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    Deus Avatar von Sir Ewek Emelot
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    Die magische Quelle



    Inquisitor Mendoza hatte schon viele Schiffe gesehen, und war mit einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Typen vertraut: Natürlich kannte er die wendigen Kraier und Dschunken, die im südlichen Archipel verwendet wurden, die prächtigen Galeonen aus Varant, die bauchigen Koggen aus Myrtana und die schweren Holks aus dem fernen Afterfloor. Gelegentlich hatte sich sogar eines der schnellen Drachenboote aus Nordmar oder eine der düsteren Galeeren der Orks so weit in den Süden verirrt.
    Kurz: Mendoza kannte sich aus. Meist genügte ihm ein Blick um zu bestimmen, woher ein Schiff kam, was für Ladung es wohl trug und wofür es diese würde eintauschen wollen.
    Doch das Schiff, das da nun vor Farangas Küsten aufgetaucht und in den Hafen eingelaufen war, das gab ihm Rätsel auf: Der Bau war ihm völlig unbekannt: Lang, vielmastig, und mit ausladender Takelage, wirkte es schnell und ungemein elegant. Die niedrigen Kastelle an Vorder- und Rückseiten waren kunstvoll verziert. An den Seiten des Schiffes befanden sich zwei Reihen der Klappen, von denen Mendoza wusste, dass sie im Königreich Afterfloor als „Stückpforte“ bezeichnet wurden, und hinter denen sich die geheimnisvollen, Feuer und Eisen speienden Geschütze verbargen, die Afterfloors Seeherrschaft ausmachten.
    All dies hätte Mendoza annehmen lassen, das Schiff komme aus Afterfloor, sei eventuell ein neuer Schiffstyp. Doch die Beflaggung gab ihm Rätsel auf: Statt der schwarzen Lilien auf silbernem Grund zeigte die Flagge etwas, das ihm am ehesten nach einer Ameise aussah.
    Doch wer trug schon eine Ameise im Wappen?
    Da es sich um das erste, größere Schiff seit langem handelte, das Faranga anlief, und Mendoza hoffte, dass es Nachrichten von der Außenwelt bringen würde, hatte er angeordnet, dass die Befehlshaber des Schiffes unverzüglich zu ihm geführt werden sollten, in den Palast, der hoch oben auf dem Berg thronte, der sich über der Hafenstadt erhob.
    Endlich, das Klopfen an der Tür! „Herein!“, rief Mendoza, mit seiner an im Sturm knarrenden Zweigen erinnernden Stimme, richtete sich in dem Sessel auf und rückte das Monokel zurecht, durch das er magische Energie in Form bunter Schlieren wahrzunehmen vermochte: Sein wichtigstes Instrument als Inquisitor.

    Die Tür zu Mendozas Arbeitszimmer öffnete sich, und herein traten sein Stellvertreter Carlos, ein Kerl mit Schnauzbart, Stulpenstiefeln, blauem Gehrock und einem breitkrempigen, eleganten Hütchen sowie ein in blauer Robe gewandeter, hochgewachsener Mann, dessen hohes Alter lediglich an dem schlohweißen und sauber gestutzten Bart erkennbar war, denn der Mann schritt kraftvoll und zügig aus. Durch das Monokel wirkte es, als ginge von dem Blaugewandeten ein Leuchten aus; ein untrügliches Anzeichen, dass es sich entweder um einen Magier handelte, oder aber er magische Gegenstände bei sich trug.
    Als das Grüppchen bei Mendozas Schreibtisch angekommen war, verschränkte der Mann seine Hände so, dass sie in den weiten Ärmeln der blauen Robe verschwanden, und blickte Mendoza aus dunklen Augen heraus an. Der Kerl mit dem Hut nahm eine lässige Haltung ein und legte eine Hand an das ziselierte Heft des Degens.
    „Seine Gnaden, Inquisitor Mendoza, amtierender Herrscher von Faranga“, rief Carlos mit gewichtiger Stimme. Als nach einigen Augenblicken klar war, dass die Fremden nicht vorhatten, das Knie zu beugen oder auch nur das Haupt ein wenig zu senken, fuhr Carlos fort: „Ich darf Euch vorstellen, Euer Gnaden: Seine Eminenz Cronos, Meister...“
    „Doktor Cronos, wenn ich bitten darf!“
    Carlos räusperte sich: „Ähm, also, seine Eminenz, DOKTOR Cronos, Meister der Welle, hoher Magier des Wassers, Priester des Adanos, Gesandter von... ähm...“
    Die Lippen des Magiers verzogen sich zu einem Lächeln, und erneut unterbrach er den Sermon des unglücklichen Carlos: „Gesandter Ihrer Majestät, Sabatha, von der Götter Gnaden Königin des Vereinigten Königreiches von Khorinis, Königin von Biblur und Oberhaupt des Bundes von Khorinis.“
    Erneut räusperte sich Carlos, und sagte: „Wenn ich dann fortfahren dürfte“, eine Handbewegung in Richtung des Huts, „Alessandro Rafaele Montaguri, Kapitän der Häschen.“ Der Kerl lupfte den Hut und verbeugte sich schwungvoll, dass die Rockschöße nur so flatterten. „Weiterhin“, fuhr Carlos fort, „warten draußen noch zwei weitere Begleiter des Meisters Cronos. Ebenfalls Gesandte besagter Königin. Wir ließen sie einstweilen warten, weil...“
    „Weil wir der Meinung waren, dass wir Euch, verehrter Herr Mendoza, mit ihnen nicht unvorbereitet konfrontieren sollten, denn sie sind ein wenig... hm, merkwürdig“, beendete der Magier den Satz, „Ihr solltet Euch bitte nicht über das wundern, was Ihr gleich seht. Ich kann Euch indes versichern, dass es sich nicht um einen Scherz handelt und alles seine Richtigkeit hat.“
    Cronos nickte dem unsicher dreinblickenden Carlos zu, der, ohne auf Mendozas zunehmend finstere Miene zu achten, zur Tür hastete und die übrigen Besucher hereinbat.
    Angesichts des Anblicks legte sich Mendozas Stirn in tiefe Falten. Sein Blick wanderte eine Weile zwischen den neuen Besuchern, dem Wassermagier und seinem Stellvertreter hin und her.
    „Ich darf vorstellen“, hob der Magier an und ignorierte Mendozas grimmigen Blick, „Frau Josanna VanBreugen, Prospektorin der khoriner Hanse und Dr. Sestabian Bloch, Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften und wissenschaftlicher Leiter unserer Expedition.“
    Mendozas stechender Blick richtete sich auf den Wassermagier. Seine Stimme, obgleich leise und ruhig, vibrierte vor Schärfe: „Soll das ein Scherz sein?“

    Das kleine, grüne, pelzige Monster, das als Sestabian Bloch vorgestellt worden war, ließ in einem ungemein kecken Lächeln spitze Zähnchen blitzen. Das Kostüm, in das man das Monsterchen gesteckt hatte, war vollkommen lächerlich: Es trug eine dunkle Hose, einen dunklen Frack und darunter eine rote Weste. Vor dem Bauch baumelte ihm ein Kettchen, das offenbar an den Westenknöpfen festgemacht war, und in einer Tasche verschwand. Das pelzige Männchen verschränkte die Arme hinter dem Rücken, hob gewichtig die Brauen, zog das spitze Näschen kraus, und begann zu sprechen: „Seid mir gegrüßt, ehrenwerter Herr Mendoza.“
    Das andere Monsterchen, das dem ersten glich, jedoch etwas filigraner wirkte und ein ausladendes Kleid trug, knickste und entbot eine ebenso höfliche Begrüßung: „Es ist wunderbar aufregend, das berühmte Faranga kennen zu lernen“, fügte das Josanna-Monster mit eindeutig weiblicher Stimme hinzu, „die Kunde von Eurer Insel sind bis nach Biblur gedrungen.“
    „Wir waren, ähm, wir waren nicht sicher, was wir davon halten sollten“, mischte sich Carlos ein, und zog damit die finsteren Blicke des Inquisitors auf sich, „offenbar sind das, also, das sind offenbar, ähm...“
    „Goblins“, kam ihm Sestabian freundlich zu Hilfe, „Gobbo Sapiens Sapiens. Wir sind uns bewusst, dass solch ein Anblick in den hiesigen Breiten ungewöhnlich ist, doch zählen wir auf Eure Toleranz und Weltoffenheit, wie sie einem derart formidablen Anführer wohl zusteht. Der Zweck unserer Expedition besteht darin, mit Eurer schönen Insel in Kontakt zu treten, vorsichtige diplomatische Banden zu knüpfen, überdies, mit Eurer wohlfeilen Erlaubnis, die indigenen Bräuche, Flora und Fauna nach Möglichkeit zu studieren, eventuell einige Proben für die weiterführende Examination durch die Akademie zu sammeln, und...“
    „...und eventuelle Handelsverträge zu schließen“, fuhr Josanna dazwischen.
    „Und im Übrigen“, ließ sich der Magier vernehmen, der neben den kleinwüchsigen Monstern noch größer wirkte, als ohnehin schon, „würde ich gerne das berühmte Kloster und die magische Quelle in Augenschein nehmen, für die diese Insel ja so berühmt ist.“

    Letztendlich hatte der Empfang doch einen allseitig akzeptablen Verlauf genommen: Mendoza hatte seine Verwunderung rasch überwunden und sich damit abgefunden, dass er es mit Goblins zu tun habe. Mit sprechenden, zivilisierten und durchaus gebildeten dazu. Die Informationen, die sie brachten, waren ihm zudem sehr teuer: Der Krieg im fernen Myrtana sei vorbei, das Königreich auf dem Festland existiere nicht mehr, und an seine Stelle sei ein loser Bund diverser Fürstentümer getreten, zu denen auch das Königreich von Khorinis gehöre, das zudem eine Reihe weiterer Inseln unter seine Schutzherrschaft genommen habe.

    „Und Ihr habt wirklich tausend Jahre unbemerkt auf der Insel gelebt?“, wunderte sich Mendoza.
    „Also, wir, die wir hier stehen, natürlich nicht. Das wäre biologisch ja völlig unmöglich. Mhm, ich präzisiere: nach gegenwärtigem Forschungsstand unmöglich. Aber insofern die Frage gattungsbezogen war: Ja, unser Volk hat tausend Jahre verborgen auf der Insel Khorinis gelebt. Bis wir in unserer alten Stadt auf die Wassermagier trafen, die die Ruinen zufälligerweise zu derselben Zeit erforschten, in der auch wir unsere archäologische Expedition entsandt hatten.“
    „Man möchte fast meinen“, warf Cronos ein, „dass es sich um Fügung handelte. Die Wege Adanos' sind wahrlich unergründlich.“
    „Und nun seid Ihr hier, um diese Insel ebenfalls zu annektieren?“, fragte Mendoza.
    „Eine formelle Annektion ist unwahrscheinlich“, antwortete Sestabian, „immerhin ist Faranga viel zu weit vom Mutterland entfernt. Nein, dies ist eher eine akademische Expedition. Wir wären sehr an einem Wissensaustausch interessiert, und...“
    „...und an Handel“, unterbrach ihn die Prospektorin, „von einer rein akademischen Expedition kann gar keine Rede sein! Ich repräsentiere die Organisation der Händler und Kaufleute unseres Inselverbundes und bin ermächtigt, verbindliche Zusagen zu Kontrakten über Handelsvolumina, Genussrechte und anderweitigen Konzessionen zu machen.“
    Mendoza winkte ab: „Dafür werdet Ihr Euch mit der örtlichen Kaufmannsinnung in Verbindung setzen müssen, Fräulein VanBreugen. Mein Stellvertreter Carlos dürfte ein Treffen arrangieren können.“
    Frau VanBreugen, wenn ich bitten darf“, erwiderte die Goblindame, „ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Aber danke, ein solches Treffen wäre mir sehr Recht.“
    „Und was Eure wissenschaftlichen Interessen angeht, so schlage ich vor, dass Ihr Euch mit den örtlichen Jägern auseinandersetzt. Die kennen die Insel und ihre Tier- und Pflanzenwelt wohl am besten. Mit einer seit tausend Jahren im verborgenen lebenden Zivilisation würde ich hier allerdings nicht rechnen.“
    Sestabian Bloch lächelte freudig, fügte jedoch hinzu: „Wir sind auch an der örtlichen Folklore interessiert. Oh, und was ist das eigentlich für ein interessantes Monokel?“
    Mendoza unterdrückte den Impuls, sich das Monokel erneut zurechtzurücken, und setzte stattdessen die grimmigste Miene auf, zu der er fähig war.
    „Das, werter Herr Bloch“, knurrte Mendoza mit überaus unheilschwangerer Stimme, „ist nicht Euer Belang und wird hier auch nicht erörtert. Es wäre besser, nicht mehr danach zu fragen.“
    Der Goblin wirkte ob der unfreundlichen Entgegnung etwas verwirrt, zuckte jedoch nur mit den Schultern: „Wie Ihr wünscht. Die Jäger also, gut gut. Ich werde mich mit Eurer erlauchten Erlaubnis in der Stadt umhören.“
    Mendoza nickte und fixierte den Magier.
    „Meister Cronos“, sagte er, „was Eure magischen Interessen angeht, so muss ich Euch mitteilen, dass die Quelle von Faranga zum gegenwärtigen Zeitpunkt von niemandem in Augenschein genommen werden darf. Meine Anwesenheit auf dieser Insel rührt von besagter Quelle her, und meine Arbeit duldet keinerlei Störung. Es sei Euch jedoch gestattet, die Vulkanfeste und das dortige Kloster zu besuchen, sofern Euch die dortigen Magier empfangen, und die dortige Bibliothek zu nutzen, sofern es die Magier gestatten.“
    Cronos verzog keine Miene und nickte bloß.
    „Und ich“, meldete sich der Kapitän zu Wort, indem er sich den Hut wieder aufsetzte, „werde anstelle von Bodenschätzen, Bibliotheken oder Fauna die örtliche Folklore, soll heißen, die örtlichen Etablissements examinieren, eventuell mit besonderem Augenmerk auf eine ganz spezifische Flora, wenn Euer Exzellenz wissen, was ich meine.“
    Mendozas Antlitz verzog sich zu einer überaus unangenehmen Grimasse, doch enthielt er sich jeden Kommentars.
    Die Audienz war beendet.


