-
[Story]Lagerkoller
Mit leisem Knirschen schob Senyan einen Faustkeil über die gewaltige Felswand vor ihm und hinterließ dabei einen geraden, weißen Strich am Gestein. Der erste Arbeitstag war überstanden, dreizehn weitere würden folgen, erst dann würde er es sich wieder eine Woche lang gut gehen lassen. Und weil er hier für seine Freiheit arbeitete, nicht umsonst hieß der Ort die "Freie Mine", ging ihm das Schürfen auch ganz gut von der Hand.
Seufzend lehnte Senyan die marode Spitzhacke an die Felswand und rieb sich mit dem dreckigen Ärmel den Schweiß von der Stirn. Seine Muskeln vibrierten; der erste Tag war immer der schlimmste. Er musste jetzt positiv denken. Nun hatte er schließlich Feierabend und im Gegensatz zu seinen armen Kollegen, die unter Tage schürfen mussten, hatte er sich selbst bereits soweit verdient gemacht, dass er die freiliegenden Erzreste unter dem Himmelszelt bearbeiten durfte. Ein Blick empor korrigierte ihn. Man konnte viel eher von einem Sternenzelt reden, denn die Sonne war schon vor ein paar Stunden untergegangen. Hin und wieder wehte eine kräftige Herbstbrise in den oberirdischen Teil der Mine, den „Kessel“. Von oben betrachtet erschien der Tagebau wie ein riesiger Suppenkessel.
Von einem anderen Kessel her stieg Senyan der schwere Duft von gekochtem Reis in die Nase. Jetzt, gegen Acht am Abend, es hatte kaum den lauten Gong zum Feierabend gegeben, wurden im ganzen Lager die Werkzeuge fallen gelassen und wie gefräßige Hunde drängten sich die Arbeiter zu den Kochstellen, um dort noch eine ausreichend große Portion Abendessen zu bekommen. Es war immer dasselbe und es gab nie genug. Senyan machte sich auch auf den Weg, konnte sich aber etwas Zeit lassen, denn der Koch kannte ihn und hielt ihm immer eine volle Schüssel zurück. Sie waren mit über fünfzig Jahren zwei der ältesten Männer im Kessel und genossen daher einige Privilegien, die sich die Jungspunde noch verdienen mussten.
„Abend Horrace“, Senyan hatte sich nicht in der Schlange angestellt, sondern war direkt zum Ausschank gegangen.
„Sen“, antwortete der Koch mit einem müden Lächeln auf den Lippen und füllte ihm eine Schüssel, „Wie war die Ausbeute heute?“
Eine Frage, wie er sie fast jeden Tag hörte. Sie gehörte sozusagen zum Einmaleins der Schürfer. Und die Antwort war eigentlich immer so etwas wie: „Hätte mehr sein können.“
Aber Senyan brauchte sich für nichts schämen. Ihm sah man sein Alter schon an; dünnes, graues Haar, tiefe Augenringe und stark hervortretende Schlagadern prägten das Äußere des hageren Schürfers. Er wurde nicht dicker, selbst wenn er einmal viel aß. Horrace hingegen war ein richtiger Brösel, aber ein herzallerliebster. Er sah zwar nicht so aus, doch er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun.
„Hey!?“, rief einer der Jüngeren, der eigentlich an der Reihe war, „Hinten anstellen, Alter!“
„Wir reden später“, sagte Senyan und zuckte mit den Schultern. Der arme Horrace durfte sich seinetwegen jetzt noch mit diesem Lausbuben herumärgern. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass der Bursche direkt aus den tiefsten Winkeln der Mine gekrochen kam. Sein ganzer Körper war rabenschwarz und das lange Haar hing ihm wie von Pech getränkt von den schmalen Schultern.
‚Schade, dass einem der Respekt vor dem Alter heutzutage eingeprügelt werden muss‘, dachte Senyan, während er sich einen Platz zum Essen suchte, ‚Wenn ich doch selbst ein wenig jünger wäre...‘
Er gesellte sich zu Swiney, dem dritten Schürfer der alten Garde. Horrace, Senyan und er waren vor vielen Jahren schon dabei, als die Arbeiten in der Mine begonnen hatten. Doch während Senyan seine Pausen in der Kneipe verbracht hatte, haben sich seine Kameraden hochgearbeitet. Horrace zum Koch und Swiney zum Aufseher der Schürfer. Letzterer verteilte damit die Ausrüstung, kümmerte sich um Nachschub aus dem Neuen Lager und legte fest, wer wann und wo zu arbeiten hatte. Er war so etwas wie die Mutti für alles, musste dafür aber fast nie selbst eine Hacke schwingen. Dazu war er ohnehin nicht mehr in der Lage. Einmal ist Swiney ein Felsbrocken auf den Fuß gefallen und seitdem läuft er am Stock.
„Siehst du den Schmutzfinken dort?“, fragte Senyan und deutete auf den Schürfer, der noch immer kein Essen von Horrace bekommen hatte.
Swiney nickte: „Was ist mit ihm?“
„Kannst du ihn nicht in die unterste Ebene abstufen?“
Doch Swiney lachte nur spöttisch: „Du weißt, dass das nicht geht. Die unterste Ebene der Mine musste verriegelt werden, weil dort unten...“
„Weiß ich doch“, winkte der Alte ab, „Ich finde nur, er schafft es immer noch, eine sehr gute Position bei der Essenschlange abzugreifen. Fast schon so, als würde er vor dem großen Gong bereits aufhören zu arbeiten.“
„Hmm... ich kann ihn für eine halbe Stunde eher eintragen. Dann gibt es kein Geraffel...“
Senyan schüttelte entschieden den Kopf: „Dann kriegt er ja das gute Essen. Nee, na dann lass es halt so.“
Swiney war einfach zu nett. Er würde die Arbeitsstunden nie nach hinten hinaus verlängern, da gäbe es nur Stress und den wollte er sich nicht aufhalsen. Auch wenn es um seine Kameraden ging, aber so war er nun einmal.
Senyan konnte seine Schüssel Reis nur mühsam leeren. Das Zeug hing ihm zum Halse hinaus. Das Lager baute den Reis selbst an und wer etwas Besseres haben wollte, musste auf die Jagd oder einen Raubzug gehen. Beides kam für den Alten nicht mehr in Frage. Es war kein Zufall, dass nur die Vorsichtigen und Klugen hier ein hohes Alter erreichten.
„Da fällt mir ein“, Swiney ging kurz in seine Hütte und kam mit einer bekannten, braunen Flasche zurück, „Kann ich dir vielleicht etwas Schnaps anbieten? Auf die kommenden Tage.“
Senyan lehnte dankend ab: „Reisschnaps. Ich kann das Zeug nicht mehr sehen. Hast du auch was anderes?“
Swiney reichte ihm das Wasser und der Schürfer trank in langen Zügen.
„War das alles?“, fragte Senyan noch.
„Was meinst du?“
Der Alte wurde konkreter: „Hast du etwas zum Rauchen da.“
„Ach so... nein, tut mir leid. Die Jungs sollten heute eigentlich kommen.“
„Immer dasselbe mit den Mistkerlen...“, knurrte Senyan, nahm Swineys Teller, damit dieser nicht so viel herumhumpeln musste und verabschiedete sich von ihm.
Der Kochtopf war inzwischen kalt. Senyan suchte Horrace am Waschplatz auf, wo dieser das Geschirr säuberte.
„Stell es einfach dazu“, sagte der Koch keuchend. Sein Kopf war schon wieder ganz rot von der vielen Arbeit und den heißen Dämpfen. Er war zu einem Koch geworden, wie Senyan ihn sich schon zu Kindertagen vorgestellt hatte. Etwas übergewichtig, runde, rote Pausbacken und eine Halbglatze, von der der Schweiß hinab ins Aufwaschwasser tropfte.
Senyan nahm sich den Lappen selbst und ging seinem Kameraden zur Hand. Die Hilfe nahm er ohne Worte, aber sichtlich dankbar an.
„Wenn das mein altes Weib sehen könnte“, Horrace versuchte zu lachen, doch man spürte die Trauer in seiner Stimme, „Sie war immer überzeugt davon, dass ich niemals einen Handgriff in der Küche tätigen würde. Sie sagte, ich habe zwei linke Hände. Hehe...“
„Du hast ja hier auch keine Küche.“
„Ja... trotzdem. Sie wäre stolz auf mich.“
„Bald kannst du sie wieder in deine Arme schließen“, munterte Senyan den Dicken auf, „Wenn wir genug von dem magischen Erz geschürft haben, werden uns die Magier befreien.“
„Das versprichst du schon seit Jahren...“
„Ich weiß...“, Senyan half seinem Freund bis der Abwasch erledigt war und verabschiedete sich dann auch ins Bett. Morgen würden wieder zehn harte Arbeitsstunden auf ihn warten und die konnte er nur bewältigen, wenn er ausgeschlafen war.
Am Himmel flammte ein Blitz auf. Die magische Barriere, die sie hier festhielt, würde schon bald verschwinden, wenn sie nur genug Erz sammelten. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Es war nur eine Frage der Zeit...
