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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    „Malvenfarben. Hmpf. Wie gewöhnlich“, befand Elm und pustete die Kerze verstimmt wieder aus. Achtlos ließ er sie in seinen weiten Ärmeln verschwinden. Ein Blick durch die hoch gelegenen Fenster seines Turms zeigte ihm scharlachroten Abendhimmel. Allmählich sollte er seinem Gast wohl ein wenig Wasser geben, nicht dass er seine Einzelhaft allzu derangiert verließ.
    Doch als er nach der Karaffe auf einem seiner Tischchen greifen wollte, klopfte es kräftig an der Tür. Elms Mundwinkel hoben sich. Hatte etwa doch endlich jemand seine vortrefflichen Rätsel geknackt? Er war gespannt, welch kluge Köpfe es zu ihm geschafft hatten. Doch als er beschwingt die Tür öffnete, standen bloß drei Milizsoldaten vor ihm.
    „Seid Ihr Elm, der Magier?“, fragte der bärtige Soldat mit den breiten Schultern in der Mitte.
    „Wenn ihr das nicht selbst wisst, habe ich kein Interesse an dieser Unterhaltung“, entgegnete er enttäuscht. Er zog die Tür schwungvoll wieder zu, doch der Mann schob den dicken Stiefel seiner Uniform zwischen Tür und Rahmen. Elm schnaubte unüberhörbar, ließ die Tür los und trat ein paar Schritte zurück. Sofort stürmten die Soldaten in den Raum und umstellten ihn.
    „Gewiss. Ich bin Elm, ehemaliger Magier von Tooshoo.“ Es gehörte zu einem seiner Lieblingsrätsel, dass er jedem einen anderen Magierbund nannte, aus dem er angeblich ausgetreten war. Noch nie war jemand auf die Idee gekommen, dass er einfach nur ein Genie von Geburt an war, er sich all seine Fähigkeiten autodidaktisch und disziplinenübergreifend angeeignet hatte.
    „Dann muss ich Euch bitten, mich zu begleiten“, antwortete der bärtige Milizionär steif. „Ich muss Euch im Namen des ehrenwerten Lord Hagen in Gewahrsam nehmen.“
    Elm schnaubte erneut. Der Wettbewerb bereitete ihm nicht einmal ansatzweise so viel Freude, wie er erwartet hatte. Diese Insulaner waren derart engstirnig… „Na schön, ich werde euch begleiten. Unter der Bedingung, dass ich keine Fesseln erhalte. Das geziemt sich einfach nicht.“
    Der bärtige Milizionär nickte knapp.
    „Außerdem sollten sie den jungen Mann aus meinem Koffer befreien, ehe wir den Turm verlassen. Ich fürchte, er würde sonst verhungern.“
    Die Soldaten waren über diese Worte sichtlich verdutzt. Doch der Bartträger wies einen seiner Männer mit einem Kopfrucken an, besagten Koffer zu öffnen. Sie staunten nicht schlecht, als sie den sehr geräumigen Innenraum erblickten. Sie halfen Yves heraus und ließen ihn ziehen. Der arme Tropf rannte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Elm hätte ihn gern noch ein wenig länger dafür gepiesackt, dass er seine Rätsel missachtet hatte, aber vielleicht gab es dafür ja später noch eine Gelegenheit.
    Die Milizen führten ihn aus dem Turm und nahmen ihn in die Mitte.
    „Meine Herren“, begann Elm, als ein Schatten über dem Turm zu kreisen begann. „Bei diesem wunderschönen Abendhimmel fällt mir ein, dass mir nicht nach der Gastfreundschaft des ehrenwerten Lord Hagen zumute ist.“
    Der dressierte Fliedersittich, der ihn dreimal täglich aufsuchte – zur Morgendämmerung, zur Mittagsstunde und zur Abenddämmerung – stieß herab. Die Soldaten wichen erschrocken zurück, als der mannshohe Vogel mit dem bunten Gefieder direkt zwischen ihnen landete. Einer von ihnen zog sogar sein Schwert, wagte dann aber nicht, es ohne direkten Befehl auch zu gebrauchen. Sein Kommandant stand da wie angewurzelt und tat überhaupt nichts. Elm schüttelte mitleidig den Kopf und kletterte auf den Rücken seines Fliedersittichs. Erst als er dem Kommandanten zum Abschied zuwinkte, löste sich dieser aus seiner Starre.
    Doch der Fliedersittich erhob sich wieder in die Höhe und trug seinen Herrn unbehelligt in die Dämmerung davon.

    Dräuend ragte der verlassene Turm neben einer kahlen Felswand in die Höhe. Das Gesträuch, das sich links und rechts des Weges dahin gezogen hatte, endete wenige Schritte vor der Mauer abrupt. Kein Efeu rankte sich an dem grob behauenen Stein, nicht einmal Krähen kreisten über der Spitze. Gaan war dem Dämonenbeschwörer nie begegnet, doch wenn die Geschichten, die ihm zu Ohren gekommen waren, auch nur einen wahren Kern hatten, dann konnte er es Flora und Fauna nicht verübeln, diesem Turm mit Argwohn zu begegnen.
    „Solange ich eines der Artefaktteile besitze, kann niemand anderes den Wettbewerb gewinnen“, murmelte Grimbald, den Blick auf die höchsten Zinnen gerichtet. Gaan kam es so vor, als sprach der hartgesottene Jäger sich Mut zu.
    Es war ihnen gelungen, vor Morgengrauen aufzubrechen, und von Alrik unbemerkt das Haus zu verlassen. Alrik hatte sich nicht davon abbringen lassen, auf Vatras‘ Kaminvorleger zu schlafen, und der Wassermagier war abermals eingeschritten, als Grimbald ihn vor die Tür setzen wollte.
    Vatras war hin und her gerissen gewesen. Auf der einen Seite hatte er ihnen noch weitere Mitglieder des Rings mitschicken wollen, um ihre Mission sicherer zu gestalten, doch andererseits war er auch immer noch bestrebt, so viele Mitglieder wie möglich aus der Angelegenheit herauszuhalten. Letztendlich hatten sie nicht auf weitere Mitglieder warten wollen, denn schließlich wurde es mit jedem Tag wahrscheinlicher, dass ihnen ein Konkurrent zuvorkam.
    Und so standen sie nun zu zweit vor dem Gemäuer mit dem vielleicht schlechtesten Leumund der Insel. Grimbald schien den ersten Schritt nicht machen zu wollen und so nahm Gaan sich ein Herz und trat durch den hohen Torbogen ins Innere. Mit gezücktem Schwert schlich er durch den Eingangsbereich, in dem es außer zusammengebrochenen Regalen aber nichts Spannendes zu entdecken gab. Trotzdem mahnte er sich, vorsichtig zu bleiben. Irgendwo in diesem Turm lauerten Gefahren, so viel war sicher.
    „Sollten wir vielleicht eine Schnur hinter uns ausrollen, wenn wir das Labyrinth betreten?“, fragte Grimbald und erst jetzt wurde Gaan bewusst, dass er ihm gefolgt war. „Sonst finden wir nachher nicht wieder heraus.“
    „Wenn wir etwas in die Richtung finden“, erwiderte Gaan beiläufig. Er hatte sich zu einer Treppe vorgewagt, die in engen Wendeln nach oben führte. Ihm war mulmig zumute, da er nur wenige Stufen weit sehen konnte, ehe der Weg sich hinter der Biegung verlor, aber ihnen blieb keine andere Wahl. Stufe für Stufe rückte er vor. Grimbalds Atem hinter ihm erschien ihm ungewöhnlich laut. Doch obwohl seine Nerven blank lagen und er jeden Moment mit einem Angriff aus dem Hinterhalt rechnete, einem Monster, einem mysteriösen Bannzauber, ob nun vom Veranstalter oder vom ehemaligen Bewohner des Turms: Als sie den nächsten Treppenabsatz erreichten, war noch immer nichts passiert, was auch nur annähernd als Gefahr einzustufen war.
    Sie kamen in einen Raum mit einem anklagend leeren Kamin an der Wand zu ihrer Rechten. Ein wenig Feuerholz vertrocknete in der Ecke. Doch ansonsten war auch dieser Raum leer. Der Dämonenbeschwörer schien hinter sich ordentlich aufgeräumt zu haben. Bei dieser Vorstellung wäre ihm fast ein Lachen entschlüpft. Sofort schärfte er sich ein, wieder vorsichtiger zu sein.
    „Sieh mal!“ Grimbalds Arm erschien in seinem Sichtfeld, als dieser auf etwas deutete, das vor ihnen lag. Als Gaan seinem Wink folgte, blickte er in einen angrenzenden, deutlich größeren Raum. Dort verblasste ein schaurig rotes Pentagramm auf dem Boden, in dessen Mitte ein mannshoher Eisblock aufragte.
    Vorsichtig wagte sich Gaan näher heran, bis er die Kälte auf seiner eigenen Haut spürte. Nebel lief in Bächen von dem Eis herunter und verschwand, sobald er den Boden erreichte. Etwas schien in den Eisblock eingeschlossen zu sein, war aber hinter dem trüben Eis nur schemenhaft zu erkennen. Und in etwa auf Höhe seiner Brust war ein reich verziertes, goldenes Vorhängeschloss in das Eis eingelassen.
    „Wenn das schon seit Beginn des Wettbewerbs hier ist, scheint das Eis nicht zu schmelzen“, stellte Grimbald fest.
    „Wir müssen aber irgendwie an das herankommen, was in dem Eis eingeschlossen ist. Da bin ich mir sicher“, sagte Gaan. Versuchsweise klopfte er mit der Spitze seines Schwertes gegen das Eis. Als nichts passierte, holte er weit aus und schlug mit ganzer Kraft zu. Als die Schwertschneide gegen den Eisblock prallte, brach sie glatt entzwei. Klappernd fiel die Klinge zu Boden, in Gaans Händen blieb nur ein nutzloser Stumpf zurück. Gaan wurde flau im Magen. Außer dem Messer, das er bei sich führte, um erlegtes Wild auszunehmen, war er nun schutzlos den Gefahren des Turms ausgeliefert. Seinen Bogen konnte er auf so engem Raum vergessen.
    „Das Eis schmilzt nicht und scheint auch gegen Gewalteinwirkungen geschützt“, murmelte Grimbald. Suchend ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. „Uns bleibt wohl nur, den Schlüssel für dieses Schloss zu finden.“
    Seufzend steckte Gaan den Rest seines Schwerts zurück in die Scheide. Der vorherrschenden Leere wegen vermuteten sie schnell, dass der Schlüssel nicht auf diesem Stockwerk des Turms zu finden war. Missmutig trat Gaan gegen die wenigen Holzscheite, so dass sie klappernd auseinander fielen, doch unter ihnen war nur uninteressanter, leerer Boden. Grimbald klopfte gegen die Rückwand des Kamins und wahllos gegen Steine der Wand, doch nichts davon klang hohl.
    Bevor sie die Wendeltreppe weiter hoch gehen wollten, kehrten sie ins Erdgeschoss zurück, um auch dort nach dem Schlüssel zu suchen. Dort angekommen, blieben sie wie angewurzelt stehen.
    „Der Ausgang…“, flüsterte Grimbald ungläubig.
    „Das magische Labyrinth“, schluckte Gaan. „Wir sind bereits mittendrin.“
    Der Torbogen, durch den sie den Turm betreten hatten, führte nun in einen weiteren Raum, der unangenehm ähnlich dem war, in dem sie gerade verharrten. Mehr noch, es schien, als sei der Turm an dem Torbogen gespiegelt worden. Vorsichtig näherte Gaan seine Finger der Grenze zwischen dem ursprünglichen und dem gespiegelten Turm. Irgendwie erwartete er, dass etwas passierte, wenn sie den Torbogen passierten. Doch seine Finger glitten einfach hindurch, nichts geschah.
    „Na, immerhin brauchen wir jetzt nicht zu bereuen, dass wir keine Schnur mitgenommen haben“, murrte Grimbald in einem Anflug von Sarkasmus, doch für Gaan wirkte es aufgesetzt. Sein Kamerad blickte fahrig von einer Ecke des fensterlosen Raums zur anderen, als hoffte er, irgendwo einen Blick auf den freien Himmel zu erhaschen. Gaan konnte es verstehen. Nun, da ihnen der Rückweg abgeschnitten worden war, fühlte auch er sich fürchterlich eingesperrt.
    „Wenn der Turm wirklich komplett gespiegelt wurde, muss es auch auf der anderen Seite diesen Raum mit dem Pentagramm geben“, überlegte Gaan. „Vielleicht finden wir dort eine Art Gegenstück zu dem Eisklotz, oder sogar den Schlüssel.“
    „Du willst in diese Illusion reingehen?“, entfuhr es Grimbald entsetzt. „Du weißt doch, dass der nur eine Täuschung ist! Lass uns lieber gucken, was auf der Spitze von dem echten Turm ist!“
    „Ich glaube kaum, dass die Sache so einfach ist“, entgegnete Gaan. „Ein gespiegelter Turm macht noch lange kein Labyrinth. Vielleicht finden wir diesen Ort nie wieder, wenn wir einmal von hier verschwunden sind. Die Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen!“ Er spürte wieder diesen jugendlichen Eifer in sich aufsteigen, doch es war ihm nur recht. Er half ihm, die lähmende Angst für einen Moment zu vergessen.
    Ohne weiter auf Grimbald zu achten, durchschritt er den Torbogen. Er sah sich kurz um, doch hier gab es genauso wenig zu sehen wie auf der anderen Seite. Also betrat er die Wendeltreppe. Er stutzte, als ihm ein kleines Rinnsal auffiel, das die Stufen hinunter lief. Sein Herz schlug schneller. Dort oben gab es also wirklich mehr als nur leeren Raum. Irgendwo musste das Wasser ja schließlich her kommen! Siegesgewiss hob er den Kopf und sah die Stufen hinauf. Doch dann verwandelte sich seine begeisterte Miene in eine des Entsetzens. Eine Welle klatschte ihm entgegen, die ihn komplett verschlang und die ganze Treppenflucht ausfüllte. Er verlor die Stufen unter seinen Füßen und wurde von den Wassermassen mitgerissen. Während er hilflos nach Luft schnappte, aber nur Wasser in seinen Hals und seine Nase eindrang, schlug er irgendwo hart mit dem Rücken auf. Der Strom drückte ihn zu Boden, während sein ganzer Körper vor Sauerstoffmangel brannte.
    Plötzlich riss ihn eine Hand nach oben. Röchelnd und würgend tauchte er aus dem Wasser auf. Nachdem er ausgespuckt hatte und sich seine brennenden Lungen wieder mit Luft füllten, blinzelte er sich die Augen frei und erkannte Grimbald, der schon bis zur Hüfte im Wasser stand und ihn aufrecht hielt. Er war offenbar ins Erdgeschoss zurückgespült worden. Aus dem Zugang der Wendeltreppe ergoss sich eine mächtige Fontäne in den Raum. Zunächst kam es ihm merkwürdig vor, dass das Wasser sich in dem Raum sammelte und immer höher stieg, doch dann fiel ihm wieder ein, dass der Turm im Moment keinen Ausgang hatte.
    „Das Wasser steigt ziemlich schnell“, knurrte Grimbald. „Wir müssen hier weg!“

    Yves hockte in dem stinkenden Geheimkeller von Hannas Hotel und hielt sich den Schlüssel vor Augen, den Joe und Jesper für ihn gestohlen hatten. Er hatte wirklich erstaunliches Glück gehabt. Er hatte gerade mit Joe und Jesper in das Haus des Richters einsteigen wollen, als dieser Martin an der Tür klopfte. Sie hatten sein Gespräch mit dem Eingeweihten belauscht und waren ihnen in sicherem Abstand gefolgt. Sobald sie von dem Schlüssel erfahren hatten, waren Joe und Jesper vorgegangen, um ihn zu entwenden, während Yves weiter dem Eingeweihten lauschen konnte. Als aus heiterem Himmel die Miliz aufgetaucht war, hatte er sich lieber verkrümelt. Er konnte darauf verzichten, wegen irgendwelcher Gründe im Gefängnis zu sitzen, während das Gift sich in seinem Körper ausbreitete.
    Alles in allem konnte er mit dem ersten Tag seiner siebentätigen Frist sehr zufrieden sein. Er hielt immerhin den Schlüssel zu einem Artefaktteil in Händen. Nun musste er nur noch herausfinden, wo das Artefaktteil versteckt war. Angeblich hatte der Eingeweihte sogar alle Aufenthaltsorte verraten, aber Yves wurde einfach nicht schlau aus dieser ganzen Geschichte. Und in Gänze behalten hatte er sie sowieso nicht. Sagitta hatte gesagt, dass die Aussagen der beiden Eingeweihten in der Stadt einander widersprechen würden und man nur dann auf den Aufenthaltsort eines Artefaktteils kam, wenn man herausfand, welche Teile der Aussagen richtig waren. Yves seufzte, das war überhaupt nichts für ihn. Und außerdem hatte sich dieser Elm ja sogar geweigert, seine Informationen preiszugeben. Ganz zu schweigen davon, dass er diesen Magier gewiss nie wieder aufsuchen würde, um ihn noch einmal danach zu fragen. Er konnte nur Stunden in diesem Koffer eingesperrt gewesen sein, aber es war ihm wie Wochen vorgekommen.
    Er fasste einen Entschluss, verstaute den Schlüssel sorgfältig in einer Geheimtasche seiner Hose und erhob sich. Er musste diesen Martin finden und sich an seine Fersen heften. Er würde ihn zum Ziel führen. Dann musste er nur noch warten, bis Martin ohne den Schlüssel unverrichteter Dinge wieder abzog, um das Artefaktteil selbst abzustauben. Eine andere Wahl hatte er gar nicht.
    Yves verließ das Hotel über die Geheimtür und trat auf die Straße, die den Galgenplatz mit dem Marktplatz verband. Plötzlich rannte jemand in ihn hinein und stürzte mit ihm auf das Kopfsteinpflaster. Yves rappelte sich auf und starrte den Mann an, der ihn umgerannt hatte. Er kannte ihn von Onars Hof! Er war auch einer der Wettbewerbsteilnehmer!
    „Erst lassen mich diese nichtsnutzigen Tölpel zurück und jetzt auch noch das“, murmelte der andere Teilnehmer in sich hinein, kam wieder auf die Füße und rannte weiter, ohne eine Notiz von Yves zu nehmen.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Cord wusste es nicht genau, aber sein Gefühl sagte ihm, dass der Morgen vermutlich längst dämmerte, so lange hatte er neben Myxir ausgeharrt. Sie hatten den Kopf des Magiers auf ein improvisiertes Kissen gestützt, das sie aus dem alten Halstuch von Dar, gewickelt um die Ledertasche von Alligator Jack, gefertigt hatten. Das Gezappel und Gezucke von Myxirs Körper war nach einigem Aufbäumen langsam abgeebbt, bis die Bewegungen schließlich ganz erstorben waren. Cord blickte nun in das leichenblasse Gesicht des Magiers. Das milde Lächeln um die farblosen Lippen des Mannes hätte ihn sicher beruhigt, wenn nicht ansonsten alle anderen Zeichen auf Besorgnis gestanden hätten. Den anderen schien es auch so zu gehen. Jedenfalls Alligator Jack war, ganz entgegen seines sonstigen Auftretens, eine gewisse Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben, wohingegen man die Teilnahmslosigkeit von Dar und Buster mit einem gewissen Wohlwollen in Richtung Sorge interpretieren konnte.
    Der Magier war glücklicherweise vor einigen Momenten wieder zu Bewusstsein gekommen. Alligator Jack war ungeduldig gewesen, hatte den Magier direkt mit Fragen gelöchert, doch der Mann im Blau war am Boden liegen geblieben und hatte mit einer unmissverständlichen Geste um Ruhe gebeten. Er hatte dann angefangen, tief zu atmen, tief aber langsam, mit großen Abständen, sodass Cord nach jedem Atemzug befürchtete, es würde doch kein weiterer mehr kommen. Ein letzter dieser Atemzüge noch, dann öffnete Myxir erneut seine Augen.
    „Ich denke, ich bin wieder halbwegs klar im Kopf“, sagte er und setzte sich langsam auf. „Ich spüre zwar noch ein wenig schwarze Magie in mir, aber sie verflüchtigt sich wie Sand in einer Uhr.“ Er blinzelte ein paarmal angestrengt. „Danke für euren Beistand.“
    „Was ist passiert?“, wiederholte Alligator Jack die Frage von vor einiger Zeit, und hockte sich nun auch neben den Magier. Cord bedachte ihn mit einem strafenden Seitenblick für die Ungeduld, aber den bekam der Pirat erstens nicht mit, und zweitens wollte, nein musste auch Cord selbst wissen, was geschehen war.
    „Ich will es mit einer Kurzfassung versuchen“, sagte Myxir und räusperte sich. „Ich denke, unser gemeinsamer Bekannter hier hat dich schon über das … veränderte Verhalten der Banditen im Sumpf aufgeklärt?“ Der Blick des Magiers ging erst zum Piraten und dann zurück zum Söldner. Beide nickten.
    „Gut“, sagte der Magier dann. „Wir haben diese Veränderungen auch wahrgenommen, aber dass uns die Banditen angegriffen haben, hat uns überrascht. Und vor allem hat uns überrascht, wie sie uns angegriffen haben.“
    „Du hast von schwarzer Magie gesprochen“, warf Cord ein.
    Myxir nickte. „In der Tat. Ich weiß nicht, wie sie daran gelangt sind, aber einige von ihnen besaßen Spruchrollen mit schwarzer Magie. Angst- und Panikzauber, die Mittel des dunklen Gottes. Aber ich befürchte, da ist noch mehr. Einer von ihnen hielt etwas in den Händen, das aussah wie ein Brocken schwarzes Erz. Ich bin mir da allerdings nicht ganz sicher.“
    „Schwarzes Erz?“, hauchte Dar aus dem Hintergrund zu ihnen herüber. „Das klingt ja krass …“
    Cord ignorierte seinen Söldnerkollegen. Er wusste nicht genau, was schwarzes Erz war, aber das verhieß mit Sicherheit nichts Gutes.
    „Sollten wir den Magiern nicht zur Hilfe eilen?“, kam Alligator Jack ihm mit seiner Frage zuvor. „Worauf warten wir noch?“
    Myxir schüttelte den Kopf. „Sie haben uns überrascht, aber wir Magier sind nicht hilflos. Die Lage wird sich mittlerweile schon wieder etwas stabilisiert haben.“
    „Das hat aber ganz anders gewirkt, als wir dich hier haben liegen sehen“, erwiderte Cord.
    Myxir zog sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln zusammen. „Ich war nicht ich selbst. Die Lage ist weiterhin ernst, gleichwohl aber sie ist nicht so aussichtslos, wie es mir schien. Einer ihrer Zauber muss mich erfasst haben, als ich mich dem Geschehen abwandte. Ich hatte das Gefühl, als wollte man mich am Verlassen Jharkendars hindern. Sie haben es nicht geschafft, wie ihr seht. Ich werde vorerst nicht zurückkehren. Meinen Brüdern kann ich am besten helfen, indem ich Vatras aufsuche und ihn über alles in Kenntnis setze. Das, was im Tal der Erbauer vor sich geht, ist längst kein reines Problem Jharkendars mehr. Und das Verhalten der Banditen ist dem bloßen Konflikt mit den Piraten längst entwachsen.“
    „Was ist denn mit den Banditen nun genau los?“, fragte Alligator Jack. „Haben sie einen neuen Anführer? Normalerweise wollten die nämlich rein gar nix mehr mit schwarzer Magie und so weiter zu tun haben.“
    „Ich glaube, wir wissen da genau so wenig wie ihr, wenn nicht noch weniger“, gab Myxir zu. „Wir vermuten jetzt natürlich, dass sie von irgendwem gesteuert werden oder beeinflusst sind, aber das sind eben nur Vermutungen. Ich traue ihnen auch zu, sich den restlichen Überbleibseln von Ravens Herrschaft bemächtigt zu haben. Aber ich weiß es nicht. Das Verhalten der Banditen war auch gar nicht unser zuvörderster Belang – bis sie uns angriffen, natürlich.“
    „Sondern?“, drängelte nun auch Cord ein wenig. So sehr er die Wassermagier schätzte, so sehr er sich ihnen auch verpflichtet fühlte – manchmal wollte er ihnen diese gewisse Langsamkeit einfach nur austreiben.
    „Wir haben bei unseren Ausgrabungen äußerst interessante Steintafeln freigelegt“, begann Myxir.
    „Das ist ja mal ganz was Neues“, bemerkte Alligator Jack knapp.
    „Das ist es in der Tat“, fuhr der Magier unbeirrt fort. „Insbesondere vor dem Hintergrund der Beben und der neuerlichen Isolation der Banditen sind sie interessant. Und da nun auch noch schwarze Magie im Spiel ist …“
    „Myxir, ich bitte dich, mach’s kurz und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen“, sagte Cord. „Was auch immer gerade vor sich geht, ich glaube nicht, dass wir alle Zeit der Welt haben.“
    Myxir nickte. „Die Steintafeln sind halb Geschichtsfragmente, halb Bruchstücke einer Prophezeiung, wie es scheint. Und ja, ich weiß, mit welcher Vorsicht derartige Prophezeiungen zu genießen sind. Aber diesmal … ich weiß nicht, es schien etwas ganz Grundlegendes zu sein. Es ging um Beliar, und wie der dunkle Gott und seine Schergen ihre Kraft aus dem Chaos ziehen. Und wie sie deshalb die Ordnung und das Gleichgewicht aller Dinge ins Wanken bringen müssen. Die Tafeln waren an dieser Stelle ein bisschen unklar, und aufgrund des Zwischenfalls mit den Banditen habe ich sie auch noch nicht zu Ende studieren können … aber ein Motiv, das dabei immer wieder auftauchte, war der Kampf Jeder gegen Jeden. Der Kampf, der die Erde erzittern lässt, ein Wettstreit, aus dem nur ein Sieger hervorgehen kann, der Beste der Besten, der schlauer, schneller und stärker war als seine Gegner, und der sie alle übertrumpft, geschlagen und vernichtet hat. Er wird am Ende des Kampfes Alle gegen Alle stehen, am Ende des Chaos’, das die dunklen Energien freisetzt. Der gesamte Kampf, so berichten die Tafeln, dient dem dunklen Gott und mehrt seine Mächte, und zum Dank wird der dunkle Gott dem Sieger des Kampfes etwas seiner neu gewonnenen Kraft schenken, eine Gabe, die anderen höchstens qua Geburt zuteil wird. Aber wir wissen noch nicht genau, was das …“
    Myxir brach ab, denn er hatte offenbar gesehen, dass er seine Zuhörer zwischendrin verloren hatte. Cord blickte Alligator Jack an und dieser blickte zurück.
    „Denkst du auch das, was ich denke?“, fragte der Pirat den Söldner. „Wenn das stimmt, was du mir von diesem Wettbewerb erzählt hast … alles Zufall? Ich glaube ja eigentlich nicht an irgendwelche Prophezeiungen, aber ich lebe schon lange genug in Jharkendar, um … naja, um manchmal daran zu zweifeln, was ich eigentlich glauben soll.“
    „Der Kampf Jeder gegen Jeden“, wiederholte Cord zustimmend. „Ich weiß es nicht. Aber für Lee war schon recht früh klar, dass es bei diesem Wettbewerb um mehr gehen muss, als um einen gelangweilten Adeligen und seine bloße Lust am Spektakel.“
    Alligator Jack runzelte die Stirn. „Aber Beliar und irgendwelche jharkendarischen Prophezeiungen? Kämpfe und Chaos? Ist das dann nicht doch ein bisschen zu hoch gegriffen?“
    Cord schüttelte den Kopf. „Ich will momentan gar nichts mehr ausschließen. Und immerhin geht es in diesem Wettbewerb ja auch um ein Artefakt, das zusammengesetzt werden soll. Und da wir uns schon lange gefragt haben, warum der Herr von und zu diesen ganzen Bohei überhaupt veranstaltet und sein scheiß Artefakt nicht einfach direkt selber zusammensetzt …“
    „Ah, das ist allerdings interessant“, mischte sich Myxir nun wieder ein. „In den alten Aufzeichnungen ist nämlich auch von einem wichtigen magischen Artefakt die Rede. Nicht, dass das für Inschriften auf den Steintafeln etwas Besonderes wäre, und gerade hier in Jharkendar, bei den ganzen alten Tempelanlagen -“
    „Dar! NICHT!“
    Sie alle schreckten auf, als sie Busters Ruf hörten. Cord folgte dem Blick des Söldners zum magischen Portal. Dort stand Dar, direkt an der Schwelle zum blauen Licht, und drehte sich noch einmal zu ihnen um.
    „Keine Sorge, Busty“, sagte er. „Ich bring dir was von dem schwarzen Zeug mit.“
    Dann drehte er sich wieder um und trat den letzten Schritt ins Portal hinein. Noch bevor Buster erneut rufen konnte, war Dar verschwunden.
    „Dieser Idiot!“, schimpfte sein Kompagnon. „Ich habe ihm schon so oft gesagt, er soll bloß endlich verschwinden, aber so habe ich das doch auch nicht gemeint!“ Er machte ein paar schnelle Schritte auf Myxir zu, der langsam aufgestanden war. Sie standen sich jetzt etwas zu nah gegenüber. „Der gerät doch jetzt mitten in euren Kampf mit den Banditen hinein! Glaubt der, ich rette ihm da jetzt auch noch den Arsch, oder was?“
    „Niemand kann wissen, wann er auf der anderen Seiten ankommen wird“, blieb Myxir gefasst. „Wer ungeübt durch dieses Portal hindurch geht, der beschreitet so manche Irrwege, bis er am anderen Ende wieder herauskommt. Wenn er am anderen Ende wieder herauskommt.“
    „Das ist mir gerade ziemlich egal“, sagte Alligator Jack und machte ein paar Schritte aufs Portal zu. „Ich habe genug gehört. Wenn die Banditen außer Rand und Band sind, dann werde ich höchstwahrscheinlich wieder in Jharkendar gebraucht. Wer mitkommen will, soll es jetzt tun. Ansonsten gehe ich alleine.“
    Cord blickte unsicher zu Myxir. „Ich nehme an, es ist besser, wenn ich dich in die Stadt zu Vatras eskortiere?“
    „Nein, nein, das wird nicht nötig sein. Ich habe eine Teleportrune, hier wird sie wieder funktionieren. Das Tal der Erbauer hat ja leider diese Art an sich, keine Magie nach außen dringen zu lassen … aber von dieser Seite des Portals aus funktioniert es. Ich komme schon zurecht.“
    Cord nickte. „Dann werde ich mit Alligator Jack zusammen durchs Portal zu den anderen Magiern gehen. Ich könnte mir vorstellen, dass ich dort ebenfalls gebraucht werde.“
    „Dann lasst uns alle aufbrechen“, beschloss Myxir. „Mögen wir uns alle gesund und munter wiedertreffen.“
    Myxir hatte bereits einen Runenstein aus seiner Robe gegriffen, hob nun beide Arme und verschwand kurz darauf in einem blauen Lichtschimmer.
    Cord und Alligator Jack nickten sich zu. „Dann mal los“, sagte der Pirat, und marschierte ohne weitere Umschweife ins Portal. Cord folgte ihm, und zögerte auch nicht, als er Buster ein letztes Mal hinter sich rufen hörte.
    „Ey! Und was ist mit mir?“