    Josanna VanBreugen unterdrückte ein Seufzen. Sie fühlte sich überaus unangemessen gekleidet und überhaupt ganz und gar fehl am Platze: Das ärmliche Häuslein, das ihr als der Sitz der örtlichen Kaufmannsinnung gewiesen worden war, machte von innen ebensowenig her, wie von außen: Der Innenraum, in dem sie saß, war düster, die Wände größtenteils kahl, die Möblierung weitgehend einfach. Was an Zierrat vorhanden war und möglicherweise einmal Zeugnis von Wohlstand gewesen war, war nurmehr alt und abgenutzt und zeugte eher von Dekadenz und Verfall. Alles in allem wirkte alles, was sie bislang auf Faranga gesehen hatte, ein wenig morbid.
    Mit Josanna am Tisch saßen ein halbes Dutzend Männer – größtenteils Alte mit grauen Haaren oder Glatze -, die angeblich die reichsten und einflussreichsten Personen der Insel sein sollten.
    Josannas Kleid, ausladend, bunt, prächtig und aus unterschiedlichen Lagen von Samt, Seide und Brokat, war ihr lästig. Angesichts des heruntergekommenen Eindrucks von Gildenhalle und Gildenmitgliedern noch mehr, als ohnehin.
    Wahrlich: Josanna fühlte sich deplatziert.
    Das Gespräch hatte bislang keinerlei zufriedenstellende Ergebnisse geliefert. Denn es gab nichts, was die Insel hergab. Die Insel war klein, ärmlich und ganz und gar unspektakulär.
    „Wie wäre es mit Muscheln?“, fragte einer der Händler, „wir fischen manchmal Muscheln. Aus dem Meer.“
    Natürlich aus dem Meer! Woher denn sonst? Josanna verkniff es sich, die Augen zu rollen, und zwang sich zu einer ruhigen Antwort: „Handelt es sich um Perlmuscheln?“
    „Perl... öhm, nö. Ganz normale Muscheln halt. Mit Fleisch drin, das man essen kann.“
    „Dann lehne ich dankend ab. Muscheln haben wir auf Khorinis selbst.“
    Sie verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass die Muscheln auf dem langen Weg von Faranga schlecht würden, und sie daher nicht einmal dann an ihnen interessiert gewesen wäre, wenn es an den Küsten von Khorinis nicht eine einzige Muschel gegeben hätte.
    „Wir haben hier Wölfe, die geben gutes Fell“, warf ein Typ ein, der Josanna als Flavio vorgestellt worden war, und offenkundig der Fellhändler der Stadt war, „und im Gegensatz zu Muscheln oder anderen Nahrungsmitteln verderben Felle auch nicht.“
    „Züchtet Ihr die Wölfe denn?“, fragte Josanna unschuldig.
    „Öhm...züchten?“
    „Ja. Züchten. Wenn nicht, dann würde ich passen. Oder wie viele Wölfe habt Ihr hier auf der Insel?“
    „Nun jaaaa... äh, spielt das eine Rolle?“
    Ruhig, Josanna. Ruhig Blut.
    „Was glaubt Ihr“, fragte sie, „was passieren wird, wenn die Hanse Wolfsfelle von dieser Insel bezieht? In ausreichender und rentabler Menge, versteht sich. Was glaubt Ihr wohl, wie lange Ihr werdet liefern können? Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Und dann? Wieviele Wölfe gibt es hier dann wohl noch?“
    „Nun...“
    „Und was glaubt Ihr wohl“, fuhr sie fort und Flavio über den Mund, „was die Zeitungen daheim auf Khorinis titeln werden? Nun?“
    Sie machte eine Pause und schaute in die Runde verdutzt dreinblickender Männer. Sie erwog, dass diese Leute wohl nicht einmal wussten, was eine Zeitung war.
    Sie ignorierte es. Und verkniff sich die spitzen Bemerkungen, die ihr auf der Zunge lagen, durchaus nicht: „'Khoriner Hanse rottet Tierbestände aus', werden sie Titeln, 'Khoriner Hanse beutet Natur aus', werden sie schreiben, dass wir kurzsichtigerweise die Umwelt zerstören, für kurzfristige Quartalszahlen. Und dann? Dann werden die Menschen unangenehm berührt sein. Es wird Proteste geben. Petitionen. Das Parlament wird eingeschaltet, eventuell gibt es eine Klage. Reputationsverlust, der nur durch Schadenersatzzahlungen und Projekte zur Erneuerung der Tierbestände einigermaßen wiedergutgemacht werden können – teure Projekte – und möglicherweise Strafgelder wegen nicht nachhaltigen Geschäftsgebarens.“
    „Lasst uns doch mal Klartext reden!“, begann ein Herr namens Alvaro zu sprechen, der offenbar eine Art Führungsposition unter den örtlichen Kaufleuten innehatte, „diese Insel bietet kaum etwas, das es nicht anderswo auch in gibt, und zwar in größeren Mengen, besserer Qualität und näher. Vielleicht sollten wir mal umgekehrt fragen: Was könnt IHR eigentlich liefern, das UNS von Nutzen wäre?“
    Josanna bedachte Alvaro mit einem kühlen Blick. Sie stellte fest, dass sie den Kerl nicht mochte. Er war ihr entschieden unsympathisch.
    „Khorinis selbst führt Metalle aus, insbesondere magisches Erz, aber auch andere Mineralien und Bodenschätze. Außerdem führen wir Wertarbeiten aus. Dazu gehören Keramik, hochqualitative Stoffe, feinmechanische Erzeugnisse. Frage: Gibt es auf Faranga einen funktionierenden Bergbau?“
    „Kaum“, antwortete Alvaro, „Der Vulkan gibt nicht viel her, und was er hergibt wird meist von Aschenbestien und anderem Getier bewacht. Da ist schwer dranzukommen.“
    „Dann wären wir bereit, größere Mengen von Eisenerz, Kupfer und Zinn zu liefern. Frage: Gibt es Edelhölzer auf Faranga? Wie sieht es mit den Waldbeständen aus?“
    „Wir haben hier Dschungel und Urwald“, sagte Flavio, „da sind auch Nutzhölzer dabei.“
    Josanna nickte. Tropische Hölzer waren zum Teil ausgesprochen gute Materialien.
    „Ein Experte von unserem Schiff wird sich das ansehen und darüber befinden, ob der Handel sich lohnt. Ich sage es gleich: Auch hier gilt die Prämisse der Nachhaltigkeit! Doch der Reputationsverlust beim Abholzen ist geringer als beim Töten von Tieren. Keine niedlichen Welpen, Ihr versteht?“
    Vermutlich verstanden sie nicht – schließlich war die Sensibilität der khoriner Bevölkerung für derlei Dinge keineswegs die Regel. Doch die Männer nickten artig.
    „Die Handelsbilanz“, sagte Josanna, „sollte insgesamt möglichst ausgeglichen sein. Das ist im Sinne der Stabilität unserer beiden Wirtschaftssysteme und damit für das nachhaltige Wirtschaften notwendig.“
    „Das mit der Nachhaltigkeit ist Euch ja sehr wichtig!“, spottete Alvaro.
    „Ist es“, sagte Josanna kühl, „die Goblins von Biblur haben ein Jahrtausend lang in völliger Isolation verbracht. Hätten wir nicht gelernt, unsere Ressourcen schonend einzusetzen, wären wir untergegangen. Mir ist aufgefallen, dass Faranga keinerlei hochseetüchtige Flotte besitzt. Frage: Wärt Ihr am Kauf von Schiffen interessiert? Ich spreche nicht von großen Galeonen, und auch nicht von den einfachen Bötchen, wie Ihr sie für den Fischfang benutzt. Ich spreche von Karavellen, relativ klein und für die Nutzung im Archipel zu gebrauchen. Schnell, wendig, dennoch hochseetauglich, akzeptable Ladekapazität.“
    Die Händler drucksten herum.
    „Boote wären ja gut“, meinte einer, „aber benutzen können wir sie nicht.“
    Josanna hob eine Braue. „Wieso nicht?“
    „Faranga liegt weit ab“, antwortete der Kaufmann, „ein ganzes Stück weiter südlich vom restlichen Archipel. Faranga ist kaum zu finden. Alle Schiffe, die herkommen, werden von Magiern begleitet, die sich von der magischen Quelle der Insel leiten lassen. Das ist wie ein Leuchtfeuer. Von einem Leuchtturm. Versteht Ihr?“
    Josanna verstand.
    „Wir haben ja eigene Magier“, fuhr der Mann fort, „doch die bleiben in ihrem Kloster, wollen kaum je von der Insel weg. Eigene Schiffe wären nett, aber wenn wir wegsegeln, dann finden wir nicht mehr zurück.“
    Die Prospektorin gestattete sich ein überhebliches Lächeln.
    „Navigation ist eine schwierige Angelegenheit, ja. Augenblick bitte!“ Sie entnahm der Tasche, die sie mit sich führte, einen Folianten, blätterte ein wenig herum und schob den Folianten dann Alvaro zu.
    „Was ist das?“, fragte der Händler.
    „Das“, sagte Josanna, „ist eine Uhr. Eine Pendeluhr, um genau zu sein. Sie gehört zu den Erzeugnissen, mit denen wir handeln, und ist daher in dem Katalog verzeichnet. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen die genauen Spezifikationen, Preise usw. Diese Art von Uhren besitzt, wie Ihr sehen könnt, ein Ziffernblatt mit Stunden, Minuten und Sekundenzeiger. Das Uhrwerk wird durch dieses Pendel hier angetrieben. Die Abweichung beträgt unter eine Sekunde pro Tag. Diese Art von Uhren wurde in Biblur vor etwa 150 Jahren entwickelt.“
    „Was hat das mit Navigation zu tun?“
    „Navigation“, erklärte Josanna, „besteht in der Positionsbestimmung nach Längen- und Breitengraden. Die Breitengradbestimmung ist einfach. Dürfte ich etwas zu Schreiben haben? Danke. Also das hier sei unsere Welt. Diese Welt sei eine Kugel. Wir bestimmen die Position auf der Kugel durch Schnittpunkte von Breitengraden und Längengraden. Breitengrade werden relativ zum Äquator bestimmt. Seht Ihr? Das ist der Äquator, mit genau Null Grad. Alle anderen Breitengrade sind zum Äquator parallel und werden in nördlicher oder südlicher Breite angegeben. Bei den Polen, das sind diese Punkte hier, beträgt die Breite 90 Grad. Die Breitenbestimmung ist einfach, denn wenn man sich die Achse, die zwischen den Polen verläuft, erweitert denkt, dann weist diese genau auf einen bestimmten Fixstern hin, dem Polarstern. An der Position, die der Polarstern am Himmel einnimmt, man könnte auch sagen: daran, wie hoch er über dem Horizont liegt, lässt sich die Breite, an der man sich befindet, exakt bestimmen.
    Die Längengrade ergeben sich, wenn man eine gerade Linie von Pol zu Pol zieht, etwa so. Und für die Längengradbestimmung gibt es diese Möglichkeit über die Sternenbeobachtung nicht. Um den Längengrad zu bestimmen, ist es notwendig, die Differenz zu bestimmen zwischen der Ortszeit des Ortes, an dem man sich befindet, und der Ortszeit an einem Ort, dessen geografische Lage bekannt ist. Zu diesem Zweck benötigt man eine Uhr, welche die Ortszeit des Ortes anzeigt, dessen Lage bekannt ist. Die Ortszeit dort, wo man sich aufhält, lässt sich ja einfach am Sonnenstand ablesen.
    Der Schlüssel zur Navigation besteht also in funktionierenden und genauen Uhren. Diese Pendeluhren hier, wie gesagt, weichen pro Tag um weniger als eine Sekunde ab. Bei längeren Reisen wäre also eine minutengenaue Längenbestimmung möglich. Und, wie gesagt, diese Uhren wurden vor 150 Jahren entwickelt. Neuere Uhren sind besser und gehen wesentlich genauer. Vor allem aber reagieren sie weniger empfindlich auf Temperaturschwankungen und Erschütterungen, also den Störfaktoren bei Schiffsreisen. Wir haben Faranga durch die Hilfe unseres Zauberers Cronos gefunden, der sich an Eurer berühmten Quelle orientiert hat. Aber nun, da wir die Lage der Insel kennen, können wir sie jederzeit wiederfinden. Und wir können Euch Schiffe mit Chronometern bauen, mit denen Ihr das auch könnt. Ich sage es gleich: Diese Schiffe sind teuer. Und die verwendete Mechanik ist ungemein ausgefeilt. Ihr werdet zugleich einen Wartungsvertrag mit uns abschließen wollen.“
    Josanna legte die Feder weg und faltete die Hände zusammen. Sie war keineswegs zufrieden, denn es war offensichtlich, dass die Insel nicht viel hergab. Doch würde sie immerhin nicht mit völlig leeren Händen nach Hause zurückkehren.
    Die übrigen Verhandlungen ergaben nicht mehr allzu viel, aber immerhin mehr als nichts, und so wurde die Sitzung bald aufgelöst. Die Menschen zerstreuten sich, und Josanna gedachte, zum Schiff zurückzukehren, als Alvaro sie zurückhielt.
    „Einen Moment noch“, sagte er, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie alleine waren, „das alles hat ja zu nichts geführt und Euch ist die Enttäuschung anzusehen. Ja, obwohl ihr ein haariges, kleines Monster seid, ist Euch die Enttäuschung anzusehen.“
    Josanna bedachte den Händler mit eisigem Blick und hielt es einstweilen für angebracht, abzuwarten.
    „Das liegt daran“, fuhr Alvaro fort, „dass wir es hier mit Idioten zu haben. Diese Leute, die sind alles arme Schlucker und Dummköpfe, Eurer Zeit nicht wert.“
    „Und wer wäre meiner Zeit wert?“, ging Josanna auf Alvaro ein.
    „Jemand, mit dem ich ein Treffen arrangieren könnte. Ein geheimes Treffen.“
    Ihre Augenbrauen hoben sich: „Ein illegales Treffen. Eines, das der Obrigkeit nicht bekannt sein darf? Sehe ich aus, als partizipierte ich an organisierter Kriminalität? Falls dieser Begriff für diese Insel nicht schon zu hoch gegriffen ist.“
    Alvaro lachte böse.
    „Ihr habt ein scharfes Zünglein, Monsterchen. Die Wahrheit ist: Hier gibt es keine Obrigkeit. Wer etwas anderes behauptet, ist entweder ein Lügner oder ein Hochstapler. Also?“
    Josanna dachte kurz nach, und nickte dann: „Also gut!“
    Was konnte es schon schaden, sich die Sache anzusehen?