Geändert von MiMo (31.03.2017 um 14:06 Uhr)
-
Der Tag ging vorüber. Die herbstliche Abendsonne tauchte die großen Weideländer vor Silden in einen orangeroten Schleier und lockte Groß und Klein in die schützenden Stuben, bevor die Nacht über dem Land hereinbrach. Die Bauern scheuchten ihr Vieh von den Wiesen, die Weiber holten die trockene Wäsche ein oder setzten das Abendmahl an und der Nachtwächter begann seine Runde durch das Dorf.
„Hört ihr Leut‘ und lasst euch sagen,
unsre Uhr hat Sechs geschlagen!“
Während die anderen Kinder bereits beim Tischdecken halfen oder den Tieren im Stall ihr Futter brachten, waren Senyan und sein Freund Aleph noch seelenruhig auf dem Weg nach Hause. Sie waren heute so spät dran, weil sie beim Angeln einen Fisch gefangen hatten - eine richtige Forelle! Aleph trug sie in einem Netz über den Rücken geschultert und konnte sein breites Grinsen nicht verbergen. Senyan konnte die Freude nicht wirklich teilen.
„Mein Vater wird Augen machen!“, rief der jüngere Aleph, „So einen großen Brocken haben wir noch nie gefangen.“
„Jaja, komm beeil dich doch mal etwas!“
„Du wirst bestimmt auch mal Glück haben. Deine kümmerlichen Köder musst du aber auswechseln.“
„Das sind Fleischwanzen“, meinte Senyan und zuckte mit den Schultern, „Die sind lecker. Wenn sie mir schmecken, werden sie auch den Fischen schmecken.“
„Na wenn du meinst.“
Plötzlich blieb Aleph stehen und öffnete seine Schuhe.
„Was machst du denn?“
„Ich hab‘ einen Stein im Schuh.“
„Komm schon, ich muss ganz dringend nach Hause! Mein alter Herr ist bestimmt schon auf dem Heimweg.“
„Du bist ein Angsthase. Du hast Angst vor deinem Vater. Schisser, Schisser!“
„Ich bin gar kein Schisser“, Senyan drehte sich um und schubste den Kleinen in den Dreck.
„HEY! Mach meinen Fang nicht dreckig!“
„Los, beeil dich.“
„Jaja... Schisser.“
Als sie daheim angekommen waren, sah Senyan sofort im Geräteschuppen nach, ob sein Vater schon da war. Er war in der letzten Zeit immer besonders lange draußen, weil sie die Ernte noch einholen mussten, ehe der Winter anbrach. Senyan half auch jeden Tag auf den Feldern, aber er durfte eher heimgehen. Doch anstatt dies zu tun, traf er sich fast immer mit seinem Freund Aleph und spielte mit ihm Ritter und Ork, turnte auf den Heuballen herum oder ging Angeln. Alephs Vater war Fischer und es war nicht verwunderlich, dass das Talent dafür in der Familie lag. Eigentlich ging Senyan nur mit zum Angeln, weil daheim nur seine Mutter auf ihn wartete, die ihm noch mehr Arbeiten aufdrücken wollte. Und so drückte er sich halt darum. Aber Aleph machte ihm meistens nur Ärger.
Erleichtert kam Senyan aus dem Schuppen zurück. Die Werkzeuge fehlten, Vater musste auch heute lange draußen sein. Dafür duftete es bereits aus dem Küchenfenster lecker nach Scavengerbraten.
„Mmh... darf ich nicht bei euch mitessen?“, fragte Aleph und hielt sich die Hände an den knurrenden Bauch.
Senyan schüttelte den Kopf: „Du hast doch schon deine Forelle.“
„Ich weiß. Aber bei uns gibt es doch immer Fisch. Ich habe mal Lust auf was anderes...“
Gerade als Senyan seinen Freund verabschieden wollte, kam der alte Rumpel, gelockt vom Duft des guten Bratens, aus seiner Hütte. Der Hund lebte schon so lange auf ihrem Hof, wie Senyan denken konnte. Es war ein Collie, der bis vor zwei Jahren noch zum Schafehüten taugte. Aber inzwischen humpelte er auf einem Bein und genoss seinen Lebensabend damit, sich den ganzen Tag die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Vater hatte es nicht über das Herz gebracht, sich von dem Tier gänzlich zu trennen, denn obwohl er vermutlich blind und krank war, war es sein bester Freund.
„Na schau mal, wer da ist“, rief Aleph und rannte auf den Hund zu, „Mein Rumpel-Kumpel!“
Der Collie ließ sich streicheln und stieß mehrfach mit der Schnauze nach dem Netz mit dem Fisch. Weil Aleph nicht von ihm abließ und ihn übermäßig knuddelte, biss er dem Jungen plötzlich ins Bein. Aleph kreischte vor Angst und Schmerzen.
„AUAUAUA, mach ihn weg!“
Senyan eilte rasch zu Aleph, um ihm zu helfen.
„Rumpel AUS!“
Er zerrte den Collie am Hinterleib, doch die Zähne hatten sich schon tief im Fleisch seines Freundes versenkt.
„Tritt ihn fort! BITTE!“
Senyan tat, wie ihm geheißen und trat dem Hund gegen den Kopf. Übertrieben, wie er selbst empfand, aber es ging alles so schnell, dass ihm nichts Besseres eingefallen war. Aleph dankte ihm schluchzend und während Senyan ihn tröstete, hatte er noch nicht bemerkt, wie schlimm es um den Hund stand. Das sollte er zu spüren bekommen, als auf einmal sein alter Herr im Hof stand.
„Rumpel?! Bei Innos! Was ist denn hier los? Senyan!“, rief der Vater.
„Ich... ich.“
„Der Hund... der Hund ist tot, wie ist das passiert?!“
„Er hat Aleph gebissen“, versuchte Senyan sich zu entschuldigen, „Ich habe ihn getreten, damit er loslässt.“
„Du hast ihn GETRETEN! Ich habe einen Mörder großgezogen! Geh sofort auf dein Zimmer! Du bekommst heute nichts zum Abendessen! Ich kümmere mich um dich, wenn ich deinen Freund versorgt habe.“
„Aber...“
„AUF DEIN ZIMMER!“
Die Schmerzen, die ihm an diesem Abend noch zugefügt wurden, hatte Senyan in seinem Leben nicht vergessen. Er träumte noch sehr oft davon, so auch in dieser Nacht, vierzig Jahre später. Er war nach wie vor gefangen, nur war sein Zimmer zu einem großen Freiluftgefängnis geworden. Aber wie an diesem Abend schon, wünschte er sich auch jetzt nichts anderes, als einfach wegzurennen.
Aus seinem Albtraum wurde er von einem hektischen Türklopfen geweckt. Müde rappelte er sich mitten in der Nacht aus dem Bett; in seiner Hütte wohnte er mit einem jüngeren Schürfer, der bereits aufgestanden war und geöffnet hatte.
„Ist für dich“, meinte er knurrend zu Senyan und legte sich wieder hin. Seine nächtlichen Besucher waren keine anderen als die beiden Banditen, die Swiney und er schon gestern erwartet hatten.
„Das wurde aber auch Zeit“, flüsterte Senyan, „Ich hoffe ihr habt noch etwas von der heißen Ware auf Lager...“
Sie traten ein.
Geändert von Ronsen (15.11.2013 um 22:12 Uhr)
-
Es war finster in Senyans Hütte. Nur das Schimmern einer Fackel drang durch die halb offene Tür herein. Das Inventar des Einzelzimmers, aus dem die marode Holzhütte lediglich bestand, umfasste nicht viel mehr als je eine Kiste und ein Bett für die beiden Arbeiter. Das war auch genug, denn alle zwei Wochen wechselten die Besitzer des Hauses und die Vormieter konnten sich ein paar Tage vom anstrengenden Schürfen frei nehmen und ihr verdientes Erz bis zur nächsten Schicht verprassen. Es machte wenig Sinn, sich die hölzernen Buden in irgendeiner Form schick einzurichten, weil man selten dasselbe Haus zweimal zugewiesen bekam. Bei der Zuweisung der Hütten galt wie so oft: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ und wer zu spät kam, bekam eben einen Schlafplatz unten in der Mine zugewiesen, wo es so stockduster war, dass man Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden konnte. Manch einer bevorzugte die Arbeit unter Tage sogar. Es gab dafür mehr Lohn…
Die Betten standen in den beiden hinteren Ecken des Raumes, abseits von der Tür, und dahin drang kein Fackelschein. Im Dunkeln stieß sich Senyan auf der Suche nach der Kiste den Fuß an selbiger und fluchte leise. Sein Mitbewohner wälzte sich im Bett hinter ihm hin und her.
„Was ist jetzt?“, flüsterte einer der Banditen, „Machen wir uns nun ans Geschäft oder sollen wir wieder gehen?“
„Neinnein“, zischte Senyan zurück, „Ich hole schon das Erz, aber ich suche gerade noch nach dem Schlüssel meiner Kiste...“
Er griff nach der Öllampe, die an einem Haken an der Decke hing und kramte in seiner Tasche nach der Zunderbüchse, als ihm der aromatische Duft von Sumpfkraut in die Nase stieg. Einer seiner Geschäftspartner hatte sich einen Stängel vom Tabak gedreht und rauchte in vollen Zügen. Da kam Senyan eine Idee.
„Darf ich mal?“, ohne auf eine Antwort zu warten, schnappte er dem Banditen die selbstgedrehte Kippe aus dem Mund.