    Ein Menschenleben. Niklas hatte noch nie so intensiv darüber gedacht, wie viel ein Menschenleben wert war. Sein eigenes Leben hatte die letzten Tage wirklich einige sonderbare Fragen aufgeworfen, und Niklas hatte das Gefühl, dass noch viel mehr dieser Fragen auftauchen würden, bevor er auch nur die erste Antwort bekam.
    Wobei: Eine Antwort, die hatte er bekommen, vom wandernden Eingeweihten. Als wohlwollende Anerkennung dafür, dass er, Niklas, wie vom Wettbewerb gefordert einzeln unterwegs war, auf eigene Faust, auf sich allein gestellt. Niklas hatte einige Zeit überlegt, was er fragen sollte, aber natürlich hatte er dann gefragt, was man tun musste, um an das vom Flammengeist bewachte Artefaktteil zu gelangen.
    Die Antwort war lang gewesen, ausführlich, viel weniger rätselhaft, als er es von diesem geheimnisvollen Eingeweihten erwartet hatte, aber sie hatte Niklas trotzdem nicht geschmeckt: Nur, wer dem brennenden Mann einen gesunden, fleischlichen, menschlichen Körper überließ, der wurde im Gegenzug mit dem Artefaktteil belohnt, das der Flammenmann um seinen lodernden Hals trug. Es würde von ihm abfallen, wenn sich der Geist erst mit einem lebenden Körper verbunden hatte und in der Folge endgültig abgebrannt war. Aus ihrer gemeinsamen Asche würde man die Kette dann herausfischen können.
    Niklas erschauderte erneut bei dem Gedanken daran. Er rief sich die Worte des Veranstalters in Erinnerung, und zwar diejenigen, die er ganz sicher selbst gehört hatte: Teamarbeit gibt es nicht. Es sei denn, man bildete ein Dreierteam, von dem danach nur noch zwei Leute übrig blieben …
    Auf Niklas’ Nachfrage, wen er denn bitte guten Gewissens opfern konnte, hatte der Eingeweihte, offenbar aus einer Laune heraus, und vielleicht weil er die Antwort ohnehin für offensichtlich hielt, dann noch erwidert: Mit gutem Gewissen? Niemanden! Aber du sagtest ja, du würdest von Banditen verfolgt …
    Dann hatte der Eingeweihte einen Runenstein gezückt, beide Arme in die Luft gehoben und war verschwunden. So viel zum wandernden Eingeweihten, hatte Niklas kurz gedacht, bevor sich seine Gedanken von ganz allein wieder zum dem Thema bewegt hatten, das ihn auch jetzt noch umtrieb: Wie viel war ein Menschenleben wert? Und war es schon Mord, wenn man jemand anderen lediglich einen kleinen Unfall haben ließ?
    Die Zeit des Grübelns war vorbei, als sie tatsächlich kamen. Niklas hatte sich, mit der Fackel in der Hand – sein Schutz vor dem Wächter – in einer Ecke postiert, von der aus er relativ gefahrlos in den Gang, aus dem er gekommen war, spähen konnte. Er zählte drei von ihnen, und nur einer von ihnen trug eine Fackel. Die musste noch irgendwie weg. An den Stimmen und wie sie miteinander sprachen glaubte er zu erkennen, dass ihr Hauptmann, Dexter, dabei war. Er hoffte deshalb umso mehr, dass sie nicht gleich Reißaus nehmen würden, wenn sie den Flammengeist sahen, der glücklicherweise gerade in einer anderen Ecke des Raums etwas abgeschirmt von Blicken herumirrte. Er wollte sich aber auch nicht auf den Mut der Banditen verlassen – er musste sie jetzt herlocken, um ihnen dann die Fackel abzunehmen.
    Einen Atemzug später stand Niklas im Gang. Ein kollektiver Aufschrei der drei Banditen hallte ihm entgegen, und tatsächlich: Dexter war bei ihnen. Als sie losrannten, zog sich Niklas schnell wieder um die Ecke zurück, harrte aus, fluchte, als er den Feuerschein des Wächters in den Innenraum zurückkehren sah.
    „Ach du Scheiße! Licht aus, Licht aus, dass uns das Ding nicht sieht!“, brüllte einer der Banditen, und Niklas hörte, wie ihre Fackel zu Boden geworfen und ausgetreten wurde. Dann ging alles ganz schnell. Der Wächter rauschte an ihm vorbei, in den Gang hinein, die drei Banditen heulten auf, der Wächter ließ ein heißes Gurgeln ertönen – und dann war es still. Niklas’ Füße trugen ihn vorsichtig wieder in den Gang hinein. Auf dem Boden war nur noch Asche zu finden. Der Wächter hatte sich gleich alle drei von ihnen genommen.
    Etwas blinkte in Niklas’ Fackelschein auf, inmitten der Asche, der menschlichen Überreste, wie Niklas’ Verstand ihn warnte – aber seine Hände waren schneller. Die Asche war noch warm, die Kette aber ganz kalt, als er sie aus dem Haufen hervorzog.
    Er seufzte auf und wandte sich von den Aschehäufchen ab. Die Verantwortung für all das war er los, aber das Gefühl der Schuld blieb.

    Cord hatte irgendwann aufgehört, die Toten zu zählen. Er war nur froh, dass kein einziger Magier unter ihnen war. Die Banditen hatten für einiges an Unruhe und auch Zerstörung im Lager der Wassermagier gesorgt, darüber hinaus war es ihnen aber lediglich gelungen, Saturas und Riordian, den einen leicht, den anderen etwas schwerer, zu verletzen. Unter den Piraten, die den Magiern zwischenzeitlich zur Hilfe geeilt waren, hatte es zwar einen Toten gegeben, aber das, so musste Cord sich eingestehen, war zumindest für ihn verschmerzbar. Nichtsdestotrotz waren die Wassermagier aufgelöst, verständlicherweise, und insbesondere Merdarion stand noch unter dem Einfluss eines Angstzaubers. So hatte es jedenfalls Saturas erklärt. Als Cord aus dem Portal herausgetreten war, war bereits alles vorbei gewesen.
    Der Söldner wandte seinen Blick wieder in den Innenraum des steinernen Kabuffs, in dem er mit Saturas stand, und in das die Lichtstrahlen der Morgensonne hineinfielen. Kleine Schweißperlen hatten sich auf Saturas’ Stirn gesammelt, jedenfalls dort, wo nicht vertrocknetes Blut klebte.
    „Ach, da seid ihr“, hörte Cord auf einmal eine Stimme von hinten. Es war Alligator Jack, der in die Steinhütte eingetreten war. „Ich wollte euch nur Bescheid sagen, dass ich mich mit Greg, Henry und den anderen abgesprochen habe. Wir gehen jetzt da rein.“
    Cord riss die Augen auf. „Ihr wollt das Banditenlager stürmen?“, fragte er entsetzt.
    „Was sonst?“, fragte Alligator Jack zurück, eine Hand auf seinen Säbel gelegt. „Meinst du, wir warten, bis die uns auch noch überfallen? Keine Chance, wir räumen im Sumpf jetzt mal so richtig auf.“

