sie erhob sich ächzend aus dem mottenzerfressenen Sessel, schob Evelyn zur Seite ohne sie eines Blickes zu würdigen und trat auf die Tür zu. Tief durchatmend öffnete sie sie.
    „Einen gesegneten Abend wünsche ich, ist Herwig zuhause?“, plapperte der untersetzte junge Mann vor der Tür los. „Ich muss ihm nämlich etwas furchtbar Wichtiges erzählen! Und etwas zurückgeben muss ich ihm! Das ist wirklich ganz wichtig, also seien Sie so nett und lassen mich zu ihm, ja? Ich möchte auch gar nichts essen und störe nicht lange, ich will nur…“
    „Er ist nicht da“, beendete Elise den Redeschwall roh.
    „Aber ich muss ihm wirklich ganz dringend…“
    „Barry!“, keifte Elise und ihre Augen traten hervor. „Ich sagte doch: ER IST NICHT DA! Verflucht noch mal, er ist nicht da! Er – ist – nicht – da! Also geh! Geh einfach! Scher dich weg, zisch ab, such ihn, wo auch immer du ihn zu finden glaubst, aber nicht hier!“ Und mit diesen Worten schlug sie ihm die Nase vor der Tür zu. Barry, der während des ganzen Gesprächs freundlich gelächelt hatte, wenn auch aufgesetzt, ließ sein rundes Gesicht nun seine wahren Gefühle zeigen. Herwigs Mutter war schon immer schwierig gewesen. Daran hatte der Tod ihres Mannes nichts geändert.

    Als es zu dämmern begann, hatte Barry seinen Freund immer noch nicht gefunden. Betrübt dachte er daran, dass er seinen ganzen freien Nachmittag damit verbracht hatte, ihn zu suchen, es ihm aber nicht gelungen war. Er trat gerade den Rückweg an, den breiten, aus festgetretener Erde bestehenden Hauptweg des Hafenviertels entlang, als das Schicksal ihm doch noch unter die Arme griff. In der schmalen Gasse zwischen zwei Hütten sah er plötzlich einen mit schütterem Haar bedeckten Hinterkopf, dessen dazugehöriger Körper zusammengesunken auf einem Stapel ramponierter Bretter saß. Barry sah sofort, dass es sich um seinen Freund handelte, und auch, dass es ihm nicht gut ging.
    Rasch lief er mit seinen kurzen Beinen in die Gasse. „Hey, Herwig, was machst du denn hier?“, begrüßte er ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    Herwig sah mit trübseligem Gesicht zu Barry auf, der im Stehen gerade größer war als Herwig im Sitzen auf dem morschen Bretterstapel. „Hey Barry“, antwortete er tonlos.
    „Ich hab dich überall gesucht!“, platzte er mit einem breiten Lächeln heraus. Es galt ganz offensichtlich, seinen Kumpel aus Kindertagen ein wenig aufzuheitern. „Weißt du, was ich vorhin vom guten alten Zuris gehört hab, Herwig? Du kommst nie drauf!“
    „Was denn?“, erkundigte Herwig sich mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse. Es graute ihm davor nachhause zu kommen und sich wieder von seiner verwitweten Mutter anhören zu müssen, dass er sich eine Arbeit suchen solle. Dabei machte ihm doch nichts außer Alchemie Spaß.
    Barry strahlte jetzt noch breiter über sein teigiges Gesicht. Offensichtlich hatte Herwig wirklich noch nichts davon gehört! Er machte noch eine die Spannung bis ins Unermessliche steigernde Pause und ließ dann die Bombe platzen – mit einem Gesicht als seien Weihnachten und alle Geburtstage der Welt auf den heutigen Tag verlegt worden: „Der olle Constantino soll aus seiner Alchemistenstube geschmissen werden!“ Herwig zeigte keine Regung. Barrys Grinsen wurde ein wenig schief. „Ey, hast du mir zugehört? Der alte Knochen wird an die Luft gesetzt! Dein alter Sklaventreiber muss sich ein neues Loch suchen! Und ganz ehrlich – außerhalb des Hafenviertels kriegt der nichts. Geschieht ihm Recht, oder? Nach dem, was er dir…“
    „Barry“, unterbrach Herwig seinen Freund entnervt. „Ich weiß es schon. Ich war heute bei ihm, als er die Räumungsanordnung bekommen hat.“
    Auf Barrys Gesicht war plötzlich blankes Unverständnis zu erkennen. „Was wolltest du denn bei dem?“
    „Ihn um einen Job bitten. Meine Familie braucht dringend mehr Gold, Barry. Aber wenn Constantino aus seiner Stube geschmissen wird, nimmt er natürlich erst recht keinen neuen Gehilfen an. Er hat mich ziemlich vehement rausgeschmissen, nachdem der Bote wieder weg war.“
    Barry war im ersten Moment vollkommen überfordert mit diesen Neuigkeiten, doch dann siegte seine Neugierde. „Es war dieser Wambo, oder? Dieser unfreundliche Soldat, der immer im Oberen Viertel Wache steht, meine ich. Den sieht man doch nur selten hier unten. Auf dem Weg zur Laterne und wieder zurück eben, hehe.“ Sein erneuter Versuch, Herwig aufzumuntern, misslang ebenso wie der erste. „Stimmt es, dass Constantino Wambo in die Luft jagen wollte?“
    „Quatsch, wer hat dir denn so’n Stuss erzählt?“, verteidigte Herwig seinen alten Meister brüsk. Als nächstes kam ihm der Gedanke, dass er es wohl tatsächlich gewollt, es nur aus Vernunft nicht versucht hatte.
    „Naja, ein paar Bürger scheinen das gesehen zu haben. Ne Menge Rauch und so“, erklärte Barry kleinlaut. Dann kam ihm noch eine Idee, wie er Herwig wieder aufheitern konnte. Kurz kramte er in seiner ausgeleierten Umhängetasche, dann zog er eine bauchige Flasche hochprozentigen Schnapses hervor. „Hier, für dich!“
    Herwig warf seinem Freund einen irritierten Blick zu. „Seh ich schon so verzweifelt aus? Ich halte nichts davon, Kummer mit noch mehr Kummer zu bekämpfen, Barry. Das weißt du doch. Mein Vater ist sogar ganz ohne Alkohol ausgekommen. Und ich wünschte, ich hätte, genau wie er, nie damit angefangen. Du weißt ja, was passiert ist.“
    „Aber diese Flasche steht dir zu!“, beteuerte Barry ernst. „Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr dran, aber du hast mir doch vor zwei Jahren eine Flasche geliehen, als ich mich mit der Tochter von diesem Bogner treffen und nicht mit leeren Händen aufkreuzen wollte! Dir habe ich es zu verdanken, dass ich die schönste Nacht meines Lebens hatte und jetzt hab ich endlich genug Gold zusammengekratzt, um sie dir zu ersetzen!“ Barry hatte wieder sein strahlendstes Lächeln aufgesetzt.
    „Das ist nett von dir, aber du kannst sie behalten. Ich will sie wirklich nicht“, entgegnete Herwig deprimiert.
    Barry sah ein, dass er seinen Freund nicht umstimmen konnte, und verstaute die Flasche missmutig wieder in seiner Tasche. Dann hievte er seinen rundlichen Körper auf die knarzend protestierenden Bretter neben Herwig und schlang einen seiner speckigen Arme um ihn. „Hör mal. Dass Constantino dich nicht wieder nimmt, mag dir wie ein Rückschlag erscheinen, aber ich denke, es ist besser so. Du hättest unter ihm doch nur gelitten. Überleg doch mal, wie es dir während deiner Lehrjahre bei ihm ergangen ist! Und dann erst das Ende vom Lied… Der alte Knochen hätte dir nur dein Leben zur Hölle gemacht. Wir suchen dir einen anderen Job! Es gibt doch sicher noch viele Alchemisten in der Stadt.“
    „Einen versnobten und einen Stümper, jepp“, informierte Herwig niedergeschlagen.
    Barry ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen. „Wir finden schon was für dich! Du könntest Zuris behilflich sein. Kisten schleppen, Ware auslegen! Der kann sich doch gar nicht um seine Auslage kümmern, während er die Kunden umgarnt und mit denen verhandelt. Du wärst der totale Gewinn für sein Geschäft! Was hältst du von der Idee, hm?“
    „Hm“, brummte Herwig.

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    „Komm, lass uns gehen, Herwig!“
    „Jetzt gleich?“, entfuhr es Herwig erschrocken. Er fühlte sich alles andere als auf ein Anstellungsgespräch vorbereitet. Eher mit der Gesamtsituation überfordert, wertlos und irgendetwas zwischen matschig und verkrampft. Das morsche Holz, auf dem er saß, knackte wehleidig. Instinktiv hatte Herwig seine Hände in es gekrallt. Erschrocken ließ er los. Niemand konnte wissen, ob dieses Holz wirklich weggeschmissen oder der einzige Besitz eines besonders armen Hafenviertelbewohners war.
    „Natürlich jetzt gleich!“, bekräftigte Barry entrüstet. „Du musst deiner Ma doch was Tolles zu berichten haben, wenn du heim kommst!“
    „Aber Barry! Ich kann doch jetzt nicht einfach so zu Zuris gehen und mit ihm reden!“, versuchte Herwig verzweifelt seinen Freund davon abzubringen, ihn zu zwingen, etwas zu tun, was er gar nicht tun wollte. „Auf so etwas muss ich mich vorbereiten. Nächste Woche oder so vielleicht.“
    „Papperlapapp! Du kommst jetzt mit!“ Und schon grapschte Barrys plumpe Hand nach der dürren Herwigs und zog an ihr. Widerwillig von seiner improvisierten Sitzgelegenheit gerissen, stolperte Herwig seinem Freund hinterher. Als ihm dann auch noch ein verbeulter und rostzerfressener Blecheimer in die Quere kam, verlor er endgültig das Gleichgewicht. Einen Laut des Schrecks auf den Lippen und mit den Armen rudernd packte er mit seiner freien Hand das erstbeste, was er zu packen bekam: Barrys Leinentasche. Barry, der nicht bemerkt hatte, mit welchen Problemen sein Freund kämpfte, ging einfach weiter, bis ein heftiger Ruck am Gurt seiner Tasche ihn nach hinten riss. Barry viel rücklings auf Herwig, der in den Staub der Gasse gedrückt wurde. Doch keiner von beiden hatte das unheilvolle Ratschen der Leinentasche überhört. Der Schnaps fiel heraus, wirbelte dumpf aufschlagend eine kleine Staubwolke auf und kullerte direkt vor Herwigs Nase.
    Und Herwig traf es wie ein Schlag. Dieses rote Muster hinter dem türkisen Schriftzug auf dem Etikett. Diese Flasche hatte er schon einmal gesehen. „Barry! Wo hast du die her?!“