    „Kapitän Alessandro Rafaele Montaguri“, stellte sich Alessandro vor und verbeugte sich schwungvoll, wie es seine Art war, „es ist mir eine große Freude, einem derart hinreißenden Fräulein die Aufwartung zu machen!“
    Besagtes Fräulein errötete, als Alessandro ihre Hand ergriff und einen Kuss daraufschmatzte. Er war gerade im Begriff, sich den eleganten Schnäuzer zu streichen, als ihn die soeben geküsste Hand mit lautem Klatschen im Gesicht landete. Das hatte weh getan.
    „Bin kein Fräulein“, fauchte das schöne Mädchen, „und hinreißend ganz sicher nicht zu Dir. Behalt die Hand bei Dir!“
    Alessandro seufzte und verbeugte sich erneut, ebenso schwungvoll aber noch ehrerbietiger als zuvor.
    Und sah sich nach jemand anderes um.


    Sestabian Bloch war durch die Straßen und Gassen der Stadt flaniert und hatte sich gebührlich umgeschaut, sich einen Eindruck verschafft. Die Menschen der Stadt hatten sich auch einen Eindruck verschafft, und zwar einen sehr nachhaltigen, wie es schien, denn sie hatten noch nie im Leben einen Goblin gesehen. Die meisten hatten ihn zunächst mit Kreaturen verwechselt, die sie „Gnome“ nannten, und ihm als affenartige Tiere beschrieben hatten.
    Das hatte Sestabians Forscherdrang sogleich geweckt: Eventuell eine neue Primatenart? Er gedachte, umfassend Proben zu sammeln, eventuell erste Skizzen anzufertigen, um mit ausreichendem Material seine Kollegen an der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Biblur zu beeindrucken. Diese Insel, da war er sicher, bot gewiss eine ganze Reihe faszinierender, neuer Arten, von denen diese ominösen Gnomen erst der Anfang waren. Immerhin war sie hinreichend isoliert, um eine eigene, einmalige Tier- und Pflanzenwelt aufzuweisen.
    Nach einigem Herumfragen war er schließlich fündig geworden: Man hatte ihn an einen Mann namens Cole verwiesen, der offenbar Jäger war und sich auf der Insel auskannte. Von dem hatte er sich einiges über die Tier- und Pflanzenwelt sagen lassen, und würde sich von ihm für einen bescheidenen Lohn die Insel zeigen lassen.
    „Werden wir auch Gnome sehen?“, fragte Sestabian.
    „Mhm“, brummte Cole, „weiß nicht recht. Vielleicht. Sind nicht ungefährlich, die Viecher. Besser wäre, wenn nicht. Andererseits“, der Jäger lachte, „bist ja selbst fast sowas wie ein Gnom. Kommst vielleicht mit denen zurecht?“
    Sestabian runzelte die Stirn. Es war ihm nicht angenehm, mit Tieren verglichen zu werden, nur weil er ein Goblin war. Doch er besann sich darauf, dass diese Insel abgelegen war, hinterwäldlerisch und unzivilisiert. Das machte ja immerhin auch einen Teil des Reizes dieser Expedition aus.
    „Vor einem Viech aber“, Cole hatte die Stimme gesenkt, als spreche er über ein besonderes Geheimnis, „müssen wir besonders auf der Hut sein.“ Cole machte eine Kunstpause, die ihm Sestabian geduldig zugestand. „Und zwar“, erneute Pause, „der Gyrger!“
    Da Sestabian noch nie von diesem Gyrger gehört hatte, zuckte er mit den Schultern.
    „Der Gyrger“, dozierte Cole, „ist ein übles Ungeheuer so die Menschen fängt und frisst, vor allem kleine Kinder. Hat schon einige entführt, in seine dunkle Höhle. Hat Gnome um sich, die er kontrolliert, ist nämlich schlau und weiß die kleinen Mistviecher zu beherrschen. So haust der Gyrger wie ein kleiner König, uns aber, uns gute Menschen, uns bedroht er immerzu. Schon mancher ist in die Wildnis gezogen und ward nicht mehr gesehen. Wegen dem Gyrger.“
    Sestabian hatte seinen Block gezückt und sich eifrig Notizen gemacht. Er forderte Cole auf, fortzufahren, und ließ sich die abenteuerliche und haarsträubende Geschichte vom bösen Gyrger in aller Ausführlichkeit erzählen. Er rechnete nicht damit, dass sie tatsächlich eine solche Kreatur antreffen würden. Doch die örtlichen Märchen und Legenden festzuhalten war ebenso seine Aufgabe, wie die Erforschung von Pflanzen und Tieren.
    Als Cole geendet hatte, verabredeten sie sich zu Sestabians erster Erkundung der umliegenden Wildnis. Er würde sich dafür praktischere Kleidung aussuchen, und einige Materialien mitführen müssen, und so spazierte er einstweilen, Gedanken über die Legende des Gyrgers im Kopfe, zum Schiff zurück.


    Cronos war beim Inquisitor verblieben, bis die andern den Raum verlassen hatten.
    „Wäre da noch etwas?“, fragte Mendoza.
    „In der Tat“, sagte der Magier, „Euer Monokel. Es ist ein magischer Detektor, nicht wahr? Ich habe sowas schon einmal gesehen. Die magische Quelle...“
    „Die Quelle steht nicht zur Diskussion!“, unterbrach ihn Mendoza.
    Cronos lächelte milde.
    „Inquisitor. Ich bin ein gebildeter und überaus kompetenter Mann, zudem ein sehr fähiger Magier. Wenn ich mir diese Quelle anschauen will, dann werde ich es tun. Oder glaubt Ihr, dass Ihr mich hindern könntet?“
    Der Inquisitor verzog seine Lippen zu einem überaus gemeinen Grinsen. Cronos zuckte mit keiner Wimper.
    „Ich will Eure Autorität auf dieser Insel nicht in Frage stellen. Aber wenn ein Inquisitor sich mit der örtlichen Quelle befasst, so muss es damit ein Problem geben. Magische Probleme wiederum sind, bei aller Bescheidenheit, meine Spezialität. Wenn es also ein solches Problem gibt, so wäre es klug, mir dies mitzuteilen. Denn ich kann es wahrscheinlich lösen. Und wenn nicht, so doch zur Lösung beitragen.“
    Mendoza lehnte sich in seinem Sessel zurück und strich sich übers Kinn.
    „Meister Cronos“, sagte er endlich, nach langer Zeit, „sagt Euch die Bezeichnung 'Titan' etwas?“
    Diesmals zuckten Cronos' Wimpern nicht nur, sondern seine Gesichtszüge entgleisten ihm völlig.
    „Ihr vermutet richtig“, stellte Mendoza klar, „die magische Quelle auf dieser Insel ist ein Titan. Ein Titan, der seit undenklichen Zeiten tief im Inneren des Berges, des Vulkans, eingesperrt war.“
    „Eingesperrt war?“, fragte Cronos.
    Mendoza lächelte schmal.
    „Ich sehe: Ihr habt das Problem in seiner Gänze erkannt.“
    Mendoza wuchtete seinen schweren, stattlichen Leib aus dem Sessel, erhob sich.
    „Ich muss Euch etwas zeigen“, sagte er.


    Der Treffpunkt lag natürlich außerhalb der Stadt. Die Wege stellten sich als ungemein schlecht befestigt heraus, aber immerhin trug Josanna nun nicht mehr ihr übertrieben elegantes Kleid, sondern praktische Kleidung: Stiefel aus gutem Leder, Hose und Hemd aus Minecrawlergespinst und an wohl verborgener Stelle ein Stilett. Aus magischem Erz, verstand sich, immerhin war sie nicht irgendwer. Und wer wusste schon, ob dieser neuerliche Kontakt vertrauenswürdig war?
    „Don Esteban?“, vergewisserte sich Josanna bei Alvaro. Sie wollte sichergehen, dass sie den potentiellen Handelspartner mit dem richtigen Namen ansprechen würde.
    „Genau. Er war das, was einer Obrigkeit am nächsten kam, bevor Inquisitor Mendoza ihn aus der Stadt jagte. Er hat immernoch Einfluss. Und Gold und... andere Dinge, die Euch interessieren könnten.“
    Die Sonne senkte sich langsam herab, und tauchte die Umgebung in rötliches Licht. Josanna genoss einen Augenblick den durchaus hübschen Anblick sowie das Abkühlen der schwülen Luft. In Kürze, so vermutete sie, wenn die Sonne hinter den Bergen im Westen versunken wäre, würde es unangenehm kalt werden.
    Alvaro hielt sich respektvoll zurück, wofür ihm Josanna dankbar war: Sie schätzte es, wenn Menschen nicht unnötig Gespräche zu führen versuchten. Stille genießen zu können gehörte nach ihrer Auffassung zu den notwendigen Elementen der Kultiviertheit.
    Doch schließlich unterbrach Alvaro die Stille doch. In überaus unkultivierter Weise. Doch Josanna konnte es ihm wahrlich nicht verdenken. Nicht angesichts dessen, was da durch das Unterholz gebrochen war, und schreiend auf sie zugelaufen kam.