„Hey, du bist aber gierig!“, lallte der zweite Bandit eher belustigt als erbost. Aber Senyan wollte gar nicht rauchen; er nutzte die glimmende Spitze der Zigarette lediglich dazu, seine Lampe zu entzünden und gab dem Raucher seine Droge danach zurück.
Aus der Ecke des Mitbewohners kam ein genervtes Räuspern, als es heller wurde. Mit der neuen Lichtquelle war es gar nicht schwer, den Schlüssel zu finden. Denn nach kurzer Suche auf, neben, hinter und unter dem Bett war Senyan klar, dass er ihn irgendwo am Mann tragen musste. Und in der Tat: er war gleich in seiner Hosentasche unter der Zunderbüchse. Mit einem geradezu erlösenden Klacken schnappte das Schloss auf und der Schürfer hatte Zugriff auf einen kleinen Lederbeutel mit Erzreserven.
Das Erz, das überall im Minental, dem magischen Freiluftgefängnis hunderter Sträflinge, abgebaut wurde, war hier das gängige Zahlungsmittel. Kaum ein Gefangener brachte Goldstücke mit in die Kolonie, daher kontrollierten diejenigen Handel und Wirtschaft, die das Erz besaßen und gleichzeitig genug Kraft oder Untertanen hatten, um es vor all dem Gesindel, was neben ihnen in der Barriere landete, zu beschützen.
Senyan besaß nur rund fünfzig Brocken, dafür konnte man in der Kolonie vielleicht für zwei Tage ohne Arbeit überleben. Aber schon eine vernünftige Waffe kostete das Doppelte und da sie einen großen Teil des Gewinns an die Wassermagier abtreten mussten, blieb in der Folge kaum etwas für einen selbst übrig. Senyan sparte immer sehr ehrgeizig, um seinen Erlös dann doch nur in Sumpfkraut zu investieren. Denn er lebte nach der Devise: „Kaufe nichts von Wert, das wird dir nur gestohlen.“ Und was er schnell verrauchte, konnte ihm keiner der Dreckskerle mehr klauen.
„Das ist aber ein kümmerliches Beutelchen“, witzelte der eine Bandit.
„Wie viel krieg ich dafür?“, mit der Frage wandte sich der Schürfer an den anderen Banditen, der noch nicht so zugedröhnt war.
„Naja, wie wäre es mit...“
„Hey!“, unterbrach sie plötzlich Senyans Mitbewohner, „Wie wäre es damit, dass ihr eure Geschäfte draußen erledigt und die normalen Menschen schlafen lasst, hm? Das machen normale Menschen nämlich um Zwei Uhr nachts: Schlafen. Damit meine ich: verzieht euch oder ich rufe die Wachen.“
„Was ist dein Problem, Mann?“, fuhr der eine Bandit den Schürfer an, doch Senyan löschte schnell das Licht und bat seinen nächtlichen Besuch leise nach draußen, weil er nicht scharf darauf war, dass einer der Wachmänner ihn jetzt erwischte.
Sie setzten sich draußen auf einen umgestürzten Baumstamm und handelten den Preis für einhundert Gramm Sumpfkraut aus. Als das Geschäft abgeschlossen und Senyan um seine restlichen Ersparnisse erleichtert war, bedankten sich die beiden bei ihm.
„Es war uns wie immer eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen.“
„Ebenso. Und kommt das nächste Mal doch bitte schon mit dem Zeug, bevor ich meine Schicht in der Mine beginne“, antwortete Senyan.
„Mann. Das ist doch nicht unsere Schuld, sondern seine.“
Sie richteten die Finger beschuldigend auf einen seltsamen Mann, der etwas entfernt von ihnen mit einem der Wachmänner plauderte. Er hatte eine Glatze und trug einen Rock, was ihn als einen der Brüder der hiesigen Sekte kennzeichnete. Senyan kannte ihn gut unter dem hochtrabenden Namen Baal Isidro.
„Was macht der denn hier?“, wunderte sich der Alte.
„Spaßvogel“, lachte der bekiffte Bandit, "Du bist ja wohl nicht der Einzige, dem hier das Sumpfkraut ausgegangen ist. Er hat von seinen Bossen mächtig Feuer unter'n Arsch gekriegt und muss sein Zeug jetzt auch loswerden. Aber keine Sorge, bei uns hast du einen besseren Preis gemacht, hehehe.“
‚Halsabschneider‘, verfluchte Senyan sie innerlich, da er wusste, dass Isidro den Kram billiger verkaufte, weil er ja nun deutlich unter Zeitnot stand. Na, ihm konnte es eigentlich egal sein. Er hatte, was er wollte und konnte in den Folgetagen voller Tatendrang bei der Arbeit sein. Und bevor sich Senyan jetzt völlig aufgewühlt ins Bett begab, entzündete er sich erst mal selbst einen Stängel Sumpfkraut, um etwas runter zu kommen...
Geändert von Ronsen (15.11.2013 um 22:20 Uhr)
-
Am nächsten Morgen wachte Senyan mit einem dröhnenden Schädel auf. Das Rauchkraut hatte seine Wirkung entfaltet und wie! Einmal daran gezogen, schien man wie von einem betäubenden Mantel der Leichtigkeit umschlungen. Es dauerte dabei auch nicht lange bis Senyan eingeschlafen war. Doch die Kopfschmerzen am nächsten Morgen waren so heftig wie bei einem kräftig angetrunkenen Kater. Es war vielleicht keine gute Idee gewesen, sich noch mitten in der Nacht etwas von dem Zeug zu genehmigen.
Der Gong zum Aufstehen erschallte im unteren Bereich des kesselförmigen Tagebaus und wurde von den steilen Wänden wie ein Echo bis in die verwinkeltsten Ecken weitergetragen. Für den alten Senyan fühlte es sich an, als befände sich sein Kopf genau zwischen den beiden Becken, gegen die der Trommler immer und immer wieder mit seinem Stab donnerte. Schwerfällig kämpfte er sich aus dem Bett und erkannte dabei erst spät, dass sein Mitbewohner schon längst aufgestanden war. Während er sich dann sein Oberteil überstülpte, klopfte schon jemand an seiner Tür.
„Was!?“, rief er und klang dabei so genervt, dass es ihn selbst erschrak.
Der Schürferboss Swiney war es und er schien nicht gerade glücklich.
„Guten Morgen“, sagte er ernst, „Du bist spät dran. Ich habe gehört, du hattest eine anstrengende Nacht.“
„Sagt wer?“
„Dein Mitbewohner. Hast du das Zeug?“
„Jaja...“, der alte Schürfer zog sich die Schuhe an und machte sich danach an seiner Truhe zu schaffen. Darin befand sich die heiße Ware, noch achtzig Gramm kostbares Sumpfkraut.
„Lief alles reibungslos?“, hakte Swiney nach.
„Sicher, warum denn auch nicht?“, Senyan schätzte dreißig Gramm ab und füllte die Droge in den kleinen Lederbeutel, in dem sich gestern noch seine Erzreste befunden haben. Jetzt war er leer und konnte daher problemlos den Besitzer wechseln. Swiney bekam seinen Anteil, weil er dafür sorgte, dass die Wachen nichts von dem kleinen Drogenhandel mitbekamen.
„Wegen des Sektenspinners, der hier mit einer ganzen Ladung Sumpfkraut aufgetaucht ist. Anscheinend ist er den beiden Banditen gefolgt und versucht jetzt, seine Drogen an die Arbeiter hier zu verticken.“
„Ja...“, Senyan schnappte sich seine Hacke und verließ mit seinem Freund die Hütte, „Was soll so schlimm daran sein?“
„Na Okyl. Er sieht es nicht gerne, wenn die Schürfer kiffen statt zu arbeiten. Er hat bestimmt schon ein Hühnchen mit diesem Sektenheini zu rupfen.“
Okyl ist ein Veteran unter den Söldnern und so was wie der Boss der Freien Mine. Er sorgt dafür, dass der Warenaustausch mit dem Rest des Neuen Lagers reibungslos abläuft und seine Männer beschützen die Schürfer vor allerlei Viehzeug, was die Gegend ober- und unterirdisch heimsucht. Sein Wort steht weit über dem von Swiney und letztendlich entscheidet er auch, wer das Privileg hat, in der unterirdischen Mine zu arbeiten. Denn diejenigen Schürfer bekommen ja auch einen größeren Anteil Erz am Ende der Woche zum Versaufen. Senyan hatte nicht gewusst, dass Okyl ein Verfechter der rauchfreien Bewegung war.
„Naja, ist ja nicht mein Bier“, meinte Senyan noch schulterzuckend und sie holten sich ihre erste von drei Tagesportionen Reis ab. Im Anschluss ging es bis zum Mittag an die Arbeit.
Es war ein wunderschöner und sonniger Herbsttag, doch der Alte hatte die Hitze schon bald satt, denn die göttliche Feuerkugel brannte ihm gar drückend auf den Nacken und er war die meiste Zeit damit beschäftigt, sich ein etwas schattigeres Plätzchen zum Schürfen zu suchen. Die Arbeit ging ihm trotz des nächtlichen Sumpfkrautgenusses nicht schneller von der Hand und die Tatsache, dass er es nur heimlich zu sich nehmen durfte, ärgerte ihn sichtlich. So kam es, dass er sich zur Mittagspause, als er sich sein Essen wie gewohnt direkt beim Koch vorn abholte, wieder mit dem jungen Burschen anlegte, der ihm gestern schon frech gekommen war.