    Ein paar Jahre zuvor. Herwigs vorletzter Tag in der Ausbildung bei Constantino…
    Herwig schluckte vernehmlich, als er die pechschwarzen Treppenstufen langsam hinab schritt. Constantino hatte ihn gewarnt, dass der Laden nichts für zart besaitete Gemüter war, wie er es ausgedrückt hatte. Herwig hingegen hatte viel mehr den Eindruck, dass dieser Laden von niemand anderem als den finstersten Nekromanten aufgesucht wurde. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, so einen Laden mitten in Khorinis zu finden. Es war kein Wunder, dass er sich unter der Erde befand, und dass der Eingang nur über eine kleine schmale Holzhütte, direkt an der inneren Stadtmauer, zu erreichen war, die aussah und stank, als wäre sie ein Abort der übelsten Sorte. Doch wer einen Schlüssel hatte und die Falltür in dieser Hütte öffnete, bekam keine Fäkaliengrube zu Gesicht, sondern eine mit Teer bestrichene Treppe. Jede Stufe war glitschig und der Gestank von Abwässern wich mit jedem Meter dem von beißenden Chemikalien.
    Endlos schienen sich diese Stufen vor Herwig in die Tiefe zu ziehen, wie die Speiseröhre eines Monsters. Das Monster grollte drohend, als der Wind von irgendwoher durch den Schacht zog. Herwig konnte nur vermuten, dass der Händler, den er hier aufsuchte, einen Abzug in seinen Geschäftsräumen besaß. Sonst wäre eine derartige Luftbewegung nämlich völlig unmöglich gewesen. Oder führte die Treppe irgendwann wieder nach oben, in einen von fensterlosen Häuserwänden begrenzten Innenhof mitten in der Unterstadt, in dem Xerobar sein absonderliches Sortiment nur für Eingeweihte zur Schau stellte, und trotzdem nicht im Schatten des Hafenviertels leben musste? In unregelmäßigen Abständen hingen Fackeln an den dürftig gestützten Wänden des Stollens, sodass die Stufen mal mehr, mal weniger in Schatten getaucht waren.
    Endlich erkannte Herwig wie sich eine Tür mit vergittertem Fenster am unteren Ende der Treppe in der Finsternis abzeichnete. Er musste um die zweihundert Stufen genommen haben, seit er das Tageslicht verlassen hatte. Er war von seinem Meister schon an einige zwielichtige Orte geschickt worden, um Zutaten zu besorgen, deren Legalität in Grauzonen fielen, doch noch nie hatte er sich gefühlt, als würde er in ein wohnhaft eingerichtetes Grab hinabsteigen.
    Er war nicht der mutigste, und das wusste er auch. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch war zähmbar gewesen, solange er wusste, dass dreißig Meter vor ihm niemand und der Weg hinter ihm frei war, er jeden Moment umdrehen und zurück unter den freien Himmel rennen konnte. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass der Eingang nur noch ein kleiner, schimmernder Punkt am Ende einer endlos langen, schwarzen Linie war. Diese Tür änderte alles. Er wusste nicht, was ihn dahinter erwartete. Nach allem, was er bisher von Xerobars Laden gesehen hatte, würde er sich nicht wundern, wenn er von einem halben Dutzend Dämonen gepackt und in kleinste Fetzen gerissen wurde, sobald er das erstaunlich helle Holz der Tür auch nur berührte. Zudem hatte er keine Garantie dafür, dass sie auch wieder aufging, sobald er sie hinter sich geschlossen hatte. Er hatte schon von Türen gehört, die man nur von einer Seite öffnen konnte. Viele Archäologen waren Zeitungsartikeln zufolge schon in den Ruinen des Östlichen Archipels aus diesem Grund verhungert.
    Doch Herwig war sich sicher, dass er sich nicht verirrt hatte. Und er vertraute seinem Meister Constantino. Noch nie hatte ihn etwas Schlimmeres als ein verschrobener Menschenhasser an den Orten erwartet, zu denen der alte Alchemist seinen Lehrling schickte. Und das war Constantino ja schließlich auch selbst. Er kratzte also seinen Mut zusammen und hob die Hand. Doch noch bevor er das Holz berührt hatte, schwang die Holztür auf, mit einem hässlichen Knarzen, das einen an Märchen über bucklige Hexen erinnerte.
    Ein Schauer lief Herwigs Rücken hinab. Das hatte er noch nie erlebt. Die zur Seite gewichene Tür offenbarte einen Raum, der noch finsterer war als der Abstieg. Der Raum war hochgradig unförmig, als hätte man einfach ein bisschen an einer Ecke gebuddelt, wenn der Platz mal wieder nicht gereicht hatte. Holzbalken steckten ohne System zwischen Decke und Boden und an den Wänden. Herwig schienen es viel zu wenige, um die kleine Höhle vertrauenswürdig zu Stützen. Der ganze unterirdische Raum war vollgestellt mit Tischen und Regalen, von denen man jedoch unter der Last, die sie zu tragen hatten, nicht viel erkennen konnte. Das hatte Xerobars Laden mit Constantinos Alchemistenstube gemein, doch wirkte er ganz anders. Das Holz war mit schwarzem Teer bestrichen. Keine Fackel erhellte den Raum, sondern lange, dürre Kerzen, die kleine blaue Flämmchen trugen. Die Farbe des geblichenen Wachses erinnerte Herwig an Knochen, und er wirkte so dünn, als würde er beim nächsten Windstoß einfach abbrechen. Das Sammelsurium, das überall auf- und umeinander herumlag bot alles Mögliche. Es waren nicht nur wie bei seinem Meister Bücher und ein paar Tierkörperteile und andere Zutaten wie Pflanzen und Kräuter, sondern auch Runensteine, Pergamentrollen, Würfel, Haken, Dolche, Flakons, Instrumente, deren Zweck Herwig nicht kannte, Stoffe… Der Geruch nach reizenden Chemikalien war hier unten übelerregend penetrant.
    „Waaas suchstdu?“, krächzte plötzlich eine geierartige Stimme durch die gespenstische Stille.
    Herwig zuckte zusammen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass der Haufen ausgeblichener, schwarzer Lumpen gar nicht nur ein Haufen von Stoff, sondern die Kleidung eines wahrhaft kleinen Mannes war. Das Gesicht des Mannes wurde von einer Brille verdeckt, die den Anschein erweckte aus den Böden zweier Einmachgläser zu bestehen. Von seinem aschfahlen, aber so weit Herwig erkennen konnte, makellos glatten Gesicht, war aufgrund des hohen, schalähnlichen Kragens und der Kappe im selben verblichenen Schwarzton nicht viel zu sehen. Fusseliges Haar quoll aus den kleinen Ohren und den Hautregionen direkt dahinter.
    „Was“, sagte der Mann und schien – der Bewegung seiner buschigen, schlohweißen Augenbrauen nach – die Augen zu verengen. „Suchst“, fuhr er knurrend fort. „Duuuu?“, beendete er die Wiederholung seiner Frage düster. Herwig kam der Gedanke, dass man ihn für seine merkwürdigen Sprechgewohnheiten auslachen könnte, doch nach Lachen war ihm überhaupt nicht zumute.
    Er konnte nachher nicht sagen, wie lange er gebraucht hatte, um sich aus seiner Schockstarre zu lösen und leise murmelnd zu antworten: „Ich… wurde von meinem Meister Constantino geschickt. Ich soll sie darum bitten, mir Drachenschnaps zu verkaufen.“ Constantino hatte genau diese Formulierung angeordnet. Er hatte Herwig eindringlich erklärt, dass Xerobar es nicht nötig hatte, ihm den einzigen Drachenschnaps in seinem Sortiment zu verkaufen, vermutlich weitaus zahlungskräftigere Abnehmer für ihn finden würde.
    Herwig hatte geglaubt, dass der kleine Mann, von dem er ausging, dass es Xerobar persönlich war, auch wenn dieser sich ihm dann nicht einmal vorgestellt hätte, seine verdeckte Stirn runzeln, ihn mustern und eine Weile schweigen würde. Doch noch hatte Herwig seinen Mund gar nicht geschlossen, da brach der kleine Mann in ein heiseres Gackern aus. Es wurde immer lauter, bis es glockenhell war. Wären die Wände aus nacktem Stein und nicht aus bloßer Erde und wurmzerfressenem Holz gewesen, wäre es hundertfach von den Wänden widergehallt.
    „Jetzt hör mir mal zu“, fing der nekromantisch wirkende Händler sich genauso plötzlich, wie ein Troll nach seiner Beute grapschte, nachdem er diese tumb beäugt hatte. „Drachenschnaps ist alles andere als nur der Name für einen gewöhnlichen Schnaps, das sollte dir klar sein. Nur alle fünfzig Jahre verirrt sich so ein kostbarer Tropfen mal auf diese Insel, ach, was sage ich, diese Inselgruppe! Über neunzig Prozent reines Ethanol, verdünnt mit reinstem, destillierten Drachenblut. Und die dritte Zutat, die verrate ich dir lieber gar nicht erst. Es würde dir den Magen nach außen kehren. Ich hab Besseres zu tun als meinen Laden zu wischen.“
    „Neu- Neunzig Prozent? Und… Drachenblut?“, entwich es Herwig wie die Luft einem unregelmäßig gedrückten Blasebalg. Es knisterte laut auf einem der wacklig dastehenden Bücherregale. „Das ist tödlich, oder?“
    Xerobar schlug sich eine winzige, klauenartige Hand vor seine Einmachgläserböden. Er hatte nur vier Finger. „Natürlich ist das tödlich, du dummer Junge! Deshalb verkaufe ich ihn dir ja auch nicht.“
    „Aber du musst!“, entfuhr es Herwig entsetzt. „Constantino vierteilt mich, wenn ich mit leeren Händen zurückkomme! Er braucht den Drachenschnaps dringend, weil bei seinem aktuellen Rezept irgendetwas nicht so läuft, wie er es sich vorgestellt hat!“
    „Vierteilen würde er dich bestimmt nicht, Junge“, beschwichtigte Xerobar ihn mit sanfter Stimme. Dann ließ er einen sehr spitzen Eckzahn hervorblitzen. „Das entspräche nicht seinem Stil. Er würde Wargsalpeter nehmen, so wie bei seinem letzten Lehrling. Oder Wanzenbachhus, wie bei seiner Frau. Vielleicht auch geröstetes Aschebestienfleisch.“ Xerobars Grinsen wurde so breit, dass Herwig nun auch den Eckzahn auf der anderen Seite erkennen konnte. „Ja, der dumme, alte Mann hat weder Kosten noch Mühen gescheut, um seinen vierjährigen Sohn zu Beliar zu schicken. Für die Forschung, selbstverständlich.“
    Xerobar wandte sich von Herwig ab und begann zwischen seinen Warenbergen herumzuwuseln. Herwig stand wie vom Donner gerührt da. Das Gerücht, dass Constantino seinen letzten Lehrling auf dem Gewissen hatte, verfolgte ihn schon seit dem Tag, an dem er bei ihm in die Lehre gegangen war. Doch dieser Xerobar schien dieses Gerücht nicht bloß für ein solches zu halten. Und nicht nur das: Herwig hatte nicht gewusst, dass Constantino einst auch Frau und Sohn besessen hatte. Herwig schluckte verängstigt. Für die Forschung, selbstverständlich. Das klang genau nach Constantino.
    „Da haben wir ja das Objekt deiner Begierde.“
    Herwig fuhr zusammen. Plötzlich stand Xerobar hinter ihm! Als Herwig sich rasch zu ihm umwandte, nicht ohne dabei einen Reagenzglasständer mit dem Ellenbogen zu streifen, der Innos sei Dank nicht umkippte, sah er, dass der Krämer nun eine längliche Schnapsflasche mit dunkelvioletter Flüssigkeit und farbenfrohem Etikett in der Hand hielt. Es war ein karmesinrotes Muster hinter dem türkisen Schriftzug, das erst auf den zweiten oder fünften Blick als Karikatur eines Drachen zu erkennen war.
    „Du willst sie mir doch ge-?“, wagte Herwig hoffnungsvoll mit staubtrockener Kehle zu fragen.
    „Nein“, antwortete Xerobar wiederum, ohne ihn ganz aussprechen zu lassen. „Zu deiner eigenen Sicherheit. Drei Mal darfst du raten, bei wem Bjorn den Wargsalpeter kaufen durfte.“ Xerobar brach wieder in dieses helle Gackern aus, verschwand dann wieder in seinem Durcheinander.
    „Hey, lass mir die Flasche da!“, rief Herwig ihm einfältig hinterher. „Wieso zeigst du sie mir, wenn du sie mir doch nicht verkaufen willst?“
    „Weil ich Spaß daran habe, dich zu ärgern, Junge!“, antwortete es ihm verschmitzt hinter irgendeiner Auftürmung.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    „Barry! Wo hast du die her?!“ Das Kinn in den harten Boden gedrückt und die Brust zugeschnürt vom Gewicht seines Freundes lag Herwig da und starrte auf das Etikett. Auf den türkisen Schriftzug, den er nie wieder vergessen würde, denn mit ihm hatte alles angefangen. Aufgeregt versuchte Herwig wieder auf die Beine zu kommen und seinen Freund von sich abzuwerfen, doch er war zu schwach oder Barry zu schwer oder beides. Unbeholfen kletterte Barry wieder auf seine eigenen Beine und hielt seinem unfreiwilligen Polster verlegen eine Hand hin. „Tut mir leid, irgendwie hast du mich gezogen.“
    „Schon gut“, wimmelte dieser das Thema schnell ab und ließ sich aufhelfen. Er hob die nun angestaubte Flasche auf, ehrfürchtig mit beiden Händen. „Barry, ich meins ernst: Wo hast du diese Flasche her?“
    „Wa-Warum willst du das denn unbedingt wissen, Herwig? Hab sie halt gekauft, wie soll ich auch sonst an Schnaps kommen.“ Barry lief rot an, während er dies sagte, doch Herwig fiel es gar nicht auf. Er hatte seinem Freund sogar nur mit einem halben Ohr zugehört. Fasziniert betrachtete er jeden Quadratzentimeter der Flasche. Es verging eine kurze Zeit, in der Barry flüchtig seine lädierte Tasche untersuchte und Herwig wie zur Salzsäule erstarrt dastand.