    Sestabian hatte keine Gnome gesehen, keine Aschenbestien, keine Brontoks, keine Donnerechsen und keine Ghule. Dafür hatte er Seegeier gesehen, Stachelratten und außerdem eine Kuh, als sie einen Bauernhof passiert hatten. Er hatte einige kleinere Tiere mit seinem Köcher gefangen und skizziert, darunter einige mutmaßlich neue Arten aus den Gattungen der Hyphydrae, der Lepidopterae und der Arachniden. Außerdem hatte er Pflanzenproben gesammelt, eine Reihe von Blüten und Kräutern. Alles in allem war die Ausbeute nicht so gut, wie erhofft, aber auch nicht so schlecht, wie befürchtet. Für die genauere Erforschung hatte er ohnehin weder Zeit noch Mittel. Er würde bloß Pionierarbeit leisten können.
    „Zufrieden?“, fragte ihn Cole, derweil sie den Weg zurück zur Stadt gingen.
    „Durchaus, durchaus, ja. Einiges an Material, in der Tat. Danke für die Führung! Ich werde gleich...“
    Sestabian unterbrach sich, als er ein sonderbares Geräusch aus einem Gebüsch heraus hörte, ein Schnaufen und Stöhnen. Ein Geräusch, das offenbar von einem Tier stammte.
    „Pssst!“, machte er und bedeutete dem Jäger, ruhig zu sein. Er wollte nicht, dass das Tier erschricke und davonstiebe. So näherte er sich langsam dem Gebüsch, hoffnungsfroh, eine weitere Beobachtung zu seinen Erlebnissen hinzufügen zu können.
    Plötzlich änderten sich die Geräusche, die, was immer in dem Gebüsch war, machte, wuchsen sich zu einem schrillen Schrei heraus. Das Gebüsch explodierte, und das nächste, was Sestabian klar erfasste, war, dass er am Boden lag, der Kopf zwischen einem ungemein prächtigen Exemplar der Mandevilla Sanderi und einem weitaus weniger hübschen Hintern eines gewissen Exemplars Gobbo Sapiens Nudus eingeklemmt. Er hätte Cole gerne darum gebeten, sich doch zu erheben, brachte jedoch bloß ein Krächzen heraus. Cole erhob sich dennoch.
    „Was war das?“, fragte Sestabian endlich.
    „Das“, sagte Cole und machte große Augen, „war der Gyrger! Der leibhaftige Gyrger!“

    „Oh, Scheiße“, fluchte Alvaro, und hechtete dem muskelbepackten Koloss aus dem Weg, der in weiten Sätzen auf sie zugelaufen kam. Nur, um kurz darauf von einem weitaus kleineren, aber durchaus ebenfalls muskelbepackten Leib umgerissen zu werden.
    „Alessandro?“, wunderte sich Josanna über den Anblick des nackten, nur mit einem Hut bekleideten Kapitäns, der mit gezücktem Degen hinter dem Monstrum herlief. Doch der nackige Seemann achtete nicht auf die Goblin-Dame, sondern rief etwas, das wie „Maria, oh, liebste Maria!“ klang, und erst in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass es offenbar nicht das Monster war, das da schrie, sondern die – ebenfalls nackte – junge Frau, die es sich über die Schulter geworfen hatte.
    Alvaro, der sich wieder erhoben hatte, wollte zu irgendeinem Kommentar ansetzen, als erneut etwas aus dem Gestrüpp herausbrach, und ihn erneut zu Boden schleuderte. Dieses neuerliche Etwas war ein etwas derangiert wirkender, junger Mann mit einem Bogen über der Schulter.
    „Josanna?“, hörte Josanna ihren Namen, und wandte sich dem andern, neuerlichen Etwas zu, das Alvaro nicht umgerannt hatte und auch keinen Bogen trug, dafür aber ein komisches Tropenhütchen und einen Köcher.
    „Oh, Dr. Bloch. Guten Abend. Ist das kein schöner Anblick?“
    „Der Gyrger?“, fragte Sestabian.
    „Der Sonnenuntergang“, fauchte Josanna, leicht pikiert.
    „Da ist er, da ist er“, drang eine knarrende Stimme aus Richtung von Monster, nacktem Fräulein und nacktem Alessandro herüber, die keinem dieser dreien gehörte. Das Monster war in seinem halsbrecherischen Lauf innegehalten, und hatte sich das schreiende Mädchen auf die andere Schulter geworfen.
    „Gyrrr-Gerrr!“, rief das Monster, „Gyrrr-Gerrr!“
    „Gib sie heraus, Du Ungeheuer!“, rief Alessandro und fuchtelte mit dem Degen herum.
    „Ist das kein wunderbares Exemplar des Oger beringei?“, rief Sestabian und lief auf das Ungetüm zu, „ein waschechter Oger beringei, hier auf dieser Insel!“
    Die nackte Frau auf der Schulter des Ogers hatte zu schreien aufgehört und sich stattdessen darauf verlegt, ihrem Entführer nach Kräften gegen den Rücken zu trommeln, von bewundernswert fantasievollen Flüchen begleitet. Nach dem ersten Schreck war sie offenbar ernstlich erbost.
    „Der Gyrger!“, schnaufte der Jäger, der in Begleitung Sestabians erschienen war, und erhielt ein klagendes „Gyrrr-Gerrr!“ seitens des Gyrgers zur Bestätigung.
    „Haltet ihn auf!“, schrie jemand, doch zu spät: Der Oger wischte Alessandros Degenhieb beiläufig zur Seite und preschte zwischen dem Grüppchen hindurch ins Gesträuch.
    „Wir hatten ihn fast“, rief jemand, und jetzt konnte Josanna sehen, was den Lauf des Gyrgers aufgehalten hatte.
    „Hallo Cronos. Guten Tag Herr Mendoza. Was für ein schöner Abend. Seid Ihr wegen des Sonnenuntergangs gekommen, oder wegen des außergewöhnlichen Exemplars des Oger beringeis?“
    „Weder noch“, sagte Cronos ruhig, die Hände in den Ärmeln seiner Robe verborgen, „wir sind hier auf der Jagd nach einem gewissen Titanen, der die magische Quelle auf dieser Insel ist.“
    „Und wir hatten ihn fast!“, knurrte Mendoza böse, „wir müssen hinterher!“
    „Hinterher müssen wir in der Tat!“, rief Alessandro und machte eine Bewegung mit dem Degen, als fechte er gegen einen unsichtbaren Gegner, „und das schöne Fräulein Maria befreien!“
    „Ich hoffe!“, knurrte Mendoza, „dass Euer Fräulein Maria volljährig ist!“
    „Wieso? Dürfen Minderjährige sich nicht entführen lassen?“
    „Genug damit! Der Titan MUSS...“
    „Welcher Titan?“, unterbrach Cronos den Inquisitor, „DAS war ganz sicher nicht die magische Quelle, und erst recht kein Titan!“
    „Aber, mein Monokel...“
    Wenig respektvoll trat Cronos an den stattlichen Inquisitor heran und fasste an das sonderbare Gerät an dessen Auge.
    „...ist kaputt“, vollendete der Magier den Satz, „die Zaubermatrix ist offensichtlich gestört. Dachtet Ihr denn wirklich, dass dieses Wesen ein Titan sei?“
    Medoza schlug die Hand des Wassermagiers ärgerlich zur Seite.
    „Von wegen kaputt! Der Titan tarnt sich, aber in Wahrheit...“
    Cronos lachte.
    „Da gibt es nichts zu lachen! Abstechen müssen wir das Ungetüm, Frau Maria befreien!“
    „Einen Pfeil in den Hals! Der hat schon genug brave Leute entführt“, mischte sich Cole ein.
    „Nicht so radikal! Es handelt sich schließlich um ein lebendiges Wesen! Wenn Ihr es tötet, will ich aber zumindest den Körper – für die Wissenschaft“, wendete Sestabian ein.
    „Ich gehe dann mal wieder in die Stadt zurück“, sagte Josanna, die Lust auf das Treffen mit dem potentiellen Geschäftspartner war ihr gründlich vergangen.
    „Nichts da!“, protestierte Mendoza, „Ihr seid allesamt rekrutiert! Zur Jagd auf den...“
    „...Gyrger!“
    „...Oger beringeis!“
    „...Entführer der Jungfer Maria!“
    „Maria ist keine Jungfer. Ich weiß wovon ich red. Aber retten müssen wir sie, da stimme ich zu“, sagte Cole.

    Der Gyrger hatte dankenswerterweise eine Schneise in das Unterholz geschlagen, der sich folgen ließ, und auf seinem Weg wohl allerlei andere Raubtiere verscheucht, die ihnen hätten gefährlich werden können. „Oger beringeis ist eigentlich eine friedliche Art“, dozierte Sestabian auf dem Weg, „es ist erstaunlich, dass er so aggressiv ist.“
    Josanna verkniff sich einen Kommentar.
    Der Weg führte sie die Küste entlang hin zu einer Landzunge, an deren Ende sich die Überreste eines alten Bauwerks, möglicherweise einer alten Küstenbefestigung erhoben.
    „Wir hätten Verstärkung holen sollen“, ängstigte sich Cole.
    „Nicht nötig“, widersprach Cronos, dem es trotz des zügigen Tempos irgendwie gelang, würdevoll einherzuschreiten. Langjährige Erfahrung, mutmaßte Josanna.
    „Wir sind gleich da... oh, das wars für mich, Leute!“, Alvaro wollte sich aus dem Staub machen.
    „Hiergeblieben“, blaffte Mendoza.
    „Ich ginge nicht allein zurück. Die Nacht ist angebrochen, und alleine in der Wildnis...“
    Coles Argument zeitigte Wirkung und brachte den reichen Händler zum Einlenken. Doch behaglich war es dem sichtlich nicht.
    „Unheimliches Gemäuer“, meinte Josanna und wischte eine Spinnwebe weg.
    „Nephila Clavipes, eine in tropischen Gegenden vorkommende Seidenspinne. Die Netze kaputtzumachen ist gemein.“
    „Wir sollten hier hineingehen“, entschied Cronos und ließ mit einer Handbewegung ein magisches Licht erstrahlen. Diverse Nephilae Clavipes oder anderes Kroppzeug huschten vor dem plötzlichen Lichtschein davon. Ein wenig unheimlich war Josanna das Ganze schon.

    Doch es half nichts, und so stiegen sie durch einen halb verfallenen Eingang und eine Treppe herab, die offenbar in die Katakomben unter der Ruine führte. Dank des magisches Lichtes war alles gut zu sehen.
    „Was sagt Euer Monokel?“, fragte Cronos.
    „Hier ist mächtige Magie am Werke“, antwortete Mendoza mit bedeutungsschwangerem, unheilverheißenden, geradezu dramatischen Ton.
    „Gyrrr-Gerr!“, hörten sie aus der Tiefe, „Gyrrr-Gerrr!“
    „Anscheinend kommen wir näher.“