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Kahle, graue Bäume. Ein Boden, so farblos, dass die karge Flora nicht weiter verwunderte. Und ein Himmel, so grau, dass er am Horizont kaum von den fernen Bergen zu unterscheiden war. Das Minental war ihr stets als rauer, lebensfeindlicher Ort beschrieben worden, doch keiner ihrer Lehrer hatte ihr auch nur annähernd die Anspannung vermitteln können, die hier in der Luft lag. Abgemagerte Warge streunten durch das öde Land, riesige Schattenläufer verbargen sich in den Schatten von Kuhlen, mit riesigen Äxten gerüstete Orks patrouillierten überall auf und ab. Sie alle warteten nur auf den Augenblick, in dem sich Beute zu nah an sie heranwagte. Ein falscher Tritt bedeutete hier unweigerlich den Tod.
    Verena schlich einen verbrannten Abhang hinauf. Sie hoffte inständig, dass die Berichte stimmten und die Drachen des Minentals allesamt erschlagen worden waren. Denn so großflächig, wie die Asche hier den Boden bedeckte, keimte in ihr die unangenehme Vermutung, dass ihre Lehrer, die selbst natürlich nie einen Drachen zu Gesicht bekommen hatten, in ihrer Darstellung dieser mystischen Kreaturen noch untertrieben hatten.
    Sie erreichte das obere Ende der Steigung und lugte über den Kamm. Sie witterte Orks und Warge in nicht allzu großer Entfernung, doch die Ruine, die sich unter ihr ausbreitete, schien bar jeden Lebens. Wobei die Bezeichnung Ruine noch fast übertrieben war. Außer Resten der Grundmauern war nichts mehr von dem ehemaligen Kloster zu erkennen. Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Bei all den verbrannten Landstrichen und der Zerstörung anheim gefallenen Orientierungspunkten hatte sie schon befürchtet, sich hoffnungslos zu verirren, doch ihre gute Ausbildung und ihr wölfischer Instinkt hatten sie nicht im Stich gelassen. Sie wartete noch einen Moment, ob sich auch wirklich keine Gefahr zeigen würde, dann kehrte sie widerstrebend um. Allein wäre sie viel schneller vorangekommen. Die weiße Farbe ihres Fells ließ ab und zu zwar eine Kreatur interessiert den Kopf heben, doch die meisten machten sich nicht die Mühe, ihr zu folgen. Weder Schattenläufer noch Orks waren schnell genug, um sie einzuholen. Doch da Theon sich geweigert hatte, erneut zurückzubleiben und sie allein ins Minental gehen zu lassen, verlor sie nun wertvolle Zeit damit, das Gebiet auszukundschaften, zu ihm zurückzukehren und ihn auf dem sichersten Wege zu seinem nächsten Unterschlupf zu bringen.
    Als sie die Höhle erreicht hatte, in der Theon mit gezogenem Schwert nur darauf wartete, doch von irgendeiner Kreatur entdeckt zu werden, verwandelte sie sich zurück. Theon atmete erleichtert auf und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wer hier eigentlich wen beschützte. „Ich hab das alte Kloster der Tiermagier gefunden. Es ist nicht mehr weit.“
    „Gab es irgendwelche Anzeichen, die auf den Wettbewerb hingedeutet haben?“, fragte Theon.
    Sie schüttelte nur den Kopf und nahm wieder ihre Wolfsgestalt an. Sie wollte nicht noch mehr Zeit damit vergeuden, in dieser Höhle herumzustehen.
    Als sie das Kloster erreicht hatten und die Anhöhe herunter geklettert waren, hatte sich nichts an dem unbelebten Eindruck der Ruine geändert. Verena stellten sich die Wolfshaare auf. Es lag Magie in der Luft. Und sie hatte das bestimmte Gefühl, dass sie nichts mit dem Wettbewerb zu tun hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, eine fremde Aura ihrer eigenen Magie zu fühlen. Die Geschichten über den Urkönig Khor kamen ihr in den Sinn, die Gabe und der Fluch, den sie als Khoras Nachfahrin wohl in sich trug. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob der Wolf Teil der Gabe oder des Fluchs war. Und zum ersten Mal keimte in ihr Hoffnung, eine Antwort auf diese Frage zu finden, obwohl diese alten Mauern so verfallen und ausgestorben waren, dass sie nicht sagen konnte, woher dieses Gefühl kam. Die Aura allein gab ihr das Gefühl nachhause zu kommen.
    „Ich kann auch nichts entdecken, was mit dem Wettbewerb zu tun haben könnte“, sagte Theon enttäuscht und ließ sein Schwert hängen. Es war offensichtlich, dass er sich etwas Spannenderes erhofft hatte, doch Verena konnte diese Enttäuschung nicht nachvollziehen. Sie witterte, dass hier Magie verborgen war, die der ihren ähnlich war.
    Sie wetzte los, ohne weiter auf Theon zu achten.
    „Hey, Lady Ashe!“, rief er ihr nach und beeilte sich mit ihr Schritt zu halten, doch seine klappernde Rüstung machte ihn lahm und unbeweglich.
    Verena indes fand schnell ein Loch in der Felswand, das gerade groß genug für ihre Wolfsgestalt war. Sie schmiegte sich eng an den Boden und robbte auf allen Vieren voran. Als sie sich mit den Hinterläufen verhakte, stieß sie ein ungeduldiges Knurren aus, schaffte es, sich zu befreien, und kämpfte sich weiter vor.
    Sie erreichte eine winzige Höhle. Von irgendwo her drang ein schmaler Streif Licht herein, der gerade ausreichte, um sich zurechtzufinden. Als sie sich in eine Frau zurück verwandelte, stieß sie fast mit dem Kopf an die Decke. Hätte sie ihre Arme ausgebreitet, hätte sie links und rechts den nackten Stein berühren können. Doch hier ging es nicht ums Berühren, wie ihr schnell klar wurde. Für die Frau auf Augenhöhe, für den Wolf aber gewiss viel zu weit oben, war ein Teil der Wand erst glatt geschliffen und dann mit Zeichen bemeißelt worden. Ihr Herz begann zu klopfen, als ihr klar wurde, dass der Gang für einen Menschen zu klein, die Zeichen aber für einen Wolf zu hoch waren. War diese Höhle für sie gemacht worden? So fern ihrer Heimat? Die eingemeißelten Zeichen stellten sich bei genauerer Betrachtung als gewöhnliche Buchstaben heraus. Vielleicht etwas ungeschlacht, aber doch das heute noch auf den Khor-Inseln übliche Alphabet. Nur die Zeichenfolge gab ihr Rätsel auf. „Klych Riak… Togg Xexnuhz“, las sie mühsam ab.
    Und sah plötzlich Auge in Auge in das triefäugige, bärtige Gesicht eines alten Mannes. Schimmernd und durchsichtig wie der Mann in der schlichten Kutte war, war ihr sofort klar, dass sie mit den Worten einen Geist heraufbeschworen hatte. Sie hatte schon Geschichten gehört, in denen die richtigen Worte am richtigen Ort so etwas bewirkt haben sollten, aber bis heute war sie nie sicher gewesen, ob sie diesen Berichten Glauben schenken sollte.
    „So ist die Zeit also gekommen“, begann der Geist mit einer weit zurück hallenden Stimme zu sprechen und gähnte ausgiebig, wobei sich sein schimmernder Rachen direkt vor ihren Augen auftat.
    „Wer seid Ihr?“, fragte Verena, die sich eingeengt fühlte, obwohl der Geist natürlich keinen festen Körper hatte. Doch für gewöhnlich hielt sie einfach mehr als eine halbe Armeslänge Abstand zu ihren Gesprächspartnern, was die Höhle in diesem Moment aber nicht zuließ.
    „Ich bin nur einer der vielen Mönche, die dieses Kloster ihr Zuhause genannt haben“, antwortete der Greis langsam. „Viel wichtiger ist, wer du bist. Die Worte hätten mich nicht heraufbeschwören können, wenn du nicht viel mehr als nur eine von vielen bist. Du trägst die Gabe von Khora und ihren Fluch obendrein, habe ich recht?“
    Verena zögerte einen Moment, dann nickte sie. „Ich kann mich in einen Wolf verwandeln. Und es gibt eine Legende, laut der ich vielleicht in der Lage bin, Khors Artefakt zu benutzen.“
    „Du bist dir unsicher“, entgegnete der Geist. „Haben meine Brüder und Schwestern heute denn kein Wissen mehr über den Fluch, den wir Khora auferlegten, und die Gabe, die wir versiegelten?“
    „Das Kloster existiert nicht mehr. Es sind nur noch ein paar Mauern übrig.“ Verenas Herz klopfte noch wilder, doch gleichzeitig beschlich sie die Sorge, dass sie dem Greis nicht würde folgen können.
    Der alte Mann nickte nur. „Wir hatten befürchtet, dass das Warten auf deine Geburt dieses Kloster überdauern könnte. Wir hatten keine Ahnung, ob du den Weg hierher findest, wenn das Kloster zu deiner Zeit tatsächlich keinen Bestand mehr haben sollte… Aber wie ich sehe, meinen es die Götter gut mit dir. Nun, zumindest einige.“
    „Wie meint Ihr das?“ Verena bemerkte, dass sie ganz langsam und flach atmete, um ja keine der hallenden Worte zu überhören, die manchmal so schwer zu verstehen waren.
    „Ich meine, dass du von Glück sprechen kannst, mich gefunden zu haben. Man errichtete diesen Ort, damit dir Wissen zugänglich ist, das in den Äonen womöglich verloren geht. Du sagst, dass du von Khors Gabe und dem Fluch seiner Tochter weißt, zumindest von ihrer Existenz. Was ist dir noch überliefert worden?“
    „Nur das, was ich Euch gerade erzählt habe.“
    „Dann sollte ich dir wohl Folgendes erklären: Die Gabe, die Khor seiner geliebten Tochter hinterließ, sie erdrückte sie. Die Gabe führte dazu, dass sie nicht mehr schlafen konnte, dass kein Essen sie sättigte und kein Mann sie mehr entzückte. Zu mächtig war der Zauber in ihr, er brachte ihr Empfindungszentrum völlig aus dem Gleichgewicht.“
    „Ich… habe keines dieser Symptome“, gestand Verena und fragte sich, ob das hieß, dass sie Khors Amulett nicht verwenden konnte.
    „Das ist gut“, hallte der Geist und nickte zufrieden. „Khora selbst kam mit den Begleiterscheinungen ihrer Gabe zurecht. Obwohl sie von der Gabe ohnehin nie Gebrauch zu machen gedachte, selbst wenn ihre Brüder das Amulett wieder zusammensetzen sollten, akzeptierte sie die Einschränkungen ihres Lebens ohne sich zu beklagen. Sie war eine starke Frau. Doch als sie schließlich doch einen Mann an sich heranließ und ein Kind unter ihrem Herzen trug, wurde sie besorgt. Sie wollte ihrem Kind nicht dasselbe Schicksal aufbürden. Sie streifte von Insel zu Insel und suchte überall nach einer Möglichkeit, wie sie die Gabe, die für sie ein Fluch war, nicht an ihr Kind weitergab. Doch die Gabe war stark. Niemand, nicht einmal die höchsten Magier trauten sich zu, diesen Zauber zu bannen. Als Khora an die Pforte unseres Klosters klopfte, war ihr Bauch schon rund und ihre Hoffnung beinahe erloschen. Doch unseren spirituellen Anführern gelang es wenigstens, den Zauber, die Gabe, den Fluch, nenn es wie du willst, einzudämmen.“
    „Kann ich mich deshalb in einen Wolf verwandeln?“, fragte Verena.
    Der Greis nickte. „Der Wolf trägt all die Schattenseiten der Gabe in sich, den Fluch, wenn du so willst. Solange du ein Wolf bist, kannst du nicht schlafen, habe ich recht?“
    Verena überlegte kurz. Sie hatte noch nie das Bedürfnis gehabt, in ihrer anderen Gestalt zu schlafen, es also noch nie versucht. Es konnte gut sein, dass es ihr schlichtweg nicht möglich war.
    „Indem unsere Führer Khora ein zweites Gesicht gaben, gelang es ihnen, die Gabe von dem Ungeborenen zu trennen. Während sie ihr Ungeborenes als Mensch gebar, verbarg sie die Gabe in ihrer animalischen Seite. So war das Kind frei von jeglichen Einschränkungen, aber auch von der Gabe selbst. Unsere Führer jedoch sagten voraus, dass diese Gabe, die tief in Khora verwurzelt war, eines Tages bei einer ihrer Nachfahren wieder durchkommen würde, und mit ihr auch das zweite Gesicht, das wir ihr gaben.“
    Der Geist verstummte, sodass Verena Zeit hatte, über seine Worte nachzudenken. Die Legende, die man ihr über Khora erzählt hatte, stimmte nicht in allen Details mit der Geschichte des Mönchs überein. Doch war die Legende ja auch über Generationen hinweg weitererzählt worden, während sie hier wohl so etwas wie einen Zeitzeugen vor sich hatte.
    „Du besitzt Khoras zweites Gesicht“, fuhr der Greis feierlich fort. „Also ist auch vollkommen sicher, dass du imstande sein wirst, das Amulett zu gebrauchen. Wenn auch nur als... Oh je.“ Das Gesicht des Mönchs begann zu glitzern und seine Konturen verschwammen. „Denke immer an eines, mein Kind: Khora hätte ihre Gabe nie eingesetzt.“
    „Warte!“, schrie sie den verschwindenden Geist an. „Was hat es mit dem Amulett auf sich? Was passiert, wenn ich es benutze?“
    Der Geist lächelte ihr ein letztes Mal zu, ehe sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verschwamm und in einem Schauer blauer Funken verpuffte. „Viel Glück, Erbin von Khora“, echote es noch von den Wänden, bis die letzten Funken verblassten.
    Verena schlug mit geballter Faust gegen die eingemeißelten Worte an der Wand. Er musste ihr noch viel mehr erklären! Dass sie nun verstand, wie ihre Verwandlungskraft mit der Gabe Khoras zusammenhing, war ja gut und schön, doch sie wusste immer noch nicht, was Evadam mit diesem gottverdammten Amulett überhaupt vorhatte. Wenn das Amulett wieder zusammengesetzt wurde, würde Evadam sie jagen und dazu zwingen, es zu benutzen. Wie sollte sie sich dagegen wehren? Sollte sie lieber sterben als Khors Macht zu entfesseln?
    Sie las die Worte noch drei weitere Male von der Wand ab, doch nichts geschah. Schweren Herzens wandte sie sich von der alten Schrift ab, verwandelte sich wieder in den weißen Wolf und kroch zurück durch den engen Tunnel. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken wie ein aufgescheuchter Schwarm Blutfliegen durcheinander und die unbeantworteten Fragen wummerten ihr in den Ohren. Doch da hörte sie das Klirren von Metall. In ihrer Wolfsgestalt hätte sie das Klingen von Theons Schwert aus Tausenden wiedererkannt. Sie beeilte sich voranzukommen, doch wieder waren einige Passagen fast zu eng für ihren Körper. Das nächste Klirren wurde von einem spitzen Schrei Theons begleitet.
    Verenas Kopf brach endlich aus dem Tunnel hervor ins Sonnenlicht. Theon kämpfte gegen eine Harpyie. Zumindest fiel ihr keine treffendere Bezeichnung für das Wesen ein. Die Harpyien, die sie aus ihrer Heimat kannte, waren deutlich kleiner als Menschen, diese hier überragte Theon jedoch um einiges und flog mit riesigen, fledermausartigen Flügeln um ihn herum. Die langen gebogenen Krallen an ihren Füßen schimmerten blau, wie mit magischem Erz beschichtet. Doch der deutlichste Unterschied zu gewöhnlichen Harpyien war die Stille. Harpyien keckerten und lachten höhnisch, während sie auf ihre Beute einhackten, ununterbrochen. Doch dieses riesige Exemplar war stumm. Und die Stille war unheilvoller als jedes hämische Gegacker.
    Theon blutete stark aus seiner linken Schulter, wo die Harpyie offenbar seine Rüstung fortgerissen und ihre Klauen tief in seinem Fleisch versenkt hatte. Verena raste los, sobald sie den ersten Schock verwunden hatte. Wieder gab es dieses klirrende Geräusch, als Theon sein Schwert gerade noch rechtzeitig zwischen sich und die Klaue der Harpyie bringen konnte. Verena stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab, schnappte nach einem Bein der Harpyie und versenkte ihre Wolfsreißzähne in dem sehnigen Bein. Die Harpyie strampelte, um sie wieder loszuwerden, doch Verena presste ihre Kiefer nur noch fester zusammen. Theon holte mit seinem Schwert zum Angriff aus, doch das freie Bein der Harpyie stieß sein Schwert zur Seite, ihre Klaue rutschte an der Klinge ab und direkt in Theons Augenhöhle. Theon schrie so schrill wie Verena ihn noch nie hatte schreien hören. Sie erschreckte sich so sehr, dass sie noch fester zubiss und endlich spürte sie die Knochen der Harpyie brechen. Die Harpyie versuchte ihr anderes Bein zu befreien, doch sie hatte sich irgendwie in Theons Schädel verhakt. Verena handelte ohne Zögern: Sie verwandelte sich in ihre menschliche Gestalt zurück, wobei sie mit der Linken das Bein gepackt hielt, das sie auch schon als Wolf umklammert hatte. Mit der Rechten entwand sie das Schwert aus Theons zitternden Fingern. Nun waren beide Beine der Harpyie fixiert und Verena konnte Theons Ritterschwert ungehindert in ihren Unterleib rammen. Sie trieb es so tief in den zuckenden Körper der Harpyie wie sie konnte und mit einem Mal war auch diese unerträgliche Stille vorbei: Die Harpyie schrie wie am Spieß. Ihre Klaue löste sich mit einem fürchterlichen Geräusch aus Theons Augenhöhle. Verena ließ das Schwert los, warf sich zu Boden und rollte sich ab, um den zuckenden Harpyienklauen zu entkommen. Theon kippte einfach hintüber, mit dem Kopf direkt neben ihren Schoß. Blut sprudelte aus seiner einen Augenhöhle, in der anderen zuckte die Pupille des unversehrten Augapfels auf und ab.
    Verena wollte gerade wieder ihr zweites Gesicht anlegen, als ihr klar wurde, dass die Gefahr vorüber war. Krachend stürzte die riesige Harpyie zu Boden, während ihr Schrei langsam verebbte und das Zucken ihres Körpers langsam nachließ. Dunkelviolettes Harpyienblut ergoss sich über den Boden.
    Dieses Viech musste Evadam hier postiert haben. Wer sonst kam auf die Idee, Harpyienklauen mit magischem Erz zu beschichten? Und mit einem Schrecken wurde ihr klar, warum die Harpyie sich erst gezeigt hatte, als sie in der Höhle verschwunden war: Zusammenarbeit war im Wettbewerb streng verboten. Sie zeigte sich nur denjenigen, die sich auch an diese Regel hielten, die allein auf sie warteten. Im selben Moment kam ihr der Gedanke falsch vor, denn die Harpyie war ja offensichtlich ein Hindernis. Wieso sollte Evadam Regelbrecher besonders schonen? Es sei denn, gegen die Harpyie zu kämpfen brachte einen im Wettbewerb voran…
    Wie aufs Stichwort passierte etwas höchst Merkwürdiges: Aus dem weit aufgerissenen Maul der Harpyie spross eine Blume. Ihre sonnengelbe Knospe war mit roten Flecken gemustert und je weiter sich die Knospe in die Höhe streckte, desto weiter öffnete sie sich auch. Schließlich hatte sich die Blüte gänzlich geöffnet und offenbarte einen dicken Samen, der in der Sonne eigentümlich glitzerte.
    „Ve…reeena.“ Verena wusste nicht, was ihr mehr Grauen bereitete. Das Krächzen, zu dem Theons Stimme geworden war, oder dass er sie zum ersten Mal beim Vornamen nannte. Sie konnte ihm nicht ins zerstörte Gesicht sehen. „Geh… weiter…“

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Jünger des Xardas ist offline
    Beim Verlassen des Stollens waren Niklas‘ Gedanken in die Gegenwart zurückgekehrt und damit auch zu den Banditen. Unsichtbar machen konnte er sich nicht, auch sonst keine Zauber wirken. Ihm wurde wieder deutlich, wie hilflos er eigentlich gerade war.
    Das Problem mit den Banditen löste sich leichter, als gedacht: Als er unschlüssig vor der Höhle stand und den Blick den Abgrund entlang schweifen ließ, entdeckte er etwas wie einen sehr steilen Pfad in der Felswand, fast wie eine natürliche Treppe. Der Stein schien schmale Stufen zu bilden, die, soweit er das sehen konnte, bis in die Tiefe des Tals unter ihm führten. Ein wenig mulmig war ihm bei diesem Weg, aber welche Alternative hatte er schon? Und so machte er sich an den Abstieg. Vorsichtig wagte er sich Stufe um Stufe nach unten, immer mit dem Bein nach einem festen Halt tastend, bevor er es wagte, das andere nachzusetzen. Bald schon taten ihm die Glieder weh. Er war ein Magier, nicht gemacht für solch körperliche Anstrengungen! Mal zerriss der schroffe Fels sein Gewand, dann schürfte er sich Hand auf. Aber schließlich – es kam ihm vor, als hätte er Stunden für den Abstieg gebraucht – schließlich erreichte er den Boden des Tals. Er konnte jedoch nur kurz aufatmen, als er in der Ferne auch schon ein dumpfes Brüllen hörte, bei dem er ängstlich zusammenfuhr. Er hätte beinahe drauf wetten können, dass das ein Troll gewesen war...
    Mehr brauchte es nicht, um Niklas zu überzeugen, nicht lange zu verschnaufe, sondern schnell in Richtung Ausgang des Tals zu laufen. Er versuchte sich immer dort zu halten, wo die Bäume am dichtesten waren. Schließlich war er auch jetzt nicht weit vom Lager der Banditen entfernt. Oder aber von der Holzfällerhütte. Er hatte nicht vor, sogleich wieder in Gefangenschaft zu geraten.
    Aber was hatte er eigentlich vor? Er hatte ein Artefaktteil an sich gebracht, das war ein großer Fortschritt im Wettbewerb und machte vielleicht sogar die vorigen Rückschläge und die vertane Zeit wett. Aber nun stand er so ziemlich wieder am Anfang. Wussten die Götter, wo die anderen Artefaktteile verborgen lagen – falls seine Konkurrenten sie nicht mittlerweile schon längst an sich gebracht hatten.
    Es war das anhaltende Gefühl der Hilflosigkeit, ja Nacktheit, das ihn nicht loslassen wollte, solange er ganz ohne seine magischen Utensilien, ohne jegliche Tinkturen, Runen oder Spruchrollen durch die Wildnis streifte, welches am Ende den Ausschlag gab: Er musste nachhause und sich neu ausrüsten. Der Weg in die Stadt war lang und würde Zeit kosten, aber etwas anderes kam gar nicht in Frage. So konnte er nicht weiter am Wettbewerb teilnehmen. Er konnte schließlich nicht darauf vertrauen, dass das bloße Glück ihm auch bei den anderen Artefaktteilen so gewogen sein würde. Und was den Zeitverlust anging, tröstete er sich, dass, solange er eines der Teile bei sich trug, keiner seiner Konkurrenten ihm den Sieg würde davonschnappen können. Ja, schoss es ihm durch den Kopf, während neue Zuversicht in ihm aufflammte, vielleicht wäre es ja gar nicht verkehrt, wenn andere an seiner Stelle die noch kommenden Gefahren und Prüfungen überwänden und die Artefaktteile an sich brächten. Wenn er sich erst einmal wieder würde unsichtbar machen können, würde er einen entscheidenden Vorteil haben und den anderen Teilnehmern im Zweifelsfall ihre gewonnenen Artefaktteile wieder stibitzen können.
    Während er noch so in seine Gedanken vertieft war, kam ihm plötzlich noch ein anderer Gedanke. Aber etwas war seltsam. Etwas fühlte sich falsch an. Es war beinahe so, als wäre der Gedanke nicht sein eigener, als hätte jemand anders ihn gedacht. Alles wird vergebens sein, wenn Lady Ashe umkommt.
    Wieso hatte er das gerade gedacht? Wer überhaupt war Lady Ashe? Aber wie zur Antwort auf diese Frage stieg das Bild einer weiteren Erinnerung vor seinem Auge auf, die nicht die seine war.
    Er stand auf dem Steuerdeck eines Schiffes und blickte in Richtung Bug, wo einsam eine Frau aufs Meer hinausstarrte. Und wieder derselbe Gedanke: Alles wird vergebens sein, wenn Lady Ashe umkommt. Niklas kannte diese Frau! Sie war eine Teilnehmerin, sie war mit dem Veranstalter auf Onars Hof gekommen. Und da war auch der Veranstalter. Nein, Evadam, sein Name war Evadam. Er stand neben ihm und blickte lächelnd auf die Frau herab.
    „Die Götter müssen uns gewogen sein, Rodriguez. Alles fügt sich wunderbar zusammen. Dass meine werte Verlobte uns freiwillig begleitet, macht alles sehr viel einfacher. So wird sie gleich zur Hand sein, wenn alle Teile des Artefakts erst einmal gefunden sind.“
    Er legte seine Hände auf die Reling vor sich. Alte, faltige Hände. „Aber ist es denn klug, sie direkt am Wettbewerb teilnehmen zu lassen?“
    „Ob es klug ist oder nicht, ich muss es zulassen.“ Ein Lächeln umspielte Evadams Lippen. „Meine gute Verena. Ich hätte wissen sollen, dass sie nicht kampflos klein bei gibt, dass sie nach jedem Strohhalm greift...“ Er stieß etwas wie einen Seufzer aus, doch schien er kaum Bedauern auszudrücken. „Sieh nur, wie starr und entschlossen sie aufs Meer blickt. Wie schnell sich die Gefühle der Menschen doch wandeln können. Es ist erst so kurze Zeit her, da war sie noch bereit, mich zu lieben und in mir ihre Rettung zu sehen. Und nun ist sie bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um sich von mir zu lösen. Trotz unseres Kindes...“
    „Und doch steht und fällt der ganze Plan mit ihren Fähigkeiten. Was, wenn ihr im Wettbewerb etwas zustößt? Die anderen Teilnehmer mögen entbehrlich sein, aber Lady Ashe...“
    „Ihr wird nichts zustoßen. Sie weiß sich durchaus zu verteidigen. Und Elm wird dafür sorgen, dass sie im Notfall abgesichert ist.“

    Niklas schreckte auf. Seine Hände hatten sich um einen niedrig hängenden Ast gelegt, ohne dass er es recht bemerkt hatte. Diese Frau, die andere Teilnehmerin, sie schien wichtig zu sein. Und sie anderen waren es nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Entbehrlich. Na, sie würden ja sehen, wer zuletzt lachte, alle würden sie noch sehen. Aber welche Rolle genau spielte diese Frau? Ob er wohl versuchen sollte, sich an ihre Fersen zu heften? Und dann waren da diese wiederkehrenden Erinnerungen. Er fragte sich, ob es einen Weg gab, die Erinnerungen zu lenken und bewusst hervorzubringen. Vielleicht konnten sie ihm mehr über diesen Wettbewerb und die Herausforderungen vor ihm verraten. Niklas hatte nun eine Ahnung, wem sie angehörten. Aber wenn sie auf ihn übergegangen waren, konnte das doch eigentlich nur eines bedeuten...