    „Ich weiß, dass du diese Flasche nicht gekauft haben kannst. Sie ist viel zu wertvoll, als dass du sie dir leisten könntest“, erklärte Herwig ruhig, ohne einen Vorwurf in der Stimme. Diese Flasche war ein Vermögen wert. Und er hielt sie in seinen Händen. Damit eröffneten sich ihm ganz neue Möglichkeiten. Wenn er sie Constantino brachte, zwar viel zu spät, aber immerhin besser als nie, konnte er im Gegenzug verlangen, wieder bei ihm anfangen zu dürfen. Und Constantino konnte damit vielleicht sogar das Image seines Ladens derart aufpolieren, dass der Stadtrat ihn doch nicht mehr als Schandfleck der Händlergasse sah. Das war viel besser als bei dem ollen Zuris Waren zu schleppen!
    „Natürlich hab ich sie gekauft!“, behauptete Barry wieder. „Du bist mir halt echt viel wert, da hab ich mal ein bisschen tiefer in die Tasche gelangt. Hab ja auch lange genug dafür gespart, nicht?“ Doch er musste sich unwillkürlich auf die Unterlippe beißen, als Herwig ihm einen strafenden Blick zuwarf.
    „Ich bin dir nicht böse, Barry, egal wie du an die Flasche heran gekommen bist“, versicherte Herwig ihm aufrichtig. „Doch ich weiß genau, dass du sie nicht gekauft haben kannst.“ Xerobars Worte hatten sich in sein Gehirn gebrannt, wie kaum andere es je getan hatten. Sie waren einfach zu unglaublich gewesen, zu beängstigend und zu gut gewählt, als dass er sie je würde vergessen können. „Über neunzig Prozent reines Ethanol, verdünnt mit reinstem, destillierten Drachenblut“, rezitierte er ihn ohne Stocken. „Drachenschnaps ist kein gewöhnlicher Schnaps, Barry. Jemand hat mir mal gesagt, dass sich nur alle fünfzig Jahre so ein kostbarer Tropfen auf unsere Insel verirrt.“
    „Drachenblut? Willst du mich verarschen?“, entfuhr es Barry. Er sah ein wenig besorgt aus. „Hast du dir bei deinem Sturz gerade den Kopf gestoßen?“
    Herwig schüttelte energisch den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Ich hatte schon einmal Drachenschnaps in der Hand und ich erkenne ihn wieder. Vermutlich war es sogar dieselbe Flasche, wenn es stimmt, dass nur alle paar Jahrzehnte sowas in Khorinis zu finden ist.“
    „Ach, was. Dann ist es bestimmt eine Fälschung“, widersprach Barry von einem Bein aufs andere tretend.
    Herwig warf ihm einen scharfen Blick zu. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Den rosigen Plänen in seinem Kopf versetzte dieser Gedanke einen schweren Stich. „Das kommt wohl darauf an, wo du ihn herhast, Barry.“ Er beobachtete seinen Freund ganz genau, der erst die Hände ineinander verschlang, dann zu Boden sah und mit den Füßen scharrte.
    „Barry, wo hast du die Flasche her? Kann es sein, dass es echter Drachenschnaps ist?“, rief Herwig vor entnervter Anspannung laut werdend. Siedend heiß fiel ihm auf, dass er nicht durchs Hafenviertel brüllen sollte, dass er eventuell Drachenschnaps bei sich hatte. Was, wenn jemand etwas mit dem Namen anzufangen wusste? Sie waren nicht weit entfernt von Ignaz‘ Hütte….
    „Ich hab da was für jemanden erledigt und der hat mir dann halt als Belohnung diese Flasche gegeben“, nuschelte Barry.
    „Super, das hilft mir weiter! Nicht.“ Kaum war der Sarkasmus raus, tat er ihm schon leid. Herwig seufzte, trat einen Schritt auf seinen Freund zu und legte ihm die freie Hand auf die Schulter. „Sieh mal, Barry“, begann er noch einmal freundlich und sanft. „Wenn das hier wirklich Drachenschnaps ist, löst das all meine Probleme! Dann stellt Constantino mich wieder ein und…“
    „Du wolltest doch bei Zuris anfangen!“
    „Nein, eigentlich nicht. Jedenfalls nicht, wenn ich doch noch zu Constantino zurück kann. Ich will Alchemist werden, Barry, das weißt du doch! Die Alchemie begeistert mich einfach! Und deshalb muss ich jetzt genau wissen, ob dieser Drachenschnaps echt ist. Und darum muss ich wissen, von wem genau du ihn bekommen hast. Und was du für ihn getan hast. Das muss was echt Großes gewesen sein, wenn er dir dafür echten Drachenschnaps gegeben hat.“
    Barry schien sich immer unwohler zu fühlen. Und zugleich beäugte er sein Gegenüber immer misstrauischer. „Ey, Herwig, meinst du nicht, dass du ein bisschen am Rad drehst? Das war nichts Großes und deshalb glaube ich auch kaum, dass das irgendein total seltener, super wertvoller Superfusel mit Drachenblutzusatz ist oder so. Und du solltest auch gar nicht mehr daran denken, zurück zu Constantino zu gehen. Bei dem gehts dir nicht gut, ob du es hören willst oder nicht. Ich als dein Freund muss dir das so direkt sagen, sonst rennst du noch in dein Verderben. Und hast du etwa schon vergessen, dass er Ende diesen Monats sowieso an die Luft gesetzt wird? Bei dem ist für dich echt nichts mehr zu holen!“
    Herwig überlegte einen Moment, dann hatte er einen Gedankenblitz. „Wenn es nichts Großes war, was du für diese Person getan hast, hat diese Person vermutlich gar nicht gewusst, was sie dir da gibt. Barry, kann das sein?“
    „Vielleicht“, gab Barry nach einigem Zögern zu.
    Herwig schüttelte seinen Freund ungeduldig. „Wer war es, Barry? Sag mir den Namen! Ich muss wissen, ob das hier echter…“
    „Ich kann dir den Namen nicht sagen!“, platzte Barry heraus und riss sich von seinem Freund los. „Ich sag dir den Namen ganz bestimmt nicht! Du musst irgendwie anders herausfinden, ob der Schnaps echt ist oder nicht!“
    „Aber ich dachte wir sind Freunde, Barry!“ Der Vorwurf war raus, ehe Herwig ihn zurückhalten konnte. Der Stich unmittelbar in sein Herz hatte zu sehr geschmerzt. Eine peinliche Pause entstand, in der sich beide mit einer Mischung aus Misstrauen und Angst musterten.
    „Na dann“, beendete Herwig die Pause irgendwann brüsk. „Du hast mir diese Flasche als Geschenk angeboten, oder besser gesagt als Begleichung einer alten Schuld. Ich habe sie zuerst abgelehnt, doch nun habe ich mich umentschieden“, erklärte er steif. „Ich nehme sie doch an. Und Constantino wird ihren Inhalt schon auf seine Echtheit überprüfen können. Wir sehen uns später, Barry.“ Mit diesem kühlen Abschied wandte Herwig sich ab und nahm eine Abzweigung zwischen zwei Hütten, wohin ihm Barrys Blick nicht mehr folgen konnte. Ein taubes Gefühl hatte sich in seine Magengrube gesenkt. Es dauerte nicht lange, bis er erkannte, dass der kleine Streit, nein, eigentlich war es nur eine Meinungsverschiedenheit gewesen, ihn betrübte. Doch jetzt hatte er Wichtigeres zu tun.
    Die Flasche in der Hand betrat er den breiten Hauptweg des Hafenviertels, wo ihn zum ersten Mal seit langem wieder Sonnenstrahlen erreichen konnten. Hier war viel mehr los als in den schmalen, dunklen Gassen, in denen er bis eben noch herumgelungert hatte. Besonders auffällig kam ihm Valentino vor, der mit einem unverhohlenem Lächeln in seine Richtung sah. Vermutlich hatte er sich gerade wieder bei Bromor zufrieden stellen lassen. Zu einem anderen Zweck betraten die aus dem Oberen Viertel das Hafenviertel doch gar nicht. Und gerade Valentino war für sein Verhältnis zu Huren und Bier in der ganzen Stadt berühmt, sonst hätte Herwig ihn wohl gar nicht gekannt.
    Seine Füße trugen ihn schnell den Weg hinauf, weg vom Meer, dessen unendliche Weite heute mit einem besonders schönen Azurton lockte. Doch Barry suchte nicht das weite, helle Meer. Er suchte eine enge, dunkle Alchemistenstube. Als er zum zweiten Mal an diesem Tag die Unterführung erreichte, an der die Tür zu Constantinos Geschäft lag, zögerte er nicht so lange. Er war aufgeregt, ob der Drachenschnaps echt war. Er hätte ihn vielleicht nicht so offen mit sich herumtragen sollen, aber er besaß nun mal keine Tasche wie Barry.
    Er klopfte dreimal fest an die Tür. Ein eigenartiges Selbstbewusstsein erfüllte im Moment seine Brust. Er hatte dieses Mal keine Angst, Constantino die Stirn zu bieten. Dieses Mal war er mit besseren Argumenten ausgestattet als der Alchemist. Dieses Mal suchte er nicht nach Vergebung, sondern wollte sich umwerben lassen, seinen neuen Marktwert auskosten.
    „Sterbenskrank?“, krähte die Stimme Constantinos dumpf. Herwig meinte, ein Husten folgen zu hören.
    „Ich bins noch mal, Constantino!“, antwortete Herwig laut. Das Meister ließ er lieber weg. Schließlich waren seine Lehrjahre längst vorüber. Heute würde er sich auf Augenhöhe mit dem alten Alchemisten unterhalten.
    „Scher dich weg, Sargnagel!“, fauchte es von drinnen.
    „Ich habe Drachenschnaps bei mir.“
    Stille folgte. Herwig konnte beinahe vor seinem geistigen Auge sehen, wie Constantino beim Klang des Namens dieser verhängnisvollen Substanz zusammengezuckt war und nun fiebrig überlegte, was sein ehemaliger Lehrling wohl im Schilde führte.
    „Das kann nicht sein!“, blaffte er schließlich. Herwig kannte ihn gut genug, um den Hauch von Unsicherheit herauszuhören.
    „Dann kann ich ja wieder gehen. Biete ich den Drachenschnaps halt Salandril an. Vielleicht ist der ja so klug, sich wenigstens von der Falschheit des Schnapses zu überzeu…“ Die Tür flog auf. Eine klauenartige Hand schoss aus der dämmrigen Dunkelheit hervor, packte Herwig schraubstockartig am Oberarm und zog ihn mit einer unwiderstehlichen Kraft ins Innere. Herwig spürte, wie er losgelassen wurde und die Tür hinter ihm zuknallte.
    „Na schön, du Pestbeule“, krächzte Constantino und röchelte schleimig. „Warum wagst du es, mir mit diesem verdünnten Tomatensaft unter die Augen zu treten, hä? Hast du heute Morgen nicht schon genug Unglück und Verderbnis über mich gebracht, willst du mich dieses Mal endgültig in mein Grab bringen, hä?!“ Der bucklige Alchemist schlich um Herwig herum wie ein Raubtier um seine Beute. Der Aufbau auf seinem Alchemietisch stand noch genauso da wie vorhin, nur dass nun keine Flamme leuchtete, kein Sud blubberte. Alles war reglos und still. Constantino hatte den Blick bemerkt. „Das Mythriltoxin ist hinüber. Nur ein Wunder kann es noch retten. Damit ist es endgültig aus.“ Den letzten Satz ließ Constantino unheilschwanger und unerklärt in der Luft hängen.
    Herwig fühlte sich plötzlich doch nicht mehr so mutig. Als hätte der Raum ihm sein Rückgrat genommen. Sein alter Meister war ihm wie immer über. Er hatte keine Chance, sich gegen ihn zu behaupten. „Ist das wirklich nur Tomatensaft?“, brachte Herwig mit zittriger Stimme hervor. Sein Traum war zerplatzt wie eine Seifenblase. Er würde doch bei Zuris um Arbeit betteln müssen. Um niedere Knochenarbeit.
    „Red keinen Stuss, du dummes Ding. Selbst ich kann nicht nach einem Blick sagen, um was es sich in dieser Flasche handelt“, rügte Constantino ihn, während er hinter ihm entlang schlurfte. „Doch das Etikett ist überzeugend. Es handelt sich definitiv um ein Orginaletikett aus dem vierten Jahrhundert, beschlossen und gestaltet vom elften Gelderner Konzil. Doch ist es natürlich nicht schwer, Drachenschnaps in ein anderes Gefäß umzufüllen und etwas anderes in diese Flasche zu tun. Halbwegs begabte Alchemiekundige würden dies sogar schaffen, ohne dass es der Reinheit der Substanz Abbruch tut. So ein Stümper wie du hätte das aber nie bewerkstelligen können. Und schon leichte Verunreinigungen sorgen dafür, dass das Purpurrot sich in ein dunkles Lila verwandelt. Wenn in dieser Flasche Drachenschnaps ist, ist es rein, so viel steht mal fest.“
    Herwigs Herzschlag beschleunigte sich, als er den Kloß in seinem Hals hinunter schluckte und all seinen Restmut für die alles entscheidende Frage zusammennahm: „Wie kann man überprüfen, ob es Drachenschnaps ist?“
    „Dafür fehlt es mir an entsprechender Ausrüstung“, antwortete Constantino prompt. „Kompliziert und aufwendig, aber jede Sekunde und jedes Gold wert, zieht sich die Überprüfung einige Tage lang hin. Die Substanz muss auf Magiebeständigkeit und Pufferwirkungen gegenüber Kronstöckelessenzen und anderen Dingen getestet werden. Dinge, die ich dir nicht einmal beigebracht hätte, wenn du deine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hättest. Das ist höchste, wunderbare Alchemie! Aber warum erzähl ich dir…“ Er würgte und hustete, dass es ihn am ganzen Leib schüttelte. Einen Moment lang glaubte Herwig, sein alter Lehrmeister würde sich gleich übergeben, aber er torkelte nur auf den wieder aufgestellten Eimer zu und würgte einen schleimigen Klumpen hervor, der größer war als jedes Hühnerei, das Herwig in seinem Leben gesehen hatte. „Warum erzähl ich dir das überhaupt?“, keuchte Constantino mit Schweißperlen auf der altersbefleckten Stirn. „Zeitverschwendung, pure Zeitverschwendung dem Quälgeist von Dingen zu erzählen, für deren Verständnis er Lichtjahre zu minderbemittelt ist, nur Stroh im Kopf die alte Ratte, vergammeltes, lausiges Stroh, jawohl.“
    Dann stierte Constantino ihn aus blutunterlaufenen Augen an. „Von wem hast du den Drachenschnaps?“