„Hey Opa, jetzt reicht es mir aber“, keifte der Bengel und trat aus der Schlange heraus direkt vor zu ihm und Horrace.
„Stell dich gefälligst hinten an, wie alle anderen auch!“
„Jungchen, du hältst jetzt besser mal deinen Mund oder du bekommst gar nichts zu Essen.“
„Er bekommt auch nichts“, unterstützte der Koch seinen alten Freund, „Wer pöbelt, geht leer aus.“
„Ach ja, Fettbacke?“, ging es nun gegen Horrace, „Dann nehme ich mir meinen Teil einfach.“
Er schnappte Senyan die Schüssel aus der Hand, doch dieser, als er merkte, dass der Bursche stärker war, drückte noch einmal nach, sodass die ganze Schüssel im Dreck landete. Daraufhin schubste der langhaarige Schürfer den Alten zu Boden und erst als einer der Söldner darauf aufmerksam wurde, ließ der Junge von Senyan ab und verzog sich. Horrace half dem Alten auf und füllte ihm gleich eine neue Schüssel mit Reis.
„Geht es?“
„Jaja...“, knurrte Senyan. Doch innerlich war er aufgewühlt wie lange nicht mehr. Für einen Moment hatte er richtig Angst bekommen; das Alter hatte bereits deutliche Spuren an ihm hinterlassen. Früher hätte ihm so ein Bursche niemals die Leviten gelesen.
Er schlang seine Portion im Handumdrehen herunter, denn er wollte nur wieder an seine Arbeit und dabei so weit weg von dem Kerl wie möglich. Denn heute hatte er nicht mehr so dreckig ausgesehen wie gestern und es war anzunehmen, dass er nicht mehr in der Mine schuftete, sondern nun auch draußen im Tagebau. Vermutlich hatte Okyl bemerkt, dass man einem Mistkerl wie ihm nicht noch mehr Erz in den Arsch schieben sollte.
Kaum hatte Senyan die Spitzhacke wieder in der Hand, sprach ihn ein ihm fremder Schürfer auf die Situation von eben an. Es war auch ein Mann im gestandenen Alter, doch mit kräftigen Muskeln und kurzem, militärischen Haarschnitt. Er machte eher den Anschein eines Söldners statt eines Schürfers.
„Die Jugend von heute... kein Respekt mehr“, begann er ohne sich vorzustellen, „Ich dachte, hier ginge es anders zu als auf den Feldern, aber da habe ich mich wohl geirrt.“
„Bist du ein Bauer?“, fragte Senyan genervt.
„Das war ich einmal... bis ich vom Reislord höflich gebeten wurde, mir anderswo meinen Tagesunterhalt zu verdienen.“
„Was ist passiert?“
"Ich habe mal einem Typen geholfen, sich gegen ein paar Schläger zu verteidigen, habe ihm einige eigene Schlagfähigkeiten beigebracht. Nachdem er die Mistkerle verprügelt hatte, habe ich ihn nie wieder gesehen aber irgendwie haben sie spitzgekriegt, dass ich an ihren blauen Flecken nicht unbeteiligt war. Nun arbeite ich eben hier im Kessel und gehe dem Ärger aus dem Weg.“
„Das ist schön. Wenn du so stark bist, können wir deine helfenden Hände hier sicher gut gebrauchen. Ich bin Senyan.“
„Freut mich, Senyan“, sie schüttelten sich die Hände, „Mein Name ist Horatio.“
Geändert von Ronsen (17.11.2013 um 22:05 Uhr)
-
Der zweite Arbeitstag neigte sich bald dem Ende zu und bis auf die Auseinandersetzung mit dem langhaarigen Schürfer und die Begegnung mit Horatio war die Arbeit gewohnt anstrengend und ereignislos abgelaufen. Heute konnte Senyan schon nicht mehr von vibrierenden Muskeln sprechen; er spürte sie schlichtweg kaum noch. Die Arme hingen ihm schlaff von den Schultern und es fiel dem Alten schwer, den zweiten Strich an der Felswand zu setzen.
II
„Zwei Tage erst“, fluchte er leise, „Ich hoffe, die Magier haben bald genug Erz, denn ich will meinen Lebensabend nicht in diesem gottverdammten Loch verbringen.“
Horatio, der ganz in der Nähe geschürft hatte, fing Senyan ab, während dieser zum Abendessen gehen wollte.
„Na, wie viel hast du geschafft?“, begann der Alte das Gespräch.
„Wie bitte?“, entgegnete Horatio.
Senyan musste genauer werden, immerhin war der ehemalige Bauer noch nicht lange hier und kannte das Einmaleins der Schürfersprache nicht. Die Gesprächsthemen waren kurz und klar definiert:
Wie viel Erz hast du geschürft?
Wie lange musst du noch?
Wann gibt's Essen?
Und wenn man aus der Mine kam eventuell noch: Wie ist das Wetter draußen?
Für mehr konnte man sich nicht mehr den Kopf zerbrechen, denn die Arbeit war so anstrengend, dass die Erschöpfung Körper und Seele erfasste. Aber die Höflichkeit verlangte, neue Bekannte in die Gruppe zu integrieren.
„Wie viele Säcke Erz hast du heute gefüllt?“, wurde Senyan daher konkreter.
„Ach so“, Horatio kratzte sich den Kopf, „Sieben werden es wohl gewesen sein.“
„SIEBEN!?“, da blieb dem Veteranen die Spucke weg. Er war doch nur ein paar Jährchen älter als Horatio und hatte nicht einmal die Hälfte geschafft. Das war wirklich beeindruckend. Und beschämend zugleich. Senyan wollte sich aber nichts anmerken lassen und beschleunigte den Schritt. Er hatte einen gewaltigen Hunger auf Reis aufgebaut und war froh, wenn er schnell essen, rauchen und dann schlafen konnte.
Doch wie er sich wieder versuchte, das Essen direkt bei Horrace zu holen, hielt ihn sein neuer Kamerad zurück.
„Komm, die Schlange ist nicht lang. Lass uns doch hinten anstellen und ein wenig reden, hm?“
„Das macht doch nichts, ich stell dich Horrace vor und der gibt uns das Essen gleich.“
Horatio griff den Alten am Oberarm, er war wirklich außerordentlich kräftig.
„Es wäre wirklich besser, wenn wir uns anstellen würden.“
Mit einem Augenwink deutete er auf den jungen Schürfer mit den langen, blonden Haaren, der schon wieder eine äußerst gute Position abbekommen hatte. Nach kurzer Musterung sah Senyan, dass dieser ein langes Dolchmesser am Gürtel geschnallt hatte. Das hing am Morgen noch nicht dort. Ein Knoten bildete sich in Senyans Hals und ein kalter Schauer überkam ihn.
„Einverstanden“, gab er knapp von sich und sie stellten sich hinten an.
„Wofür haben sie dich eingebuchtet?“, fragte Horatio. Man merkte ihm an, dass er das Schürfer-Einmaleins noch nicht heraus hatte.
„Dienstverweigerung“, antwortete Senyan knapp und fügte noch hinzu, „Ich hatte keine Lust, mich für den werten Herrn Königs von den Orks abschlachten zu lassen.“
Der wahre Grund war Diebstahl, aber das machte ihn bei Horatio vermutlich nicht gerade beliebt.
„Kommst du vom Festland?“, fragte der ehemalige Bauer mit den stahlblauen Augen weiter.
„Ja, aus Montera. Aufgewachsen bin ich in Silden, ich habe den Hof meines Vaters verlassen und mein Glück in einer größeren Stadt versucht. Tja, war nicht erfolgreich. Nun bin ich hier.“
„Und wie lange bist du schon hier?“
„Lange“, präziser wurde er nicht, weil er es gar nicht genau wusste. Aber es werden schon zwischen zehn und fünfzehn Jahre sein.
„Da geht es mir nicht anders“, sagte Horatio, „Ich frage mich, wie es um den Krieg steht. Ob die Orks schon zurückgedrängt wurden?“
Senyan zuckte die Schultern. Das war ihm eigentlich egal. Alles, was ihm gerade wichtig war, war, dass er bald etwas zwischen die Zähne bekam. Daher machte er Horatio auch dezent darauf aufmerksam, dass sich bereits eine große Lücke vor ihm gebildet hatte.
Horrace klatschte ihnen drei Schüsseln Reis voll. Eine für Swiney, der schon hungrig abseits warten musste.
„Ich bin froh, dass du heute nicht vorgedrängelt bist“, murmelte Horrace, „Das sollten wir immer so machen.“
„Was? Das sehe ich ja gar nicht ein“, protestierte der Alte, „Jetzt ist der Reis doch schon völlig zerkocht.“
„Tut den alten Zähnen doch ganz gut, oder nicht?“, witzelte sein Vordermann. Horatio stellte sich als ganz schöne Frohnatur heraus und das passte Senyan gar nicht. Am Ende kam er nicht einmal mehr zum Rauchen, wenn der Muskelprotz ihn dabei erwischte.
„Ach ja, das ist Horatio. Er ist neu hier.“
„Mein Beileid“, Horrace klatschte dem ehemaligen Bauern noch einen Extralöffel Reis in die Schüssel.
„Wurde er wegen des Angriffes herbeordert?“
Fragende Blicke zu Horrace.