    So war es in der Tat. Sie traten durch einen niedrigen Türsturz, von dem sich Josanna wunderte, dass der Gyrger hindruchgepasst hatte, doch Oger beringeis war eine offenbar ungemein gelenkige Spezies. Die Halle war von Fackeln und Feuerchen erhellt, um die sich Grüppchen kleiner Männchen geschart hatten, die das Hereinkommen der Eindringlinge neugierig verfolgten.
    „Sind das die Gnome?“, fragte Sestabian. Cole nickte.
    Der Gyrger stand am anderen Ende des Raumes und hatte seine Beute indessen abgesetzt; das nackte Fräulein stand da und bedachte ihren Entführer mit überaus ungnädigem Blick.
    „Maria!“, rief der noch immer nackte Alessandro.
    „Alessandro!“, rief die junge Frau zurück, „hast Du mir mein Kleid gebracht?“
    Alvaro machte Stielaugen und schien es angesichts des Fräuleins nicht mehr gar so sehr zu bereuen, dass er mitgekommen war.
    „Gyrrr-Gerr“, rief der Oger erneut, und deutete auf die Frau.
    „Bevor wird das prüfen“, kiekste ein Stimmchen von hinter dem Leib des Ungetüms hervor, „wollen wir erstmal unsere anderen Gäste begrüßen!“
    Der Gyrger trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf eine Art Thron frei, genauer: Auf zwei Throne, auf denen zwei Gnome saßen, die etwas bessere Kleidung zu tragen schienen, als die meisten anderen ihrer Artgenossen.
    „Menschens treten näher, ja?“, kiekste das Stimmchen, „treten vor! Ist gut, dass Ihr gekommen seid, ja? Ist gut!“
    Cronos bedeutete Cole und Alessandro, die Waffen zu senken, und verringerte die Distanz zu den Gnomenherrschern.
    „Guten Abend“, sagte er höflich, „mein name ist Cronos. Darf ich fragen, warum Ihr diese junge Dame entführt habt? Habt entführen lassen?“
    „Gyrrr-Gerr!“, rief der Oger, und der Gnomenherrscher bestätigte: „Ja! Gyrger! Soll Gyrger sein!“
    „Was bedeutet Gyrger?“, fragte Sestabian, der ebenfalls nähergetreten war.
    „Gyrger“, sagte der andere Gnomenherrscher – bzw. die Herrscherin, wie es schien, „ist... hm, Lehre. Lehrer. Ja? Gyrger ist Lehrer.“
    „Lehrer?“, fragte Cronos, „Lehrer von was? Wofür?“
    „Lehrer von...“ der Gnomenherrscher suchte nach Worten, machte eine Bewegung mit der Hand. Dann wies er auf einen Stapel alter Pergamente, die auf dem Boden lagen und von denen Josanna auf den ersten Blick sah, dass auf ihnen nichts mehr zu lesen sein würde.
    „Ihr wollt Lesen und Schreiben lernen?“, wunderte sich Sestabian.
    „Ja!“, freute sich kieksig das Gnomenherrscherlein, „Lesen und schreiben. Wenn Gnomen lesen und schreiben, dann beherrschen Magie und haben viel Wissen. Um große Haus zu bauen, und Waffen und Anderes. Dann ist Leben besser, viel besser, ja? Ihr Gyrger? Ihr, seid Ihr Gyrger, ja?“
    „Ob wir Euch helfen können“, antwortete Sestabian, „hängt davon ab, was mit den anderen Menschen ist, die Ihr entführt habt.“
    „Wir haben Menschens entführen lassen, aber kein Gyrger!“, klagte die Herrscherin.
    „Die Alphabetisierungsrate auf der Insel lässt anscheinend zu wünschen übrig“, murmelte Sestabian.
    „Das ist nicht das einzige“, zischte Josanna zurück, „was hier zu wünschen übrig lässt.“
    „Geht es den Leuten gut?“, fragte Cronos.
    „Menschen am Leben“, bestätigte der Gnomenfürst, „in Kerker.“
    „Ihr müsst die Menschen freilassen“, sagte Cronos, „dann werden wir jemanden finden, der Euch lesen und schreiben beibringen kann. Einen, ähm, Gyrger.“
    „Gyrger, ja!“ freuten sich Fürst und Fürstin.
    „Gyrrr-Gerr!“, freute sich der Oger und stampfte mit den Füßen auf.
    „Aber der Gyrger ist doch der Titan!“ Mendoza klang enttäuscht. „Wenn ich ihn ansehe, dann zeigt mir das Monokel... er strahlt geradezu vor Magie!“
    Cronos hielt dem Inquisitor die Hand hin. Nach einigem Zögern nahm Mendoza das Monokel ab und legte es in die Hand des Magiers.
    „Das haben wir gleich“, sagte der, murmelte einige Worte und hielt sich das Monokel dann vors Auge. Er blickte ein wenig umher, und gab es dann an den Inquisitor zurück. Als der es wieder aufsetzte, und den Oger taxierte, machte er ein durchaus dümmliches Gesicht.
    „Keine Spur von Magie mehr!“, wunderte er sich.
    „In der Tat. Schaut mal in diese Richtung!“ Cronos zeigte in die Richtung, in der Josanna in etwa den großen Berg, den Vulkan, vermutete, der die Insel überragte.
    „Sapperlot! Aber das ist ja!“ Dem Inquisitor verschlug es die Sprache.
    „DAS ist die magische Quelle. Ganz recht“, bestätigte Cronos, „Wenn Ihr Euren Titan finden wollt, dann wendet Euch an die Magier. Überhaupt: Wendet Euch an die Magier. Immer öfter. Das ist meistens besser.“
    Kapitän Alessandro war unterdessen vor die beiden Gnomenherrscher getreten, hatte sich den Hut – das einzige, ihm verbliebene Kleidungsstück – von Haupt genommen und sich schwungvoll verbeugt, dass die Rockschöße geflattert hätten, wenn er einen Rock getragen hätte. So aber flatterte lediglich etwas anderes, an das Josanna lieber nicht allzu viel Aufmerksamkeit verwenden wollte.
    „Oh, ehrenwerter Fürst, oh, ehrenwerte Fürstin!“, hob Alessandro an, „dürfte ich untertänigst um ein Kleid für meine liebste Maria und, sofern möglich, für meine bescheidene Wenigkeit bitten!“
    Die Gnomenherrscherin zeigte auf ein Bündel Lumpen, das am Boden lag.
    „Suchst was aus, ja?“
    Alessandro unterdrückte ein Naserümpfen, entschied wohl, dass es besser sei, jene Lumpen zu tragen, als gar nichts, und wühlte in dem Wäscheberg herum, ob sich etwas finde, das nicht gar zu schmutzig sei.
    „Moment mal!“, rief Josanna aus, und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie hastete zu Alessandro und riss ihm eines der Kleidungsstücke aus den Händen.
    „Das ist doch... habt Ihr das selbst gefärbt?“
    Die Gnomen, verwundert, nickten.
    „Das... wo habt Ihr den Färbstoff her?“
    „Färb-Stoff? Farbe ist von Schnecken, ja? Von Schnecken.“
    Das war es! Auf dieser Insel lebten Purpurschnecken!
    „Wir besorgen Euch einen Gyrger“, entschied sie, „und dafür liefert Ihr uns den Farbstoff!“


    Die Besucher verbrachten noch einige Tage auf der Insel, die jedoch weitgehend ereignislos verliefen. Kapitän Alessandro Rafaele Montaguri verbrachte diese Tage größtenteils in den Schenken der Stadt, jedoch ohne weibliche Begleitung: Die ungehaltenen Berichte einer gewissen Maria machten allzu schnell die Runde und schreckten etwaige andere Liebhaberinnen ab. Da half auch die Freude über die Rückkehr der entführten Insulaner nichts, und erst recht nicht Alessandros Erzählungen von seiner Beteiligung an dieser Rückkehr. Der Gelehrte, Dr. Sestabian Bloch, verbrachte einen Großteil der Zeit bei den Gnomen, darum bemüht, den Eifer der Prospektorin Josanna VanBreugen zu zügeln, müsse man doch darauf achten, dass die faszinierende und einzigartige Kultur der Gnomen keinen Schaden litte. Zwar sei es, wie er zugab, eine primitive Kultur, und die Gnomen würden ihnen eine Zivilisierung zweifellos danken. Doch die Historie, die Weltgeschichte, die werde es ihnen nicht danken, wenn sie sie um ein derart einzigartiges Element beraubten, und sei es auch noch so primitiv und barbarisch.
    Josanna indes kümmerte sich darum kaum. Vielmehr inspizierte sie die Bestände an Purpurschnecken, die tatsächlich von den Gnomen der Insel gehalten wurden, und nachhaltig Lieferungen in ausreichender Menge gestatteten.
    Cronos besuchte das Kloster der Magier in der Vulkanfeste, und ergab sich dem Disput mit seinen gelehrten Kollegen, der Magie zu Ehren.

    „Dann macht es gut“, knarrzte Mendoza und drückte die ihm dargebotene Hand des Wassermagiers zum Abschied. Der erwiderte den Händedruck sowie die Verabschiedung und legte den Weg über die Planke zum Schiff zurück, das kurz darauf ablegte. Die Mannschaft, bestehend aus Menschen und Goblins aus Khorinis, winkte den am Hafen zusammengelaufenen Bewohnern der Stadt, die eifrig zurückwinkten.
    Mendoza dagegen wandte sich um. Er hatte seine Männer alle Vorbereitungen für den Umzug in die Vulkanfeste treffen lassen, wo er fortan das Kommando übernehmen wollte. Denn der Titan, das wusste er, die magische Quelle, deretwegen die Magier ihr Kloster in der Vulkanfeste errichtet hatten, würde sich losreißen und Unheil über die Erde bringen. Ganz bestimmt.
    Und dann würde er, Mendoza, zur Stelle sein.
    Sir Ewek Emelot ist offline Geändert von Sir Ewek Emelot (03.10.2015 um 20:38 Uhr)

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    Deus Avatar von Sir Ewek Emelot
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    Eine gute Idee



    Seit vor nunmehr 15 Jahren die Insel Khorinis unter der Krone Biblurs vereinigt und im Zuge der Befriedung des Minentals das Küstenstädtchen Port Orcis gegründet worden war, hatte die königliche Familie den Urlaub in der politischen Sommerpause stets ebenda verbracht: In der aufstrebenden, größtenteils von Orks bewohnten Hafenstadt, die sich bald zum größten Handelshafen von Khorinis gemausert hatte. Dementsprechend unerhört war der Vorschlag der Prinzessin Rhademe gewesen, man möge doch einmal anderswo Urlaub machen, wobei die junge Dame dieses „anderswo“ denn auch sogleich genauer eingrenzte.
    Die Insel Faranga war nun erst vor relativ kurzer Zeit neu entdeckt und in das khoriner Handelsnetz integriert worden. Sie gehörte nicht zum Hoheitsgebiet Ihrer Majestät. Und sie war der so ziemlich am weitesten entfernte, bekannte Ort auf der Welt. Es verstand sich also von selbst, dass die betagte Königin Sabatha dem Vorschlag umgehend stattgegeben hatte.


    Das Dejeunieren in der Offiziersmesse gestaltete sich während der Überfahrt in der Regel als angenehm, und mehr noch als dem gediegenen Interieur und dem vorzüglichen Essen an Bord der „Wuschelschaf der Meere“ war dies der guten Gesellschaft geschuldet: Die königliche Familie befand sich in hervorragender Stimmung, Kapitän Oleg – ein stattlicher und trotz seiner bürgerlichen Abkunft aristokratische Würde ausstrahlender Mensch – entpuppte sich als gewitzter und geistreicher Gastgeber, und die gelegentlichen Reiseunterbrechungen beim Anlaufen diverser Inselchen boten reichlich Gesprächsstoff.

    Königin Sabatha köpfte ihr Frühstücksei, das von der Küchenbelegschaft mit einem standesgemäßen Krönchen aus safranvergoldetem Teig verziert worden war, und ließ den Blick auf der Suche nach dem Salzstreuer über die Runde ihrer Lieben streifen: Ihr gegenüber beschäftigte sich Prinzessin Rhademe weniger mit dem Frühstück als eher mit dem jungen Mann an ihrer Seite, einem Goblin mit dunklem, fast schwarz glänzendem Fell, der kaum einen Augenblick verstreichen ließ, ohne der Prinzessin über den pelzigen Handrücken, den Arm oder – durch die Tischplatte nur unzureichend verborgen – über den Oberschenkel zu streichen. Rhademe indessen revanchierte sich nicht minder ausdauernd. Sabatha nahm das Getändel ihrer einzigen Tochter mit einigem Wohlgefallen zur Kenntnis, denn abgesehen davon, dass Crestin von Gotha dereinst seinem Vater als mächtigster Goblin-Fürst außerhalb von Khorinis nachfolgen würde, und daher eine ganz entschieden gute Partie war, gönnte die Königin ihrer Tochter das Liebesglück von Herzen – zumal ihr der junge Mann selbst sehr gut gefiel.
    Zu Rhademes anderer Seite saß der gute Kapitän, der die Liebeleien der Prinzessin tunlichst übersah und sich stattdessen in einem Gespräch mit den Prinzen Selindan und Trelon befand. Selindan bemerkte den Blick der Mutter sogleich, erfasste die Situation und lenkte Sabathas Aufmerksamkeit mit einer Augenbewegung zu dem zu ihrer Linken sitzenden Anrig. Der im Alter immer verschrobener werdende König arrangierte mit einiger Pedanterie kleine Kresseblättchen auf dem mit ebensolcher Genauigkeit gleichmäßig auf dem Brot verteilten Speisequark, und siehe da! Der Salzstreuer fand sich natürlich auf der Sabatha abgewandten Seite ihres königlichen Gemahls: Inmitten der Gläser mit den sauren Gürkchen, Zwiebelchen und Marmeladen, der Karaffe Olivenöl, dem Brotkorb, sämtlichem Servierbesteck, das nach und nach von den Fleisch- und Käseplatten verschwunden war, der Teekanne (nicht aber dem Teestöfchen) und einem Honigtopf hatte sie den Streuer zunächst übersehen. Dabei hätte sie es sich wohl denken können, neigte ihr Gatte doch dazu, im Verlaufe des Frühstücks beachtliche Mengen an Krimskrams auf seiner Seite des Tisches anzusammeln – üblicherweise so, dass niemand sonst mehr an die Dinge herankam. Alleine an dem Tellerchen, auf dem er seine halbierten und gewürzten Radieschen zu horten pflegte, lehnten gut ein halbes Dutzend Messerchen, Löffelchen und Gäbelchen, die eigentlich für die Entnahme diverser Lebensmittel von den diversen Platten und Behältern zum allgemeinen Gebrauch bestimmt gewesen wären.
    „Liebster Anrig“, war Sabatha im Begriffe zu sagen, „sei doch so gut und reiche mir den Salzstreuer, wenn Du so lieb wärst!“
    Doch die Königin kam nicht dazu, ihrem Begehren Ausdruck verleihen. Denn es war gerade dieser Augenblick, als sich die Tür der Offiziersmesse öffnete, ein Matrose herein- und an Kapitän Oleg herantrat und diesem etwas ins Ohr flüsterte.
    „Euer Majestät, Hoheiten, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden!“, wandte sich Oleg an die Versammelten und erhob sich, „die Arbeit ruft!“ Kapitän Oleg wandte sich zur Tür, hielt inne, und beugte sich herab.
    „Worum geht es denn, dass Sie uns so plötzlich verlassen müssen?“, fragte die Königin.
    „Oh, es ist nichts“, tönte Olegs Stimme von unter der Tischplatte her, „nur die übliche und durchaus langweilige Arbeit eines Kapitäns zur See.“
    Oleg richtete sich auf und legte die Serviette, die ihm beim Aufstehen vom Schoß gerutscht sein musste, neben seinen Teller.
    „Aber aber, Kapitän! Wir interessieren uns doch brennend für Ihre faszinierende Arbeit. Also?“
    Statt Oleg nahm die Königin den Matrosen ins Auge.
    „Der Ausguck hat ein fremdes Schiff ausmachen können. Es handelt sich der Silhouette nach um eines der unseren, meine Anwesenheit auf der Brücke ist also nur pro Forma erforderlich“, erklärte Oleg und wandte sich zur Tür.
    „Eines unserer Schiffe also?“, die Königin erhob sich lächelnd, „das möchten wir doch unbedingt sehen! Anrig, reichst Du mir bitte meinen Stock? Danke. Huch, was soll ich denn damit? Weg mit dem Hut, der wird mir doch nur ins Meer geweht! Na kommt! Rhademe!“
    „Wir alle?“ Die Prinzessin wunderte sich und tauschte einen Blick mit ihrem älteren Bruder Selindan aus, zog dann ihren Verlobten vom Stuhl. „Natürlich, wir kommen sofort. So ein Schiff will man sich ja nicht entgehen lassen!“
    „Aber da wird man kaum etwas sehen...“, versuchte Kapitän Oleg einzuwenden, wurde jedoch von einer unwilligen Geste der Königin zum Schweigen gebracht, die sich an der Seite ihres Gatten bereits gen Tür auf den Weg gemacht hatte.