    Herwig wusste, warum er diese Frage stellte, schließlich hatte er selbst nur einige Minuten zuvor versucht genau diese Information aus Barry herauszuquetschen. Deshalb wusste er auch genau, was Constantino sagen würde, wenn er ihm verriet, von wem er die Flasche hatte.
    Mit einem Krachen flog die Tür auf. Constantino brüllte animalisch. Herwig erschrak sich so heftig, dass er einen Sprung machte, der ihn fast auf den Alchemietisch befördert hätte. Noch nie in seinem Leben hatte er ernsthaft das Gefühl gehabt, ein Déjà-vu zu erleben. Noch nie, bis zu genau diesem Augenblick. Wambo schritt in voller Montur und mit zackigem Militärschritt in den Raum. Er wirkte in dem niedrigen Raum riesig und seine Miene hätte auch mutigere Männer als Herwig zum Zittern gebracht. Nicht aber Constantino. „Nicht schon wieder du, du nutzloser Laufhund der fetten Adelsärsche!“, keifte und spuckte er, beinahe außer sich. Zum ersten Mal hatte Herwig den Eindruck, dass dem alten Zausel alles zu viel wurde, er vielleicht im nächsten Moment einfach kollabierte, oder aber wild um sich schlug.
    „Wegen dir bin ich gar nicht hier, du aufgeblasener Sack!“, erwiderte Wambo die Beleidigung ohne mit der Wimper zu zucken. Dann wandte er sich bedrohlich langsam dem schlotternden Herwig zu. „Reiner Zufall, Constantino. Ich bin wegen dem da hier. Bürger gaben mir den Tipp, dass er schon wieder hier ist.“
    „Wegen mir?“, schrie Herwig in heller Panik auf. Beinahe hätte er die Schnapsflasche fallen gelassen.
    „Was mir mein Informant sagt, scheint zu stimmen“, fuhr der Soldat mit bösem Lächeln fort, als er sich leicht vorbeugte, und – zu Herwigs endgültiger Verwirrung – das Etikett mit dem türkisen Schriftzug und der roten Drachenzeichnung las.
    „Informant?“, schnappte Constantino und schob sich in den schmalen Luftraum zwischen Wambo und Herwig, sodass er die schwarze Rüstung des Milizen beinahe mit seiner fleckigen Schürze berührte. Herwig fühlte sich sofort merkwürdig behütet, obwohl er genau wusste, dass es Constantino nur um die Flasche ging. Solange er nicht sicher bewiesen hatte, dass es sich nur um Tomatensaft handelte, würde er wohl nichts unversucht lassen, um in den Besitz dieser Flasche zu kommen. Doch wenn er sich dabei seines Sargnagels entledigen konnte, um so besser. So würde er vollkommen kostenfrei an die Flasche kommen. Der Gedanke jagte Herwig Angst ein und einen Schauer über den Rücken. Vorbei war es mit dem Gefühl der Geborgenheit. Er war zwischen zwei Mühlsteine geraten, die kaum unnachgiebiger sein könnten. Die Miliz und Constantino.
    „Der hoch angesehene Bürger des Oberen Viertels, Valentino, berichtete mir, gehört zu haben, wie jemand im Hafenviertel herum posaunte, Drachenschnaps zu besitzen. Der werte Herr wies mich darauf hin, dass diese Substanz äußerst selten ist und es vermutlich keine zwei Flaschen dieser Art auf der Insel gibt.“ Herwig schlug sich unauffällig die Hand vor die Stirn. Er hatte doch gewusst, dass er zu laut gewesen war. Valentino hatte also nicht nur in seine Richtung, sondern genau auf die Flasche in seiner Hand gestarrt. „Zufällig wurde ihm vor kurzem eine solche Flasche Drachenschnaps gestohlen“, fuhr Wambo fort. „Ist es da nicht naheliegend, dass ich diesen Herrn hinter dir, Constantino, gern mal ein wenig genauer befragen würde?“
    „Nur weil er Drachenschnaps auf ein Etikett schreibt und behauptet, es sei auch welcher drin? Wie dumm bist du, Wambo?“, krähte Constantino seinem Gegenüber ins Gesicht. „Das ist ein fadenscheiniges Ammenmärchen, dass er sich ausersonnen hat, um im Austausch gegen den Schnaps wieder in meine Dienste treten zu können, du Narr! Es kann kein Zufall sein, dass er mir ausgerechnet Drachenschnaps als Bestechung anbietet. Er war nie besonders kreativ, und dass ich schon lange nach Drachenschnaps suche und kaum etwas dringender benötige als dieses Getränk, weiß er rein zufällig. Zähl Eins und Eins zusammen und verzieh dich!“ Constantino konnte seinen Satz gerade noch beenden, ehe er wieder markerschütternd husten musste. Wambo wich drei Schritte zurück. Immerhin würgte er dieses Mal nichts hoch, dachte Herwig im Stillen.
    „Halt dich da raus“, entgegnete Wambo kaltschnäuzig und schubste den alten Mann grob beiseite, sodass er wieder freie Bahn auf Herwig hatte.
    „Wie heißt du, Bursche?“
    „Herwig“, wagte er keine Sekunde die Antwort zu verweigern.
    „Wo hast du die Flasche her?“
    Da war sie schon wieder. Immer diese Frage. „Es ist so, wie Meister Constantino gesagt hat. Nur eine Fälschung, um…“
    „Wo hast du diese Flasche her, Bursche?“, grollte Wambo langsam und drohend. „Ist das die Flasche, die dem ehrwürdigen Herrn Valentino gestohlen worden ist?!“
    Herwig warf einen panischen Seitenblick nach Constantino, der aber genauso wissbegierig an seinen Lippen hing wie Wambo. Er hatte keine Ahnung, wie er da herauskommen sollte. Wie sollte er beweisen, dass es kein echter Drachenschnaps war? Vorausgesetzt, dass es auch kein echter war. Im Moment wusste er gar nicht so genau, was ihm lieber war.
    „Entschuldigt, dass ich mich wieder einmische, Herr Wambo“, begann Constantino plötzlich mit überlegterer Wortwahl. Der Milizionär ignorierte ihn, doch der Alte redete trotzdem weiter. „Ich denke, wir können dieses Missverständnis aus der Welt schaffen, indem ich Ihnen einfach von einem unabhängigen Gutachter beweisen lasse, dass es sich hierbei nicht um Drachenschnaps handelt. Ich habe die notwendigen Apparaturen zwar nicht in meinem Haus, doch ein guter Handelspartner von mir ist durchaus in der Lage, die Echtheit dieses Schnapses zu verifizieren beziehungsweise zu falsifizieren. Es wäre also gut, wenn Sie sich weniger darauf konzentrieren, dem Jungen ein Geständnis abzupressen, als sich einfach den Beweis anzusehen, dass es sich nicht um Drachenschnaps handelt. Dann brauchen Sie ihre Zeit auch nicht länger in meiner Behausung zu verbringen, sondern können woanders nach Herrn Valentinos Schnaps suchen.“ Wambo hatte sich von Herwig abgewandt und musterte den Alchemisten argwöhnisch.
    „Wo führst du mich hin, wenn ich der Überprüfung zustimme?“
    „Ins Hafenviertel. Zu dem zu Unrecht berüchtigten Krämer Xerobar Magialis.“
    Wambo war anzusehen, dass er diesen Namen noch nie gehört hatte. Doch er entwand die Flasche gekonnt Herwigs Griff, steckte sie in einen großen Lederbeutel an seinem Gürtel und sagte: „Herwig, du kommst mit. Wenn du zu fliehen versuchst, schieß ich dir einen Bolzen zwischen deine Schultern. Und du, Constantino, zeigst mir den Weg. Aber Beeilung, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“
    Constantinos Blick hatte sich verfinstert, als Wambo die Flasche an sich genommen hatte. Herwig vermutete, dass das ganz und gar nicht nach seinem Plan war. Vielleicht hatte er gar nicht zu Xerobar gehen und den Milizionär stattdessen unterwegs irgendwie abschütteln wollen. Andererseits war Constantino mit seinem Gehstock und dem Buckel kaum in der Lage eine Flucht zu Fuß zu gewinnen. Herwig sah keinen Ausweg aus der Lage und konnte nichts anderes tun, als sich von dem Machtkampf um den Drachenschnaps treiben zu lassen, der zwischen Valentinos Schoßhündchen und seinem alten Lehrmeister entbrannt war.
    „Folgen Sie mir“, sagte der betagte Alchemist und schlurfte zur Tür, nicht ohne in regelmäßigen Abständen seinen Gehstock in den Boden zu rammen. Als er die Türschwelle überquerte, überkam ihn ein neuerlicher Hustenanfall.
    Wambo warf Herwig einen grimmigen Blick zu. „Geh vor!“ Herwig besann sich rasch und folgte dieser wenig höflichen Aufforderung. Als auch er die Alchemistenstube verließ, musste er feststellen, dass sich ein paar Schaulustige in der Unterführung angesammelt hatten. Vielleicht warteten sie darauf, dass wieder Rauch aus der Tür quoll. Doch als Wambos große Gestalt hinter Herwigs schmächtiger erschien, wandten sich rasch alle ab und taten so als hätten sie nie im Vorbeigehen innegehalten.
    Herwig nahm den Gang zum Hafenviertel wie im Traum wahr. Alles war so verschwommen und er wusste nicht, was er eigentlich tun sollte. Wie mit Scheuklappen konzentrierte er sich einzig und allein darauf, dem langsam voran humpelnden Constantino zu folgen, der den breiten Hauptweg zum Hafen betrat und dann direkt an der inneren Stadtmauer in das verwinkelte Gassensystem des heruntergekommenen Viertels einbog. Er meinte Wambos bösen Blick hinter sich zu spüren und dachte keine Sekunde an Flucht. Und auch Constantino schien mit offenen Karten zu spielen. Sie schlugen tatsächlich den Weg zu Xerobars Laden ein. Sie mussten nur noch an ein paar Häusern vorbei und dann… Jemand packte seinen rechten Arm, drehte ihn auf seinen Rücken, drückte ihn so zu Boden und hielt ihm einen kalten Dolch an die Kehle. Herwig stieß ein schmerzerfülltes Jammern aus. Was war denn nun los? Wer war das? Er war heillos überfordert.
    „Keine Bewegung und euch geschieht vorerst nichts!“, gellte eine barsche Frauenstimme, die jedoch nicht zu der Person gehörte, die ihm den Arm auf den Rücken presste. Herwig sah sich um und erkannte, dass Constantino seinen Gehstock gegen einen Mann erhoben hatte, der sein Schwert mit einiger Nachgiebigkeit gegen den Alchemisten hielt. Er schien ihn für keine ernste Bedrohung zu halten. Herwig schaffte es den Kopf soweit zu wenden, dass er Wambo zu Gesicht bekam. Die Spitze seines eigenen Schwertes wurde ihm auf die ungeschützte Stelle über dem Brustpanzer gerichtet. Der Mann, der das Milizschwert hielt, kam Herwig merkwürdig vertraut vor. Er meinte ihn von zahllosen Fahndungsplakaten als wirre Kohlezeichnung zu kennen. Die Frau, die gesprochen haben musste, stand vor dem einzigen Weg, der von keinem der anderen Männer blockiert wurde. Auch ihr Gesicht kam ihm vage bekannt vor. Das musste die berüchtigste Frau der Stadt sein: Cassia. Es gab schon lange ein Gerücht, dass sie mit Attila gemeinsame Sache machte, doch niemand, der die beiden zusammen gesehen hatte, schien dies überlebt zu haben. Angst schoss in Herwig hinauf, nicht zuletzt, weil der Dolch unangenehm fest gegen seine Pulsschlagader drückte. Sie waren in einer dunklen Gasse des Hafenviertels, wo kein Milizsoldat ohne einen Grund seinen Fuß hin setzte. Von außen würden sie keine Hilfe bekommen. Niemand würde sie hier hören oder sehen. Und wenn sich solche Banditen erst mal ein Opfer gesucht hatten, starb dieses auch mit Sicherheit. Wie hatte es nur noch schlimmer kommen können als es ohnehin schon war? Er musste sich zusammenreißen, um sich nicht wild gegen den Klammergriff zu wehren, denn dann hätte er sich selbst die Kehle aufgeschlitzt.
    „Halt, doch nicht so grob!“ Noch jemand stolperte auf die kleine Kreuzung. Herwig hatte ihn schon an der Stimme erkannt.
    „Barry?!“
    „Nimm doch den Dolch weg, Ramirez! Herwig tut dir schon nichts!“, flehte Barry den Mann an, der Herwig bedrohte.
    „Er hat Cassias Gesicht gesehen, sterben muss er sowieso!“, knurrte der Mann namens Ramirez.
    „Ihr habt gesagt, ihr tut ihnen nichts!“, schrie Barry spitz. „Das musst du mir glauben, Herwig, das haben sie versprochen!“
    „Wehe, du holst die Miliz!“ Cassia war mit einem katzengleichen Satz hinter ihn gesprungen. Mit einer eleganten Bewegung zog sie ihren Degen und platzierte dessen Spitze zwischen Barrys Schulterblättern.
    „Zweifelhafte Prominenz, die wir hier haben…“, murmelte Wambo in einem schwachen Versuch, amüsiert zu wirken.
    „Barry, was geht hier vor?“, stöhnte Herwig. Er versuchte seinen Mund so wenig wie möglich zu bewegen, aus Angst, sich doch noch selbst umzubringen.
    „Es war Attila!“, platzte es plötzlich aus Barry heraus. „Er hat mir den Schnaps gegeben! Ich bin schnell zu ihm hin, um ihn zu fragen, ob es wirklich dieser megaseltene Schnaps ist, für den du ihn hältst. Ich wollte nicht, dass du dich vor Constantino blamierst!“
    „Aber dieser schmierige Langfinger wusste selbst nicht mal, was er da womöglich in Händen gehalten hat, stimmts?“, grummelte Constantino feindselig. „Das Gesindel ist für dergleichen schon immer blind gewesen.“
    „Genau! Und dann wollten sie wissen, wo der Schnaps jetzt ist, um dich zu fragen, wie du das gemeint hast und…“
    „Halt die Schnauze, Fettwanst!“, fuhr Cassia ihn an. „Nur weil du dann und wann mal einen Minijob für uns erledigst, heißt das nicht, dass wir nicht auf dich verzichten können.“ Sie grinste zähnebleckend. Barry konnte das nicht sehen, sein Gesicht wechselte aber trotzdem die Farbe von puterrot zu aschfahl.