„Na... es hat wieder zwei Tote gegeben, unten in der Mine. Okyl hat einen Stollen verriegeln lassen.“
„Was du nicht sagst“, Horatio begann schon zu löffeln, „Na immerhin bleibt dann mehr Reis für uns, was?“
Senyan verdrehte genervt die Augen und verabschiedete sich bei Horrace. Dann trottete er zu Swiney und wimmelte Horatio mit der Ausrede, etwas mit dem Boss allein besprechen zu müssen, ab. Wenn es Tote in der Mine gab, würden sicher bald neue Schürfer deren Stellen ersetzen müssen. Senyan wollte Swiney noch ausdrücklich klar machen, dass er keine dieser Stellen einnehmen wollte. Danach erst dröhnten sie sich mit ein paar Stängeln Sumpfkraut den Kopf zu.
Geändert von Ronsen (17.11.2013 um 22:15 Uhr)
-
In dieser Nacht schlief Senyan tief und fest; keine Träume seiner fernen Vergangenheit holten ihn ein. Das war nicht selbstverständlich, wenn man Sumpfkraut rauchte. Diese bewusstseinserweiternde Droge besaß die Kraft, den Verstand des Konsumenten auf eine Metaebene anzuheben, auf der sich seine Phantasie, Träume und Erinnerungen wie ein Netz verflochten und die Grenze zwischen Wahrheit und Trug verschwamm. Aber sie linderte auch Schmerzen und Sorgen, weshalb sich das Leben innerhalb der Barriere für Senyan nur noch dank dieses gefährlichen Krautes aushalten ließ. Er dosierte sie inzwischen so genau, dass er genug rauchte, um seine Schmerzen zu lindern und dabei noch keine Träume zu bekommen. Wenn man es nämlich übertrieb, so erzählte man sich, könnte man dem Wahnsinn verfallen. Auch die Tatsache, dass er gar nicht mehr so viel Kraut übrig hatte, ließ ihn sparsam damit umgehen. Schließlich wurden Suchterscheinungen umso schlimmer, je länger der Entzug andauerte. Und es standen noch zwölf anstrengende Tage zwischen ihm und der nächsten Chance, an Erz und damit an Sumpfkraut zu kommen.
Am nächsten Morgen schmerzte sein Schädel nicht so stark wie befürchtet und er kam auch relativ pünktlich aus seiner Hütte; wenngleich sein Mitbewohner schon viel eher fort war. Ein leichter Regen prasselte gegen sein Dach. Senyan genoss die Dusche. Es gab zwar auch ein kleines Wasserloch tiefer unten im Kessel, doch das war schon so verschmutzt, dass es kaum einen Unterschied machte, ob er sich dort wusch oder nicht. Und gegen den allgegenwärtigen Gestank half es auch nicht. Da war Senyan gleich noch motivierter für die Arbeit, denn heute verbrannte ihm die Sonne nicht den Nacken und sein Schweiß wurde auch ohne weiteres von seinem Körper gewaschen. Für einen Augenblick blieb der Schürfer einfach stehen, schloss die Augen und ließ sich berieseln. Doch sein Glück hielt nicht lange an, da vernahm er den klackenden Schritt des Gehstocks, mit dem sein Freund Swiney ihm entgegen humpelte.
„Guten Morgen Senyan. Gut, dass ich dich noch erwische.“
Der Aufseher ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen und sprach in einem Rutsch weiter. Er schien aufgeregt zu sein.
„Okyl hat mich vorhin zu sich rufen lassen und ich sollte ihm drei Schürfer bringen, die unten in der Mine die Plätze von denen einnehmen, die nicht mehr dort sind.“
„Sind jetzt etwa schon drei Mann gestorben? Und warum wurde eigentlich der Stollen gesperrt?“
„Nein, ich... das erzähl ich dir später. Hör zu: ich habe deinen Mitbewohner runter geschickt.“
Senyan schluckte. So kurz er ihn auch kannte, der Bursche hatte wenigstens weder geschnarcht, noch den Wachen von dem Drogenhandel erzählt. Blieb zu hoffen, dass der Nächste auch keine Probleme machte. Plötzlich bekam er eine Gänsehaut. Was, wenn er nun auch nach unten beordert wurde?
„Wen schickst du denn alles runter? Mich doch nicht etwa!?“
„Nein... das hatten wir doch abgemacht. Ich werde Gord, Olaf und Hernandez schicken.“
Hätte er ihn je nach seinem Namen gefragt, wüsste Senyan jetzt auch, welcher von den dreien sein Mitbewohner war.
„Was ist mit Horatio?“
Swiney schüttelte den Kopf: „Der ist noch zu neu hier, auch wenn er viel leistet. Hör mal, ich habe es eilig. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass Okyl nach dir gefragt hat.“
„Nach mir!?“
„Ja, geh am besten sofort zu ihm, ich will nämlich keinen Ärger kriegen.“
Damit machte sich Swiney wieder auf den Weg.
Der Schürfer rief ihm noch hinterher: „Was ist mit Frühstück?“
Doch das schien sich zu erübrigen.
Senyans Magen rumorte, als er sich auf den Weg zu Okyl machte. Weniger wegen des Frühstücks, auf das er heute vermutlich verzichten musste, als vielmehr aus Angst davor, dass der Boss der Mine spitz gekriegt hatte, dass er Drogen erstanden hatte. Was konnte er nur von ihm wollen? Wollte er ihn von der Minenarbeit suspendieren? Vielleicht, weil er keine sieben Säcke Erz füllte, wie Horatio? Oder wollte er ihn ganz persönlich in die finstere Mine runter schicken?
Senyan schluckte, als er den Söldner erblickte. Er saß an seinem überdachten Arbeitstisch und schrieb an einem Blatt Pergament. War das eine Liste der Dinge, die man in der Mine brauchte? Sollte er sie vielleicht ins Lager bringen?
Am Tischbein lehnte eine riesige, zweischneidige Axt. Okyl war, obwohl er schon ergraut war, ein wahrer Kampfkoloss. Mit ihm konnte nicht einmal Horatio mithalten, da war sich Swiney sicher. Einmal, da hatte ein Rudel Razors den Fehler begangen, den Kessel anzugreifen und dabei auch Beute in Form von einigen Schürfern gemacht. Okyl und seine Männer haben es damals mit den Raptoren aufgenommen. Während die Söldner mit ihren Bögen das Rudel ausschalteten, ungeachtet der vielen Schürfer, die panisch zwischen den Bestien und surrenden Pfeilen um ihr Leben rannten, war es Okyl, der einem einzigen Schlag seiner gewaltigen Axt den Rudelführer enthauptete und das Minenlager damit vermutlich gerettet hat.
Bisher hatte Senyan es nie persönlich mit ihm zu tun gehabt, aber man sagte ihm nach, dass der Boss zwar hart, aber gerecht war.
„Verzeihung“, machte Senyan auf sich aufmerksam, denn Okyl schien beim Schreiben in Gedanken versunken zu sein.
„Ah, Senyan, richtig. Sei mir gegrüßt“, er streckte ihm die mächtige Pranke aus und die freundliche Begrüßung nahm dem Alten ein wenig die Angst.
„Ihr wolltet mich sprechen?“
„Genau. Vielleicht ist dir ja schon zu Ohren gekommen, dass vor zwei Tagen einer der Sektenspinner hier im Kessel aufgetaucht ist.“
„Baal Isidro“, sagte Senyan.
„Baal“, wiederholte Okyl und schüttelte dabei den Kopf, „Man hat mir mal gesagt, die Baals seien die Heiligen des Sumpflagers. Aber mehr als Sumpfkraut verkaufende Kuttenträger sind sie ja doch nicht. Aber die Tatsache, dass du ihn kennst, bestätigt ja meine Vermutung.“
Wieder bildete sich ein Kloß in Senyans Hals.
„Er hat mir nämlich auch erzählt, dass er dich kennt. Ob er dir etwas von seinem Kraut vertickt hat, sei mal dahin gestellt, das kann ich nicht kontrollieren. Aber ich kann es auch nicht erlauben, dass die Minenarbeiter alle bekifft sind. Ihr habt immerhin eure freien Tage und wenn euch so viel daran liegt, euch die Birne wegzuqualmen, dann könnt ihr das in der Zeit tun, aber nicht hier während der Arbeit!“
„Ich...“
„Ich will dir gar nichts unterstellen, aber ich habe eine Bitte. Isidro hat mir erzählt, dass er das Zeug für seine Gurus verticken wollte, um Erz zu verdienen. Ich habe ihm die Drogen abnehmen lassen, aber wenn ich ihn jetzt in sein Lager zurück schicke, bekommen wir Ärger mit den Sumpfies. Nicht, dass ich Angst vor ihnen hätte, allerdings ist Lee der Meinung, dass wir uns in der brisanten Situation mit dem Alten Lager keine weiteren Feinde machen sollten. Also geben wir ihm sein Erz. Wenn er es sich verdient hat.“
Okyl pfiff einen seiner Söldner zu, welcher daraufhin in einer Hütte verschwand.