    „Meine Stiefel bringen mich um.“
    „Wenn du nicht endlich von deinen Stiefeln aufhörst, bringe ICH dich um.“
    Sebastian beachtete seine beiden Begleiter kaum. Schon seit ihrem Aufbruch jammerte Rod, dass seine Stiefel zu eng seien. Und schon seit ihrem Aufbruch schien Ciphers Geduld für die Klagen seines Kameraden stetig abzunehmen. Aber Sebastian war mehr mit sich selbst beschäftigt.
    Er rieb sich das Gesicht. Gerne wollte er sich einreden, dass dieses... Ding, das Karni ihm eingesetzt hatte, nichts als ein Traum gewesen war. Aber so recht konnte er sich selbst nicht überzeugen. Immer mal wieder war da dieses unangenehme Gefühl. Kein eigentlicher Schmerz, aber ein seltsames Drücken, als bewege sich etwas direkt unter seiner Haut. Der Gedanke ließ ihn schaudern.
    Kaum weniger mulmig war ihm bei der Vorstellung, dass sie dem Minental mit all seinen Gefahren immer näher kamen. Er hatte Lee alles erzählt. Der Söldnerhauptmann schien schon des Wächters wegen zu wollen, dass er den Samen beschaffte. „Ich bin für die Sicherheit von Onars Hof verantwortlich“, hatte er erklärt. „Ein wildgewordener Geist, der jeden tötet, der den Wald betritt, das ist eine Katastrophe. Das kann ich nicht einfach ignorieren.“ Vielleicht hatte das ja mit den Ausschlag für Lees Entscheidung gegeben. Jedenfalls hatte er Sebastian zwei seiner Männer zur Begleitung mitgegeben.
    Er hätte sich wohler gefühlt, wären es mehr als nur zwei oder auch bloß zwei andere Männer gewesen. Aber Lee hatte sehr deutlich gemacht, dass er mehr Leute auf dem Hof nicht entbehren konnte, schon gar nicht jetzt, da sie diesen Baumgeist vor der Haustür hatten und der Wettbewerb noch wer weiß welche Überraschungen bereithielt. Außerdem seien Cipher und Rod kürzlich erst aus dem Minental zurückgekehrt, wo sie sich als Drachenjäger versucht hatten. Soweit Sebastian das nachvollziehen konnte, waren sie wohl nicht sehr erfolgreich gewesen. Aber Lee hatte darauf beharrt, dass sie die aktuelle Lage des Minentals und seine Gefahren besser kannten als sonst jemand auf Onars Hof. Und am Ende hatte Sebastian ja keine große Wahl gehabt. Zwei Söldner zur Begleitung waren ihm immer noch lieber, als ganz alleine loszuziehen.
    „Da ist das Tal“, sprach Cipher das Offensichtliche aus. Sie waren stundenlang durch irgendeinen Stollen marschiert, den die beiden Drachenjäger als geheime und sichere Passage über den Pass angepriesen hatten. Dann waren sie endlich ins Freie hinausgetreten. Und nach einigen weiteren Schritten standen sie nun am Rande eines Abhanges und unter ihnen erstreckte sich das graue Ödland des Minentals, in das ein schmaler Bergpfad rechter Hand hinab führte. Eine gespenstische Ruhe lag über diesem Land. „Ab hier müssen wir vorsichtig sein“, stellte Cipher klar.
    Die Vorsicht reichte bis zum Ende des Bergpfads. Am Boden des Tals liefen sie unmittelbar in eine Gruppe Orks hinein. Äxte wurden gezogen und brüllend rannten die Bestien auf sie zu. Das war’s. Aus dieser Situation gab es kein Entkommen. Die Orks waren größer und stärker als sie und auch noch in der Überzahl.
    Da war es wieder. Das seltsame Gefühl, als ob sich etwas unter seinem Gesicht entlangwinde. Es schien nach unten zu wandern, zu seinem Mund. Und plötzlich schien ihm etwas gewaltsam von innen den Rachen aufzusperren. Etwas bewegte seine Zunge und er hörte sich etwas rufen, das ihm zugleich wie eine fremde Sprache klang, während er es doch verstand: „Wir sind keine Feinde!“
    Die Orks hielten inne, sichtlich verdutzt, dass ein Mensch ihre Sprache sprach. Verdutzt waren auch Cipher und Rod, die sich mit gezückten Schwertern vor ihm aufgestellt und den Ansturm erwartet hatten. Aber niemand war wohl so verdutzt wie er selbst.
    Dann richtete einer der Orks das Wort an ihn. Sebastian schlug sich unvermittelt gegen das rechte Ohr. Er hatte das Gefühl, als würde sich etwas in dieses hineinbohren. Von innen. Aber er verstand die Worte des Orks, verstand die Aufforderung, die Waffen niederzulegen.
    „Wir sollen was?!“, stieß Cipher aus, als Sebastian übersetzte.
    „Kommt überhaupt nicht in Frage“, bekräftigte Rod.
    „Das ist unsere einzige Chance, hier heil rauszukommen“, zischte Sebastian eindringlich. „Seht euch doch um!“ Er machte eine ausladende Handbewegung. Ein ganzes Dutzend Orks hatte sie im Halbkreis umstellt, nur wenige Meter zwischen ihnen und den drei Menschen. „Wenn wir kämpfen, sterben wir!“ Und als er sah, dass die Söldner zögerten, die Orks aber sichtlich ungeduldig wurden, zischte er: „Bitte! Vertraut mir!“
    Als Cipher das Schwert sinken ließ, tat Rod es ihm nach. Sebastian hatte schon zuvor wahrgenommen, dass der Drachenjäger mit den drückenden Schuhen wenig Eigeninitiative zeigte und sich lieber an seinen Kumpan hielt.
    Die Orks nahmen ihre Waffen an sich und führten sie grob ab. Der Weg erwies sich als kurz. Sie brachten sie hinab zum nahen Fluss, wo sich noch mehr von ihnen gesammelt hatten. Die Menge der Orks teilte sich vor ihnen und ließ sie zu einem Ork in ihrer Mitte, der der Gesichtsbemalung und dem Federschmuck nach zu urteilen ein Schamane und angesichts der Ehrerbietung, die ihm die anderen Orks erwiesen wohl ihr Anführer war.
    „Verneigt euch vor Ur-Shak“, befahl ihnen einer der Krieger, die sie aufgegriffen hatten. Sebastian tat, wie ihm geheißen, und seine beiden Begleiter schienen zu verstehen und neigten ebenfalls die Häupter.
    Der Schamane namens Ur-Shak betrachtete ihn neugierig, nachdem der Krieger ihm etwas zugeraunt hatte. „Du sprechen unsere Sprache?“, fragte er.
    „Äh, scheint so“, antwortete Sebastian verdattert darüber, auf Myrtanisch angesprochen zu werden.
    „Das selten bei Menschen. Aber ich auch sprechen eure Sprache. Auch selten bei Orks. Sag, warum ihr kommen in unser Land?“
    „Äh, wir suchen etwas...“
    „Suchen, wo Morgen ist? Suchen in alte Mauern von Menschen?“
    „Ich äh, glaube schon, woher wisst ihr Orks...?“
    Dieser Ur-Shark fletschte unwillig die Zähne. „Vor ein Zeit andere Menschen kommen. Stärker als ihr. Nicht fürchten Krieger von Orks. Menschen mit Kraft wie Söhne von Geist. Bringen ihre Kraft in alte Mauern in Morgen. Jetzt ihr suchen.“ Der Ork musterte Sebastian eindringlich. „Ur-Shak Frage“, fuhr er dann fort: „Wer andere Menschen? Warum ihr suchen, was sie bringen?“
    „Also das ist kompliziert“, antwortete Sebastian, dessen Augen unwillkürlich immer wieder nach links und rechts schweiften, zu den grimmigen Gesichtern und den teils gezogenen Äxten der umstehenden Orks. Er schluckte schwer. Warum nur hatte er diesen Baumgeist nicht als Zeichen genommen? Warum hatte er sich darauf eingelassen, doch weiter an diesem verrückten Wettbewerb teilzunehmen? „Es ist ein Wettkampf. Da ist dieser Mann. Er hat Artefaktteile auf der ganzen Insel versteckt. Und der erste, der sie alle findet, darf sich etwas von ihm wünschen. Aber es gibt Fallen, magische Wächter, und man muss Rätsel lösen, um die Teile zu finden.“
    Orkische Mimik erwies sich als schwer zu deuten und Sebastian wusste nicht, was der Gesichtsausdrück hieß, mit dem Ur-Shak ihn für einen Moment anstarrte. Dann murmelte der Schamane etwas zu den Orks an seiner Seite, schien ihnen wohl zu übersetzen, was Sebastian gesagt hatte. Dann wandte er sich wieder an ihn: „Ihr Menschen seltsam. Du reden von Mann, der macht Wettkampf. Warum?“
    Dazu konnte er nur mit den Schultern zucken. „Ich weiß auch nicht so genau. Niemand weiß das, glaube ich. Er kam plötzlich auf die Insel. Er hat sehr viel Geld. Und viele Leute, die für ihn arbeiten, auch Magier offenbar. Vielleicht ist er einfach gelangweilt und hat Spaß daran, Leute über die Insel zu jagen.“ Dass es um nicht mehr ging als das, das glaubte Sebastian eigentlich selbst bereits nicht mehr.
    Auch Ur-Shak schien das nicht zu glauben. „Menschen seltsam, aber nicht so seltsam. Mann nicht versteckt Dinge auf ganze Insel und macht Rätsel und großes Zaubern nur für haben Spaß. Menschen blind, wenn glauben so. Menschen nicht merken, dass dienen größere Plan. Aber Orks merken.“ Der Orkschamane deutete mit seinem Stab, einem langen hölzernen Stab, an dessen federngeschmückter Spitze ein Erzbrocken steckte, auf die umliegenden Berge. „Viele Dinge geschehen auf Insel. Auf alle Inseln. Söhne von Geist spüren. Erde beben, wo Kraft von Geistern groß. Beben bei altes Friedhof. Beben bei Tempel in Sumpf. Beben sogar bei kaputte Tempel von Krushak. Geister aufgeweckt. Alte Kräfte aufgeweckt. Alle Inseln in große Gefahr. Ur-Shak glauben, Mann, der machen Wettkampf, planen großes Zauber. Du sagen Wettkampf, Ur-Shak sagen seien... Tanz, Tanz zu rufen Geist. Und Opfer für Geist.“
    „Ich verstehe nichts, was der Filzpelz da labert, aber gut hört sich das nicht an“, raunte Rod und Sebastian hätte ihm am liebsten auf die schmerzenden Füße getreten.
    „Was heißt das für uns?“, fragte Sebastian vorsichtig.
    „Menschen gehen nach Morgen. Nehmen, was suchen. Bringen weg. Orks nicht wollen böse Zauber von Menschen in Tal. Orks nicht wollen Wettkampf hier“, sagte Ur-Shak entschieden.
    Sebastian fiel ein Stein vom Herzen. „Ja, ja!“, sagte er eifrig. „Wir holen, was wir suchen, und dann verschwinden wir von hier und keiner soll euch mehr mit diesem Wettbewerb belästigen, versprochen.“ Er wollte sich schon zum Gehen wenden und eilig davonmachen, doch Ur-Shak hielt ihm den Stab vor die Brust und hielt ihn so zurück.
    „Ihr machen schnell. Beenden Wettkampf. Halten auf Mann, der macht Wettkampf. Nicht helfen zu erfüllen sein Plan“, schärfte er ihm ein. „Wenn Menschen nicht halten auf, Orks müssen. Ur-Shak gehen zu Pass und jetzt Ur-Shak warten auf alle Krieger. Wenn Menschen nicht aufhören, zu wecken Geister, Orks gehen über Pass zu retten Insel. Dann Krieg.“