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    Wambo sah dem Bandit, der ihn bedrohte, in die Augen. Es war ohne Zweifel der überall gesuchte Attila, doch etwas in seinen Augen ließ Attila alles um ihn herum vergessen. Woran erinnerten sie ihn bloß? Und der Gesetzlose lachte trocken und sagte: "So sieht man sich also endlich wieder!"
    Die Schwertspitze drückte stärker gegen Attilas Hals. Nur noch ein wenig mehr Druck und sein Blut würde sprudeln. Attilas Puls raste. Noch erinnerte er sich nicht, wo er ihn schon mal getroffen hatte. Diese Art des Wiedererkennens konnte nicht allein von den schlechten Fahndungsplakaten herrühren.
    Und dann brach der Damm des Verdrängens und die Erinnerungen ergossen sich in sein Bewusstsein. Er würde sterben.



    Wambo hatte seine Schwerthand bei Betreten des Tunnels ganz von selbst auf den Knauf seiner Waffe gelegt. Mit der freien fühlte er unruhig nach dem Lederbeutel an seinem Gürtel und dem sich darin befindlichen Gegenstand. Gut, er war noch da. Er leckte sich gierig über die Lippen, während er Stufe um Stufe hinab nahm. Wäre er zum ersten Mal hier gewesen, wären seine Schritte deutlich zögerlicher gewesen. Er erinnerte sich noch gut an das beklemmende Gefühl, das er bei seinem ersten Besuch verspürt hatte. Doch dieses Mal, wenn auch erst der zweite Besuch, fühlte er kaum noch eine Bedrohung. Seine Gedanken waren auf den Handel fixiert. Die Holztür mit dem vergitterten Fenster glitt vor ihm auf, ohne dass er sie berührt hatte.
    Seine dicken Armeestiefel betraten die festgetretene Erde des unterirdischen Krämerladens von Xerobar, dem wohl berüchtigsten Händler der Stadt. Viele wussten nicht mal von ihm. Einige hielten seinen sagenumwobenen Laden nur für ein Gerücht. Die wenigsten hatten sich von seiner Wahrhaftigkeit überzeugt. Nur wer keinen anderen Ausweg wusste, um sein Glück zu erreichen, wagte es, den Spott der Stadt auf sich zu ziehen und den möglicherweise gefährlichen Abstieg in einen Vorort der Hölle.
    Blaues Kerzenlicht knochenähnlicher Kerzen verbreitete sich dämmerig über das Durcheinander kurioserer, wertvoller, seltener und verbotener Waren vor ihm. Er hatte die Rüstung der Miliz nicht abgelegt, lediglich einen langen schwarzen Kapuzenmantel über sie geworfen. Und obwohl er die Insignien von Rechtschaffenheit und Ordnung noch trug, lag ihm nichts ferner als diesen Laden hochzunehmen. Nun, da er niemandem Unbeteiligten mehr auffallen konnte, warf er die Kapuze mit seinen behandschuhten Händen zurück und schüttelte seine schwarze Haarmähne.
    Wie aus dem Nichts erschien die gedrungene Gestalt Xerobars neben ihm. Er war erwartet worden. „Wenn ich Ihnen den Mantel abnehmen dürfte?“, sagte er höflich. Ohne eine Antwort zog Wambo den Knoten vor seinem Hals auf und ließ den Mantel in die Arme des Händlers fallen. „Ich bin sofort zurück!“ Und dann war er wieder verschwunden.
    Wambo war allein zwischen den Waren zurückgeblieben. Er schlenderte zwischen ihnen entlang, um sich die Zeit zu vertreiben. Ungeduld war es, die ihn herum trieb. Er konnte die Rückkehr des Händlers kaum erwarten. Er hatte lange auf diesen Handel hingearbeitet. An Xerobars Verschwiegenheit gab es keinen Zweifel, die Sache war narrensicher. Und jetzt wartete er zwischen bauchigen Einmachgläsern, vergilbten Folianten und schaurigen Klauen darauf, dass es endlich so weit war, und konnte selbst nichts Sinnvolles tun. Es reizte ihn und macht ihn aggressiv. Kaum konnte er das Verlangen unterdrücken gegen eines der Tischbeine zu treten, doch er konnte nicht riskieren, dass es wegbrach und der auf dem Tisch aufgereihte Kram sich wie eine Kaskade über den Boden ergoss. Oder war Xerobars Interesse an dem Inhalt des Lederbeutels so groß, dass er ihm so eine Kleinigkeit verzeihen würde? Vielleicht. Sollte er es nicht einfach riskieren und sich die Befriedigung gönnen, einen beherzten Tritt gegen dieses verfluchte Tischbein auszuführen, dass so starr und reglos vor ihm verstaubte? Sollte er es nicht tun, ehe er selbst eine ähnlich dicke Staubschicht angesetzt hatte? Er stellte sich mit größtem Verlangen vor, wie das Holz knirschen würde, wenn es splitterte, das laute Rumpeln und Klirren der Gegenstände, die hinunter und kaputt fallen würde. Zerstörung, die eine kurze Befriedigung versprach, wenn nicht endlich…
    „Wieder da“, krähte die Stimme Xerobars plötzlich hinter ihm. „Folgen Sie mir bitte in mein Büro.“
    Wambo hatte sich noch nicht von dem Tisch losgerissen, da hatte der hutzelige Händler sich schon in Bewegung gesetzt. Rasch folgte er ihm, ehe sein Vorsprung zu groß wurde. Er wollte lieber nicht ausprobieren, wie gut er ohne Führer durch die labyrinthartig zugestellte Höhle fand. Nicht jetzt, wo seine Erwartungen nicht mehr zu zügeln waren. In seiner Hast stieß er gegen einen der Stützpfeiler der Höhle und ein wenig Staub rieselte auf ihn hinab. Unwirsch wischte er sich durchs Haar, um den gröbsten Dreck wieder abzuklopfen, doch er stellte verdutzt fest, dass er schwitzte. Der Dreck klebte an seiner rechten Schläfe und mit seinen Handschuhen verwischte er ihn nur. Er ließ von dem Versuch ab und erreichte fast im selben Moment einen Durchgang, der mit einem Vorhang verdeckt wurde, der dieselbe dunkle Farbe wie die grob behauenen Wände rund herum aufwies und deshalb überhaupt nicht ins Auge fiel. Der Stoff schwang noch leicht hin und her, was Wambo zeigte, dass Xerobar erst kurz zuvor hindurch gegangen war.
    Als er den Vorhang mit einer Hand zur Seite schob, seinen Kopf einzog und durch das Loch trat, erwartete ihn ein viel kleinerer Raum, in dem gerade so ein wuchtiger Schreibtisch und zwei Lehnstühle gegenüber voneinander Platz gefunden hatten. Xerobar saß schon auf einem von ihnen und offensichtlich mindestens drei Sitzkissen. Sein geringes Wachstum war ihm hinter dem Schreibtisch nicht mehr anzusehen.
    Wambo setzt sich ihm gegenüber, ohne die Aufforderung abzuwarten. Als er den Händler ins Auge fasste, stellte er fest, dass hinter ihm noch ein Vorhang war. Wie groß war dieses Höhlensystem?
    „Ich habe es nicht gern, viel Zeit mit wenig Sinnvollem zu verplempern, kommen wir also gleich zur Sache“, krächzte Xerobar sehr zur Zufriedenheit Wambos. „Dürfte ich Sie also um ihren Teil der Abmachung bitten?“
    Wambo klatschte den Lederbeutel auf den Eichentisch und schob ihn hinüber. Xerobar griff nach dem Beutel, löste den Bund, schaute zuerst nur mit Stielaugen hinein, dann steckte er eine seiner klauen in den Sack und zog die Paladinrune hervor. Der marmorfarbene Stein glänzte in dem Licht der bläulichen Kerzen, das auch hier die Art der Beleuchtung war. „Böses vernichten, so wie abgemacht“, nickte Xerobar anerkennend. Dann ließ er die Rune wieder in dem Sack und diesen unter dem Tisch verschwinden. „Es ist schwer, an eine Rune der Paladine heranzukommen. Diese hier wird mir nicht nur bei einer Reihe von interessanten Studien behilflich sein, sondern auch einen guten Preis beim richtigen Abnehmer erzielen.“
    „Könnten wir dann zu Ihrem Teil der Abmachung kommen?“, knurrte Wambo ungeduldig. Er hatte lange genug gewartet. Er spürte den Schweiß nun auch auf seinem Rücken, in den Achseln, in den Stiefeln und im Schritt. Er leckte salzige Perlen von seiner Oberlippe.
    „Natürlich!“ Xerobar glitt von seinem Stuhl. Hinter dem Tisch war er kaum noch zu sehen. Wambo sprang wie von einem Skorpion gestochen auf und umrundete den Schreibtisch. Xerobar hatte den zweiten Vorhang zur Seite geschlagen.
    Der Raum dahinter war nicht mit Kerzen erhellt. Das fahle Licht reichte keine zwei Schritte weit, doch der Händler verschwand geschäftig in der Dunkelheit. Wambo folgte ihm einige Schritte, bis er nicht mal mehr die kleinste Schattierung vor sich ausmachen konnte. Er hob die Arme, um nirgendwo gegen zu stoßen und schob sich Millimeter für Millimeter voran. Wo war er? Wo war seine Gegenleistung dafür, dass er seine Arbeit riskiert, einen Paladin bestohlen hatte? Weit vor ihm flammte eine Fackel auf und tauchte den Stollen in warme Farben. Xerobar ließ unter der Fackel die Hand sinken. Der Stollen war fast vollkommen leer und endete abrupt an einer Wand.
    „Es war leichter als ich dachte“, eröffnete Xerobar ihm mit einem kleinen Lächeln, das spitze Eckzähne offenbarte. „Er versuchte letzte Woche bei mir einzubrechen, doch meine Flüche haben ihn schnell gebannt. Ein unbeschriebenes Blatt unter den Dieben, zumindest habe ich ihn auf keinem Steckbrief gefunden. Es wird nicht weiter auffallen, wenn er von der Bildfläche verschwindet.“ Das Lächeln verschwand urplötzlich. „Ich lass euch dann mal allein.“
    Wambos Herz schlug bis zum Hals. Xerobar kam mit kleinen Schritten auf ihn zu, ging an ihm vorbei. Dann hörte Wambo irgendwann, wie der Vorhang hinter ihm zugezogen wurde. Als sei dies ein ausgemachtes Startsignal, setzte Wambo zum Sprint an. Er erreichte das Ende des Ganges, wo zwei Ketten aus der Wand bis zu zwei Schellen um den Handgelenken eines ausgemergelten Mannes liefen. Der Mann schien bewusstlos. Er hing schlaff an den stählernen Fesseln. Eine lederne Hose und ein dünnes Hemd waren alles, was sein Körper bedeckte. Der Kopf mit den langen, braunen Haaren war ihm auf die Brust gefallen, auf der jede einzelne Rippe zu erkennen war. Wambo packte ihn mit seinem Handschuh am Kinn und riss es grob nach oben, so dass er in die Gesichtszüge dieses Mannes sehen konnte. Er war nicht bewusstlos.
    Die Miene des unrasierten Mannes war eisern. Sein Wille noch ungebrochen. Die Bartstoppeln kratzten über die Metallbeschläge der Handschuhe.
    Wambo war entzückt. Hier konnte er tun, wofür er bei der Miliz nur Verachtung gefunden hätte. Er ballte die linke Hand zur Faust und verpasste dem Fremden einen Schlag, der seinen Kopf gegen die Wand schlug. Blut spritzte ihm aus dem Mund und lief ihm den Hals hinab.
    „Wer bist du?“, nuschelte er undeutlich. Seine Brust hob und senkte sich hektisch. Hatte dieser Mann nun doch so schnell Angst bekommen?
    Wambo packte mit seiner blutverschmierten Hand nach dem Hemd des Mannes und hob ihn auf Augenhöhe. „Du bist jetzt mein. Und ich kann tun und lassen, was ich will! Endlich!“
    Der Mann starrte ihn an und erkannte mit Sicherheit den Wahnsinn in seinen Augen. Dann zerriss der Soldat das Hemd, zog sich selbst den Gürtel aus den Schlaufen und peitschte den Mann aus, bis er mit roten Striemen übersät war. Blut sickerte hie und da aus der geschundenen Haut des nackten Oberkörpers. Keuchend lag der Mann am Boden, doch die Hose hatte den Hieben standgehalten. Wambo zog seine Handschuhe aus und schnallte den Brustpanzer los, so dass sein Kettenhemd zum Vorschein kam.
    Der Mann rappelte sich plötzlich wieder hoch und streckte in wilder Wut seine Hände nach dem Hals seines Peinigers aus, doch die Ketten hielten ihn zurück. Wambo trat ihm ohne jede Rücksichtsnahme mit seinen Stiefeln zwischen die Beine. Der Mann keuchte und klappte sofort zu seinen Füßen zusammen, gekrümmt, wimmernd. Wambo zog sich das Kettenhemd über den Kopf und drosch damit auf den am Boden liegenden Gefangenen ein, bis ihn das Verlangen weiter trieb. Nun bekleidete nur noch sein schweißdurchtränktes Unterhemd seinen Oberkörper. Der nun wahrlich angsterfüllte Blick des noch jungen Mannes wanderte die hervortretenden Muskeln herab.
    Dann warf Wambo sich auf ihn, krallte seine Hände in sein Gesicht und in seine Brust, biss ihm in den Hals, riss ihm die Hose auseinander, zerquetschte mit der Rechten seine Männlichkeit, dass seine Schreie spitz und qualerfüllt wurden, rammte ihm den Schwertknauf in das pralle Hinterteil. Für Wambo war es die pure Lust. Er ergötzte sich an der Macht, die er über diesen Mann hatte, an seinen Schmerzen, daran wie er sich wand und schrie.
    Und dann öffnete Wambo sein eigenes Beinkleid. Er konnte nicht mehr widerstehen. Als er sein ganz persönliches Schwert in den verlängerten Rücken unter ihm rammte, überschlugen sich die Schreie, der magere Körper bäumte sich auf, brachte alles auf, um sich zu wehren. Doch das heiße Blut vermischte sich bloß mit dem kalten Angstschweiß.