    Wenige Augenblicke später waren Majestät, Hoheiten und Kapitän auf dem Achterkastell versammelt und blickten nacheinander durch ein Fernrohr in die Richtung, in welcher der Ausguck das Schiff ausgemacht hatte.
    „Linienschiff 3. Ranges, Dreimaster, niedrige Aufbauten, Abfangkurs“, fasste Selindan zusammen und wollte das Fernglas an seine Mutter weitergeben. Die jedoch machte keinerlei Anstalten, das Gerät entgegenzunehmen, sondern umfasste lediglich den Knauf ihres Gehstocks etwas fester.
    „Der Beflaggung nach ist es eins unserer Schiffe“, ergänzte Kapitän Oleg, „wenn wir nahe genug heran sind, können wir Signale austau...“
    „Alles klarmachen zum Gefecht!“, schnitt Sabathas Stimme dazwischen.
    „Zum Gefecht? Aber...“ Oleg brach ab, unschlüssig, was er tun solle.
    „Mutter?“, fragte Rhademe, „was weißt Du, das wir nicht wissen?“
    Sabatha antwortete nicht, sondern blickte stattdessen zu Selindan.
    „Wir haben keine anderen Schiffe dieser Größe so weit im Süden“, überlegte der Kronprinz, „es kann sich also nicht um eins von uns handeln. Bau und Beflaggung weisen es jedoch eindeutig als eins von unseren aus. Entweder muss es gekapert worden, oder aber aus einem anderen, triftigen Grund so weit in den Süden gelangt sein. Zum Beispiel, weil es von jemandem verfolgt wird. So oder so werden wir es womöglich mit Piraten oder einer feindlichen Seemacht zu tun bekommen.“
    „Richtig“, nickte Sabatha ihrem Ältesten zu, „übrigens habe ich eine sehr konkrete Vermutung. Die solltet Ihr übrigens auch haben, Kinder! Dürfte ich jetzt bitte das Fernglas haben? Danke. Aha, wie ich es mir dachte! Das ist die 'Blümchen'“
    Beim Namen des Schiffes stöhnte Selindan auf, Rhademe erbleichte.
    „Wir haben wohl alle gewusst, dass es eines Tages dazu kommen würde“, sagte der Kronprinz schließlich, „Kapitän Oleg, das ist das Schiff des Piratenkapitäns Greg!“


    Greg, seines Zeichens gefährlichster Pirat aller Weltmeere, stand an der Reling der „Elenor“ und strich sich nachdenklich durch den mittlerweile graumelierten Bart. Äußerlich wirkte er ruhig, denn als Kapitän musste er Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen, in jeder erdenklichen Situation. Die Mannschaft brauchte schließlich ein Vorbild. Innerlich jedoch war er so aufgeregt, wie schon seit langem nicht mehr. Denn Greg kannte das Schiff, auf das sie zuhielten. Er hätte es unter tausenden wiedererkannt, und hätte man ihm auch noch das zweite Auge genommen! Denn er selbst hatte jenes Schiff mitentworfen. Ja, dies war ganz eindeutig die „Gregs Stolz“, oder besser das Schiff, das er, Greg, rechtmäßiger Eigentümer jenes Schiffes, unter dem Namen „Gregs Stolz“ hatte taufen wollen – bevor ihm diese fiesen Goblins aus Biblur das geliebte Schiff unter der Nase weggeschnappt hatten.
    „Vollschiff mit drei Masten, 63 Meter Rumpflänge, Breite 15,8 Meter, knapp neun Meter Tiefgang, fünfeinhalb tausend Quadratmeter Segelfläche und knapp 100 Kanonen Schiffsbewaffnung“, murmelte Greg vor sich hin.
    „Ist alles in Ordnung, Käptn?“
    Greg wandte sich zu Skip um, der seinen Kapitän etwas besorgt anschaute. Er war es nicht gewohnt, seinen Kommandanten unmittelbar vor einem Kapergang in solch tiefer Kontemplation zu erleben.
    „Schau genau hin!“, befahl Greg, „erkennst Du es nicht? Es ist nun schon 15 Jahre her. Damals, auf Khorinis. Das ist das verfluchte Schicksal! Ich sage Dir, Skip, die Götter sind gerecht. Heute hole ich mir mein Eigentum zurück! Ist alles bereit?“
    „Alles bereit, Käptn“, bestätigte der treue Maat, der die Bedeutung von Gregs Sermon offenbar nicht ganz verstanden hatte, sich darüber aber nicht weiter bekümmerte – er war es durchaus gewohnt, den mitunter tiefgründigen Gedankengängen seines Kapitäns nicht immer folgen zu können. Er musste nur wissen, welche Befehle er an die Mannschaft weiterzugeben und selbst auszuführen hatte, und das wusste er. Sie würden sich dem khoriner Schiff unter falscher Flagge nähern und dann, im letzten Moment, die Piratenflagge hissen und angreifen. Sie würden dem mächtigen Kriegsschiff eine Breitseite verpassen, und dann längsseits gehen und kapern. Die Mannschaft, soweit sie an Deck zu arbeiten hatte, trug improvisierte Marineuniformen, die zur Täuschung ausreichen würden, bis es für den Gegner zu spät wäre. Danach würde der Rest der Mannschaft an Deck strömen, dieser wilde Haufen blutrünstiger und gieriger Halsabschneider, so dass der gegnerische Widerstand schnell gebrochen wäre.
    „Was machen die denn?“, rief Greg plötzlich aus, „wieso drehen die bei? Die... die wissen Bescheid, zum Beliar nochmal!“
    Skip antwortete nicht. Er wusste, was er zu tun hatte: Auf die Befehle warten, die der Kapitän gleich ausrufen würde.


    Kapitän Oleg hatte eine Hand auf der Reling, die andere auf dem ziselierten Heft des Degens gestützt und brüllte mit in Konzentration gefurchter Stirn Befehle.
    „Warum greifen wir das Schiff nicht an?“, fragte Sabatha den Kapitän, „wenn mich nicht alles täuscht, dann dürften wir eine erheblich bessere Bewaffnung haben.“
    Oleg nickte: „Das ist richtig, Euer Majestät. Jedoch möchte ich nur ungern einen Kampf riskieren. Wir würden damit schließlich das Leben der gesamten, königlichen Familie aufs Spiel setzen. Ich kann Euch jedoch versichern, dass wir dazu bereit sind, Sie und Ihre Familie bis zum Tode zu verteidigen, sollte es hart auf hart kommen. Ich würde es allerdings dringend empfehlen, dass Sie sich unter Deck begeben.“
    „Das kommt nicht in Frage, Kapitän. Im Übrigen würde ich es bevorzugen, wenn wir unseren Kurs um drei Grad nach Backbord korrigieren könnten.“
    „Majestät“, hob Oleg an, doch die Königin fuhr dazwischen.
    „Das gegnerische Schiff ist, wie ich schon sagte, die Blümchen. Die Blümchen erreicht als Fregatte eine Maximalgeschwindigkeit von 15 Knoten und ist dementsprechend schneller als wir. Wir können dem Feind nicht davonsegeln. Sicherlich werden wir bei voller Windausnutzung nur unwesentlich langsamer sein, ich sehe also ein, dass wir bei dem gegebenen Kurs einem Kampf länger aus dem Weg gehen könnten. Eingeholt werden wir aber doch.“
    „Du hast einen Plan?“, fragte Selindan seine Mutter. Deren Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
    „Natürlich habe ich den. Wir haben vor zwei Tagen Caldera passiert. Wenn mich nicht alles täuscht, müssten wir bei aktuellem Kurs die Marenge-Insel östlich passieren. Unsere Kursänderung sollte uns direkt ins Archipel bringen, noch bevor wir eingeholt werden.“
    Kapitän Oleg rieb sich das Kinn. „Das mag sein, jedoch werden wir dort keine Hilfe finden. Diese Inseln sind so gut wie unbewohnt.“
    „Du möchtest die Topografie nutzen?“, fragte Selindan.
    „Ja. Wir können dem Feind auf offener See nicht entkommen. Aber inmitten von Inseln, Riffen und Untiefen wird dies anders sein.“
    „Wir kennen uns in diesen Gewässern viel schlechter aus“, gab Oleg zu bedenken, „wir werden für diesen Greg eine nur noch leichtere Beute sein. Auf offener See kann ich mein Schiff wenigstens uneingeschränkt nutzen.“
    „Wie besiegt man einen überlegenen Gegner? Selindan!“
    „Indem man seine Stärken gegen ihn wendet.“
    „Richtig. Rhademe! Welches sind die Stärken unseres Gegners hier in diesem Falle?“
    Die Prinzessin überlegte einen Augenblick, und antwortete dann: „Bessere Manövrierfähigkeit des Schiffes und bessere Kenntnisse der Gewässer. Er ist also insgesamt beweglicher als wir.“
    „Exakt. Trelon, was sind unsere Vorteile?“
    Der jüngste unter den königlichen Hoheiten krauste die Stirn und kaute auf der Unterlippe herum, bevor er anhob: „Kapitän Greg hat die Blümchen vor ungefähr zehn Jahren gestohlen. Seither haben wir unsere Marine mehrmals neu bewaffnet. Die Wuschelschaf müsste mit modernen Hinterladern mit gezogenen Rohren ausgestattet sein. Das verschafft uns eine deutlich höhere Reichweite: Die Piraten benutzen vermutlich noch die Karronaden mit einer effektiven Reichweite von etwa 400 Metern, wogegen unsere Geschütze auf bis zu 800 Metern effektiv feuern können.“
    „Hervorragend“, freute sich die Königin, „wie also sollten wir vorgehen? Crestin? Na komm, jetzt schau mal nicht so! Du wirst immerhin in nicht allzu ferner Zukunft mein Schwiegersohn sein, Du brauchst also gar nicht zu hoffen, dass ich Dich verschone!“
    Crestin zuckte mit den Schultern: „Tja nun, da muss ich Dich leider enttäuschen, liebste in-nicht-allzu-ferner-Zukunft-Schwiegermama. Ich habe nämlich ganz schlicht und ergreifend keine Ahnung von Eurer Kriegskunst. Aber nach Trelons Ausführungen würde ich wohl dazu tendieren, das feindliche Schiff zu beschießen, solange es noch nicht in Reichweite für die eigenen Waffen ist.“
    Sabatha hob die Brauen und rümpfte die Nase.
    „Rhademe, ich fürchte, dass Du Deinem künftigen Ehemanne noch einiges beizubringen hast.“
    Rhademe kicherte und zog Crestin an der Hüfte etwas näher. „Sicherlich. Also, lieber Crestin! Wir sind auf hoher See, und der Feind hat das wendigere Schiff. Der Reichweitevorteil verpufft, wenn wir nicht treffen können. Ein einzelnes Schiff auf 800 Metern zu treffen ist verdammt schwer. Daher bietet sich der offene Seekampf nicht an.“
    „Präzise“, lobte Sabatha ihre Tochter und nickte zufrieden.
    „Wozu baut Ihr dann überhaupt Geschütze mit hoher Reichweite, wenn die nichts nützen?, wunderte sich der Fürstensohn vom Festland.
    „Darf ich?“, fragte Trelon, und fuhr ohne auf eine Antwort zu warten fort: „Also, es ist so: In richtigen Seeschlachten benutzen wir die sogenannte Linienformation, bei der unsere Schiffe in einer Linie hintereinander herfahren und mit ihren Breitseiten gegnerische Flotten beschießen können. Eine ganze Gefechtsformation ist viel leichter zu treffen, als ein einzelnes Schiff. Auf diese Weise hat Admiral Cord im Jahre 1867 eine ganze varantinische Flotte zusammengeschossen. Die gegnerischen Dschunken konnten dem Kugelhagel nicht ausweichen, ohne einander gegenseitig zu rammen. Kapitän Greg muss sich darum keine Sorgen machen. Also müssen wir ihn nicht nur auf Abstand halten, sondern außerdem seine Manövrierfähigkeit einschränken.“
    „Ausgezeichnet“, lobte Sabatha ihren Sohn, „und genau das können wir in dem vor uns liegenden Archipel. In seinem 1869 erschienenen Reisebericht über die südlichen Inseln beschreibt Stravisaul Jaklob die ersten beiden Marenge-Inseln etwa so: Die Inseln seien nur durch schmale Meerengen voneinander getrennt, die sich im Inneren jedoch zu einem weitläufigen Kessel öffneten. Die westliche Insel laufe in Felsen und Untiefen aus, wogegen die östliche mit steiler Klippe einen langgezogenen Bogen bilde. Dieser Bogen sei zwar die längere Strecke, den Untiefen und Sandbänken auf dem direkten Weg allerdings vorzuziehen. Wir werden diesen längeren Weg nehmen. Mit etwas Glück wird unser Feind durch die Untiefen segeln, um uns den Weg abzuschneiden.“
    „Das feindliche Schiff wird dort also nicht ohne das Risiko ausweichen können, auf Grund zu laufen?“, fragte Crestin.
    „Genau“, bestätigte Sabatha.
    „Dann wäre das also hiermit beschlossen“, ließ sich König Anrig vernehmen, „Kapitän Oleg, bevor meine werte Gemahlin auf die Idee kommt, auch mich noch auszufragen: Ausführung!“