    Elm klopfte sich die Robe ab und streckte seine Glieder. Seine Flucht auf dem Fliedersittich war so dramatisch und stilvoll gewesen, wie geplant, doch dass der Ritt auf dem Vogel so unbequem sein würde, hatte er nicht eingeplant. Etwas ärgerlich schnippte er mit den Fingern und ließ den Vergrößerungszauber verpuffen. Der nun wieder sperlingsgroße bunte Vogel flatterte davon.
    Er hatte sich gerade einigermaßen in seinem Turm eingerichtet gehabt. Nun vertrieben zu werden, war etwas ärgerlich. Dass es so schnell geschehen würde, hatte Evadam nicht vorhergesehen. Und doch hatte er vorgesorgt. Elm sah sich um. Hier in dieser Höhle gleich hinter der Kaserne sollte er sich also vorerst versteckt halten. Und apropos Evadam, er musste umgehend seinen Auftraggeber informieren...
    „Ich hatte also Recht, hier zu warten.“
    Aus dem Dunkel der Höhle schälte sich eine hünenhafte Gestalt.
    Elm stellte keine überflüssigen Fragen. Sofort hob er den Arm und wirkte einen Zauber. Doch mit beeindruckender Geschwindigkeit für einen Mann seiner Größe war der Höhne bei ihm, hatte seine ausgestreckte Hand gepackt, dass ihm die Knochen knackten, und... der Zauber manifestierte sich nicht.
    „So, und nun habe ich einige Fragen...“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    „Wir alle haben viele Fragen. Jeder von uns hat in den vergangenen Tagen versucht, Antworten zu finden, aber vielleicht müssen wir dazu einmal alle zur gleichen Zeit im gleichen Raum sitzen. Danke, dass ihr gekommen seid. Ihr wisst, es gibt einiges zu besprechen.“
    Als Lord Hagen in die Gesichter der Anwesenden blickte, da sah er allerdings keine Antworten in ihnen, sondern in erster Linie eines: Müdigkeit. Keiner von ihnen machte den Eindruck, in der kurzen Nacht auch nur ein Auge zugetan zu haben. Am schlimmsten hatte es wohl Myxir erwischt, der mit seinen geröteten Augen und dem bleichen Gesicht aussah, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen. An der Seite von Vatras hatte er als Letzter den Ratssaal betreten, während die Anderen bereits in erste Diskussionen vertieft gewesen waren. Die Anderen, das waren zum Einen die Hochmagier Pyrokar, Ulthar und Serpentes, mit denen Hagen schon im Verlauf des vergangenen Tages immer wieder Informationen ausgetauscht hatte. Diesmal waren sie allerdings zum ersten Mal gemeinsam gekommen und hatten überdies einen Besucher aus der Sternenakademie zu Khoralt mit in die Stadt teleportiert, einen hoch gewachsenen Mann mit auffällig langen blonden Haaren und einem ausladenden Hut. Hagen hatte außerdem seinen Vertrauten Cedric hinzu gebeten, und schließlich war da noch ein weiterer Mann in der Runde, der unablässig ein zusammengefaltetes Zettelchen in den Händen drehte.
    „Vielleicht ist es am Besten, wenn Ihr beginnt“, wandte sich Hagen an den alten Händler. „Alle hier sollten erfahren, wovon Ihr mir berichtet habt.“
    „Ja. Das, und vielleicht mehr“, sagte Fernando und räusperte sich. „Verschwiegenheit steht einem Händler gut zu Gesicht, aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich nichts zurückhalten darf. Ihr sollt alles wissen, was ich weiß.“
    Hagen runzelte die Stirn. Eigentlich hatte er geglaubt, längst alles Wichtige zu wissen, aber Fernando war offenbar immer für eine Überraschung gut.
    „Mein Bruder Rodriguez“, begann der Händler, und Hagen glaubte zu erkennen, dass ihn bereits diese wenigen Worte einige Überwindung kosteten, „befand sich die letzten fünfzehn Jahre lang im Dienst von Lord Adarich Evadam, dem Ausrichter des Wettbewerbs. Obwohl wir uns seit unserer Kindheit sehr nahe standen, ist es mir bis heute ein Rätsel geblieben, weshalb er sich Lord Evadam in einer solchen Weise verpflichtet gefühlt hat, dass er in seinem Auftrag selbst die beschwerlichsten Reisen unternommen und dabei mit einigen der gefährlichsten Menschen unserer Zeit verkehrt hat. Ich möchte gerne glauben, dass es nie Geheimnisse zwischen uns gab, aber eines, davon bin ich seit Langem überzeugt, muss es da doch gegeben haben, in das mich mein Bruder niemals eingeweiht hat. Rodriguez wurde jedenfalls nicht müde mir zu versichern, dass er Lord Evadams Unterfangen für gut und richtig hielt, und dass meine Bedenken, was die Person Lord Evadams anging, unbegründet seien.“
    „Lord Evadams Unterfangen?“, unterbrach ihn Pyrokar, der für seine Verhältnisse schon erstaunlich lange geduldig zugehört hatte. „Was genau wisst Ihr darüber?“
    „Nun, dass Adarich der Großneffe des berüchtigten Schwarzmagiers Mavarin Evadam ist, das ist vermutlich allen Anwesenden bekannt?“, entgegnete Fernando, ohne eine Reaktion abzuwarten. „Seit Mavarin getötet und sein Schwarzmagierbund zerschlagen wurde – das muss jetzt etwa zehn Jahre her sein –, da hat sich Adarich voll und ganz der Aufgabe gewidmet, den guten Ruf seiner Familie wiederherzustellen. So zumindest hat es mir mein Bruder glaubhaft gemacht: In Adarichs Auftrag hat er nach fähigen Alchemisten gesucht, die Heilmittel für die bei Vielen noch lange bestehenden Nachwirkungen der schwarzmagischen Zauber entwickeln sollten. Adarich hat Rodriguez und andere ausgeschickt, um alle Bücher über die Magie der Geistesbeherrschung zu finden, die je geschrieben wurden, damit die Welt vorbereitet wäre, sollten sich die Schwarzmagier von Xhan jemals erneut erheben. Er hat verfluchte Artefakte unschädlich machen und Runen zerstören lassen. Und er hat Ausschau gehalten nach möglichen überlebenden Schwarzmagiern und nach Anzeichen für eine Wiedergeburt des Bunds.“
    „Scheint ja ein echter Wohltäter zu sein, unser Lord Evadam“, knurrte Serpentes.
    „Mein Bruder zumindest war davon überzeugt, fast bis zuletzt“, entgegnete Fernando. „Selbst wenn er mir gegenüber manchmal zugegeben hat, dass Evadam bei der Verfolgung seiner Ziele auch zu radikalen Mitteln neigt, so hat er die Ziele an sich nie in Zweifel gezogen. Das war es auch, was er mir noch einmal versichert hat, als wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Vor wenigen Tagen erst war das, kurz nachdem Lord Evadam und seine Leute Khorinis erreicht und hier im oberen Viertel mit Euch die Ausrichtung des Wettbewerbs vereinbart hatten.“
    Hagen musste Pyrokar nicht ansehen, um zu wissen, dass ihn der Feuermagier in diesem Moment mit einem vernichtenden Blick bedachte. Natürlich wünschte er sich längst selbst, den Wettbewerb überhaupt nicht erst zugelassen zu haben, aber für gegenseitige Schuldzuweisungen würden sie hoffentlich noch Zeit genug haben, wenn die ganze Krise erst einmal ausgestanden war.
    „Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl“, fuhr Fernando fort, „und das habe ich ihm auch so mitgeteilt. Rodriguez allerdings hat mir versichert, dass der Wettbewerb einer guten Sache diene – mehr noch, dass er notwendig sei – und ganz gleich, was geschehen würde, darauf solle ich vertrauen. Er hat mich dazu ermuntert, auf die Geschäfte mit Evadam einzugehen.“
    „Worum genau ging es bei diesen Geschäften, wenn ich fragen darf?“, meldete sich Vatras zu Wort. „Was war es, das Evadam von den Händlern kaufen wollte?“
    Fernando lachte trocken auf. „Fragt lieber, was er nicht wollte. Ich weiß nicht von allen Geschäften, die abgeschlossen wurden, aber Lutero und Salandril haben eine große Menge wertvoller magischer und alchemistischer Ingredienzien an ihn verkauft. Kronstöckel, Snapperkraut, Insektengifte, Herzen von Dämonen und Golems, alles was Ihr Euch vorstellen könnt. Außerdem Spruchrollen, vor allem Tierbeschwörungszauber. Schattenläufer, Bluthunde, Alligatoren... Und Bosper hat einige Spezialvorrichtungen für ihn hergestellt: Bögen und Armbrüste, die ganz von allein schießen, sobald ein Auslöser betätigt wird. Bosper will davon nichts hören, aber es würde mich wundern, wenn Lord Evadam daraus nicht in der Zwischenzeit ein paar tödliche Fallen für seinen Wettbewerb gebaut hätte.“
    „Und dennoch habt auch Ihr Geschäfte mit ihm gemacht“, erinnerte ihn Pyrokar mit scharfer Stimme. „Aber nun sitzt Ihr hier und wollt den Wettbewerb genauso sehr beendet wissen wie wir alle. Wie kommt es dazu?“
    Fernando hob das Zettelchen ein wenig in die Höhe und entfaltete es dann langsam. „Diese Nachricht hat mich gestern Abend erreicht. Was Ihr hier seht, ist nicht das Original, sondern meine eigene Transkription der Geheimschrift, in der mein Bruder und ich unsere Briefe zu verfassen pflegten.“
    Der Händler reichte die Nachricht nach rechts weiter, und nach und nach ging das Zettelchen durch die Hände der Anwesenden.
    Evadam hat uns verraten“, las Ulthar mit seiner ruhigen, immer etwas heiseren Stimme. „Dann kanntet Ihr Evadam wohl auch schon länger persönlich?“
    Fernando schüttelte den Kopf. „Nein, Rodriguez hat ihm gegenüber nicht einmal erwähnt, dass er einen Bruder hat. Das uns? Eine Angewohnheit aus alten Kindertagen. Mein Bruder und ich, wir waren immer unzertrennlich. Wir kannten kein ich – was dem einen geschah, das geschah auch dem anderen. In gewisser Weise… ist das bis heute so geblieben.“
    Mit einem Mal wirkte Fernando selbst zwischen all den betagten Magiern im Raum uralt. Hagen glaubte, eine große Mattheit in seinen Augen zu erkennen, oder vielleicht gar… Tränen? Aber die unerwartete Regung war so schnell vorüber, wie sie gekommen war.
    „Und die letzte Zeile?“, wollte Serpentes wissen, der Ulthar den Zettel abgenommen hatte. „Lady Ashe trägt Adarichs Kind? Was hat das zu bedeuten?“
    „Ich hatte eigentlich gehofft, dass Ihr mir das sagen könnt“, entgegnete Fernando. „Ich bin der Überzeugung, dass mein Bruder diese Zeilen in den letzten Augenblicken seines Lebens geschrieben hat, kurz bevor er ermordet wurde – im Auftrag von Lord Evadam, wie ich den ersten Worten entnehme. Er hatte weder viel Zeit noch großen Raum, um sich zu erklären, denn er musste seine geheime Nachricht in einem kurzen Text verbergen, der ihm vermutlich von Evadams Lakaien vorgegeben worden war. Offenbar war er allerdings überzeugt davon, dass Ihr, Lord Hagen, mit dieser Botschaft etwas anzufangen wisst. Oder zumindest die richtigen Leute kennt, die etwas damit anzufangen wissen.“
    „Das wärt dann wohl Ihr, Ilyas“, richtete sich Serpentes an den bis dahin schweigsam gebliebenen Blonden. „Ist nicht eben jene Lady Ashe der Grund für Eure Anwesenheit auf dieser Insel?“
    Ilyas nickte, die Stirn in Falten gelegt. „Ich bin hier, um einem Ritter von Khoralt dabei zu helfen, sie aufzuspüren. Aber von einer Schwangerschaft weiß ich nichts. Und wenn es sich um das Kind eines Evadam handelt, dann hätte ich es in den Sternen sehen müssen, als ich...“
    Mitten im Satz hielt er inne.
    „Oh.“
    „Die schwache Spur, von der Ihr gesprochen habt?“, begriff Pyrokar. „Halb Mensch und halb… Tier?“
    „Wie bitte?“, entfuhr es Serpentes. „Evadams ungeborenes Kind ist ein halbes Tier?“
    „Ich kann mir das auch nicht erklären“, sagte Ilyas. „Allerdings, wenn Lady Ashe tatsächlich die Mutter ist… Ich war der Meinung, dass es sich bloß um eine Geschichte gehandelt hat. Eine lokale Legende, wie es sie an jedem Ort auf der Welt gibt. Es heißt, dass die Ashes die Nachfahren von Khor höchstselbst seien, und dass eine von ihnen einst den Fluch von Khors Tochter erben würde. Schon vor Jahren gab es Gerüchte, dass diese Zeit gekommen wäre, und dass der weiße Wolf, der damals auf Khorelius sein Unwesen trieb, in Wahrheit die verfluchte Tochter der Ashes sei. Aber bald war der Wolf wieder verschwunden, und –“
    „Ein weißer Wolf?“, ging Hagen dazwischen. „Cedric, genau davon hat uns doch unser Informant auf Onars Hof berichtet! Eine Wettbewerbsteilnehmerin, die sich in einen weißen Wolf verwandelt hat!“
    Cedric schien nicht gleich zu verstehen, aber dann sagte er: „Ja, das waren seine Worte.“
    „Dieser Wettbewerb wird von Stunde zu Stunde verrückter“, seufzte Vatras. „Ich denke, ich habe nun eine Ahnung davon, wovor uns Euer Bruder warnen wollte, Fernando. Zwei Familien mit mächtigem Blut, die sich vereinen… schwarze Magie und die Gabe Khors… niemand von uns kann erfassen, was eine solche Zusammenkunft alter Kräfte bedeuten mag, aber wohl nur allzu leicht könnte sie zu einer Gefahr für das Gleichgewicht aller Dinge geraten.“
    „Nichts für ungut, Vatras“, sagte Serpentes, „aber wir reden hier immer noch von einem ungeborenen Kind. Vielleicht wird es in zwanzig oder dreißig Jahren einmal zur Bedrohung werden, aber bis dahin haben wir dringlichere Probleme. Denn wenn Ihr mich fragt, dann ist unsere Welt schon hier und jetzt dabei, aus den Fugen zu geraten.“
    „Ihr sprecht von den Erdbeben und den ungewöhnlichen Wetterphänomenen der letzten Zeit, nehme ich an?“, vergewisserte sich Hagen.
    „Es sind weit mehr als Wetterphänomene. Spätestens seit dem gestrigen Tag lässt sich nicht mehr leugnen, dass wir es mit einer schweren Störung des zeitlichen Gefüges unserer Welt zu tun haben.“
    „Meister Serpentes hat recht“, pflichtete ihm Ulthar gewohnt gemächlich bei. „Unsere Messungen haben ergeben, dass die gestrige Abenddämmerung fünfmal so lange angedauert hat wie die darauf folgende Nacht. Und dieser Morgen? Er sollte bereits vor Stunden dem Mittag gewichen sein. Es ist, als wollte etwas oder jemand mit aller Macht die Sonne an ihrem Fortlauf hindern.“
    Seufzend schloss Hagen für zwei, drei viel zu kurze Momente die Augen. Cedric hatte ihm bereits davon berichtet, dass in der Stadt erste Unruhen aufgekommen waren. Natürlich merkten die Bürger von Khorinis längst, dass etwas nicht stimmte. Im Hafenviertel musste es wohl besonders ungemütlich geworden sein, aber nachdem Cedric ihm berichtet hatte, die Situation dort in den Griff bekommen zu haben, hatte er kaum noch einen Gedanken daran verschwendet. Es gab einfach zu vieles, das seiner Aufmerksamkeit bedurfte.
    „Wer außer den Göttern hätte die Macht dazu, den Lauf der Zeit zu kontrollieren?“
    Vatras legte den Finger auf die Lippen. „Es gibt durchaus ein Material auf der Welt, von dem wir wissen, dass es derartigen Einfluss ausüben kann.“
    „Schwarzes Erz.“
    Fast erschrocken schaute Hagen auf. Myxir war so stumm gewesen, dass er fast vergessen hatte, dass der Wassermagier überhaupt anwesend war.
    „Die Banditen von Jharkendar… wir haben gesehen, dass sie im Besitz von schwarzem Erz sind.“
    „Aber es war nur ein einziger Brocken, den ihr gesehen habt, nicht wahr?“, erinnerte ihn Vatras. „Es würde eine unvorstellbare Menge brauchen, um einen Zauber zu wirken, der den Lauf der Sonne verlangsamen kann. Und selbst dann...“
    „Ich glaube kaum, dass Evadam im Besitz von unvorstellbaren Mengen ist“, mischte sich Fernando wieder in die Diskussion ein. „Ich habe ihm fünf Brocken schwarzen Erzes verkauft. Vermutlich ist das alles, was er hat.“
    „Wir wissen nicht, ob Evadam überhaupt hinter den Angriffen in Jharkendar steckt“, entgegnete Myxir. „Natürlich, es ist denkbar, dass er die Banditen mit Angstzauberrollen ausgestattet hat. Aber wieso sollten sie uns damit angreifen? Sie müssen unter irgendeiner Art von Kontrolle stehen.“
    „Gedankenkontrolle? Die Magier von Xhan?“, sprach Pyrokar aus, was auch Hagen dachte. „Ich bezweifle, dass sie Spruchrollen verteilen würden. Viel zu offensichtlich. Wenn wir es in der Vergangenheit mit einem von ihnen zu tun hatten, dann haben wir es in der Regel erst gemerkt, als es schon zu spät war.“
    „Menschen lassen sich nicht nur durch Magie kontrollieren“, sagte Fernando. „Auch durch Gold. Und Evadam hat eine Menge davon.“
    „Hm“, machte Myxir. „Soweit wir wissen, ist die Goldader der Banditen versiegt. Sie ernähren sich wohl hauptsächlich von dem, was im Sumpf wächst. Schon möglich, dass sie ein Angebot von Evadam hat schwach werden lassen.“
    „Aber was verspricht sich Evadam von diesem Banditenangriff?“, murmelte Vatras. „Welche Rolle spielt er in seinem Wettbewerb? Es ist, als wollte er ganz Jharkendar...“
    „...ins Chaos stürzen“, vollendete Myxir den Satz. Die beiden Wassermagier tauschten einen vielsagenden Blick, mit dem Hagen allerdings wenig anzufangen wusste.
    „Wir können Evadam bald selbst fragen. Ich habe Lord Andre mit seiner Festnahme beauftragt. Einer dieser Eingeweihten sitzt bereits hinter Gittern.“
    „Das allein wird den Wettbewerb nicht beenden, fürchte ich“, seufzte Vatras. „Heute ist der dritte Tag, vielleicht wurden die wichtigen Hinweise bereits gegeben. Wir müssen damit rechnen, dass der Wettbewerb auch dann noch weitergeführt wird, wenn die Verantwortlichen nicht mehr in ihn eingreifen können.“
    Der alte Händler räusperte sich.
    „Diesen Gedanken hatte ich auch. Deshalb habe ich ein paar Bekannte darum gebeten, etwas für mich zu beschaffen.“
    Überrascht blickte Hagen auf das kleine, längliche Objekt, das Fernando aus einer Westentasche hervorgeholt hatte.
    „Eine... Flöte?“
    „Ein Teil des Wettbewerbs. Ich weiß nicht genau, was ihr Zweck ist, aber ich habe die Hoffnung, dass der Wettbewerb ohne sie nicht beendet werden kann. Ich schlage vor, dass Ihr sie entweder zerstört oder am sichersten Ort der Insel verborgen haltet.“
    „Woher wusstet Ihr davon?“, fragte Hagen, als er das silbrig glänzende und reich verzierte Musikinstrument von Fernando entgegennahm.
    „Ich selbst habe sie an Elm verkauft, einen Magier im Dienste Evadams“, erklärte der Händler. „Zu diesem Zeitpunkt waren die Runen allerdings noch nicht eingraviert. Elm hatte verlangt, dass das Material resistent gegenüber Salzwasser und feuchter Luft sein sollte, und so hatte ich eine Vermutung über den vorgesehenen Aufenthaltsort, die sich als richtig erwies. Evadams eigenes Schiff.“
    Evadams Schiff, schoss es Hagen durch den Kopf. Er hatte noch gar nicht daran gedacht, es durchsuchen zu lassen. Aber wie sollte ein Mann in all dem Chaos auch einen kühlen Kopf bewahren?
    „Ich danke Euch, Fernando“, sagte er fahrig, während er sich vornahm, ihn später noch einmal ausgiebig über diese Bekannten zu befragen. „Ich werde die Flöte unverzüglich in der Kaserne einschließen.“
    „In der Kaserne?“ Pyrokars Augen hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt. „Das ist wohl kaum der sicherste Ort der Insel. Gib sie her, wir werden sie in unserer Reliquienkammer im Kloster verwahren.“
    „Das ist Unsinn, Pyrokar“, meldete sich Ilyas überraschend ungehalten zu Wort. „Es ist nicht lange her, dass die Marionette eines Schwarzmagiers in genau diese Kammer vorgedrungen ist – wie könnt Ihr glauben, sie sei sicher?“
    „Wer seid Ihr, mich über mein Kloster zu belehren?“, fauchte Pyrokar und war plötzlich aufgesprungen. Ganz unwillkürlich fühlte Hagen eine gewaltige Wut in sich hochkochen.
    „Schweigt, alle beide! Die Kaserne – und damit hat es sich!“
    Ehe er sich versah, hatte seine Hand bereits den Schwertknauf gepackt. Als zwischen Pyrokars Fingern plötzlich ein Flammenball aufloderte, waren auch die Letzten von ihren Stühlen gesprungen.
    „Beruhigt Euch.“ Es war Ulthars leise Stimme, die den unerklärlichen Zorn zum Versiegen brachte. „Das sind nicht Eure Worte.“
    „Ihr… habt recht.“ Verwirrt starrte Hagen auf sein erhobenes Schwert. Vorhin noch hatte er in der gleichen Hand die Flöte gehalten, und nun…
    „Cedric? Was…?“
    Einen winzigen Moment lang wurde Hagen noch vom Morgenlicht geblendet, das sich im Silber der Flöte in Cedrics linker Hand spiegelte, bevor sein Vertrauter die Hand um den Runenstein in seiner Rechten schloss und in einer Wolke leuchtender Funken verschwand.
    „Wir waren blind, die ganze Zeit“, krächzte Serpentes nach einem langen Augenblick fassungslosen Schweigens. „Der Schwarzmagier, er war mitten unter uns, in Cedrics Kopf.“
    Pyrokar lächelte bitter. „Und wir haben es erst gemerkt, als es zu spät war.“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Laidoridas ist offline
    „Zurück auf die andere Seite!“, brüllte Gaan durch das ohrenbetäubende Rauschen des nicht enden wollenden Wasserstroms, der über die Wendeltreppe ins Erdgeschoss des Turms sprudelte. „Zur anderen Treppe!“
    Grimbald nickte nur stumm, und Gaan verstand warum: Jeder Schritt, den sie durch das höher und höher steigende Wasser wateten, kostete Kraft. Es war ihm, als müsste er seine Füße bei jeder Bewegung dem kräftigen Griff unsichtbarer Hände entreißen – und an einem Ort der Magie wie diesem mochte das nicht bloß ein Gefühl sein.
    Sie hatten sich gerade zurück in die ursprüngliche, die echte Seite des gespiegelten Raumes gekämpft, als Gaan ein Glitzern auf den Stufen der Wendeltreppe ins Auge fiel: ein kleines Rinnsal tröpfelte hinab. Erst kaum wahrnehmbar, war es Sekunden später schon zu einem kleinen Bächlein gewachsen.
    „Scheiße!“, brüllte Gaan. Im nächsten Moment rauschte bereits eine gewaltige Menge Wasser die Wendeltreppe hinunter, und Gaan spürte, wie ihn die Panik packte. Es gab keinen Ausgang. Von beiden Treppen her ergoss sich nun ein tosender Strom in den Eingangsbereich, und das Wasser stand den beiden Jägern schon bis unters Kinn.
    „Gaan, denk nach!“, schrie Grimbald ihn an. „Wir müssen hier irgendwie raus, und zwar schnell!“
    „Das weiß ich selber!“, entfuhr es dem Jäger. Seine Gedanken rasten zurück zum Gespräch mit Adrien, versuchten sich alles in Erinnerung zu rufen, was er über das magische Labyrinth gesagt hatte. Aber das einzige, an das er denken konnte, war die Warnung des Eingeweihten, die sie so leichtfertig ausgeschlagen hatten: Geht nicht in das Labyrinth.
    Die beiden Jäger mussten sich nun schwimmend über Wasser halten. Aber wie lange würde das noch gut gehen? Der Wasserspiegel stieg unerbittlich, und die steinerne Decke des Raums kam immer näher.
    „Gaan!“ Grimbalds Stimme schaffte es kaum durch das Tosen der Wassermassen. „Dir muss was einfallen, komm schon! Dir fällt doch immer was ein!“
    „Ich denke ja schon!“, gab Gaan verzweifelt zurück und schluckte dabei eine so große Menge Wasser, dass er husten musste.
    Der Eingang, durch den sie gekommen waren: versperrt. Die beiden Wendeltreppen: unpassierbar – der heftige Wasserstrom hätte sie sofort wieder zurück in den Raum gestoßen, so wie es Gaan bereits beim ersten Mal widerfahren war. Es musste einen dritten Weg gehen. Wo hatten sie noch nicht gesucht?
    Wieder wanderte sein panischer Blick über die leeren Wände des Raumes, von denen kaum noch etwas sichtbar war, und plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke. Er hatte die ganze Zeit nur in einem Teil des Raumes gesucht – er hatte immer nur oberhalb der Wasseroberfläche gesucht.
    Ohne lange zu zögern holte er tief Luft und tauchte unter. Die vielen kleinen Schaumbläschen, die um sein Gesicht herumsprudelten, machten es zunächst schwer, etwas zu erkennen, aber dann sah er es: Ganz unten am Boden war deutlich eine kreisförmige Erhebung auszumachen, die vor der plötzlichen Flut ganz sicher noch nicht dort gewesen war.
    „Eine Luke!“, schrie Gaan, als er wieder aufgetaucht war, noch bevor er nach Luft geschnappt hatte. Sein Kopf berührte bereits die Decke des Raumes, und sie hatten vielleicht nur noch eine halbe Minute, bevor hier alles vollständig mit Wasser gefüllt war und sie überhaupt keine Luft mehr bekommen würden. „Da unten am Boden, da ist eine Luke! Auf drei tauchen wir beide runter und öffnen sie zusammen, okay?“
    Grimbald nickte nach kurzem Zögern, und Gaan hob seine rechte Hand aus dem Wasser, um mit den Fingern die Zahlen anzuzeigen.
    „Eins… zwei… drei!“
    Ein letztes Mal füllte er seine Lungen mit feuchter Luft, dann tauchte er ab. Der Weg hinab zum Boden kam ihm quälend lange vor. Angestrengt versuchte er den Gedanken zur Seite zu schieben, dass ihm die Luft ausgehen könnte, noch bevor er unten angekommen war. Es gab jetzt kein Zurück mehr.
    Kurz kam Erleichterung in ihm auf, als er den gut sichtbaren Griff an einem Rand der Luke bemerkte. Doch als sich seine Hände um ihn legten und mit aller Kraft daran zogen, da war die Panik stärker als je zuvor. Die Luke regte sich kein Stück. Hastig warf Gaan einen Blick nach oben, wo sich sein Freund als undeutlicher Schatten aus dem Dunkel des Wassers abzeichnete. Grimbald war viel zu langsam, er würde nie und nimmer bei ihm sein, bevor ihm die Luft ausgegangen war. Schwarze und weiße Pünktchen tanzten bereits vor Gaans Augen, und es wurden mehr und mehr, als er mit zusammengebissenen Zähnen am Griff zog. Es war alles vergeblich, die Luke rührte sich kein Stück. Kurz schwanden Gaan die Sinne, als sich die Finger seiner rechten Hand um den Griff verkrampften.
    ...eine Vorliebe für haarsträubende Rätsel...
    Ein Rätsel, schoss es Gaan durch den Kopf. Sie waren in einem Labyrinth voller Rätsel. Konnte es bei dieser Sache wirklich um Kraft gehen? Krafteinsatz, das war die offensichtliche Lösung, aber die führte bei einem Rätsel selten zum Erfolg. Bei einem Rätsel musste man um die Ecke denken, das Gegenteil von dem tun, was…
    Gaans Arme erschlafften, die Finger seiner Hand lockerten sich. Er spürte, wie er in einen Schlaf abglitt, aus dem es keine Rückkehr mehr geben würde. Aber diesen letzten Versuch hatte er noch. Ganz sanft, so vorsichtig wie es mit seinen zitternden Fingern möglich war, schob Gaan den Griff nach oben, nur ein winziges Bisschen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell: Wie von unsichtbarer Hand gepackt wurde die Luke aufgerissen, und ein schwarzer senkrechter Schacht kam zum Vorschein. Noch bevor Gaan ganz begriffen hatte, dass seine Idee richtig gewesen war, dass es endlich einen Ausweg gab, spürte er, wie er von einem Strudel gepackt wurde, der sich um ihn herum bildete. Schon wurde er hinab gezerrt und in den Schacht gezogen. Kurz glaubte er, endgültig das Bewusstsein zu verlieren, aber dann kam er plötzlich hart mit dem Rücken auf dem Boden auf, während sich ein Schwall Wasser über seinen Körper ergoss.
    Rasselnd schnappte Gaan nach Luft, als neben ihm Grimbald auf dem Boden aufstieß.
    „Wir leben!“, japste Gaan. Von den zuvor noch so gewaltigen Wassermassen war nur eine kleine Pfütze zurückgeblieben, in der sie nun hockten. Verschwunden war auch der Schacht, durch den sie gefallen waren: Die Decke über ihren Köpfen war eine lückenlose Aneinanderreihung von dunkelbraunen Backsteinen.
    Magie, dachte er nur, matt und erleichtert.
    „Anscheinend sind wir jetzt erst im eigentlichen Labyrinth gelandet“, sagte Grimbald. Tatsächlich erinnerte der schmale und von einigen Fackeln beleuchtete Steinkorridor, in dem sie sich nun befanden, sehr an einen der gleichförmigen Labyrinthgänge, wie sie Gaan aus alten Legenden kannte – zumal an beiden Enden des Korridors Abzweigungen in zwei andere Richtungen abgingen.
    Nachdem er sich wieder einigermaßen sicher auf den Beinen fühlte und sich vergewissert hatte, dass sein Messer und sein Bogen die vergangenen Geschehnisse heil – wenn auch alles andere als trocken – überstanden hatten, schritt er den Gang zu beiden Seiten ab und warf einen Blick entlang der Abzweigungen. Zu seiner Verblüffung endete der Gang zu seiner Rechten nach wenigen Schritten im Nichts. Gaan hatte sich noch nicht zur anderen Seite hin umgedreht, als plötzlich dutzende und aberdutzende Backsteine aus dem gähnenden Abgrund emporflogen und sich wie von unsichtbaren Händen geführt zu Boden, Decke und Wänden zusammensetzten. Nach wenigen Augenblicken erstreckte sich ein langer gerader Gang vor ihnen, an dessen Ende wiederum zwei Abzweigungen zu erkennen waren.
    „Ein Labyrinth, das sich erst für uns zusammenbaut?“, seufzte Grimbald. „Wie sollen wir hier denn jemals rausfinden? Das kann ja unendlich groß sein.“
    Gaan drehte sich zu ihm um und fasste ihn bei den Schultern.
    „Wir schaffen das schon, okay?“, sagte er und wusste nicht, ob er dadurch seinem Freund oder doch eher sich selbst Mut zusprechen wollte. „Wir kommen hier irgendwie wieder raus, vertrau mir.“
    „Kann ich das denn?“ Ein merkwürdiger Ausdruck war in Grimbalds Gesicht getreten. „Dir vertrauen?“
    Die Frage verschlug Gaan für einen Moment die Sprache.
    Hatte Grimbald ihn etwa bei einem seiner Gespräche mit Vatras belauscht? Sie hatten immer geglaubt, unbeobachtet zu sein, aber Vatras‘ Haus war nicht besonders groß, und es war sicher nicht auszuschließen…
    „Hör zu, das...“ Gaan biss sich auf die Zunge. Vielleicht ging es Grimbald ja auch um etwas ganz anderes. Er durfte den Ring des Wassers auf keinen Fall leichtfertig preisgeben, nicht einmal in einer solchen Situation. „Das kannst du. Und alles weitere besprechen wir, wenn wir hier raus sind, in Ordnung?“
    Grimbald sah nicht besonders überzeugt aus.
    „Wie du meinst“, brummte er. „Wenn wir hier jemals wieder rauskommen...“
    Vergeblich versuchte Gaan, zu seiner zuvor noch mühsam aufrecht erhaltenen Ruhe zurückzufinden und den Ausbruch der Panik nicht erneut zuzulassen. Nun drehte sich erst recht alles in seinem Kopf. Er konnte ja verstehen, dass Grimbald enttäuscht von ihm war – er hatte ja selbst kein gutes Gefühl dabei, ihm seine wahren Absichten für die Teilnahme am Wettbewerb die ganze Zeit über verschwiegen zu haben. Aber musste er ausgerechnet jetzt damit anfangen, da sie ohne Plan in einem Labyrinth fest saßen, das gut und gerne endlos sein konnte? Wieso hatte er ihn nicht vorher darauf angesprochen? Wieso…
    „Grimbald!“ Er wischte alle wirren Gedanken beiseite, als ihm plötzlich etwas ins Auge sprang. „Siehst du das da oben an der Decke?“
    Er deutete mit dem Finger nach oben, und sein Jägerkollege folgte ihm mit dem Blick.
    „Die Backsteine sind alle aus genau dem gleichen Material“, sagte Gaan aufgeregt, „bis auf den einen da oben. Der ist heller als die anderen, siehst du? Und es sieht fast so aus, als würde er ein bisschen hervorstehen.“
    Grimbald zuckte verständnislos mit den Schultern. „Und?“
    „Glaubst du etwa, das hat nichts zu bedeuten? Wir sind in einem magischen Rätsellabyrinth, da ist jede Kleinigkeit wichtig. Vielleicht ist das ein geheimer Schalter!“
    „Wir kommen da doch eh nicht ran“, murrte Grimbald. „Lass uns einfach weitergehen. Wir finden den Ausgang sowieso nicht, aber wenn wir hier die ganze Zeit nur rumstehen, dann finden wir ihn noch viel weniger.“
    „Vielleicht tut es ja auch ein Pfeil oder Bolzen. Mein Bogen ist zu nass, aber die Armbrust sollte auf jeden Fall funktionieren. Gib mal eben her.“
    Grimbald starrte ihn verständnislos an. „Wie bitte?“
    „Die Armbrust“, wiederholte Gaan. „Gib sie mir bitte eben.“
    „Das ist meine Armbrust“, sagte Grimbald stoisch.
    „Das ist Dragomirs Armbrust, und das weißt du genau. Was verdammt nochmal ist los mit dir? Wir haben keine Zeit für so einen Scheiß!“
    „Ich mache das“, sagte Grimbald und nahm die Armbrust zur Hand. Stirnrunzelnd beobachtete Gaan, wie der Jäger einen Bolzen einspannte. Er war es zwar schon gewohnt, dass Grimbald in Gefahrensituationen manchmal die Nerven verlor, aber so schlimm wie diesmal war es noch nie gewesen. Es war fast so, als wäre er…
    … gar nicht er selbst.
    Diesmal kamen Gaans Jägerinstinkte zu spät. Das Sirren der Armbrust war noch nicht verklungen, da bohrte sich der Bolzen bereits in seinen rechten Oberarm. Schreiend ging er zu Boden, als Grimbalds Körper in einem Schwall dunklen Wassers in sich zusammenfiel und als Pfütze in den Ritzen zwischen den Backsteinen des Fußbodens versickerte.
    „Zu zweit im Labyrinth, das kann sehr gefährlich sein“, hallte Grimbalds Stimme durch die Gänge, nun verzerrt und fremdartig. „Aber nun bist du ja ganz allein.“
    Tränen schossen Gaan in die Augen, als er auf die Wunde starrte. Aus dem Bolzen war ein vielfach gezackter Eiszapfen geworden, der sich tief in seinen Arm gebohrt hatte und eine unnatürliche Kälte ausstrahlte.
    „Wenn du es bis zum Ausgang des Labyrinths schaffst, dann sehen wir uns wieder“, sagte die Stimme, nun allmählich leiser werdend. „Dann kannst du versuchen, mir meinen Schatz abzunehmen. Oder du bleibst hier und gefrierst, wie alle Tropfen, die unvorbereitet in einen eisigen Sturm geraten sind…“

    „Denen werd ich was erzählen“, murmelte Alrik zu sich selbst, als er die letzten Schritte auf den großen, dunklen Turm des Dämonenbeschwörers zumachte. „Die brauchen gar nicht erst ankommen mit irgendwelchen Entschuldigungen...“
    Insgeheim rechnete er allerdings auch vielmehr mit einem ordentlichen Streit. Und genau danach war ihm zumute – nicht zuletzt auch, wie er sich eingestehen musste, um sämtliche Erinnerungen an das Gerede über Rätsel, Labyrinthe und magische Wächter zu verdrängen, das ihm alles andere als geheuer gewesen war. Ein ordentlicher Zoff unter Kerlen, der passte ihm schon deutlich mehr in den Kram, und er war überzeugt davon, dass er den gleich bekommen würde, als er einen der beiden Jäger im Eingangsbereich direkt hinter der offenen Tür stehen sah.
    Umso verblüffter war er, als er den erleichterten, ja geradezu dankbaren Ausdruck in Grimbalds verschwitztem Gesicht bemerkte.
    „Alrik! Ein Glück, dass du da bist!“
    Alrik hatte sich auf dem Weg zum Turm eine Menge Sätze zurechtgelegt, aber auf diese Begrüßung passte kein einziger von ihnen.
    „Äh… was?“
    „Gaan ist verschwunden! Du – du musst sofort zurück zu Vatras und –“
    „Moment mal, eins nach dem anderen“, unterbrach Alrik den Jäger, der mit den Nerven offenbar völlig am Ende war. „Was soll das heißen, Gaan ist verschwunden?“
    „Wir sind in den Turm reingegangen, und – plötzlich war alles gespiegelt, und als Gaan in das Spiegelbild hineingelaufen ist, da – da war auf einmal alles wieder wie vorher, nur… nur ohne Gaan eben. Ich glaube, er ist irgendwie in dieses Labyrinth hineingeraten!“
    „Und es gibt keine Möglichkeit, ihm hinterherzugehen?“
    „Wie denn?“, entgegnete Grimbald verzweifelt. „Du siehst ja selbst, dass hier wieder ein ganz normaler Eingang ist.“
    Keine Teamarbeit, erinnerte sich Alrik. Das passte natürlich, dass immer nur einer in das Labyrinth durfte. Es bedeutete aber wohl auch, dass er keine Chance hatte, an das Artefaktteil zu gelangen, solange Gaan nicht wieder zurück war.
    „Ich bin den ganzen Turm schon ein paar Mal rauf und runter gelaufen“, fuhr der Jäger fort, „aber da ist nichts Besonderes drin. Außer dieser Eisblock mit Vorhängeschloss.“
    „Ein… Eisblock mit Vorhängeschloss?“
    „Irgendwas ist darin eingeschlossen, und wenn wir den Schlüssel hätten, vielleicht könnten wir Gaan dann aus dem Labyrinth holen oder ihm folgen oder… ich weiß es ja auch nicht. In dem Eisblock könnte alles mögliche sein.“ Grimbald fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Jetzt tat er Alrik plötzlich ganz schön leid, auch wenn er ihm das lieber nicht zeigen wollte. Eigentlich hatten es die Jäger ja auch nicht anders verdient, nachdem sie einfach losgezogen waren, ohne seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.
    „Tja, ich habe keinen Schlüssel“, sagte Alrik. „Vielleicht muss man den ja erst im Labyrinth finden.“
    „Oder vielleicht habe ich ihn auch schon gefunden.“
    Alrik zuckte zusammen, als er kalten Stahl an seiner Kehle spürte. Ein zweiter Arm legte sich von hinten über seine Brust und hielt ihn umklammert. Am überwältigendsten aber war der üble Gestank, der ihm in die Nase stieg.
    „Du bist dieser Yves, oder?“, schnaufte Alrik und starrte auf die Hand mit dem Dolch hinab, die sich um seinen Hals gelegt hatte. „Du hast im Armdrücken gegen mich verloren.“
    Gewonnen“, sagte die Stimme hinter seinem Rücken. „Du da, Jäger! Das Seil an deinem Gürtel – mach es ab und fessel deinen Kumpel damit. Sofort. Und keine falschen Bewegungen, sonst stech ich ihn ab!“
    „Was soll die Scheiße?“, ächzte Alrik. Grimbald stand nur da und starrte ihn wie vom Blitz getroffen an.
    „Tut mir wirklich leid, Jungs, aber ich brauche dieses Artefaktteil dringender als ihr“, sagte Yves mit gepresster Stimme. „Und wir wissen doch alle, wie das ausgehen würde, wenn mein Schlüssel passen sollte und wir zu dritt vor einem Teil des Artefakts stehen. Das würde in einem Blutvergießen enden. Aber das muss nicht sein, wenn ihr einfach tut was ich sage. Alles klar?“