„Und jetzt kommst du ins Spiel. Ich brauche jemanden, der schon lange hier im Kessel ist, jemandem, dem ich vertrauen kann und der aufpasst, dass Isidro seiner Arbeit pflichtgerecht nachgeht. Er wird dein neuer Mitbewohner und mit dir den Rest deiner zwei Wochen schürfen.“
Kaum gesagt, brachte der Söldner ihm auch schon besagten Sektenspinner, in Handfesseln geschnürt, heran. Man befreite ihn und gab ihm eine Spitzhacke zum Arbeiten.
„Kann ich mich auf dich verlassen?“
Senyan nickte eilig: „Natürlich, Boss.“
„Dann viel Erfolg. Und gib mir Bescheid, wenn er Ärger macht.“
„Mach ich. Ach und Boss...“
„Ja?“
„Stimmt es, dass es unten in der Mine wieder Tote gegeben hat?“
Okyl strich sich mit der Hand übers Gesicht, als fühlte er sich ertappt.
„Ja, es war ein Unfall, aber das kommt hier nun mal vor. Die Jungs haben an einer brüchigen Stelle geschürft und sind verschüttet worden. Aber darüber brauchst du dir keine Sorgen machen. Kümmere dich einfach um Isidro, klar?“
„Klar.“
Geändert von Ronsen (18.11.2013 um 11:18 Uhr)
-
Schweigend und mit raschem Schritte lotste Senyan seinen neuen Schützling aus der Hörweite des Minenaufsehers Okyl. Isidro folgte ihm bis sie an ihrer Hütte angekommen waren. Doch anstatt sich direkt an die Arbeit zu machen, wollte der Sektenspinner anscheinend drinnen bleiben.
„Komm! Wir müssen jetzt arbeiten. Du kannst dir's heute Abend hier bequem machen.“
„Hmpf. Ich empfange meine Befehle nicht von einem Ungläubigen. Der Schläfer selbst wird mir sagen, wie es weiter geht. Bis dahin werde ich tun, was in meiner Macht steht, um ihn zu erhören: Schlafen.“
Der Schläfer ist eine neue Gottheit, die von der Bruderschaft des Sumpfes innerhalb der Barriere verehrt wird. Er spricht zu seinen Angehörigen durch Visionen im Schlaf oder nach ungebremstem Konsum von Sumpfkraut. Obwohl Senyan auch sehr viel von der Droge zu sich nahm, hatte dieser ominöse Meister noch nicht zu ihm gesprochen. Seiner Meinung nach existierte das Sumpflager nur auf Grund ihres begehrten Tabaks. Er hatte auch schon mit dem Gedanken gespielt, das Neue Lager hinter sich zu lassen und seinen Lebensabend dort zu verbringen. Doch dann müsste er sich seinen Kopf rasieren und in weibischen Röcken herumlaufen. Bis ihm das Alter die Haare nicht von selbst kostete und er keiner neuerlichen Modeverirrung unterlag, würde er weiter im Kessel arbeiten und seinem Sumpfkrautkonsum dank Menschen wie Isidro nachkommen können.
Aber damit dies möglich war, musste dieser ins Sumpflager zurückkommen und neue Waren bringen. Und das war wiederum nur möglich, wenn er sich sein benötigtes Erz beim Schürfern erarbeitete.
„Nein, du wirst jetzt deinen faulen Arsch aus der Hütte bewegen und dich an die Arbeit machen, weil ich sonst Okyl von deiner Befehlsverweigerung berichte und der dich noch länger gefangen hält.“
Isidro starrte seinen einst so treuen Kunden finster an. Die Tattoos in seinem Gesicht schienen einen Fluch zu zitieren, den er gerade mit seinen eiskalten Blicken auf Senyan aussprach. Dann verzogen sich die Augenbrauen des Glatzkopfes und er schien jetzt eher verzweifelt zu sein.
„Ich kann doch mit meiner guten Robe keine Spitzhacke schwingen. Außerdem regnet es! Ich hasse Regen. Im Sumpflager regnet es auch viel, nur darum habe ich mich freiwillig für den Krautverkauf im Neuen Lager gemeldet. Weil es hier trockener sein sollte. Pah.“
„Komm jetzt mit“, der Schürfer packte Isidro am Handgelenk und zerrte ihn bis zu einer sehr bekannten Hütte, „Swiney verteilt die Schürferklamotten. Warte hier auf ihn, er kommt sicher gleich wieder. Und dann lass dir von ihm sagen, wo du arbeiten kannst.“
„Ich dachte, ich soll bei dir schürfen.“
„Ach weißt du“, Senyan lachte trocken, „Da, wo ich schürfe, ist es immer so schön ruhig. Wäre schade darum, wenn sich das ändert.“
Damit begab sich der Schürfer auf den Weg zur Arbeit und überließ das ungewünschte Anhängsel seinem Freund Swiney. Doch lange währte seine Ruhe nicht.
„Guten Morgen Senyan“, meldete sich nach nur einer Stunde schon der kräftige Horatio zu Wort, „Swiney sagt, wir sollen die Plätze tauschen. Da ist so ein komischer Typ aufgetaucht, den du in die Arbeit einführen sollst. Ich hätt's ja selbst gemacht, aber mein Umsatz sei zu gut, als dass ich mich mit einem Neuen herumärgern sollte.“
„Oh, wie aufmerksam von Swiney“, knurrte Senyan.
„Pass bloß auf mit dem“, meinte Horatio noch und deutete dabei auf den Sektenspinner, „Ich glaube, der ist nicht ganz dicht.“
Seufzend nahm Senyan einen Stein und krakelte die beiden Striche weg, die er hier an die Wand gemalt hatte. Dann ging er zu seinem neuen Arbeitsplatz und unterwies den Sektenspinner in der großen Kunst des Erzschürfens.
Isidro sah putzig aus. Mit richtigen Schürferklamotten und einer Spitzhacke in der Hand war er Senyan schon wesentlich sympathischer als mit dem Rock. Nur das bemalte Gesicht stach jetzt noch mehr hervor.“
„Du siehst aus, wie ein Gaukler“, witzelte der Schürfer.
Isidro runzelte die bunte Stirn: "Ich verstehe nicht."
„Schon gut. Also, um das hier so einfach wie möglich für uns beide zu machen, wirst du dort drüben an der Nordwand arbeiten und ich hier. Schlag einfach so lange mit der Hacke gegen die Wand bis du das blau schimmernde Erz freiliegen siehst. Der ganze Berg besteht daraus, so lange sollte es nicht dauern.“
„Hey, auf deiner Seite ist ja schon etwas freigelegt!“, beschwerte sich Isidro. Da hatte Horatio wenigstens einen guten Teil geleistet, dafür, dass er Senyan sein ruhiges Plätzchen weggenommen hatte.
„Jeder Brocken, den du aus dem Gestein löst, kommt in den Sack dort. Du solltest versuchen, wenigstens drei Säcke pro Tag zu füllen. Hast du das alles verstanden?“
„Nein, der Schläfer hat mir die ganze Zeit dazwischen geschrien, wie unsinnig all das hier ist. Erzähl mir lieber mal ganz von vorne, warum ihr euch vom Alten Lager losgesagt habt und stattdessen hier euer eigenes Süppchen kocht.“
Als Senyan ihn ignorierte und mit der Arbeit begann, tat es ihm Isidro endlich gleich. Und wegen all des Geraffels um Isidro war die Zeit bis zur Mittagspause schon weit fortgeschritten.
Schließlich ertönte der erlösende Gong und Senyan ließ die Hacke fallen, um unverzüglich zum Mittagessen zu gehen. Die Schlange war noch ganz kurz. Senyan war Dritter, Isidro hatte er nichts gesagt, der starrte noch ganz verdutzt von seinem Arbeitsplatz aus, wie alle Schürfer in Richtung Ausschank eilten. Der Blondschopf war noch nicht zu sehen. Als Senyan beim Koch Horrace angekommen war, grinste dieser breit über beide Backen.
„Du hast ja gute Laune“, stellte Senyan fest, als Horrace ihm pfeifend zwei große Kellen voll Reis ausschöpfte und ihm sogar einen Apfel dazu gab. Normalerweise musste man diese extra bezahlen.
„Erinnerst du dich noch an den Blondschopf von neulich? Sein Name ist Mitch. Höhö, klingt das nicht doof?“
„Kann mich kaum halten. Nun komm zur Sache.“
„Ich habe vorhin die Söldner gerufen, weil er eine halbe Stunde zu früh gekommen ist und nach Essen verlangt hatte. Die haben ihm eine Extrastunde aufgebrummt. Er kriegt ab jetzt sein Essen später als alle anderen.“
„Hmm... vielleicht hättest du es ihm auch einfach geben sollen...“
„Was? Wie kommst du denn jetzt darauf? Der wird dir schon nichts tun, das halbe Hemd. Wenn es noch mal Stress gibt, dann hat er es auch mit mir zu tun und...“
„Kommt schon, macht hin! Ich hab Kohldampf.“, unterbrach sie jemand aus der Reihe und Senyan verabschiedete sich mit einer knappen Geste von Horrace.
Der Apfel schmeckte lecker, richtig saftig und sauer. Es soll schon Leute gegeben haben, die wegen Diebstahl eines Apfels in die Kolonie geworfen worden sind. Solche Früchte waren sehr wertvoll, Importe aus der Außenwelt, denn hier in der Kolonie wuchsen keine Obstbäume. Der Regen wurde allmählich heftiger und eine finstere Wolke bahnte sich ihren Weg über den Horizont. Hoffentlich würde es kein Gewitter geben, Senyan mochte zwar den Nieselregen, aber er hasste Unwetter.