    Als Wambo Stunden später den Vorhang zur Seite schlug, saß Xerobar an seinem Schreibtisch.
    „Alles zu Ihrer Zufriedenheit?“, erkundigte der Geschäftsmann sich sachlich, ohne sich seinem Kunden zuzuwenden.
    Ein zufriedenes, vielleicht auch noch hungrigeres Lächeln verzerrte die Mundwinkel des Milizionärs. „Ist glaub ich nich mehr viel Leben in ihm. Aber er hat seinen Zweck erfüllt. Ich danke, für die gute Ware. Sie war ganz nach meinem Geschmack.“

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    „So sieht man sich also endlich wieder“, hörte Herwig die raue Stimme Attilas. Dann holte der Bandit mit dem Milizschwert aus, als wäre es leicht wie ein Reisigzweig, und Herwig schloss erschrocken die Augen. Doch er wagte es nicht, seine Hände hochzureißen und auf seine Ohren zu pressen, der Dolch drückte immer noch gegen seinen Hals. Er hörte das widerliche, matschige Geräusch, das Spritzen, das Aufheulen des Milizsoldaten.
    Herwig zitterte und seine Angst stieg ins Unermessliche. Kalter Angstschweiß rann ihm über Stirn, Hals, Nacken, Rücken… Er konnte die Augen nicht mehr geschlossen halten, musste sehen, dass noch alles gut war, dass er noch lebte, dass er noch in Khorinis war.
    Wambo lag unweit von ihm zu Boden gestreckt, Blut sickerte aus seiner Seite. Sein Schwert hatte die Rüstungsplatten durchschlagen und sich in sein Fleisch gegraben.
    „Attila, beherrsch dich!“, wies Cassia ihn scharf zurecht.
    „Den Kerl kann ich nicht verschonen“, erwiderte Attila mit einem blutrünstigen Grollen in der Stadt. „Es muss Schicksal sein, dass ausgerechnet er mir in die Finger gefallen ist. Ich werde ihn für das büßen lassen, was er mir angetan hat.“ Eine Wut stand auf dem Gesicht des Banditen, die sein ganzes Gesicht verzerrte. Herwig sah die lodernden Augen des erwachsenen Mörders und konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Cassias Gesicht war beherrschter, doch meinte er, in dem leisen Stirnrunzeln dieselbe Ratlosigkeit zu lesen, wie er sie selbst in sich trug. Sie schien auch nicht zu wissen, von was Attila da redete.
    Doch langsam holten Herwigs Gedanken zu dem Geschehen auf. Wambo lag am Boden, blutete stark, schien sogar bewusstlos zu sein. Der einzige von ihnen, der es Verstand mit einer Waffe umzugehen, war aus dem Rennen. Constantino hatte seinen Gehstock zwar erhoben, als könne er damit Berge zertrümmern, doch wusste wohl jeder hier Anwesende, dass sein Alter ihm seiner Kraft weitestgehend beraubt hatte und der Gehstock noch nie eine ernsthafte Gefahr für irgendjemanden gewesen war. Barry war noch spärlicher bewaffnet. Wie um ihre aussichtslose Situation zu unterstreichen, brach Constantino in einen seiner unerklärlichen Hustenanfälle aus und krümmte sich. Da er seinen Gehstock stur gegen den Banditen erhoben hielt, statt sich auf ihn zu stützen, kippte er vornüber und landete im Staub.
    „Wo ist der Schnaps?“, fragte Cassia mit gebieterischer Stimme.
    „Ich weiß es nicht!“, platzte Barry panisch heraus.
    „Weißt du es?“, blaffte der dritte Bandit und verpasste Constantino einen Schlag mit der flachen Seite seines Schwertes.
    „Ich werde euch dreckigem Pack gar nichts sagen!“, krähte der Alchemist, wofür er einen weiteren Hieb bekam.
    „Und du?“ Herwig spürte, wie sich der Druck des Messers auf seinen Hals verstärkte.
    „Wambo hat sie! An seinem Gürtel!“, antwortete Herwig ohne zu zögern. Constantino ließ ein besonders aggressives Husten hören, Cassia ruckte unverbindlich mit dem Kopf und Attila bückte sich zu dem gefällten Soldaten hinunter. Es dauerte nicht lange, bis er die Flasche ins Licht hielt.
    „Und dieser Fusel soll so wertvoll sein?“, brachte Herwigs Würger seinen Unmut zum Ausdruck.
    „Scheint so“, erstickte Cassia die aufkommenden Zweifel sofort. „Wir haben, was wir wollten. Lasst uns schnell verschwinden, bevor uns noch mehr Leute sehen. Es sind so schon mehr als genug.“ Und ohne Vorwarnung schlug sie Barry mit der bloßen Faust hinterrücks nieder. Der Kopf des Jungen knallte gegen den Boden, prallte noch einmal zurück und blieb dann reglos lieg. Blut sickerte aus einer Platzwunde an der Stirn.
    Herwig keuchte erschrocken auf, hatte jedoch nicht viel Zeit darüber nachzudenken, denn er spürte, wie der Bandit hinter ihm plötzlich zwei kräftige Hände um seinen Hals legte und zudrückte. Das Hafenviertel von Khorinis verschwamm, während er krächzend Luft zu holen versuchte, zappelte, um freizukommen, und letztendlich zur Seite wegkippte in vollkommene Leere.