    Zwei präzise Hammerschläge genügten und der Nagel steckte in der Wand. Adarich legte das Werkzeug zur Seite, hob die Leinwand vorsichtig mit beiden Händen an und hängte sie an den Nagel. Dann machte er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Die Gesellschaft, in der sein Meisterstück hängen musste, all die lächerlichen Kritzeleien von Bauern und gelangweilten Kleinbürgern, sie war mehr als bedauerlich. Aber auch wenn Onar es nicht verdient hatte, sein Werk in seine Sammlung aufzunehmen – sollte er es doch haben. Es spielte keine Rolle, wo es hing. Dass es da war in der Welt, darauf kam es an. Und nun war es da, vollständig, bis zum letzten Pinselstrich: das Abbild einer nahen Zukunft.
    Zeit, sie Gegenwart werden zu lassen.
    „Die Stadtwächter sind hier, Herr.“ Salvadore schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel im Schloss. „Sie haben den Hof umstellt und fordern Eure Herausgabe.“
    „Gut“, sagte Adarich und ließ den Blick über seinen leer geräumten Schreibtisch gleiten. „Der Zeitpunkt ist gerade recht.“
    „Da ist noch etwas“, sagte Salvadore nach kurzem Zögern.
    „Ja?“
    „Ich… habe das Gefühl, manchmal nicht klar denken zu können in letzter Zeit. Meine Gedanken, meine Handlungen, sie… fühlen sich nicht immer wie meine eigenen an.“
    Adarich machte ein paar Schritte auf ihn zu, bis er direkt vor seinem Diener stand.
    „Wollt Ihr damit sagen… es ist womöglich tatsächlich einer von ihnen unter den Teilnehmern?“
    „Es ist nur ein Verdacht“, sagte Salvadore mit unbewegter Miene.
    „Ihr wisst, was ich immer gesagt habe?“ Adarich fasste Salvadore an der Schulter und sah ihm direkt in die Augen. „Dass ich kein Risiko eingehen darf, was Xhan betrifft? Nicht das Geringste?“
    „Ich weiß, Herr.“ Salvadores Stimme zitterte, bemerkte Adarich. Nur ein klein wenig, aber sie zitterte. Zum ersten Mal, seit er ihn kannte.
    „Nun, Ihr seid die Ausnahme. Ich kann es mir nicht leisten, Euch zu verlieren.“ Adarich zog eine der Teleportspruchrollen aus dem sauber gepackten Beutel neben dem Schreibtisch und drückte sie Salvadore in die Hand. „Das wird Euch zu Elms Lagerhöhle bringen. Nehmt Euch einen der Tränke, die Elm für Adrien gebraut hat, und schluckt ihn. Tut es schnell.“
    „Natürlich, Herr.“ Salvadore nahm die Spruchrolle und war wenige Augenblicke später in einem magischen Funkennebel verschwunden.
    Adarich atmete einmal tief durch. Von draußen waren aufgeregte Stimmen zu hören, also blieb ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit. So gut er auch gezahlt hatte, Onar würde keinen offenen Kampf mit der Stadtwache für ihn riskieren. Der Großbauer würde ihn ausliefern und den lange schwelenden Konflikt zwischen den Bauern und der Stadt ein weiteres Mal vor dem Ausbruch bewahren. Wenn allerdings niemand mehr da war, der ausgeliefert werden konnte…
    Adarich nahm den Beutel vom Boden und suchte die richtige Schriftrolle heraus. Er gönnte sich noch einen letzten Blick auf das Gemälde, bevor er leise die Worte des Teleportzaubers sprach.
    Nicht mehr lange, dachte er. Nicht mehr lange.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Yves zog noch ein fünftes Mal an dem Knoten um Grimbalds Handgelenke.
    „Schneid sie mir doch gleich ab, wenn du so viel Schiss vor mir hast“, brummelte der Jäger.
    Statt zu antworten besah Yves sich noch einmal die Fesseln von Alrik. Und wieder die Grimbalds. Er durfte kein Risiko eingehen. Natürlich wäre es sicherer, sie einfach umzulegen, aber das traute er sich dann doch nicht. Was er sie auf keinen Fall merken lassen durfte.
    „Wenn ich aus dem Turm zurück bin, press ich euch alles ab, was ihr über den Wettbewerb erfahren habt“, verkündete er. „Und wenn ich mit euch fertig bin, dann…“ Er fuhr mit dem Daumen vielsagend über seine Kehle. Leider schien es seine beiden Gefangenen nicht sonderlich einzuschüchtern. Grimbald starrte ihn mit diesem ruhigen, ausdruckslosen Blick an… Er machte sich lieber schnell daran, das Artefaktteil zu holen, bevor sie ihm doch noch irgendwie in die Quere kamen.
    Für die unheimliche Kulisse des Turms hatte er nur einen kurzen Blick übrig. Der wahre Schrecken pulsierte schließlich schon durch seine Adern. Auf der Wendeltreppe nahm er immer drei Stufen auf einmal. Als er auf dem ersten Treppenabsatz ankam, konnte er schon sehen, wovon Grimbald gesprochen hatte. Ein riesiger Eisklotz, mitten im Turm. Rasch durchquerte Yves das Vorzimmer, wobei er sich ausgiebig nach Fallen und insbesondere Gaan umsah. Er glaubte diesem Grimbald nicht, dass Gaan einfach verschwunden war. Sie hatten bestimmt einen Hinterhalt für den Teilnehmer geplant, der mit dem Schlüssel hier ankam. Für ihn also. Doch zu seiner eigenen Überraschung erreichte er das Pentagramm ohne jeden Zwischenfall. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube musterte er das dicke Vorhängeschloss, das in das Eis eingelassen war. Wie hypnotisiert blickte er auf das Schlüsselloch, das nur auf das in seiner Tasche schlummernde Gegenstück wartete.
    „Verdammt, mir bleibt nicht mehr viel Zeit!“, fluchte er und holte den Schlüssel hervor. Mit unruhiger Hand rammte er ihn in das Schloss. Schon nach einer Vierteldrehung klackte es laut. Yves sprang zurück, als hätte ihm der Schlüssel einen Schlag verpasst, obwohl nichts dergleichen geschehen war. Dann fiel das Schloss einfach zu Boden. Mit einem lauten Klong kam es auf. Und als das Klong verklungen war, setzte ein mahlendes Geräusch ein. Yves stolperte noch einen Schritt zurück und dann über den abgewetzten Kaminvorleger. Noch während er sich wieder aufrappelte, begann der Eisklotz zu beben und das Mahlen schwoll zu einem Rumpeln an. Dann ging alles sehr schnell. Das Eis brach auf, zerfiel in lauter Eisbrocken, die sich augenblicklich neu formierten.
    Yves klappte die Kinnlade herunter. Seine Mutter hatte ihm viele Schauergeschichten erzählt. Doch keine hatte ihm eine solche Angst eingejagt wie der Golem aus schimmerndem Eis, der sich gerade vor ihm aufbaute. Als das Monster sich zu voller Größe aufrichtete, überragte es ihn um mehr als das Doppelte. Yves‘ Schrei ging im basslastigen Brüllen des Golems unter. Der Koloss hob eine seiner Pranken. Yves stürzte zurück zum Treppenhaus. Knapp hinter ihm traf die riesige Faust auf den Boden. Der Golem brüllte noch einmal, dann sprang er Yves hinterher. Jeder seiner Schritte erschütterte den Turm. Yves hatte die Wendeltreppe bereits erreicht, als es hinter ihm fürchterlich krachte. Er wagte einen Blick über seine Schulter und sah erleichtert, dass der Eisgolem viel zu breit war für den schmalen Türrahmen. Trotzdem dachte Yves nicht daran, stehenzubleiben. Tiefe Risse zogen sich bereits durch die Wand der Wendeltreppe.

    Gaan atmete schwer. Die Wunde pochte schmerzhaft und inzwischen bog er um die hundertste Ecke, nur um die wabernde Dimension hinter einer neu entstehenden Wand verschwinden zu sehen. Beinahe höhnisch wirkte es, wie die Ziegelsteine in aller Ruhe an ihren Platz huschten. Er schleppte sich den nächsten Gang entlang, ohne noch daran zu glauben, dass er jemals aus dem Labyrinth herausfand. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, fanden einfach keinen Hinweis, wie er das Rätsel lösen sollte.
    Als er um die nächste Ecke bog, nur um wieder in gähnende Leere zu stieren, fragte er sich, ob er vielleicht einfach stehen bleiben sollte. Einfach warten, bis ein anderer Teilnehmer kam und das Rätsel für ihn löste. Doch plötzlich schallte das Klicken eines Schlosses ohrenbetäubend laut durch das Labyrinth und ein Licht durchbrach die leere Welt, kurz bevor die neue Mauer sich schloss und die Sicht auf das Licht versperrte.
    Er war so überrascht, dass er zunächst gar nicht glaubte, was er da gerade gesehen hatte. Er rannte den nächsten Abschnitt entlang, bog um die Ecke und sah wieder dieses ferne Licht. Er sah in die andere Richtung und fand dort kein Licht. Vielleicht führte dieses Licht ihn an sein Ziel.
    Mit neuer Hoffnung schritt er voran.

    „Heeeey! Was zum Teufel ist da oben passiert!“, brüllte Grimbald, während er seine Arme anspannte und mit aller Macht versuchte, seine Fesseln zu sprengen.
    Yves machte vor Schreck einen Satz in die Höhe, als er an seinen Gefangenen vorbeirannte. Er hatte sie in der Hektik ganz vergessen. Er lief auf der Stelle, obwohl er nicht wusste, was er ihnen antworten sollte. Rasch versicherte er sich, dass der Golem noch nicht in Sichtweite war. Erneut erzitterte der Turm unter der brachialen Gewalt des magischen Wächters. Von dem Torbogen krümelte Staub.
    „Also…“, druckste Yves herum. Er rang mit sich, ob er sie befreien sollte. Sie würden gewiss in den Turm hinein gehen und den Golem für kurze Zeit ablenken. Andererseits wollte er nicht riskieren, von dem Golem eingeholt zu werden, während er ihre Fesseln durchschnitt. Schweiß lief ihm die Stirn herunter. Unter Druck hatte er noch nie klar denken können.
    Dann ein Krachen über ihren Köpfen. Ein dicker Felsbrocken grub sich direkt neben ihm in den weichen Erdboden. Mit einem gewaltigen Sprung rettete Yves sich wieder in den Turm, gerade noch rechtzeitig, um der Kaskade aus Schutt zu entgehen. Alrik und Grimbald waren unter dem schützenden Torbogen knapp von der Lawine verfehlt worden. Doch schon folgte die nächste Gefahr: Der Boden bebte, als der Eisgolem auf dem Schutthaufen landete. Yves war sofort klar, dass der Golem die Wand des Turms durchschlagen hatte, um herunterzuspringen und ihm den Weg abzuschneiden. Er hatte also doch zu lang getrödelt.
    Brüllend stürmte der Eisgolem durch den Torbogen auf ihn zu. Schreiend flüchtete Yves sich abermals auf die Wendeltreppe. Rannte sie hinauf, schoss an dem Pentagrammzimmer vorbei, in dem er bloß in der Falle sitzen würde, weiter nach oben zur Spitze des Turms. Als er die Wendeltreppe verließ, stand er plötzlich im Freien. Eine steife Brise fuhr ihm unters Hemd. Die Berge neben dem Turm waren etwa genauso hoch wie der Verbindungssteg, auf dem er sich befand, doch sie waren einfach zu weit weg, um herüberspringen zu können.
    Die Schläge des Eisgolems erschütterten den Turm erneut. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Turm unter ihnen zusammenbrach. Hastig betrat er das Zimmer in der Turmspitze. Und schon als er ihn betrat, wurde ihm klar, dass der Raum noch ganz anders ausgesehen haben musste, als Grimbald ihn durchsucht hatte. Sonst hätte Grimbald nicht geglaubt, dass es außer dem Eisblock nichts Interessantes in dem Turm gab.
    Während überall sonst im Turm bloß hie und da verstaubte und zerbrochene Einrichtungsgegenstände zu finden waren, lag hier ein nobel wirkender, dicker Teppich aus, auf dessen Mitte ein blitzblank polierter, schwerer Holztisch aufgestellt worden war, auf dem eine einzelne Pergamentrolle lag.
    Yves stürzte sich auf das Pergament, brach das Siegel und entrollte die Schrift. Er verfluchte sich dafür, dass er nie richtig lesen gelernt hatte und jedes Wort mühsam entziffern musste, während der entfesselte Zorn des Wächters dem Turm an die Substanz ging.

    Sehr geehrter Yves,

    es freut mich, dass du nicht vor dem Wächter aus dem Turm geflohen bist, sondern Wagemut bewiest und den Weg nach oben wähltest.
    Solch einen feinen Charakterzug haben nicht viele Menschen vorzuweisen!

    Ungeduldig überflog Yves das Gewäsch, bis er meinte, die wirklich wichtigen Zeilen gefunden zu haben.

    Um dein Problem mit dem Wächter aus der Welt zu schaffen, hier nun noch ein letztes Rätsel:
    An der Wand dieses Zimmers findest du eine bescheidene Auswahl an Spruchollen, aber sei gewarnt:
    Nimmst du eine von der Wand, zerfallen die restlichen zu Staub.

    Hektisch sah Yves sich um. Tatsächlich waren die Wände über und über mit Dutzenden Pergamentblättern in der Größe von Spruchrollen behängt – allerdings wohl mit der Vorderseite zur Wand, so dass man vor dem Abnehmen nicht wissen konnte, welche Spruchrolle sich dahinter verbarg.
    Entnervt aufheulend wandte er sich wieder seiner Nachricht zu.

    Nur eine Spruchrolle wird dir helfen, den Wächter zu überwinden.
    Welche es ist, das verrate ich dir im Folgenden: Neben dem Lichtzauber hängt ein Eispfeil,
    in der Nachbarschaft zu dem Eispfeil wirst du jedoch keine Blitzzauber finden.
    Eiszauber hängen nur links von den Fenstern.
    Beschwörungen mythischer Kreaturen hängen nicht neben denen realer Monstren…

    Es ging Zeile um Zeile so weiter und Yves verstand kein Wort. Er gab es auf, die Hinweise zu studieren. Ihm wurde klar, dass er das Rätsel nie lösen würde. Und das hieß, dass ihn nur noch sein Glück aus dieser Lage befreien konnte. Und da er nichts daran ändern konnte, musste er es jetzt eben einfach drauf ankommen lassen. Er riss eine Spruchrolle auf Augenhöhe von der Wand. Augenblicklich zerfielen die anderen zu Staub.
    Yves jubelte, als er das Bild eines Dämons auf der Spruchrolle sah. Hatte ihn sein sprichwörtliches Glück doch nicht verlassen! Er rannte wieder hinaus auf die Verbindungsbrücke. Als er in die Tiefe sah, wäre er fast rückwärts in die Tiefe getaumelt. Der Eisgolem starrte ihm direkt entgegen. Offenbar hatte er seine Finger in die Außenwand des Turms gerammt und war ihn so empor geklettert.
    Yves verlor keine Zeit mehr und aktivierte die Spruchrolle. Im violetten Funkenschauer erschien ein Dämon, dessen Schrei nicht von dieser Welt war. Grollend stürzte der Dämon sich auf den Eisgolem, rammte ihm seine Klauen mitten ins Gesicht. Yves jubelte, als der Eisgolem seinen Halt verlor und rücklings in die Tiefe stürzte. Der Eisgolem krachte in den Schutthaufen, Staub wirbelte auf. Der Dämon setzte nach, holte abermals aus.
    Yves war sich im einen Moment noch sicher gesiegt zu haben – da traf ein Schlag des Eisgolems seinen Dämon und ließ ihn zu Eis erstarren. Wie eine hässliche Skulptur krachte der Dämon zu Boden.
    Yves gefror das Blut in den Adern. Er rannte zurück in das Turmzimmer, doch wie nicht anders zu erwarten, erhielt er keine zweite Chance. Die Spruchrollen blieben verschwunden.
    Und dann wurde ihm zum zweiten Mal in kurzer Zeit klar, dass ihm nur noch eine sehr hässliche Wahl blieb.

    Gaan war dem Licht um Dutzende Ecken gefolgt. Inzwischen fiel es ihm schwer, noch daran zu glauben, dass es ihm den Weg wies. Doch es war seine einzige Hoffnung, also bog er stets in die Richtung ab, die ihn dem Licht näher brachte. Er hatte begonnen, seine Kräfte einzuteilen, weil er nicht abschätzen konnte, wie weit seine Reise noch sein würde. Mit gemessenen Schritten bog er um die nächste Ecke. Das Licht schien immer noch genauso weit entfernt wie bei seinem Erscheinen. Er wartete auf die Ziegel, die ihm wie üblich die Sicht versperren würden. Aber sie kamen nicht. Ein Blick über die Schulter bestätigte ihm, dass sich auch dort kein neuer Gang bildete. Nur wabernde Leere.
    Er dachte einen Moment nach, was er nun tun sollte. Einer Eingebung folgend zog er seinen Bogen. Allmählich meinte er zu ahnen, wie Elm dachte. Sein rechter Arm protestierte schmerzhaft. Die Hand, die den Pfeil führte, zitterte heftig. Doch hier kam es nicht auf Präzision an. Er schoss den Pfeil ins Nichts. Er beschrieb einen großen, weiten Bogen. Dann scharten sich blaue Funken um ihn und er verschwand.
    Gaan wandte sich zur anderen Seite und wiederholte den Test. Auch hier flog der Pfeil im großen Bogen. Und flog weiter und weiter, bis er schließlich weit in der Ferne mehr fiel als flog und bald von den Schwaden verschluckt wurde. Gaan schulterte mit grimmiger Genugtuung seinen Bogen. Als er sich ins Licht wandte, fragte er sich, ob er gleich sterben würde. Doch schon als er mit einem beherzten Satz ins Bodenlose sprang, spürte er, wie die Magie ihre Arbeit tat. Blaue Funken scharten sich um ihn, stoben aufgeregt um ihn herum. Die Teleportation setzte ein und die endlose Weite verschwand.

    „Heilige Scheiße, dieser Yves hat‘s echt ganz schön verbockt“, bemerkte Alrik kreidebleich, als der Eisgolem sich erneut daran machte, den Turm hinaufzuklettern.
    „Ist wohl eher der Veranstalter, der nicht ganz alle Scavenger im Gehege hat“, entgegnete Grimbald missmutig. „Wer hätte denn mit sowas gerechnet?“ Bei dem Gedanken, was der Eisgolem machen würde, wenn er Yves erledigt hatte, war ihm nicht wohl. Doch die Aussicht, dass der Turm bald über ihren Köpfen zusammenbrach, war auch nicht ermunternder.
    Wie aus dem Nichts bohrte sich Yves‘ Dolch in den Schutthaufen vor dem Turm. Grimbald und Alrik musterten ihn überrascht.
    „Befreit euch mit dem Dolch und kommt dann schnell hier hoch!“, schrie Yves vom Turm herunter. „Ihr könnt den Golem aufhalten!“
    Das ließen Grimbald und Alrik sich nicht zweimal sagen. Sie robbten zu dem Messer und schlitzten ihre Fesseln auf, während der Golem den ersten Stock erreichte.
    Grimbald war klar, dass er lieber fliehen sollte. Doch solange Gaan hier noch irgendwo war, wollte er dem Turm nicht den Rücken kehren. Er war allerdings nicht überrascht, dass Alrik ohne zu zögern die Beine in die Hand nahm und in Richtung Stadt rannte.
    Als Grimbald das Turmzimmer erreicht hatte, war der Golem schon fast oben angekommen.
    Yves stürzte auf ihn zu. „Also, da auf dem Tisch ist eine Schriftrolle für dich erschienen, aber das Rätsel ist viel zu schwer, hier hängen überall Spruchrollen, nimm einfach irgendeine, und wehe es ist nicht die Richtige, sonst sind wir beide verlo…“
    Brüllend zog der Eisgolem sich den Weg zwischen Turmzimmer und Treppe hoch.
    Grimbald warf nur einen kurzen Blick auf das Rätsel. Ihm war sofort klar, dass Yves recht hatte. In der kurzen Zeit konnte er es auf keinen Fall lösen.
    Der Eisgolem fegte das Dach mit einem Schwinger zur Seite. Holzsplitter regneten auf sie herab. Grimbald riss eine Spruchrolle von der Wand und aktivierte sie, ohne auf das Piktogramm zu achten. Der Golem beugte sich über die Wand des Turmzimmers und brüllte sie stumpfsinnig an, als der Zauber seine Wirkung entfaltete. Ein gewaltiger Feuersturm ergriff den Eisgolem und ließ ihn aufheulen. Fuchtelnd schlug er auf die Flammen ein. Yves jubelte. Doch Grimbald entging nicht, dass der Golem überhaupt nicht schmolz.
    „Es war die falsche“, erkannte er und wandte sich wieder der Wand zu, doch die anderen Spruchrollen waren verschwunden. Plötzlich ergab es Sinn, dass Yves sie um Hilfe angefleht hatte. Jeder bekam nur eine Spruchrolle.
    Plötzlich waren die Spruchrollen wieder da. Und mit ihnen ein hagerer Mann mit langen Haaren und zerschlissener Kleidung, der zwischen den Beinen des Eisgolems hindurch in den Raum rannte. Er fand die Schriftrolle auf dem Tisch sofort, brach das Siegel, während der Eisgolem noch die letzten Flammen auf seiner Brust ausklopfte.
    „Gaan, bist du das?“
    Der langhaarige Mann warf ihm einen flüchtigen Blick zu, so stierend und so apathisch, zugleich gebrochen und voll unbändiger Willensstärke, dass es Grimbald kalt den Rücken herunterlief. Das lange Haar gab nun auch die linke Gesichtshälfte frei, wo anstelle des Auges nur eine halb verheilte, blutige Wunde war. Nichts erinnerte mehr an den aufgeweckten, jungen Jäger. Und doch war er es.
    „Was ist mit dir passiert?“, entfuhr es Grimbald trotz der Umstände.
    „Ich habe das Rätsel gelöst“, erklärte Gaan und schritt zielstrebig zu einer Schriftrolle zwischen Fenster und Bücherregal. Er riss sie von der Wand und wirkte sie sofort. Der Eisgolem begann rot zu glühen. „Für euch scheinen nur ein paar Minuten vergangen zu sein. Aber ich war Wochen in dem Labyrinth, während es mir nur das zum Überleben nötigste gab. Ein bizarres Rätsel nach dem anderen habe ich gelöst. Irgendwann weiß man, wie dieser Elm tickt. Und dann sind sie nur noch alle gleich.“
    Grimbald sah zu dem Golem auf. Er hatte zu schrumpfen begonnen.
    „Hast du etwa das Artefaktteil?“, schrie Yves.
    Gaan nickte. „Ich habe es Grimbalds Doppelgänger abgenommen, nachdem ich das erste Labyrinth…“
    Der Eisgolem holte noch ein letztes Mal aus. Der Schlag traf Grimbald völlig unvorbereitet und ließ ihn quer durch den Raum fliegen. Er spürte klirrende Kälte in sich aufsteigen und wusste, dass es ihm erging wie dem Dämon.