Geändert von Ronsen (18.11.2013 um 11:30 Uhr)
-
Die Stunden der Arbeit vergingen langsam und der Regen wurde allmählich immer heftiger. Als plötzlich der Trommler unten im Kessel auftauchte und mehrfach heftig Alarm schlug, ließ Senyan laut knurrend die Spitzhacke fallen.
„Verflucht, auch das noch.“
„Was ist denn nun schon wieder?“, Isidro hörte prompt ebenfalls auf zu schürfen und auch für den kräftigen Horatio war dieser Aufruhr etwas Ungewohntes.
„Schnappt euch jeder einen Eimer und macht euch auf den Weg nach unten.“
Da sie hier auf blankem Fels arbeiteten und die einzige merkliche Abflussspalte die Mine selbst war, füllte sich bei einem solchen Unwetter der Kessel rasant mit schmutzigem Regenwasser. Und damit die Stützpfeiler der Mine nicht aufweichten oder die Arbeiter drinnen gar ertranken, mussten sie das Wasser schnell abschöpfen.
Der Alte scheuchte seine beiden Gefährten an und fand sich selbst schon bald in einer langen Reihe von Arbeitern und Söldnern, die Eimer um Eimer das Wasser weiterreichten und aus Kessel und Mine transportierten. Hier zeigte sich, was für eine geschlossene Einheit die Männer der Freien Mine waren; keiner wagte es auch nur, sich beim Regen in die trockene Hütte zu verkriechen und seine Gefährten im Stich zu lassen.
Die Kehle des Kessels hatte sich bereits knietief mit Wasser gefüllt, da bemerkte Senyan etwas Seltsames. Der Boss Okyl lief unten mit Swiney herum und sie schienen heftig zu diskutieren. Kurz darauf humpelte der Schürfer mit hängenden Schultern davon und entsetzt konnten die Arbeiter außerhalb beobachten, wie das Gitter der Mine geschlossen wurde.
„Bleibt in der Mine!“, hörte man Okyl unten brüllen, „Ihr bleibt drinnen bis das Unwetter vorbei ist!“
„Scheiße, das kann er doch nicht machen!?“, rief Horatio, der hinter Senyan stand. Der Alte reichte ihm einen vollen Eimer weiter: „Bist du immer noch scharf darauf, in der Mine zu arbeiten?“
„Die Leute könnten ertrinken!“
„Glaub mir, das ist hier noch nie passiert, weil...“
Es erübrigte sich, weiterzusprechen. Nachdem das Gitter unten war, ließ Okyl die ganze Mine mit ein paar großen Holzplatten verschließen, damit kein Wasser mehr tiefer eindringen konnte. Senyan sah dem alten Horatio den Schreck deutlich an. Er stellte sich vermutlich gerade vor, wie es war, wenn man knietief im Wasser stand, der letzte Ausweg vergittert wurde und einem plötzlich auch noch das Tageslicht genommen wurde. Wie das eiskalte Wasser langsam Besitz über den eigenen Körper ergriff, ihn lähmte und man sich im stillen, dunklen Loch die Kehle wund schrie, doch niemand kam einem zur Hilfe. Man konnte nur beten, dass das Unwetter doch endlich vorbei war...
Der Abend verging und die Nacht tat es ihm gleich. Bis in die frühen Morgenstunden herein hielt der Regen an und so lange mussten sie stehen und Eimer schöpfen. Als die Sonne schließlich aufging und der gröbste Schaden verhindert war, ging ein erleichtertes Raunen durch die Reihe. Dankbar vernahm Senyan die Worte seines Kameraden Swiney, der meinte, dass sich heute alle einen Tag frei nehmen und ausschlafen sollten. Die Mine wurde auch wieder erhellt, doch noch ließ man das Gitter unten. Senyan war viel zu müde, um auch nur einen weiteren Gedanken an die anderen Arbeiter unten zu verschwenden. Er winkte nur ab und schleppte sich in Richtung seiner Hütte zum Schlafen. Doch ehe er dort ankam, hielt er noch kurz an seinem Arbeitsplatz an, hob einen Faustkeil auf und kraxelte an die Wand.
III
Denn er hatte den dritten Tag überstanden.
Er war so erschöpft ins Bett gefallen, dass er nicht einmal mehr nach seinem Sumpfkraut gesehen, geschweige denn etwas davon zu sich genommen hatte. Das wurde ihm erst später klar, denn er sollte es bereuen.
Geändert von Ronsen (18.11.2013 um 21:37 Uhr)
-
Tiefschwarze Finsternis umgarnte Senyan. Nur das fahle Mondlicht schimmerte hin und wieder durch die halboffenen Fensterläden, doch bald schon schoben sich dichte Wolkenmassen vor die Sense des Himmels und tauchten den Raum erneut in Dunkelheit. Statt Licht drang ein eisiger Wind durch das Zimmer, sodass sich die dünnen Härchen im Nacken des Jugendlichen aufrichteten. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, doch mit jedem Knarzen der alten Dielen setzte sein Atem aus. Er blinzelte mehrfach und rieb sich die Augen, er versuchte, die Konturen der Einrichtung zu erkennen, doch es gelang ihm nicht.
Plötzlich ein schepperndes Geräusch von zerspringendem Glas, das sein Herz fast aussetzen ließ, gefolgt von einem zerknirschtem „Scheiße!“
„Was ist passiert?“, flüsterte Senyan, obwohl das gar nicht nötig war, weil außer ihm und seinem Gefährten ohnehin niemand hier war. Oder doch?
„Ich habe die Lampe zerdeppert“, antwortete sein Begleiter. Senyan wollte sich hinabbeugen und beim Aufräumen helfen, da zerschnitt er sich die Hand an einer scharfen Glasscherbe.
„Autsch!“
„Sei vorsichtig... geh lieber mal beiseite.“
Genervt tapste Senyan in Richtung Fenster und öffnete es ein wenig weiter. Das warme Blut quoll ihm über den rechten Daumen. Er begann unwillkürlich es abzulecken, damit er nicht alles volltropfte. Unterdessen begann sein Gefährte, einige Schubfächer und Schränke zu durchstöbern.
„Wonach suchst du?“
„Kerzen“, zischte sein Freund, „Hast du deine Zunderbüchse?“
„Klar“, diese Zunderbüchse hatte Senyans Vater gehört. Es war alles, was ihn noch an seinen alten Herren erinnerte. Er wartete bis sein Begleiter mit einer klobigen, weißen Kerze zu ihm herüber gekommen war, denn mit seinen dünnen Latschen wollte er nicht noch einmal in die Nähe der Scherben gelangen.
„Lass mich“, Senyan verlangte nach der Kerze.
„Pass aber auf, dass du nicht das ganze Haus abfackelst.“
Vorsichtig entzündet der junge Mann mit den langen, dünnen Fingern die Kerze. Das erste, was er sogleich erblickte, war die Fratze seines blonden Freundes Aleph, der ihn erschrecken wollte. Senyan schubste ihn ein Stück weg.
„Hehehe, nicht frech werden“, sein blonder Freund kam wieder einen Schritt näher, „Hier, ich hab noch ein paar mehr...“
Sie zündeten einige Kerzen an und erfüllten so die schaurige Bude mit strahlendem Licht. Während Senyan sich gleich daran machte, die Scherben wegzuräumen, machte sich Aleph an einem großen, filzigen Teppich zu schaffen, auf dem eine halbnackte Frau abgebildet war.
„Was machst du?“
Aber sein lockenköpfiger Freund antwortete nicht, sondern rollte einfach weiter den Teppich zusammen. Neben einer Unmenge an Staub fand sich darunter auch eine Falltür.
„Na, was sagst du dazu? Genial oder?“, Aleph strotzte vor Stolz.
„Ich finde deinen Geschmack für Teppichmuster etwas bedenklich.“
Alephs Vater war vor ein paar Tagen gestorben und hatte sein klägliches Erbe seinem einzigen Sohn vermacht, der damit nichts Besseres zu tun hatte, als eine baufällige Hütte im Armenviertel von Montera zu kaufen und den Rest für ein derartiges Kunstwerk von einem Teppich auszugeben.
„Du weißt genau, was ich meine.“
„Mach mal auf!“
„Nein. Du machst sie auf!“
Der Blondschopf warf ihm einen großen Schlüssel zu, den Senyan nur unbeholfen fangen konnte.
„Das ist immerhin dein neues Zuhause.“
Senyan schluckte.
Aleph hatte ihn vor zwei Tagen auf dem großen Maisfeld seines Vaters abgefangen, wo Senyan gerade am Ernten beteiligt war. Es war ein kalter Spätherbsttag und wie jedes Jahr waren die Bauern wieder zu spät dran mit der Ernte. Es war Senyans sechzehnter Winter, der sich schon mit eisigen Klauen ankündigte. Aleph kam gerade in dem Augenblick, da sein Freund schon wieder eine Standpauke fürs Faulenzen abgegriffen hatte.