    Nässe auf der Haut. Unerbittliche Kälte in den Gliedern. Schmerzen im Kopf, im Rücken und in allen Gelenken. Herwigs Kopf dröhnte in der Finsternis, das Rauschen in seinen Ohren wurde nur von einem stetigen Tropfen gestört.
    Ihm fehlte jede Orientierung. Er spürte, dass er in einer Art Pfütze saß und ein Schauer überlief ihn. Er wollte nach dem Untergrund tasten, um sich von seiner Art zu überzeugen, doch ein Rasseln antwortete ihm und seine Hand bewegte sich kaum einen Millimeter. Er war mit Ketten irgendwo befestigt. Unbequem mit den Handgelenken über dem Kopf an der Wand.
    Was war nur geschehen? War er allein in diesem dunklen Raum? Wo waren Constantino und Barry? Lebte Wambo überhaupt noch? Wo waren Cassia und ihre Schergen? Er wusste auf keine dieser Fragen eine Antwort und die Dunkelheit allein ließ ihn ruhig bleiben. So war es schon immer gewesen. Immer wenn er Angst gehabt hatte, hatte er sich in eine dunkle Ecke verkrochen und die Augen zugemacht. Sein Puls hatte sich immer beruhigt und langsam war es ihm stets besser gegangen. Und selbst hier, festgekettet an einem fremden Ort, aller Wahrscheinlichkeit nach in den Händen von Mördern, fühlte er sich seltsam behütet. Doch vielleicht lag das auch an seiner dumpfen Wahrnehmung im Allgemeinen. Er sah nichts, roch Kloake, spürte das eklige Nass, schmeckte seine pelzige Zunge, hörte das nervenzerfetzende Tropfen von Wasser. Nichts davon wollte er wahrnehmen. Er wollte einfach nur wieder einschlafen, sich nicht damit beschäftigen, wo er war oder wie es weiter gehen würde.
    Die Antworten machten ihm Angst. Und er mochte nichts, das ihm Angst machte.

    „Wer ist der Mann, Mama?“ Evelyn sah mit zusammengezogenen, hellen Augenbrauen zwischen dem wild aussehenden Mann mitten im Raum und der Frau hin und her, die bis an den kalten Kamin zurückgewichen war. Keines der anderen Kinder war da gewesen, als der Mann vor wenigen Sekunden hereingekommen, ihre Mutter gepackt und ihr etwas ins Ohr gezischt hatte.
    Elises Gesicht war aschfahl geworden, als sie zurücktorkelte, doch die Röte des Rouges auf ihren hohen Wangenknochen war geblieben. „Nein, das geht nicht“, stammelte sie kopfschüttelnd. Ihre Augen starrten unverwandt in die Pechschwarzen des Mannes.
    „Und wie es geht. Wir haben deinen Tölpel und wir werden ihn umbringen, wenn du uns nicht zehntausend Goldmünzen auslieferst.“
    „Nein, ich kann nicht.“
    Der Mann zog eines der beiden Schwerter, die an seinem Gürtel hingen. Evelyn hatte ein solches schon oft gesehen. Männer der Miliz trugen die Schwerter mit solchen Griffen. Dann musste es ein guter Mann sein. Doch die Klinge war blutverkrustet. Ihr Vater hatte sie gelehrt, dass Klingen stumpf wurden, wenn man das Blut nicht schnell abwusch.
    „Er wäre heute nicht der erste, den ich aufschlitze.“ Der Mann grinste breit, leckte sich die behaarte Oberlippe. „Zehntausend.“
    „Ich kann nicht!“ Elise zögerte nicht eine Sekunde mit der Antwort, brachte aber auch nicht mehr hervor.
    „Keine Sorge. Wir lassen dir eine Woche Zeit, um das Gold aufzutreiben.“ Der Mann lächelte breit.
    „Ich kann nicht!“, stieß Elise hervor. „Mein Mann ist vor kurzem gestorben. Ich habe vier Kinder! Ich kann sie so schon nicht mehr ernähren, Lehmar gibt mir kein Geld mehr. Ich kann nicht mal fünfzig Münzen auftreiben, ob mir nun eine Woche Zeit bleibt oder nicht!“
    „Ich dachte, du hättest mich erkannt“, erwiderte der Mann unzufrieden.
    „Du bist Attila. Auf dich ist ein Kopfgeld ausgesetzt.“
    „Du wirst niemandem erzählen, dass du mich gesehen hast, sonst vergreife ich mich als nächstes an deinen Töchtern.“
    „Ich erzähle es niemandem. Aber schicke mir meinen Herwig zurück! Ich brauche ihn, um meine Kinder zu ernähren!“
    „Nun, du wirst bald eins weniger durchfüttern müssen, wenn du jetzt nicht sofort dem Handel zustimmst.“
    Elise verharrte schweigend, ihre schreckgeweiteten Augen immer noch unverwandt auf das Gesicht des steckbrieflich Gesuchten gerichtet.
    „Nun?“
    „Ich kann nicht. Mein Mann ist tot. Ich habe kein Geld. Seit mein Mann tot ist, habe ich nichts mehr, kein Geld, kaum Essen…“
    Der Mann wirbelte herum und rauschte aus der Tür. Einen Moment geschah nichts. Evelyn wollte gerade fragen, wer der Mann war, als ihre Mutter an Ort und Stelle zusammenbrach.

    Ein Platschen, dumpf wie hinter einer Holzplatte. Das Knarzen einer Tür gefolgt von viel lauterem, näheren Platschen. Näherkommende Schritte waren es.
    „Herwig? Bist du das?“, hörte er Barry irgendwo in der Ferne schlaftrunken Murmeln.
    Eine Fackel loderte auf. Herwig konnte Barry sehen, wie er mit den Handgelenken an die Wand gekettet war, doch dann verdunkelte ein grober Lederhandschuh seine Sicht. Attilas Stimme ganz nah an seinem Ohr zischte: „Deine Mami hat kein Geld für dich und dein Papi tanzt mit Beliar in der Hölle. Tut mir wirklich leid für dich! Für Bettlerkinder haben wir keine Verwendung.“
    Und ehe Herwigs Panik ob des Verschwindens der schützenden Dunkelheit neu auflodern konnte wie die Fackel über ihm, spürte er etwas Kaltes. Ein unnatürliches Ziehen an seinem Hals. Alles kippte zur Seite, wirbelte um ihn herum. Barrys Gesicht. Und dann die beruhigende Finsternis.

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    Cassias Blick ruhte auf der Flamme der stummeligen Kerze, die den Raum erhellte. Die smaragdene Iris um ihre Pupillen war glasig. Ihre Miene blieb vollkommen unbewegt, auch als ein Ächzen aus dem Halbdunkel an ihr Ohr drang. Sie hatte den Alchemisten nun schon lang genug gefoltert und doch gab er keine einzige, nützliche Information preis.
    Die Tür schwang auf und schlug klappernd gegen die feuchte Kerkerwand. Cassia brauchte sich ihr nicht zuwenden, um zu wissen, dass es Attila war.
    „Das Balg hat nur einen Haufen Schwestern und eine verwitwete Mutter“, fluchte er übellaunig und ließ sich in den alten Ohrensessel fallen, der für gewöhnlich Cassia vorbehalten war. Ein kleines Stückchen Luxus in der tristen Welt der Kanalisation, für das sie einst einige Mühen auf sich genommen hatte. „Bin wie üblich mit ihm verfahren. Hast du inzwischen rausgekriegt, ob dieses Drachengedöns echt ist?“ Er kratzte sich mit einem langen Fingernagel zwischen den gelben Zähnen.
    „Das hättest du mit mir absprechen müssen“, wies Cassia ihn kühl zurecht, blieb ihm eine Antwort schuldig.
    Attilas Augen hatten den am Boden liegenden Alchemisten entdeckt, dessen linker Arm in einem eigentümlichen Winkel abstand. An der zugehörigen Hand glänzten rote Stummel. „Dann halt nicht“, zuckte er mit den Achseln und sprang schon wieder auf. „Statte ich halt dem Milizschwein einen Besuch ab.“
    Das Grinsen, das seine Mundwinkel verzog, jagte selbst Cassia einen Schauer über den Rücken.

    Wie lang war er bewusstlos gewesen? Er konnte es nicht sagen. Die Schmerzen der letzten Folter pulsten noch durch all seine Gliedmaßen, brannten wie Feuer in seiner Brust, obwohl jene eines der wenigen Körperteile war, das verschont geblieben war. Er hob seinen Kopf und spürte seine Stirn über rauen Stein schürfen. Das Licht war nur schwach, doch etwas glitzerte auf einem kleinen, dreibeinigen Tisch vor ihm. Er spürte, wie sich seine Eingeweide wanden und wie sein Herz verkrampft pochte. Es war definitiv sein Ende. All die Jahre waren umsonst gewesen, er hatte sein Ziel nicht erreicht. Nun starb er, ohne je etwas Besonderes gewesen zu sein, ohne zu dem Revolutionär geworden zu sein, der er hatte werden wollen. Täuschte er sich, oder schwand nun sogar das wenige Licht der einen Flamme im Raum? Nein, er täuschte sich. Nicht das Licht wurde weniger, sein Blick wurde unscharf. All seine Organe schienen auf einen Schlag den Geist aufgeben zu wollen. Er blinzelte stur, um seine Augen zu zwingen, wieder klar zu sehen. Und für einen kurzen Augenblick erkannte er, was das Glitzern auf dem Tisch vor ihm war. Eine Glasflasche mit purpurnem Inhalt, in der sich der Schein der Kerze spiegelte.
    Das Herz in seiner Brust begann schneller zu schlagen. Er war noch nicht so weit, das wusste er. Doch wenn er starb, ohne es versucht zu haben, wäre die jahrelange Arbeit umsonst gewesen. Die einzigartige Versuchsreihe, das revolutionärste Experiment in der Geschichte der Khor-Inseln wäre ohne den finalen Test abgebrochen worden. Da konnte er ihn doch besser vorziehen.
    Er aktivierte seine Muskeln und er spürte die Sehnen in seinen Armen deutlicher als die Schmerzen in seiner linken Hand. Sie waren kräftig, viel kräftiger als es sich für einen Mann seines Alters gehörte. Doch die Lunge machte nicht mit, so wie schon seit Monaten. Er unterdrückte mit aller Kraft einen Hustenanfall, der ihn nur wieder zu Boden geworfen hätte, jetzt, da er wieder auf den Beinen war.
    Doch sie wandte sich trotzdem um, sah mit empor gezogener Augenbraue, dass er wieder auf den Beinen war. Die Überraschung in ihrem Gesicht war selbst für seinen nun wieder trüben Blick zu sehen. Er griff blitzschnell zu, schloss seine verbliebenen Finger um den Hals der Flasche, biss mit den Zähnen auf den Korken und zog ihn heraus. Sein menschliches Gebiss hätte diese Arbeit nicht mehr verrichten können, doch er hatte seinen Körper lange genug modifiziert und auf das ewige Leben vorbereitet. Der letzte Schritt durfte eigentlich noch nicht kommen, doch hatte er keine andere Wahl. Er spürte, wie die Schmerzen und seine überlastete Lunge ihn langsam aber sicher zu Tode marterten. Er konnte nur hoffen, dass es auch tatsächlich Drachenschnaps war.
    Cassias Bewegungen kamen zu spät.
    Constantino kippte den feurigen Sud seine Kehle hinunter, die augenblicklich Blasen warf. Cassias Faust, eine Entladung ihrer spontanen Wut, traf ihn mitten im Gesicht und er stürzte. Und nicht nur seine Kehle, sondern auch seine Haut warf Blasen.