    Niemand sollte behaupten, dass Kapitän Greg geizig sei. Natürlich WAR er geizig, bis aufs Blut, aber das brauchte ja niemand zu wissen. Daher hatte Greg schonmal vorsorglich ein Fass Rum öffnen lassen. Das würde die Mannschaft entspannen und ordentlich auf den Kampf einstimmen. Das Inkognito war ja nun ohnehin nicht mehr zu wahren, also konnte man auch ordentlich segeln, wie es sich für Piraten gehörte, das heißt: Sternhagelvoll und aus vollem Halse grölend. Außerdem hatte das Auffliegen der Tarnung Gregs Laune erheblich gedämpft, so dass er selbst die antidepressive Wirkung des Branntweins nicht missen wollte.
    Dass die Khoriner seine Tarnung so flugs durchschaut hatten, das wurmte und beschäftigte ihn nachhaltig. Woher hatten sie gewusst, dass er nicht zu ihnen gehörte? Unter den Bewohnern der Südsee waren er und sein Schiff angemessen bekannt, doch die khorinische Marine sollte ihn eigentlich nicht erkennen können.
    „Keine Sorge, Käptn“, sagte Skip tröstenden Tones, „wir haben die bald eingeholt. Sind schneller als die.“
    „Natürlich sind wir schneller als die, Du Trantüte! Als wenn ich das nicht selbst wüsste! Die Frage ist doch, was die sich von der Flucht versprechen. Damit machen die mich nur sauer. Ich habe keine Lust, den Kahn stundenlang zu verfolgen!“
    Skip enthielt sich eines Kommentars. Er wusste, wann man in Gegenwart des Käptns besser schwieg.
    „Sag mal, die halten doch genau auf die Marenge-Inseln zu!“
    „Dann werden wir se da wohl einholen, Käptn. Is doch ne feine Sache. Da können wir hinterher gleich an Land und ne Sause feiern.“
    Greg brummte nur und nahm einen großen Schluck Rum, denn aus irgendeinem Grunde beschlich ihn ein mieses Gefühl.


    Kapitän Oleg hätte seine Passagiere lieber unter Deck untergebracht, denn immerhin handelte es sich um eine militärische Notlage. Außerdem wäre die Bewirtung so erheblich einfacher gewesen. So musste er Anweisung geben, Tische und Sitzgelegenheiten an Deck zu schaffen, damit die königliche Familie ihr Frühstück fortsetzen könne. Dass der Tee derweilen vollends erkaltet und somit ungenießbar war, gehörte noch zu seinen geringsten Problemen.
    Dennoch gab es gute Gründe, warum er der Königin ihren Leichtsinn durchgehen ließ: Erstens war sie nun einmal die Königin, und den Wünschen einer solchen entzog man sich allenfalls mit Bedacht. Und zweitens wusste Oleg um den Ruf der Monarchin, die sich durchaus schon einige Meriten als Befehlshaberin erworben hatte. Sabatha in Aktion erleben zu können war ein durchaus triftiger Anreiz. Die Königin dabei darben zu lassen, kam indessen gar nicht in Frage: Nicht nur hätte dies seinen Stolz als Gastgeber zutiefst verletzt, nein, es ging zudem auch das Gerücht um, dass Königin Sabatha ihre taktischen Meisterleistungen stets bei hervorragender Kost zustandegebracht habe. „Mit Crème Brûlée siegt die Armee“, lautete ein bekannter Volksreim. Zwar ließ Oleg keine Crème Brûlée servieren, dafür aber Zitronenrolle, Schokoladentörtchen und feinste Pralinen, und „Praline“ reimte sich immerhin auf „Marine“, war in der gegebenen Situation also mehr als angemessen.
    „Feindschiff immer noch auf Verfolgungskurs und holt langsam auf!“, tönte es vom Ausguck her, „Feindschiff immer noch auf Verfolgungskurs und holt langsam auf“, rief der zweite Maat, der direkt neben dem ersten Maat stand, „Feindschiff immer noch auf Verfolgungskurs und holt langsam auf“, rief der erste Maat, der direkt neben Oleg stand, „Feindschiff immer noch auf Verfolgungskurs und holt langsam auf“, rief Oleg, der direkt neben der Königin stand.
    „Danke“, sagte die Königin, nippte an der Teetasse, „für die Information. Aber wenn ich noch einmal erlebe, dass drei nebeneinander stehende Männer einander dreimal dieselbe Information zubrüllen, werden Sie und Ihre Offiziere den Rest der Reise in einfacher Matrosenuniform verbringen. Oder, um es etwas unzweideutiger zu formulieren: Dann werden Sie mit sofortiger Wirkung degradiert. Ich bin, mit Verlaub, nicht schwerhörig, und hoffe doch sehr, dass Sie es ebensowenig sind.“
    Oleg räusperte sich. „Majestät, wir halten uns lediglich an das militärische Protokoll!“
    „DAS ist militärisches Protokoll? Welcher Idiot hat sich das denn ausgedacht? Wie dem auch sei: Hiermit ändere ich das militärische Protokoll!“
    Oleg hob zu einer Erwiderung an, als es erneut vom Ausguck herabschallte: „Land in Sicht!“
    „Land in Sicht!“, nahm der zweite Maat den Ruf auf.
    „Wir haben verstanden, danke!“, fuhr Selindan hastig dazwischen und erhob sich von seinem Stuhl, um nach besagtem Land zu spähen.
    „Wann werden wir Ihrer Meinung nach in etwa dort sein?“
    Der Kapitän zog seine Taschenuhr und warf einen Blick auf das Ziffernblatt, als ließe sich die Antwort auf die prinzliche Frage dort ablesen. „Meinen Berechnungen nach: Zwei Stunden.“


    Am Horizont, jenseits des Schiffes, dass eigentlich „Gregs Stolz“ hätte heißen, aber durch unglückliche und ganz und gar ungerechte Fügung einen andern Namen erhalten hatte, waren grüne Flecken aufgetaucht und rasch größer geworden: Die Konturen der ersten beiden Marenge-Inseln. Greg kannte sich in diesem Archipel hervorragend aus, und daher war er zuversichtlich, dass er seine Beute hier stellen würde.
    „Die halten auf die Durchfahrt zwischen den Inseln zu!“, gab Skip die Information vom Ausguck an Greg weiter.
    „Das habe ich mir gedacht. Die glauben wohl, dass sie uns im Inselgewirr abhängen könnten. Pah, da werden die ihr blaues Wunder erleben! Pest und Beliar, wenn ich deren Kapitän in die Hände kriege!“
    Skip gähnte herzhaft und blickte bedauernd auf den Grund des Blechkännchens, aus dem er bis vor kurzem noch Rum getrunken hatte, das nun aber leider leer war. Greg selbst hatte seine Portion bereits viel früher geleert, übrigens ohne nennenswerte Wirkung. Dafür war das feindliche Schiff unterdessen erheblich näher gekommen, und selbst nach all den Jahren erfüllte die herrliche Gestalt des gewaltigen Kriegsschiffs Greg noch immer mit Stolz und Zufriedenheit. Die Aussicht, es endlich in Besitz nehmen zu können...
    „Ab heute wirst Du Kapitän sein“, teilte Greg seinem Maat mit, „und ich Admiral. Harr!“


    Eine Möwe flog elegant über das Schiffsdeck hinweg, das Sonnenlicht wurde vor der sich am Schiffsrumpf aufsteigenden Gicht zu einem kleinen Regenbogen gebrochen, und der Wind trug die würzige Frische der See. Von ihren Plätzen aus konnten sie eine Gruppe Tümmler sehen, die aus den Wogen aufstiegen und das Schiff eine Weile auf seinem Kurs begleiteten, den Frauen und Männern an Deck einen keckernden Gruß entboten, und bald wieder in der Tiefe des Meeres verschwanden. Die vor ihnen liegenden Inseln erhoben sich majestätisch aus den Wassermassen. Mittlerweile waren seichte Strände, schroffe Felsen und üppige Vegetation erkennbar. Die linke Insel erhob sich zu sanften Hügeln, derweil die rechte als ehernes Massiv erhaben emporragte.
    Und im Nacken saß ihnen immer noch ein blutrünstiger und gefährlicher Pirat. Wahrlich: Man konnte Rhademe für die Idee zu dieser Reise nur beglückwünschen!
    „Der Wind zwischen den beiden Inseln dürfte bei der derzeitigen Windrichtung ziemlich stark sein, da er sich an den Engstellen staut und wie in einem Kamin durchgezogen wird“, erklärte Selindan. Adressat dieser Erklärung sollte vor allem Crestin sein. Rhademes Miene verdüsterte sich etwas, offenbar ärgerte es sie, dass man ihrem Verlobten so wenig zutraute. „Hier, nimm noch eine von denen, die sind lecker“, flüsterte sie ihrem Geliebten ins Ohr, und steckte ihm eine der Pralinen mit Mokkafüllung in den Mund. Auf dem Gesicht der Königin zeichnete sich Belustigung ab – und Freude. Selindan war sich sicher, dass seine Mutter in ihrer Tochter sich selbst in jüngeren Jahren sah, und in Crestin womöglich Grerog, den verstorbenen, ersten Ehemann und Vater ihrer Kinder.
    „Es ist wirklich schön zu sehen, dass alle meine Kinder ganz nach mir kommen!“, rief die Königin aus und warf Selindan ein listiges Lächeln zu. Selindan hätte sich nicht wundern sollen, immerhin erlebte er in der Regierungstätigkeit beinahe täglich das Talent seiner Mutter, ALLEN Beteiligten gleichermaßen Komplimente zu machen, und dennoch zugleich exakt das auszudrücken, was sie ganz persönlich bewegte.
    „Da kommen sie!“, unterbrach Kapitän Oleg das familiäre Gespräch von der Heckreling des Achterdecks her, „und wie es aussieht, gehen sie uns auf den Leim.“