    Gaan wusste nicht recht, was er empfand, als er Grimbald als Eisskulptur zu Boden fallen sah. Etwas in ihm schmerzte der Anblick, doch seine Gefühle waren in den Wochen im Labyrinth so abgestumpft, dass er das Gefühl nicht zu deuten vermochte.
    Der Eisgolem indes war auf die Größe einer Fleischwanze geschrumpft. Immer noch wütend tapste er auf Gaan zu. Gaan zertrat ihn einfach auf dem noblen Teppich. Außer Eisstaub blieb nichts von dem Wächter in dieser Welt zurück.
    Das Labyrinth war endlich Geschichte, doch die Anspannung fiel nicht von ihm ab. Er hatte so lange ohne Unterlass gegen die Rätsel gekämpft, dass er sich nicht vorstellen konnte, jetzt eine Pause einzulegen. Elm und der Veranstalter waren noch lange nicht besiegt. Und ehe sie besiegt waren, würde gar nichts enden.
    Gaan bemerkt den Angriff spät. Er zog seinen Arm gerade noch rechtzeitig vor seinen Bauch. Das Messer prallte an seinem Aquamarinring ab und ging knapp ins Leere. Mechanisch entwand er Yves sein zweites Messer und richtete es gegen ihn.
    „In dem Labyrinth hat Vieles versucht, mich zu töten“, erklärte er seinem Konkurrenten. „Und nichts hat es geschafft.“
    Yves wich vor seiner eigenen Klinge bis an das Bücherregal zurück. Dann brach er in Tränen aus und erzählte unzusammenhängend von der Kräuterhexe Sagitta, ihrem Plan, den Wettbewerb zu stoppen, und dass er bald sterben würde.
    Gaan sah ausdruckslos zu, wie Yves sich auf dem Teppich in seinen Heulkrämpfen krümmte. „Dann lass uns doch zusammen arbeiten.“
    Yves‘ Heulen stoppte augenblicklich. Unsicher blinzelte er zu Gaan auf, der immer noch sein Messer in der Hand hielt.
    „Was?“
    „Womöglich haben Sagitta und ich dasselbe Ziel, verstehst du?“
    Yves starrte ihn ungläubig an, dann folgten Tränen der Erleichterung auf die der Verzweiflung.

    Als sie das Turmzimmer des bröckelnden Turms verließen, galt Gaans Blick Grimbald, der trotz des Ablebens des Wächters immer noch vereist war. Da Feuer gegen den Wächter nichts ausgerichtet hatte, war Gaan sich sicher, dass es auch bei Grimbald nichts bringen würde.
    „Ich komme wieder und rette dich, alter Freund.“

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    Sapere aude  Avatar von Jünger des Xardas
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    Jünger des Xardas ist offline
    Buster musste nur den Spuren des Kampfes folgen.
    Erst war er aus dem Portal getreten. Stunden offenbar, nachdem er auf der anderen Seite hineingegangen war. Er hatte sich bald auf einem von Ruinen umgebenen Platz wiedergefunden, auf dem die Wassermagier offenbar ihr Lager aufgeschlagen hatten. Wo dieses Lager gewesen war, war jetzt Chaos. Zerbrochene Kisten und Fässer, umgekippte Stühle und Tische, ein Alchemietisch, der umgestoßen worden war und vor dem auf dem Boden noch immer eine in bunten Farben schillernde Pfütze aus wer weiß was für Substanzen blubberte. Dazwischen lagen die Leichen. Banditen, soweit er das überblicken konnte. Von Zaubern und Klingen dahingerafft.
    Die Wassermagier selber schienen noch ihre Wunden zu lecken und zugleich hitzige Debatten zu führen, was jetzt zu tun war. Bei ihnen fand Buster Cord wieder. Kurz erregte er etwas Aufsehen, aber nachdem der andere Söldner erzählt hatte, wer er war und was er hier trieb, fingen die Wassermagier schon wieder das Diskutieren an. Cord wies ihn an, zu warten und nichts anzufassen. Dar sei noch nicht aus dem Portal gekommen.
    Aber konnten sie da denn sicher sein? Als Dar hindurchgegangen war, hatte der Kampf vielleicht noch getobt. In dem Tumult war er vielleicht gar nicht aufgefallen. Buster war sicherheitshalber noch mal den Platz abgeschritten und hatte die Leichen genauer gemustert. Aber nein, Dar war nicht unter ihnen, wie er erleichtert feststellte. Doch wo war er? Cord hatte zwar erwähnt, dass es Verzögerungen geben konnte, wenn jemand das Portal durchquerte, aber mit jeder Minute, die verstrich, stieg in Buster die Gewissheit, dass sein Kumpel schon irgendwo hier in diesem Tal war und dass er ihn suchen musste.
    Doch ehe er sich auf den Weg machte, war die Debatte der Wassermagier plötzlich zu einem Ende gekommen und sie hatten eine Entscheidung getroffen. Zu fünft traten sie aus dem Gebäude, in dem sie sich beraten hatten. Cord folgte ihnen nach. Buster hastete sofort zu ihm hinüber. „Was passiert jetzt?“, zischte er, während die Magier auf fünf kreisrunde Plattformen zuschritten, die die Mitte des großen Platzes einnahmen.
    „Wir dringen ins Lager der Banditen ein“, antwortete Cord ihm mit eisiger Miene.
    „Was?!“
    Der Söldner brummte unwillig. „Diese dämlichen Piraten sind Hals über Kopf losgerannt, um die Banditen anzugreifen. Aber das ist ein Himmelfahrtskommando. Erst müssen sie sich durch den halben Sumpf kämpfen, um das Banditenlager überhaupt zu erreichen. Und das ist eine verdammte Festung. Da saßen mal die Krieger dieser Ruinenstadt. Der Eingang ist gut zu verteidigen, zumal mit der Magie, die die Banditen wer weiß woher haben.“
    „Und ihr wollt jetzt auch da rein rennen?“, fragte Buster, während sich vor ihm die Wassermagier an der nordöstlichen der kreisförmig angeordneten Plattformen zu schaffen machten.
    „Wir können nicht einfach hier sitzenbleiben, während die Piraten vielleicht in ihren Tod laufen“, wandte sich nun Riordian an ihn, derjenige Magier, der beim vorigen Angriff am schwersten verletzt worden war und der nun einen Arm in einer Schlinge trug. „Aber wir wollen kein Blutbad. Meine Brüder werden direkt in das Lager der Banditen eindringen, während die Piraten den Eingang zu stürmen versuchen. Hinter dem Rücken der Banditen, will ich damit sagen. Mit diesem Teleporter. Und hoffentlich können sie mit ihrer Magie dem Kämpfen Einhalt gebieten. Und falls nicht, dann können sie sich noch ebenso schnell zurückziehen, wie sie gekommen sind. Vielleicht wird schon ein kurzer Blick ins Banditenlager ausreichen, um mehr über die Geschehnisse dort in Erfahrung zu bringen.“
    Wie zur Unterstreichung von Riordians Worten leuchtete blaues Licht über der Plattform auf. Cord bestand gegenüber Saturas energisch darauf, als erster zu gehen, und trat denn auch auf den Teleporter. Sofort war er in einem Gewirr blauer Funken verschwunden. Die Wassermagier, abzüglich des verletzten Riordian, zögerten nicht lange und folgten ihm.
    Buster biss sich auf die Lippe. Was sollte er nur tun? Hierbleiben? Aber ganz geheuer war ihm dieser fremde Ort nicht, der eben erst mit schwarzer Magie angegriffen worden war. Riordian blieb sicherlich nicht umsonst zurück. Mit seiner Verletzung würde er wahrscheinlich keine große Hilfe sein, falls Gefahr drohte. Andererseits konnte Buster im Banditenlager mitten in ein Kampfgetümmel hineingeraten. Zugleich aber auch zog es ihn dort hin. Dar war vielleicht eben dort. Und mehr noch: Was sie suchten, war vielleicht eben dort! Denn das alles musste doch einfach mit dem Wettbewerb zu tun haben!
    Buster tat einen beherzten Schritt, ohne auf Riordians Zuruf zu hören. Blaue Funken tanzten an seinem Körper hinauf und schmiegten sich an ihn. Dann plötzlich fand er sich auf einem anderen Platz wieder, der von steilen Felswänden umschlossen wurde. Vor ihm ragte an einer derselben ein kolossaler Tempel auf, zu dessen Eingang lange Steintreppen hinaufführten. Doch seine Aufmerksamkeit wurde sofort von dem Lärm eingenommen, der von der Seite her an sein Ohr drang. Dort führte eine lange Treppe hinab auf einen tiefer gelegenen Platz, an dessen anderem Ende wohl eine Felsspalte aus dem Talkessel hinausführte. Dort schienen sich die meisten der Banditen zu tummeln. Und von dort schienen die Piraten anzudrängen. Buster konnte von hier oben nur ein wildes Gewimmel ausmachen, aber deutlich hörte er den Kampfeslärm und immer wieder sah er Zauber aufblitzen.
    Die Wassermagier eilten bereits mit wallenden Roben die Stufen hinab, um in den Kampf einzugreifen. Er sah Saturas die Arme gen Himmel strecken, wo sich augenblicklich dunkle Wolken zusammenzogen und es bedrohlich zu donnern begann, hörte ihn noch rufen: „Genug! Haltet ein, ihr Narren!“
    Doch da lenkte ihn wieder ein neues Geräusch ab. Jemand rief nach ihm: „Hey, hier drüben!“
    Ein großer Käfig mit hölzernen Gitterstäben und Strohdach stand am Rande des Platzes. Und jemand stand darin und hatte nun die Gitterstäbe umklammert, während er nach Buster rief. Zögernd kam dieser näher. Er brauchte einen Augenblick, um den Mann im Käfig zu erkennen, denn er wirkte abgemergelt und ihm fehlte die charakteristische silberne Rüstung. Aber dann riss Buster mit einem Mal die Augen auf, als ihm klar wurde, wen er da vor sich hatte. „Thorus!“
    „Ja verdammt! Was geht hier vor sich?“
    „Äh, wir greifen das Lager an. Also die Piraten greifen an. Und die Wassermagier sind gekommen, um zu helfen. Und ich...“ Er brach ab. Was genau seine Rolle in diesem Chaos war, wusste er selbst nicht. Er konnte Thorus schlecht nach Dar fragen. Was das anging, würde er ihm sicher nicht weiterhelfen können.
    „Diese Idioten. Sie müssen sofort von hier verschwinden!“
    „Was ist denn hier los?“, fragte Buster, noch immer verdutzt. Er war nun ganz nah an den Käfig herangetreten.
    Plötzlich schoss Thorus‘ Hand nach vorne und packte Dar am Kragen. „Die sind hier alle übergeschnappt, das ist los! Haben mich als Anführer abgesetzt und hier eingesperrt. Und deine Freunde werden gleich ihr blaues Wunder erleben, wenn wir nichts unternehmen!“
    „Aber wie...“
    „Es fing alles damit an, dass ich mich auf diesen bescheuerten Handel mit den Leuten von diesem Wettbewerb eingelassen habe. Und als sie dann anfingen, die Musik im Tempel zu spielen, ging hier alles den Bach runter. Schnell, jetzt hol mich endlich hier raus“, setzte Thorus hinzu und schüttelte Buster, der nicht ganz wusste, wie er der Aufforderung nachkommen sollte, während er so festgehalten wurde. „Ich sage doch: Deinen Freunden geht’s sonst gleich an den Kragen.“

    Dar hatte schon viele Mittel genommen im Laufe seines Lebens. Sumpfkraut natürlich. In allen Variationen, die zu haben waren. Er hatte mehr Schwarze Rhobar geraucht, als er zählen konnte. Aber auch Traumruf und Grünen Novizen hatte er mehrfach genossen, den Schwarzen Weisen nicht zu vergessen. Er hatte Apfeltabak von den Südlichen Inseln geraucht, doch das war nicht so seins. Umso intensiver war dafür die Erfahrung mit dem Krauttabak gewesen. Dämonenpilze hatte er auch mal ausprobiert. Sogar Minecrawlersekret und Blutfliegengift waren ihm nicht fremd.
    Aber das hier war eindeutig der beste Trip seines Lebens.
    Er konnte nicht sagen, ob Sekunden vergangen waren oder viele Jahre. Er wusste nur, dass er zu schweben schien. Um ihn her waberte eine silberne Flüssigkeit oder vielleicht auch ein Nebel. Es war schwer zu bestimmen. Die Substanz war allgegenwärtig und doch spürte er sie nicht auf seiner Haut. Vielmehr spürte er einen stetigen Luftzug. Doch dieser war nicht unangenehm, vielmehr fühlte er sich wie in einer erfrischenden Brise.
    Wieder und wieder blitzten Bilder auf in dem silbernen Meer um ihn her. Er sah Menschen, die an ihm vorbeischwebten. Manche in dieselbe Richtung, in die eine unsichtbare Macht auch ihn zu ziehen schienen, andere in die entgegengesetzte. Die Menschen trugen seltsame Kleidung, wie er sie noch nie gesehen hatte. Doch. Doch, das hatte er, die Kleidung erinnerte ihn an die Bilder, die die Wände der Ruine schmückten, in der er eben – oder vor Jahrhunderten? – das Portal betreten hatte.
    Ehrwürdige Priester schritten an ihm vorbei und gemeine Menschen, die Käfige mit Hühnern trugen oder Ochsen und Schafe an ihm vorbei führten. Sklaven kreuzten seinen Weg, Menschen und auch Orks, die man in Fesseln geschlagen hatte. Ein Heer schwebte an ihm vorbei, an seiner Spitze ein stolzer Feldherr in einem Schuppenpanzer, der wie ein Federkleid gearbeitet war. Und noch ehe es außer Sicht war, kam aus der anderen Richtung ein zweites, nein dasselbe Heer, kleiner, aber stolz, an seiner Spitze derselbe Feldherr, nur älter, das Gesicht von harten Kämpfen gezeichnet, ein Schwert an seiner Hüfte. Und dieses Schwert... das Silber um ihn her färbte sich schwarz, graue Wolken schienen sich zusammenzuziehen, dann wieder war alles ruhig und friedlich.
    Dar riss die Augen auf, als er mit einem Mal sechs Männer in den Roben der Wassermagier an sich vorbeischreiten sah. Er blinzelte, doch schon waren sie verschwunden. Dafür kam ein Zug von Menschen aus der Gegenrichtung. Verzweifelt sahen sie aus, abgekämpft, wie vor etwas Schrecklichem fliehend.
    „Hey!“, hörte Dar sich diese Menschen anrufen. „Wer seid ihr? Was geht’n hier ab?“
    „Wir sind die Heiler“, sprach ein Mann, während er unbeirrt an Dars Linker vorbeiglitt.
    „Wir sind die letzte der fünf Kasten“, ergänzte eine Frau, die Dar auf seiner anderen Seite passierte. Er drehte sich nach ihr um, doch sie schritt einfach weiter. Und als er wieder nach links blickte, war auch der Mann verschwunden.
    Dar richtete seinen Blick wieder geradeaus. Doch da... kam derselbe Mann noch einmal auf ihn zu. Und plötzlich wurde für einen Moment wieder alles finster um ihn her. „Sie bringen das Ende“, sagte er Mann, „sie bringen Beliars Fluch.“ Dar folgte mit den Augen dem ausgestreckten Finger der Gestalt, die in die Quelle der Dunkelheit wies. Und da war schon wieder das heimkehrende Heer, schon wieder trug der Feldherr an seiner Spitze ein dunkles Schwert bei sich. Doch dann kehrte die Helligkeit zurück, das Heer hatte ihn passiert. Und der Mann, der Heiler, auch er war fort, an ihm vorbeigeschritten in die andere Richtung.
    Dar schüttelte sich. Was war hier nur los? Hatte er etwa das Schwarze Erz schon in die Finger bekommen und probiert? Aber nein, so high wurde man nicht einmal von Schwarzem Erz.
    Immer weiter zog es ihn nach vorne. Es war schwierig, von einem Vorne zu reden, denn wohin er blickte war nur dasselbe silberne Wabern. Und doch fühlte er sich wie in einem Tunnel. Und da war der stete Zug von Gestalten, der entweder in dieselbe oder in die Gegenrichtung schritt. Einmal glaubte er sogar, Buster zu sehen, und rief nach ihm, doch sein Kumpel war in Windeseile an ihm vorbeigeschossen. Vielleicht war er es ja auch gar nicht gewesen. Einen Moment wollte er ihm nach. Doch dann hielt er inne. Sollte er wirklich einfach diesem stillen Impuls folgen, der ihn immer weiter vorwärts trieb? Vielleicht sollte er lieber umkehren und zurückgehen, vielleicht war ein Ausgang, wo er herkam? Vor oder zurück?
    Er wandte sich nach links und trat zur Seite, hinaus aus dem Strom der in entgegengesetzte Richtungen strebenden Gestalten. Und fiel in einen endlosen Abgrund.
    „Das ist lange nicht vorgekommen.“
    Dar riss den Kopf umher. Doch da war niemand. Er war allein und fiel und fiel und fiel.
    „Du bist nicht wie die meisten, die das Portal durchschreiten.“
    „Wer bist du?!“, rief Dar in das silbrige Nichts hinein, das ihn umgab. „Was passiert hier!?“
    „Ich bin Chochmar, oberster der Gelehrten von Jharkendar.“ Und mit einem Mal war da ein alter Mann mit langem wallenden Bart in einer weiten Robe, der gemächlich, die Hände auf dem Rücken in die Ärmel geschoben, an ihm vorbeizuspazieren schien. Dar fiel und dieser Mann ging, ging einfach durch das Nichts!
    „Ich falle!“, keuchte Dar.
    „Hm, ja, das tust du. Vielleicht solltest du damit aufhören?“
    Dar glotzte den Mann blöde an, während er verzweifelt mit Armen und Beinen durch die Luft ruderte. Dann sammelte er sich und setzte die Füße auf dem Boden ab. Dem Boden, der nicht da war, wie er sich selbst erinnerte. Und doch stand er plötzlich. Und der alte Mann stand neben ihm.
    „Für gewöhnlich schreiten die Leute durch das Portal“, erklärte dieser nun, während er Dar mit verhaltener Neugierde musterte, „viele schnell, manche brauchen länger. Aber die wenigsten nehmen ihren Weg wahr wie du. Und noch weniger verlassen ihn und beschreiten andere Pfade. Du scheinst einen besonderen Geist zu haben.“
    „Ich...“ Dar räusperte sich. Seine Stimme war kratzig. „Ich habe viel Sumpfkraut geraucht. Ich hab’s den Jungs immer gesagt. Das erweitert deinen Geist! Hab ich ihnen allen gesagt.“
    Sein Gegenüber schmunzelte.
    „Äh...“ Dar sah sich um. „Wo sind wir hier?“
    „Wo?“ Der alte Mann strich sich versonnen durch den Bart. „Ich bin nicht sicher, dass ich diese Frage beantworten kann. Wo, das bezeichnet einen Punkt im Raum, nicht wahr? So wie Wann einen Punkt in der Zeit. Ich würde nicht nach dem Wo oder Wann fragen, nicht an diesem Ort.“
    „Äh, wir sind... außerhalb von Raum und Zeit?“ Das war ein Gefühl, mit dem Dar schon einige Erfahrungen gemacht hatte. Das hier fühlte sich aber anders an.
    „Sind wir das?“ Der Gelehrte, so hatte er sich genannt, schien nachzugrübeln. „Ja und nein. Wir haben noch immer unsere Körper. Und ein Wort folgt noch immer auf das andere. Also scheinen Raum und Zeit durchaus noch für uns zu existieren. Und könnte es anders sein? Sind nicht Raum und Zeit Bedingungen der Möglichkeit eines Bewusstseins? Ist es nicht so, dass kein Mensch jemals jenseits von Raum und Zeit sein kann, ohne aufzuhören, Mensch zu sein und Bewusstsein zu haben?“ Der Mann schien mehr zu sich selbst zu sprechen und lächelte, als er Dars verwirrte Miene sah. „Verzeih. Sagen wir, du bist durch ein Portal geschritten, das wir erbaut haben und benutzen, aber selber – meine Brüder von der Kaste der Priester würden dies vielleicht anders sehen, aber wir müssen uns dies doch eingesehen – das wir selber nicht verstehen.“
    „Äh, ihr habt das Portal erbaut? Und die Ruinen?“
    „Ruinen, hm? Du scheinst mir aus einer fernen Zeit zu stammen. Aber ja, mein Volk, das Volk von Jharkendar hat dieses Portal erbaut. Es lässt uns über eine große Distanz reisen. Doch es hat seine eigenen Gesetze. Innerhalb des Portals... die Zeit vergeht hier anders. Alle, die das Portal je betreten haben und betreten werden, durchschreiten es zugleich. Du kannst hier Menschen treffen, die das Portal betraten und wieder verließen, lange bevor du geboren wurdest.“
    „So wie dich!“, ging es Dar auf. Aber dann hielt er inne. „Aber du gehst nicht hindurch. Du hast auch den Weg verlassen. So wie ich.“
    „Ja, das tue ich zuweil. Ich halte mich gerne hier auf. Ein hoch interessanter Ort, findest du nicht? Und ich treffe hier die interessantesten Personen. Aus allen Zeiten. Aber“ – mit einem Mal wurde das Gesicht des Gelehrten ernster – „etwas ist anders diesmal.“
    „Anders?“, fragte Dar, der noch immer Schwierigkeiten hatte, all dies zu erfassen.
    „Die Magie des Portals. Sie ist nicht mehr auf das Portal beschränkt. Sie dringt nach draußen. Sag, ist dir in deiner Zeit kürzlich etwas Seltsames aufgefallen? Oder besser an deiner Zeit, sollte ich sagen?“
    „Hm.“ Dar kratzte sich am Kopf. „Jetzt wo du’s sagst, die Zeit schien so langsam zu vergehen. Der Tag kam mir viel länger vor zuletzt. Aber na ja“, er zuckte mit den Schultern, „mein Zeitgefühl ist eh im Arsch, weißte? So was macht das Sumpfkraut mit dir.“
    „Oh ich glaube keineswegs, dass dies irgendetwas mit dir oder deinem Kraut zu tun hat.“ Der andere hatte die Stirn besorgt in Falten gelegt. „Die Magie des Portals tut ihre Wirkung langsam auch außerhalb. Und was du da erwähnst, könnte erst der Anfang sein.“
    „Ob das was mit dem Wettbewerb zu tun hat?“, überlegte Dar laut.
    Der andere wurde hellhörig und hakte nach. Dar erzählte ihm alles. Darauf schweig der Gelehrte kurz, bevor er mit einem ernsten Ausdruck aufsah: „Höre, denn was ich dir nun sage, ist wichtig. Es scheint, dass sich die Prophezeiung in deinen Tagen erfüllt.“
    „Prophe-was?“, stammelte Dar.
    „In meinen Tagen“, fuhr der Alte unbeirrt fort, „wurde dasselbe versucht, das sich nun in deiner Zeit wiederholt. Unser Kriegerfürst Rhademes, verleitet von einem dunklen Artefakt, forderte einen Wettkampf zwischen unseren fünf Kasten, die bis dahin in Eintracht gelebt hatten. Am Ende...“ Ein Seufzen entrang sich der Brust des Gelehrten, der mit einem Mal noch um vieles älter wirkte. „Am Ende stürzte er unsere Stadt in einen Bürgerkrieg. Zugleich provozierte er einen Krieg mit den Orks im Süden.“
    „Was passierte dann?“, fragte Dar gespannt.
    Sein Gesprächspartner lächelte bitter. „Was dann passierte, das ist für mich noch nicht passiert. Da in deiner Zeit nicht alles vom Chaos verschlungen wurde, scheint Rhademes gescheitert zu sein. Da du von Ruinen sprichst, hat mein Volk wohl dennoch den Untergang gefunden. Aber“, schnitt er Dar, der etwas sagen wollte, das Wort ab, „dies ist meine Sorge und meine Bürde. Wichtig ist nun deine eigene Zeit. Es klingt, als wollte jemand noch einmal versuchen, was schon Rhademes versuchte. Ganz so, wie es vorhergesagt wurde. Am Ende könnte er genauso scheitern und dabei alles zugrunderichten. Oder es könnte Schlimmeres geschehen. Darum merke dir meine Worte: Beliar ist nicht der einzige Gott, von dem dir und deinem Volk heute Gefahr droht. Das Gleichgewicht muss wieder hergestellt werden. Das ist Adanos‘ Wille. Und es gibt etwas, das du hier im Portal tun kannst. Tun musst, bevor seine ganze Magie nach draußen dringt. Und dass vielleicht nur du mit deinem Geist bewerkstelligen kannst...“