    Er begann am ganzen Körper zu brodeln. Schuppen trieben aus seiner faltigen Haut, schwarz und lila glänzendes Mythril. Hemd und Weste rissen, als sich Flügel ausspannten, seine Beine schrumpelten zusammen und ließen die Hosen am Boden zurück. Die Augen quollen an und wurden leuchtend gelb.
    Cassia wusste nicht, warum es geschah, doch sie sah deutlich vor sich, was man sonst nur aus Schauergeschichten über Nekromanten hörte: Der alte Alchemist verwandelte sich in einen Dämon. Sie wirbelte herum und rannte durch die Tür aus dem Raum. Fieberhaft arbeitete ihr Gehirn an einer Erklärung. Doch alles was sie über Dämonen wusste, war, dass sie Kreaturen Beliars, also des Chaos waren, und im Auftrag ihrer Beschwörer, den Schwarzmagiern, töteten. War ein Mensch schon Chaos genug, um Dämon zu sein, wenn er das magische Blut von Drachen trank?
    Sie schalt sich für solch einen Gedanken, sie musste nach vorn denken. Ein Dämon war in der Kanalisation! Wie sollten sie ihn wieder los werden?
    Eine klauenbesetzte Hand grub sich in ihren Rücken und schlug sie zu Boden. Einen spitzen Schrei ausstoßend stürzte sie in die stinkende Brühe. Wie hatte er sie so schnell eingeholt? Hastig drehte sie sich auf den Rücken. Ihre rechte Hand zuckte reflexartig zu dem Rapier an ihrer Hüfte, doch der Blick aus gelben, dämonischen Augen lähmte sie.

    „Dann wollen wir doch mal sehen, wie wir dir dieses Mal wehtun…“ Attila spielte mit seinen zwei Schwertern herum, indem er mit ihnen enthusiastisch durch die Luft schnitt. Zu seinen Füßen lag der von Wunden übersäte Wambo. Wehrlos, so wie er einst zu den seinen gelegen hatte. Der Blick des Soldaten sprach von grauenvoller Angst. Angst, die Attila in vollen Zügen genoss. Einer spontanen Eingebung folgend, steckte er das Milizschwert in seiner Linken wieder weg und holt einen kleinen Schlüssel hervor.
    Wambo klatschte in die grüne Brühe, als er ihn von seinen Fesseln befreite, doch er stellte zufrieden fest, dass der Soldat einen Versuch unternahm, aufzustehen. Er wollte ihn zu Tode jagen. Die Todesangst in seinem schweißüberströmten Gesicht sehen, bevor er ihm das Schwert durch die Brust trieb und mit Genugtuung zusehen, wie der Lebenssaft aus ihm sprudelte.

    Seine Schmerzen waren nervenzerfetzend. Jede Faser seines Körpers protestierte gegen die Bewegung, doch er musste sich hochkämpfen und irgendwie seine Chance zur Flucht nutzen. Andernfalls würde dieser Irre seine jahrealte Rache nehmen. Wambos Beine zitterten, als er endlich die Hände aus dem sumpfigen Wasser zog und sein ganzes Gewicht auf sie legte. Sein Blick war vage, doch konnte er den bewaffneten Attila vor sich erkennen. Er bereitete sich darauf vor, ihn mit bloßen Händen zu erwürgen. Eine andere Wahl hatte er nicht.
    Doch in diesem Moment zerbarst die Tür hinter ihm. Holzsplitter regneten in das Kanalisationswasser und ein Wesen wie er es noch nie gesehen hatte, preschte vor. Attila wirbelte herum, wütend über die Störung, doch seine Augen weiteten sich bei dem Anblick des dämonischen Wesens. In seinen klauenbewehrten Händen baumelte der schlaffe Körper Cassias. Doch nun, wo der Dämon neue Beute entdeckt hatte, ließ er die Frau fallen, dass das Schwarz spritzte. Sein Angriff kam so schnell wie abrupt. Die Klauen blitzten beim Ausholen auf.
    Zu Wambos Verblüffung glückte Attilas Verteidigung. Eine schuppige Hand schlingerte durch die Luft. Das Wesen mit dem Armstumpf brüllte.
    Wambo konnte nicht begreifen, was hier abging, doch ihm war vollkommen klar, dass nur Attila zwischen ihm und diesem Wesen stand, das ihn ganz bestimmt töten würde. Und nun begann das Blut, das aus dem Armstumpf des Wesens lief, zu brodeln. Im Zeitraffer wuchs eine neue Hand mit noch längeren Klauen.
    Der nächste Angriff saß. Die langen Krallen gruben sich in Attilas Oberarm und der Bandit schrie auf.
    Wambo erinnerte der Schrei wieder daran, dass er diesen Mann einst vergewaltigt hatte. Damals hatte er selbst dafür gesorgt, dass Attila schrie und blutete.
    „Attila!“, rief er ohne Plan. Der Gedanke war siedend heiß auf die lange zurück liegende Erinnerung gefolgt. „Xerobar hat eine Rune mit der man dämonisches Zeug vernichten kann!“
    Bei dem Klang des Namens verhärteten sich die Züge des Banditen. „Mit dir mach ich bestimmt keine gemeinsame Sache!“
    Der Dämon wuchs einen halben Meter und brüllte zornig, wetzte die Klauen seiner Hände aneinander.
    „Wir sterben sonst!“
    Attila biss sich auf seine Oberlippe. „Ach, verdammt. Ich hab aber keinen Plan, wo der Mistkerl seinen Laden hat. Hab ewig versucht, ihn wiederzufinden, um mich an ihm zu rächen. Leider vergeblich.“
    Ein triumphierendes Lächeln huschte über Wambos erschöpftes Gesicht. „Gut, dass ich Stammkunde bin, was?“ Er spürte deutlich, dass Attila ein Geheimfach seiner Rüstung übersehen hatte, als er ihn ausgeplündert hatte. Eine Beule auf der Innenseite des Beckenschutzes, die gegen seine nasse Haut drückte. Ein letzter Hoffnungsschimmer auf Freiheit.
    Der Dämon brüllte infernalisch, bäumte sich auf und griff erneut an. Inzwischen kratzten die Stacheln auf seinem Rücken an der hohen Decke und rissen große Brocken aus ihr.
    Und plötzlich stand Barry in dem leeren Türrahmen. Wie er sich befreit hatte, würde nie jemand erfahren. Doch ihn packte nur das Grauen und ein spitzer Schrei erfüllte die Luft.
    Attilas Schwert schabte über die Krallen des Dämons, ohne einen Kratzer an ihnen zu hinterlassen. Immer wieder krachte Stahl auf Myhtril. Der Singsang des Zweikampfes hallte von den Wänden wider. Und dann packte Wambo Attila plötzlich von hinten, riss ihn zu Barry und alles verschwand in einem Wirbel aus Licht.
    In dem kurzen Moment des Nichts, fragte Wambo sich, warum er nicht einfach alleine verschwunden war. Den Jungen hatte er retten wollen, das war klar. Doch Attila? Wollte er sich so dafür revanchieren, dass er das Biest hingehalten hatte? Er wusste es selbst nicht, hatte die Entscheidung nie bewusst gefällt.
    Als sie wieder in Dunkelheit getaucht waren, wusste nur Wambo, wo sie sich befanden.
    Barry schluchzte erbärmlich in die Stille.
    „Wo sind wir?“, zischte Attila nervös.
    Eine Fackel flackerte auf. „Ich wüsste lieber, wer ihr seid“, antwortete Xerobar und verengte seine Äuglein hinter der dicken Brille. Dann erkannte er Wambo. „Herrje, Wambo! Was ist mit Ihnen passiert?“
    „Xerobar! Hast du die Paladinrune noch, die ich dir einst gegeben habe? Es ist wichtig! Die ganze Stadt ist in Gefahr!“
    „Selbst, wenn es wichtig wäre. Du kannst sie als gewöhnliche Stadtwache sowieso nicht einsetzen. Also musst du mir erst einmal genauer sagen, was Sache ist. Und dann können wir über den Preis reden.“
    Attila wollte gerade etwas Harsches erwidern, doch Wambo packte ihn warnend am Arm. In diesem Moment erbebte die ganze Höhle. Ein gigantisches Rumpeln tönte ohrenbetäubend von den zitternden Wänden wider. Tischbeine brachen, Barry hörte schlagartig auf zu schluchzen. Xerobar machte einen Satz in die Luft.
    „Folgt mir! Und klärt mich endlich über die Lage auf!“ Xerobar wirbelte herum und setzte sich in Bewegung, kaum dass die Erschütterung ein Ende gefunden hatte.
    „Ein Dämon ist in der Stadt, mehr weiß ich auch nicht“, antwortete Wambo wahrheitsgemäß und versuchte verzweifelt mit dem Krämer Schritt zu halten. Seine Schmerzen wurden unerträglich. Ein feuchtes Gefühl an seiner Seite warnte ihn, dass die Wunde wieder aufgeplatzt war. Eine Warnung, auf die er jetzt keine Rücksicht nehmen konnte.
    Xerobar zog einen Vorhang beiseite. Dahinter kam eine vergitterte Kabine zum Vorschein. „Nehmt den Jungen mit, ich lasse keine Kinder allein in meinem Laden!“
    Attila knurrte missbilligend, ging die fünf Schritte zurück zu Barry, zog sein Schwert und schlug dem Jungen den Kopf ab. „Damit wäre das geklärt, oder?“, sagte Attila grimmig, als er wieder zu den anderen beiden in den Käfig stieg. Hinter ihm breitete sich eine Lache frischen Blutes auf den durcheinander gepurzelten Waren aus.
    Wambo war angewidert, konzentrierte sich aber auf das Wesentliche. „Ich kann die Rune nicht einsetzen, da hast du Recht. Aber dann sollten wir schnell zu einem Paladin gehen, oder?“
    „Das hättet ihr auch gleich machen können. Fast jeder Paladin besitzt solch eine Rune“, rüffelte Xerobar ihn ungeduldig. Mit einem Ruck setzte sich der Käfig in Bewegung. Langsam begann er einen Aufstieg ins Ungewisse. Wambo fühlte sich unangenehm an die selbstständig öffnende Tür erinnert. „Doch du hast Glück. Genauso wie jeder denkt, dass mein Laden nur unterirdische Räumlichkeiten umfasst, denkt auch jeder, dass ich keine Paladinmagie wirken kann.“ Er lächelte verschlagen. „Doch beides ist falsch.“
    Und plötzlich wurde das Fackellicht überflüssig. Die Kabine wurde von gleißendem Sonnenlicht geflutet. Der vergitterte Käfig war nun oben auf einem Turm der Stadtmauer angekommen, von karmesinroten Zinnen umgeben.
    Von hier oben bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Die Kanalisation war eingestürzt und auf ihren Trümmern hockte ein dreißig Meter großes Etwas, das mit kurzen Stummelflügeln schlug. Offensichtlich versuchte es vergeblich abzuheben. Sein grauenhafter Schlund öffnete sich und ein Brüllen hallte von allen Bergen der Umgebung wider. Die gelben, schlitzartigen Augen zuckten zu dem Turm, auf dem sie standen, als würde es spüren, dass sich dort seine entflohenen Opfer befanden.
    Wieder öffnete es seinen Schlund, doch dieses Mal sammelte sich schwarze Materie in ihm, wie ein lichtloser Feuerball gigantischen Ausmaßes.
    „Faszinierend, doch es wird höchste Zeit, dem ein Ende zu bereiten“, murmelte Xerobar unerschrocken und schüttelte seinen rechten Arm. Die Paladinrune fiel aus dem Ärmel in seine Hand und sofort breitete sich ein Funkenschauer von ihr aus, der pfeilschnell auf den Dämon zuschoss.
    Ein trommelfellzerreißendes Brüllen kündete von dem Schmerz des Dämons, als dieser sich in Abermillionen von kleinen Funken auflöste. Als der letzte Funken verloschen war, erinnerte nur noch die Schneise der Zerstörung an ihn.

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