    Die Elenor war ihrer Beute bereits gefährlich nahe gekommen, als diese zwischen den beiden Inseln verschwunden war. Für kurze Zeit war die Sicht auf die Beute damit versperrt, doch schließlich passierten auch die Jäger die Engstelle, und so konnte Greg das rechtmäßig ihm gehörende Schiff vor dem Hintergrund der steilen Klippe ausmachen, die sich in weitem Bogen um die Wasserfläche zwischen den Inseln herumzog.
    „Deren Kapitän kennt sich hier nich aus und nimmt den längeren Weg, wie wir erwartet hatten, Käptn!“, frohlockte Skip, der sich bereits auf das Ende der Verfolgungsjagd freute. Die Mannschaft wusste, was zu tun war, und schickte sich an, den Weg der Beute abzuschneiden.
    „Jetzt sitzen sie in der Falle!“
    Anders als sein erster Maat blieb Greg ruhig. Etwas an dem Bewegungsmuster des anderen Schiffes war seltsam. Noch ein kleines Stück, und die Elenor würde sich genau in seiner Schusslinie befinden. Aber die Entfernung war noch zu groß. Es sei denn...
    „Hart Steuerbord, Anker lichten, Segel reffen!“, schrie Greg, „was glotzt Ihr denn so? Bewegt Eure Ärsche!“
    Die verdutzte Mannschaft überwand ihre Verwunderung recht schnell und machte sich flugs an die Ausführung der Befehle. Ein Ruck ging durch das Schiff, als der Anker auf Boden lief, und das bereits in der Wende befindliche Schiff herumriss. Hölzernes Knarren von splitterndem Holz war vom Bug her zu hören, als die ersten Geschosse einschlugen, und kurz darauf tönte das Donnern vom feindlichen Schiff herüber. Einem geringeren Kapitän wäre die Situation nun entglitten. Nicht jedoch Greg. Die Elenor war noch nicht weit genug zwischen die Sandbänke gefahren, als dass sie den Kurs nicht mehr hätte ändern, und nicht schwer genug beschädigt, als dass sie die Beute nicht mehr hätte einholen können. Bald schon nahm Gregs Schiff erneut an Fahrt auf, verschlechterte dabei den Schusswinkel des khorinischen Kriegsschiffes. Weitere Kanonenkugeln trafen ein oder ließen das Wasser um die Elenor herum aufspritzen, doch bislang war noch kein Volltreffer gelungen. Greg war indes entschlossener denn je, seine Beute zu stellen: Er wollte dieses Schiff – und seine Kanonen!


    „Das war kein besonders guter Schuss“, tadelte die Königin, „und jetzt sind sie außerhalb unseres Schussfeldes. Vorschläge?“
    „Wir sollten es einfach beenden. So gut lässt es sich in diesem Kessel nicht manövrieren. Wenn wir beidrehen und uns ordentlich ausrichten, dann können zwei oder drei Salven abfeuern, bevor die Piraten selbst angreifen können. Wir verwickeln sie in ein Seegefecht und schießen sie auf den Grund des Meeres!“
    Rhademe legte den Kopf an die Schulter Crestins und gähnte. Selindan stützte das Kinn auf die Faust und tat nachdenklich. Anrig mümmelte an einer Praline herum. Sabathas Stirn dagegen legte sich in unwillige Falten.
    „Wir wollen keinen Nahkampf riskieren, Trelon. Erstens möchte ich nicht, dass mein Schiff beschädigt wird, zweitens will ich nicht, dass meine Mannschaft zu Schaden kommt, und drittens dulde ich keinen Enterkampf auf meinem Schiff. Der Vorschlag ist abgelehnt. Kapitän, Ihre Einschätzung: Schaffen wir es bis zur anderen Seite, bevor uns der Feind eingeholt hat?“
    Oleg nickte: „Ja, Euer Majestät. Die Piraten haben durch ihre Wende einiges an Zeit verloren. Wir kommen auf jeden Fall vorher wieder aufs offene Meer. Wenn wir bis Einbruch der Nacht genügend Abstand zwischen uns und dem Feind halten können, können wir die Dunkelheit ausnutzen: Wir sind dann nicht mehr zu sehen und können davonsegeln.“
    „Kaum“, widersprach Selindan, „es sind keinerlei Wolken am Himmel und es ist fast Vollmond. Wir können also mit recht guten Sichtverhältnissen auch in der Nacht rechnen. Übrigens ist fraglich, ob wir einen Kampf überhaupt so lange herauszögern können.“
    Crestin, der dem Gespräch bislang schweigend gelauscht hatte, räusperte sich.
    „Liebe zukünftige Schwiegermutter, Du hast mir vorhin eine Frage gestellt, die ich nicht zufriedenstellend beantworten konnte. Erlaube mir bitte eine Antwort auf eine Frage, die Du nicht gestellt hast!“
    Sabatha nickte ermutigend.
    „Ich habe nur geringe Kenntnisse von moderner, biblurer Waffentechnologie oder der Seefahrt überhaupt. Aber im Allgemeinen dürfte es das strategisch beste sein, das zu tun, womit der Feind am wenigsten rechnet.“
    „Und das heißt?“
    Crestin grinste breit. „Also, wir machen Folgendes!“


    Ein geringerer Kapitän wäre angesichts des hinter den Landmassen verschwindenden Beuteschiffes nervös geworden. Nicht aber Greg. Stattdessen kraulte er sich durch den Bart und dachte nach. Der gegnerische Kapitän hatte sich als ungewöhnlich klug erwiesen und Greg beinahe überlistet. Aber eben nur beinahe. Greg hatte keine Ahnung, wer auf dem anderen Schiff das Kommando führen mochte, doch offenbar musste er mit Überraschungen rechnen.
    „Skip, was meinst Du? Was werden die jetzt tun?“
    Skip zuckte mit den Schultern: „Na, was wohl? Die werden sicherlich versuchen, davonzusegeln. Was sonst?“
    „Sie können uns nicht entkommen. Dafür sind sie zu langsam. Skip, was würdest DU tun?“
    Skip überlegte einen Augenblick.
    „Ich würde mich in der kleinen Bucht hinten auf der anderen Seite verstecken. Mein Feind würde damit nicht rechnen. Aber ich kenne die Inseln hier ja auch. Die nich.“
    Greg war sich da nicht so sicher. Der feindliche Kommandant hatte offenbar gewusst, was ihn hier erwarten würde. Nicht so genau, wie Greg, aber gut genug, um darauf eine Strategie zu gründen. Skips Vorschlag, sich in der Bucht zu verstecken, wäre in der Tat ein guter – allerdings nur gegen einen Feind, der selbst nichts von jenem Versteck wusste. Greg nahm aber an, dass der feindliche Kapitän dieses Wissen von Greg erwartete.
    „Wir kehren um“, entschied Greg.
    „Was?“
    „Glotz nicht so, Du hast schon richtig gehört: Wir kehren um und umschiffen die Insel außen herum.“
    „Aber... das dauert doch viel länger! Bis dahin sind die doch weg!“
    Greg grinste und schwieg. Er wusste, dass er seine Befehle nicht wiederholen musste. Skip wartete die Antwort nicht ab, sondern machte sich an die Arbeit.


    Die Sonne senkte sich herab und malte herrliche Farben auf den glitzernden Meeresspiegel, tauchte die Insel samt dem davor ankernden Schiff in goldenes Licht - einem Schiff, dessen Backbordseite genau auf die schmale Meerenge zwischen dieser und der Nachbarinsel gerichtet war. An Deck des Schiffes stand ein Mann, dessen eine Hand an der Spitze seines Schnurrbartes zupfte, und dessen andere Hand auf dem Heft des Degens lag. Der Mann blickte in die Richtung der Meerenge, als warte er auf etwas. Einen kurzen Augenblick kniff er die Augen zusammen, als wenn ihn etwas blende. Dann wandte er sich zu der Gruppe von Goblins um, die in bequemen Stühlen sitzend Karten spielten.


    Greg hatte seinem Maat nichts erklärt, sondern nur den Befehl gegeben, die Küste des Eilandes nach einem ankernden Schiff abzusuchen. Da hatte auch Skip begriffen, dass man ihnen einen Hinterhalt hatte legen wollen. Die Bewunderung für den Kapitän, der diesen fiesen Plan natürlich sogleich durchschaut hatte, war indessen noch größer geworden. Kapitän Greg konnte ein Geizkragen und ein mieses Arschloch sein, doch bislang hatte er noch jede Schlacht gewonnen - oder zumindest fast jede Schlacht. Und ein solcher Anführer war doch eindeutig besser als ein großzügiger und freundlicher Versager!
    Gregs eines Auge suchte angestrengt die Küste entlang, und Skip spürte die Anspannung seines Kapitäns. Er wusste, dass Greg es niemals verwunden hatte, dass der Raub jenes Schiffes damals auf Khorinis missglückt war. Skip selbst konnte das nicht recht verstehen: Am Ende hatten sie ein mindestens ebensogutes Schiff ergattert. Dennoch: Die Möglichkeit, Gregs unglückliche Liebe doch noch erobern zu können, war ungemein begrüßenswert. Vor allem, wenn Skip selbst dadurch ein eigenes Schiff bekommen würde. Kapitän Skip, das klang doch nach was!
    „Die sind gar nicht da!“, wunderte sich Greg, „wo zur Hölle sind die hin?“
    Greg hatte Recht. Die Meerenge war bereits zu sehen, und der Feind war noch nicht gesichtet worden. Wollte man einem durch die Enge kommenden Schiff auflauern, müsste man mittlerweile eigentlich zu sehen sein.
    „Vielleicht sind sie doch einfach weitergefahren?“, mutmaßte Skip.
    Er wurde eines besseren belehrt, als die erste Salve um die Elenor herum einschlug.


    Vom Gegenlicht der tiefliegenden Sonne verborgen, hatte sich die „Wuschelschaf der Meere“ in ideale Schussposition gebracht, und das Piratenschiff unter Feuer genommen. Als die Piraten endlich entdeckten, von wo sie da eigentlich beschossen wurden, war es bereits zu spät: Die Elenor hatte ernsthaften Schaden genommen. Die gesamte Steuerbordseite war ein einziges Trümmerfeld, und das einzige, was dem berüchtigten Piratenkapitän Greg zu tun blieb, war die Flucht.


    „Das Beiboot zu nutzen, um das Vorgehen des Feindes zu beobachten, war eine wirklich gute Idee“, lobte Sabatha ihren zukünftigen Schwiegersohn. Der lächelte etwas verlegen.
    „Das die Sonne so schön stand, das war natürlich Glück. Übrigens finde ich Eure Lichtsignale ungemein interessant. Sowas müsste sich doch auch an Land nutzen lassen. Ich werde meinen Vater beizeiten darüber berichten, vielleicht überzeugt ihn das endlich davon, dass Spiegel doch eine gute Erfindung sind.“
    Rhademe hakte sich bei Crestin unter, die Königin bei Anrig. Selindan bot Trelon den Arm an, den der jüngere Bruder jedoch ausschlug.
    „Lassen Sie uns unsere Leute wieder einsammeln, Kapitän, und danach können wir zu Abend essen!“
    „Wie Sie wünschen, Majestät!“

    Anrig von Westemünde hatte es sich auf einem der Korbstühle bequem gemacht, die noch immer auf dem Achterkastell standen, und zog an seiner glimmenden Pfeife. Kapitän Oleg trat hinzu, zückte die eigene Pfeife.
    „Tabak?“
    „Gern.“
    „Feuer?“
    „Danke.“
    König und Kapitän schmauchten ein Weilchen, und genossen die seichte Brise. Wie Selindan vorhergesagt hatte, war die Nacht vom fast vollen Mond erhellt.
    „Warum“, fragte Oleg schließlich, „haben wir diese Piraten nicht hartnäckiger verfolgt? Wir hätten sie versenken können. Stattdessen haben wir sie ziehen lassen.“
    Anrig stieß ein Wölkchen aus. „Meine Frau und Kapitän Greg... das ist eine schwierige Angelegenheit. Etwas Persönliches.“
    Anrig erhob sich, trat an die Reling und klopfte die Pfeife aus.
    „Es wird Zeit für mich, ins Bett zu gehen. Kapitän, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!“
    Sir Ewek Emelot ist offline Geändert von Sir Ewek Emelot (15.06.2014 um 21:49 Uhr)

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