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    „Keine Bewegung, oder dein Freund hier ist Geschichte.“
    Es waren leise, aber deutliche Worte, die an Salvadores Ohren drangen, und sie waren schnell gekommen, noch bevor ihm das glitzernde Leuchten des nachlassenden Teleportzaubers den Blick auf die Situation freigegeben hatte. Nun sah er Elm, der auf einem Stuhl saß, aber er war es nicht, der gesprochen hatte.
    „Ich fürchte, er meint es ernst.“ Jetzt war es doch Elm, der gesprochen hatte. Salvadore hatte den Magier noch nie so hilflos erlebt. Er saß gefesselt auf dem Stuhl, sogar die Hände hatte man ihm eingeschnürt, offenbar bewusst und wohlweislich, um jede noch so kleine Geste des Magiers zu unterbinden. Da hatte jemand fachmännische Arbeit geleistet und verstand offenbar auch etwas von Magie.
    „Tu, was er sagt“, setzte Elm nun hörbar nervös nach.
    Erst jetzt fiel Salvadores Blick auf die Gestalt neben Elm. Salvadores Augen weiteten sich, denn er erkannte den Mann sofort wieder. Er stand aufrecht neben Elm, vor einem umgekippten Hocker, auf dem er wenige Augenblicke zuvor noch gesessen haben musste, und hielt eine Hand konsequent auf der bewegungslosen Schulter des Magiers, während er in der anderen Hand eine kurze Klinge führte, die er nun bedrohlich weit in die dünne Haut am Halse Elms hineindrückte.
    Sein Name war Amagon. Salvadore tadelte sich innerlich, dass er sich zu gegebener Zeit nicht auf seine Aufgabe besonnen und sich nicht konsequenter an die Fersen dieses Hünen geheftet hatte. Ausschalten hätte er ihn sollen, ohne Kompromisse, vielleicht sogar über den Willen Evadams hinweg. Es wäre das Beste für Alle gewesen. Aber er hatte es nicht getan, hatte diesen Mann zu lange gewähren lassen. Und nun stand einiges auf dem Spiel, möglicherweise nicht nur das Leben Elms.
    Einen Moment lang dachte Salvadore daran, einfach voranzustürmen, den Hünen durch das schiere Überraschungsmoment zumindest kurzzeitig zu Fall zu bringen, um dann Elms Hände zu lösen oder selbst einen der Zauber, die Elm ihm als Spruchrollen überlassen hatte, zu wirken. Aber nicht zuletzt der Blick des Magiers hinderte ihn daran. Elm schien aufgegeben zu haben, und das hieß schon was. Wie eine Finte sah seine Passivität jedenfalls nicht aus. Oder aber es war ein sehr überzeugendes Schauspiel, die Finte aller Finten.
    Salvadore streckte die Arme leicht von seinem Körper weg und präsentierte die leeren Handflächen, achtete darauf, dies nicht missverständlich als Geste eines Zauberwirkers erscheinen zu lassen.
    „Ich werde nichts tun, was irgendwem hier schaden könnte.“ Zumindest, solange sich nicht die Gelegenheit dazu ergeben würde, fügte er in Gedanken hinzu.
    „Bleib am Höhleneingang stehen“, knurrte der Hüne. „Und beweg dich nicht einen Fingerbreit von deiner Position weg.“
    „Verstanden“, sagte Salvadore und nickte. Arme und Hände ließ er wieder sinken. Er ging noch einmal in Gedanken seine Spruchrollen durch. Ein paar davon hatte er noch dabei, aber es waren nur zwei oder drei Stück, und sie befanden sich in der Innentasche seines schwarzen Gewandes, unerreichbar, wenn er auffällige Bewegungen vermeiden wollte. Und zu allem Überdruss war er sich ziemlich sicher, dass mindestens eine von ihnen ein schnöder Lichtzauber war. Er hatte wirklich keine Chance mehr. Die Chancen, den Hünen kaltzustellen oder ihn zumindest aus diesem Wettbewerb zu kegeln, es hatte sie gegeben, aber sie waren alle längst vergangen und Salvadore hatte sie verpasst.
    „Ich habe keine weiteren Geschäfte mit dir zu machen, zumindest soweit ich weiß, und deshalb werde ich dich gehen lassen, wenn du dich kooperativ verhältst“, fuhr der Hüne nun fort. Sein Blick war streng, fast wahnsinnig, aber seine Stimme war ruhig, und seine Klingenhand war geradezu starr, zitterte keinen Millimeter. Das war gut, vor allem für Elm.
    „Da dein Freund hier allerdings nicht besonders gesprächig war – ich bin keiner dieser Menschen, die dabei nachhelfen –, erwarte ich zumindest von dir ein paar Antworten.“
    Salvadore sagte dazu nichts und tat nichts, nickte nicht und schüttelte nicht den Kopf. Es machte doch alles keinen Unterschied.
    „Die Schwarzmagier von Xhan“, fuhr der Hüne unvermittelt fort. „Der Schwarzmagier, um genau zu sein. Es befindet sich einer von ihnen irgendwo auf dieser Insel, das weiß ich. Und ich glaube nicht, dass euch das entgangen ist. Was wisst ihr über ihn?“
    Salvadore traute sich in diesem Moment nicht einmal mit der Wimper zu zucken, er unterdrückte den Impuls mit aller Schärfe. Der Hüne wusste mehr als er angenommen hatte. Und wahrscheinlich war er, nicht nur deshalb, auch viel gefährlicher als sie bisher geglaubt hatten. Indes: Eine gefährliche Waffe bot immer auch das Potential, dass man sie irgendwann zu den eigenen Gunsten einsetzen konnte, wenn man es nur richtig anstellte.
    „Wir haben mit dem Schwarzmagier nichts zu schaffen“, erklärte er schnell, denn er wollte nicht riskieren, seinen Gesprächspartner unnötig zu reizen. Der Hüne wirkte zwar nicht gerade wie ein ungeduldiger Mensch, aber bei solchen Leuten – speziell Wettbewerbsteilnehmern – wusste man nie.
    „Das hat dein Kollege hier auch schon gesagt“, erwiderte Amagon unbeeindruckt. „Und viel mehr war zu diesem Thema nicht aus ihm herauszukriegen. Zu anderen Themen übrigens auch nicht.“
    „Aber es stimmt!“ Salvadore entschied, nun mit offenen Karten zu spielen. „Ganz im Gegenteil ist es so, dass wir ihn als Bedrohung ansehen. Wahrscheinlich ebenso, wie Ihr es tut.“
    Salvadore machte eine Pause, aber der Hüne sagte darauf nichts, schien zu überlegen. Offenbar prüfte er seine Worte sorgfältig auf eine Lüge.
    „Gerade wegen dem Schwarzmagier bin ich überhaupt hier. Ich habe das Gefühl … dass er versucht hat, in meinen Geist einzudringen. Und ich kann nicht ausschließen, dass er die Schwelle dazu nicht sogar schon für einen kurzen Moment überschritten hatte. Elm aber hat ein Gegenmittel entwickelt, es sind Tränke, sie schaffen eine Barriere um den Geist und verhindern, dass man von derartigen schwarzmagischen Zaubern kontrolliert werden kann. Es ist offensichtlich, dass Ihr magiekundig seid. Ich kann Euch einen dieser Tränke zeigen, und Ihr werdet sehen, dass ich die Wahrheit sage.“
    Noch bevor Salvadore geendet hatte, hatte er den scharfen Blick Elms aufgefangen. Er hatte ihm selbst gegolten, aber es war zu spät gewesen, um die Erklärung abzubrechen. Der Magier schien mit Salvadores Gesprächsverhalten nicht zufrieden zu sein. Salvadore wusste das in dieser Situation allerdings nicht recht zu deuten: War Elm der Meinung, dass er zu viel verraten hatte, oder warum missbilligte er seine Worte so? Und was hätte er in dieser Situation denn anderes sagen sollen?
    Elm senkte den Blick irgendwann wieder, und der Hüne schwieg. Eine ganze Zeit lang. Salvadore wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, tendierte eher zu letzterem, aber dann sprach der Hüne doch wieder.
    „Es wird nicht nötig sein, dass man mir die Tränke zeigt.“
    Nun schien Elm doch noch etwas sagen zu wollen, aber er schloss den Mund wieder. Der Magier schien in den letzten Minuten noch nervöser geworden zu sein, aber Salvadore konnte das nur zu gut nachvollziehen. Sie hatten alle nicht damit gerechnet, dass ein Wettbewerbsteilnehmer mal sie, die Veranstalter, in der Hand haben würde. Geplant war es immer nur andersherum gewesen.
    „Und es wird auf absehbare Zeit auch nicht nötig sein, dass du einen dieser Tränke nimmst.“
    Salvadore schluckte, wollte sich aber nicht eingeschüchtert geben.
    „Soll das eine Drohung sein?“
    „Nein. Eher ein Angebot. Du hast immerhin gerade gesagt, dass wir beide …“ – sein Blick ging kurz wieder zu Elm herüber, aber der Magier hielt die Augen konsequent gesenkt – „ … wir alle den Schwarzmagier als Bedrohung sehen. Zumindest will ich das mal hoffen.“
    „Und weiter?“
    „Wenn der Schwarzmagier einmal versucht hat, in deinen Geist einzudringen, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass er das auch ein zweites Mal versuchen wird. Aber dieses Mal bin ich dabei, und ich werde merken, wenn es so weit sein wird. Und dann kommt der Kerl nicht mehr so einfach davon. Wenn du deinen Freund Elm hier fragst, wird er dir bestätigen können, dass ich Mittel und Wege kenne, um Magier festzusetzen. Und ich kenne auch Techniken, um den Geist eines Magiers, der in fremden Körpern und Gedanken auf Wanderschaft geht, einzufangen – und im Gegensatz zu anderem Hokuspokus funktionieren diese Techniken. Du wärst der ideale Lockvogel, ein Köder. Aber du müsstest mitspielen.“
    Salvadore suchte noch einmal ganz gezielt den Blick Elms, aber der Magier wirkte wie weggetreten. Jetzt musste Salvadore wohl alleine entscheiden. Das, was ihm der Hüne da erzählt hatte, wirkte unglaublich, aber dieser Mann schien kein Lügner zu sein. Es wirkte noch dazu allerdings unglaublich gefährlich. Andererseits, und diesen Gedanken konnte Salvadore einfach nicht verhehlen: Nachdem er im Gespräch mit Evadam schon gehörig spekuliert und sogar riskiert hatte, von diesem als ein nicht tolerierbares Sicherheitsrisiko angesehen und liquidiert zu werden – wie gefährlich konnte da ein Pakt mit einem Fremden schon noch sein?

    Riordian schreckte auf, als er ein Rasseln aus der Ferne hörte, zumal er gerade passenderweise eine Passage aus der alten Sprache zu übersetzen versuchte, die von einem Krieg des alten Volks von Jharkendar gegen ein anderes Volk handelte, deren beschriebene Merkmale verdächtig gut auf die Orks passten – wenn er den Text denn richtig übersetzte, denn dazu musste er Myxir nach dessen Rückkehr noch befragen. Riordian legte Steintafeln und sein Schreibzeug zur Seite, rückte seinen Arm in der Schlinge zurecht und verließ sein Kabuff. Er war dabei nun doch recht entspannt, denn er fürchtete zwar durchaus aber einen weiteren Angriff der Banditen, aber er wusste aus Erfahrung auch: Banditen rasselten nicht. Vielleicht war ja sogar der Söldner wieder zurückgekehrt, der den anderen unvorsichtigerweise in den Teleporter gefolgt war. Wobei – der hatte auch nicht gerasselt.
    Nachdem sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte Riordian, dass ihn seine Sinne nicht getäuscht hatten. Was dort rasselte, oder eher schepperte, war eine Rüstung, und überraschenderweise war es die eines Paladins. Der Streiter Innos’ musste gerade aus den Portalruinen gekommen sein, und jetzt hatte er ihn auch schon gesehen, kümmerte sich aber offenbar gar nicht um ihn, selbst, als Riordian mit seinem unversehrten Arm winkte. Erst, als er zu ihm herüberrief, blieb er stehen. Der Paladin wirkte dabei ein wenig unsicher, was Riordian, bei allem Respekt, doch sehr untypisch für die meist eher hochnäsig daherkommenden Innosritter vorkam. Aber man sollte ja schließlich nicht alle Menschen über einen Kamm scheren, vielleicht war dieser Mann hier eine angenehme Ausnahme vom Grundsatz.
    Es dauerte eine Weile, bis Riordian ihn erreicht hatte.
    „Innos zum Gruße“, sagte er aus Höflichkeit, auch wenn das seinem Glauben nicht wirklich entsprach. „Was macht ein Paladin wie du hier in Jharkendar?“
    „Lord Hagen schickt mich“, sagte der Paladin etwas steif, und hier entsprach er nach Riordians Dafürhalten dann doch wieder dem Stereotyp eines Gotteskriegers. „Ich soll mir die Sache im Sumpf aus nächster Nähe ansehen.“
    „Ah, dann hat Myxir es also geschafft“, bemerkte Riordian zufrieden. „Ich gehe recht in der Annahme, dass er es war, der dir und den anderen vom Überfall der Banditen berichtet hat?“
    „Genau“, bestätigte der Paladin. „Und Lord Hagen meinte daraufhin, es wäre gut, wenn einer von uns zur Stelle wäre. Und da hat er mich geschickt.“
    „Und du bist …?“
    „Ein Paladin.“
    Riordian musste kurz lachen, und er gestand sich ein, dass das in dieser tristen Gesamtlage, in der sie sich alle, ja in der sich wohl die ganze Insel befand, ganz gut tat. „Nein, ich meinte deinen Namen.“
    „Cedric“, kam es mit ein bisschen Verzögerung.
    „Mein Name ist Riordian“, komplettierte der Wassermagier die Vorstellung. „Nun, ich kann dir sagen, dass meine Brüder zusammen mit einem … nein, zwei Söldnern bereits in den Sumpf gereist sind, nachdem die Piraten – unvorsichtigerweise, wie ich meine – einen Ansturm auf das Banditenlager losgebrochen haben. Sie haben eine Teleportplattform genutzt, sozusagen um das Feld von hinten aufzurollen und Schlimmeres zu verhindern.“
    „Sie haben eine Teleportplattform benutzt?“, fragte der Paladin nur.
    Riordian nickte und wies mit dem freien Arm zu den ringförmig angeordneten Steinplattformen. „Die da drüben. Wir haben sie extra dafür aktiviert.“
    „Danke“, sagte der Paladin und marschierte scheppernd los.
    Riordian wusste erst gar nicht, wie ihm geschah, verstand dann aber, dass der Paladin offenbar gedachte, die Plattform nun ebenfalls zu benutzen.
    „Tu nichts Unüberlegtes!“, rief Riordian, der kaum mit dem Paladin Schritt halten konnte. „Die Schlacht im Sumpflager wird längst im vollen Gange sein! Ein überstürztes Vorgehen könnte gefährlich …“
    Und dann war der Paladin auch schon im eigentümlich blauen Funkeln der Teleportationsmagie verschwunden. Riordian seufzte. Er hatte viele Talente, das gab er ganz unbescheiden zu. Aber Leute davon abzuhalten, unbedacht in Teleporter zu treten, gehörte offenbar nicht dazu.

    „Sie ist weg.“
    Adarich Evadam sprach die Worte laut aus, die ihm durch den Kopf schossen, als er in die goldene Schatulle blickte, die er gerade erst so mühsam und unter Deaktivierung der üblichen Sicherungsmechanismen geöffnet hatte. Dort, wo auf dem roten Filzbett die Silberflöte hätte liegen sollen, war lediglich ihr schwacher Abdruck übrig geblieben. Irgendwer oder irgendwas hatte sie entwendet, und das überraschte ihn zugegebenermaßen. Das war so nicht geplant gewesen – und diese ungewollte Planabweichung kam überdies besonders unpassend, denn jetzt wäre Zeit gewesen, in die Melodien der Zukunft einzustimmen. Da er seine wenigen mitgebrachten Untergebenen strikt angewiesen hatte, die Flöte dort zu belassen und er seine Dienerschaft für gewöhnlich unter Kontrolle hatte, kam nur jemand Fremdes als Dieb in Betracht. Vielleicht sogar ein Wettbewerbsteilnehmer. Das wäre ihm jedenfalls immer noch lieber gewesen als die Möglichkeit, dass das kostbare Instrument in die Hände der Stadtwache gefallen sein könnte. Und das war sicherlich so von ihm nicht vorgesehen. Er brauchte zwar das Chaos, er benutzte es, aber letzten Endes sollte doch alles auf eine Ordnung hinauslaufen, eine Ordnung, die selbst Innos vor Neid erblassen lassen würde, wenn die Zukunft erst zur Gegenwart geworden war. Wenn auf dem Weg dahin nun aber schon jemand derartig in seinen Plänen herumpfuschte …
    Adarich schüttelte den Kopf. Diesen Fehler – wenn es überhaupt ein Fehler war, denn das, das hatte er in vielen Jahren gelernt, konnte man erst in der Rückschau wirklich beurteilen – hatte er sich allenfalls selbst zuzuschreiben. Wenn er wirklich gewollt hätte, dass niemand anderes die Flöte an sich nimmt, dann hätte er sie dauerhaft bei sich tragen und nicht auf seinem Schiff zurücklassen sollen.
    Salvadore, er brauchte Salvadore. Kaum jemand war besser darin, Dinge zu organisieren. Menschen, Personen, Reisen. Salvadore konnte alles und jeden aufspüren, wenn man ihn nur lange genug darauf ansetzte. Er hatte ihn zwar weggeschickt, aber sie hatten ja die Mittel und die Wege, um auch über die Ferne miteinander kommunizieren zu können. Sein Blick schweifte durch die Kabine, vorbei an goldenen Kerzenständern, kostbarem Silberbesteck und Bronzekelchen, über sein Logbuch, dessen Seiten leer und bloße Zierde waren, hin zur schlichten Innosstatuette, die auf einem Schränkchen vor einem umso prunkvolleren Wandteppich stand. Irgendwo hier musste es doch herumliegen …
    „Lord Evadam!“
    Ein Matrose stand vor seiner Kabinentür. Ein junger Mann, eher ein älterer Junge, schlank, gerötete Wangen, unscheinbar. Fast alle seine Untergegebenen hatten besondere Fähigkeiten, aber mitunter am meisten schätzte es Evadam, wenn sie unauffällig waren.
    „Was ist?“
    „Die Stadtwächter stehen vor dem Schiff. Sie wollen es durchsuchen, haben sie gesagt. Und sie wollen sich nicht abwimmeln lassen. Sie haben außerdem gedroht, uns alle festnehmen zu lassen.“
    Adarich überlegte. Das hieß immerhin, dass die Stadtwache noch nicht auf dem Schiff gewesen war und sie folglich auch nicht im Besitz der Flöte sein konnte. Es sei denn natürlich, sie hatten den Dieb der Flöte aufgegriffen und sie ihm abgenommen. Adarich biss entnervt die Zähne aufeinander. Unwägbarkeiten über Unwägbarkeiten. Er hatte durchaus ein Gespür für die Zukunft, aber ihn interessierte das große Ganze. Kleine Details hatte er noch nie vorhersehen können – für so etwas hatte er üblicherweise seine Leute. Erst jetzt begriff er, wie ernst und aufrichtig er gegenüber Salvadore eigentlich gesprochen hatte, als er ihm eröffnet hatte, dass er es sich nicht leisten könne, ihn zu verlieren. Es war in der Tat die richtige Entscheidung gewesen, ihn nicht auf der Stelle zu beseitigen. Aber das half jetzt gerade auch nicht weiter.
    „Lord Evadam, ich glaube, die Stadtwache stürmt jeden Moment das Schiff! Was sollen wir eurer Meinung nach nun tun?
    „Lasst es einfach nicht zu“, blaffte Adarich, völlig aus seinen Gedanken gerissen, den Matrosen an. „Ihr werdet euch doch wohl nicht von ein paar abgehalfterten Stadtwachen ins Bockshorn jagen lassen!“
    Der Matrose trat unruhig von einem Bein aufs andere. „Normalerweise nicht“, sagte er geschlagen. „Aber … es sind nicht nur ein paar, sondern es sind … ich weiß nicht, ich befürchte fast, es sind alle. Oder alle, die gerade entbehrt werden konnten. Das müssen an die zwanzig Mann am Kai sein, wenn nicht noch mehr! Die lassen sich nicht länger aufhalten, die meinen das ernst!“
    Adarich spürte seine eigenen Gesichtszüge entgleiten. Er hatte die Stadtwache unterschätzt. Offenbar wollten sie ihm jetzt wirklich an den Kragen. Erst auf dem Hof dieses großkotzigen Großbauern, und jetzt auch noch hier. Der Wind hatte sich gedreht, und es hatte keinen Sinn, gegen ihn anzusegeln. Zumindest für ihn, Lord Adarich Evadam, nicht.
    „Haltet sie so lange hin, wie es geht, aber wenn sie Gewalt anwenden, dann gebt nach“, sagte er zum Matrosen, während er vom Haken an seiner Kabinentür eine große Ledertasche griff und sie hektisch und scheinbar wahllos mit herumliegenden Gegenständen aus seiner Kabine füllte. Was er jetzt nicht mitnahm, würde er schlechtestenfalls für längere Zeit nicht wiederbekommen. Fluchend durchwühlte er die Schublade mit seinen Schriftrollen. Offenbar hatte er Salvadore tatsächlich die letzte Teleportrolle zu Elms Höhle ausgehändigt. Und zu Fuß konnte er jetzt wohl nicht mehr in Richtung Kaserne marschieren. Nun gut, dann musste er eben woanders hin. Hauptsache weg. Und dann konnte er weiter planen, die Dinge neu ordnen. Er packte die restlichen Schriftrollen ohne weiteres Ansehen in seine Tasche und ließ nur einen einzigen Teleportzauber draußen.
    „Aber was, wenn sie uns festnehmen?“, drängelte der Matrose nun wieder.
    „Dann lasst ihr euch festnehmen.“
    „Und wenn sie uns Fragen stellen?“
    „Dann wisst ihr nichts. Und wenn sie nach mir fragen, dann habt ihr mich hier nicht gesehen“, fuhr Adarich dem stammelnden Matrosen über den Mund, und noch bevor dieser auch nur eine weitere dumme Frage stellen konnte, war Adarich bereits im blauen Licht der Teleportation verschwunden.

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