„Wie lange willst du dir die Behandlung dieses alten Sacks eigentlich noch gefallen lassen?!“
„Zufällig ist dieser alte Sack mein Vater. Sei still, sonst hört er dich noch.“
Sein Vater war nach dem Tod von Rumpel vor fünf Jahren schon sehr verbittert. Als Mutter aber letzten Winter auch noch nach einer Grippe umgekommen war, war er nicht mehr derselbe. Er behandelte sowohl Söhne als auch Knechte wie Tiere und trieb sie und sich selbst bis ans Äußerste als sei körperlicher Schmerz die einzige Möglichkeit über die Trauer hinweg zu kommen. Es war auch das schlimmste Jahr in Senyans noch jungem Dasein und er hatte nicht selten daran gedacht, einfach hinfort, seinen eigenen Träumen nachzugehen; Kneipen besuchen, Freunde finden, Frauen nachstellen, auf die Jagd gehen. Doch er war der älteste Sohn und daher für sein Leben damit gestraft, auf diesem Hof zu bleiben und dem König seine beschissenen Maiskolben anzubauen.
Aleph hatte ihm ein Angebot gemacht, das er nur schwerlich ablehnen konnte. Mit ihm gemeinsam in Montera wohnen und das Leben in der Stadt beginnen! Und nach einem letzten, heftigen Streit mit dem Vater, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, fand sich Senyan in eben jener Junggesellenbude wieder, die er zukünftig sein Zuhause nennen konnte.
Er nahm den Schlüssel zögerlich und begann, an dem rostigen Schloss zu fuhrwerken. Nach einigem Rucken schnappte es laut klackend auf.
„Voila. Willkommen daheim, Kumpel!“
Senyan konnte sein Glück kaum fassen, als er die Stufen hinab in den eisigen Keller stieg. Mit einigen Kerzen wollte er auch diesen beleuchten, immerhin befanden sich bereits ein Schrank und ein Bett darin. Gerade wollte er seiner Freude vollen Ausdruck verleihen, da verfing sich sein Gesicht in einem langen, klebrigen Spinnenfaden. Er riss den Mund auf und schrie.
„AAAAH! NIMM DAS WEG, NIMM ES WEG!“
Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich in seiner Hütte im Kessel der Freien Mine und war wieder vierzig Jahre älter. Schweißgebadet und steif wie ein Wachmann saß er in seinem Bett und atmete hektisch ein und aus. Spinnen, er hatte seit jeher unglaubliche Angst vor diesen Viechern. Nur langsam wurde ihm klar, dass er nur wieder von seiner düsteren Vergangenheit geträumt hatte.
‚Träume...', er schüttelte den Kopf. Er musste dringend etwas rauchen, sonst würden sie ihn auch die nächsten Nächte hindurch einholen. Sie wühlten all das hervor, was er verdrängte. Er musste diese finsteren Gedanken mit einer doppelten Portion Sumpfkraut ausräuchern.
Doch ein Blick in seine Truhe bescherte ihm ein saures Aufstoßen. Das Beutelchen mit Sumpfkraut war fort.
Geändert von Ronsen (24.11.2013 um 21:00 Uhr)
-
'Das darf nicht wahr sein', Senyans Kopf brummte. Ratlos und rastlos zugleich durchwühlte er seine Hosentaschen, die Bettdecke und schüttelte sogar seine Schuhe aus, wohl wissend, dass er an einem solch muffigen Plätzchen niemals sein Schätzchen deponieren würde. Zweimal, dreimal, immer wieder tastete er seine Truhe ab und fühlte auch unter der Liege, obwohl er außer irgendeiner klebrigen schwarzen Substanz nichts finden konnte. Keine Frage, das Kraut war weg. Und weil er, soweit man das überhaupt selbst beurteilen konnte, noch nicht dement war, kam nur ein möglicher Verbleib in Frage: es wurde geklaut und zwar von jemandem, der den Stoff noch dringender nötig hatte als er selbst. Jemand, der vermutlich keinen Tag der letzten Jahre innerhalb der Barriere ohne Sumpfkraut ausgekommen war. Jemand, dem selbst seine Ration unfreiwillig abgenommen wurde und der nichts von der Brüderlichkeit unter den Schürfern wusste.
Baal Isidro - sein neuer Mitbewohner!
Und die Tatsache, dass er jetzt, der Abend war bereits angebrochen, nicht in der Hütte war, sprach Bände. Bevor Senyan ihn aber suchen und mit seiner schlechten Laune belagern würde, musste er doch einmal in dessen Truhe nachsehen. Dumm nur, dass gerade in diesem Moment jemand an seine Tür klopfte und der Alte geradezu panisch erschrak und zu Boden plumpste.
„Hallo Sen. Na, hast du Hunger? Ich habe Lärm in deiner Hütte gehört. Was... was machst du denn da?“
Senyan fand sich am Boden kauernd wieder und kam nur schwerlich wieder hoch. Der alte Swiney stand mit einem nervösen Lächeln in der Tür. Er hatte eine Fackel in der Hand, deren Schein die gruseligen Konturen seiner Fischaugen und der fliehenden Stirn noch verstärkte.
„Nichts ich... ich suche nur nach etwas. Hast du Isidro gesehen?“
„Oh nein, Senyan. Sag mir nicht, dass er verschwunden ist.“
„Hast du noch Stoff?“, fragte Sen beiläufig, doch Swiney schien in Gedanken.
„Wenn er nicht hier ist, ist er vermutlich abgehauen... dann fragt Okyl mich, wo er hin ist und ich sage ihm, dass du ihn hast entwischen lassen, aber letztlich bin ja ich für dich verantwortlich, was bedeutet, dass Okyl auf mich sauer sein wird. Oh Senyan, das kann doch nicht dein Ernst sein!“
Swiney hatte sich schon den Mund fusselig geredet.
„Jetzt reg dich ab...“, schnaubte Senyan zurück, Du regst dich ja schon auf wie meine Mutter, Innos hab sie selig.“
„Ich rege mich nicht ab, ich könnte hier meinen Posten verlieren, ist dir das nicht klar?! Nach allem, was in letzter Zeit passiert ist!“
Das machte Senyan neugierig: „So? Was ist denn in letzter Zeit passiert? Ich entsinne mich, dass wir dieses Gespräch schon einmal begonnen hatten.“
„Und wo soll ich anfangen?“, der alte Aufseher seufzte und setzte sich auf Senyans Bett, „Du wolltest wissen, was unten in der Mine vor sich geht, richtig?“
„Ja und mich würde interessieren, warum das Gitter beim schlimmsten Mistwetter verschlossen wurde. Ist es eigentlich immer noch zu?“
„Nein“, Swiney schüttelte den Kopf, „Hör zu, es gab einen Zwischenfall. Ein paar Minecrawler haben angegriffen und zwei unserer Kameraden verspeist. Wir mussten einen Stollen dicht machen.“
Also hatte Okyl ihn angelogen. Von wegen Arbeitsunfall... Senyan lief ein kalter Schauer über den Rücken. Minecrawler... riesige Spinnen, die in den Untiefen des Berges ihre Nester bauten und mit ihren scharrenden Kiefern manchmal bis in den Kessel hinauf zu hören waren. Die Söldner tun ihr Bestes, um dieser Plage Herr zu werden. Doch hin und wieder werden ganz ungewollt neue Höhlen erschlossen und meist liegt darin nicht nur reichlich Erz, sondern auch der Tod begraben. Sie waren einer der wesentlichen Gründe, warum Senyan niemals in die Mine selbst wollte.
„Ach so“, kühl winkte der Alte ab, immerhin kam so etwas häufiger vor.
„Das ist nicht alles, Senyan. Man befürchtet, dass jemand da unten krank geworden ist... dass jemand infiziert ist.“
Senyans Herz pochte wieder schneller. Warum musste Swiney ihm jetzt solche Horrorgeschichten auftischen? Sie waren doch nicht beim Campieren!
„Wir wissen noch nicht, wie gefährlich die Krankheit ist, darum soll niemand die Mine verlassen, ohne dass ein Magier sich dessen Zustand näher angesehen hat. Ich glaube morgen soll einer der Kuttenträger hier ankommen. Ich habe schon Ärger von Okyl bekommen, weil ich neulich noch jemanden aus der Mine herausgeholt habe. Ich kann es mir nicht erlauben, dass Isidro jetzt auch noch Unsinn veranstaltet.“
„Warum machst du dir über den Sorgen?“, fragte Senyan, „Was soll der schon anstellen? Außer mein Sumpfkraut klauen...“
Die letzten Worte kamen so verbissen aus seinem Mund, dass der Aufseher hellhörig wurde.
„Oh nein, was wenn er es verkaufen will? Was, wenn er wieder erwischt wird!?“
Beide starrten sich kurz in die sorgenvollen Augen, der folgende Wink war klar. Senyan eilte aus der Hütte und machten sich auf die Suche nach dem entflohenen Sektenspinner, Swiney humpelte ihm hinterher. Da sie den ganzen Tag über geschlafen hatten, war es bereits wieder dunkel. Senyan fürchtete, dass sie Isidro in der Finsternis erst recht nicht finden würden.
Doch die Sorge stellte sich als reichlich unbegründet heraus. Wenn man ein Gespür für Tabak und sein markantes Aroma hatte, konnte man Raucher wie an einem Faden geführt hinterherlaufen. Senyans sensibler Zinken führte ihn geradewegs in eine kleine Wölbung in der Felswand, wo er den kahlköpfigen Sektenspinner erblickte. Isidro saß im Schneidersitz auf einem Stein, die Hände auf den Knien liegend und sah aus als würde er meditieren. Tatsächlich flüsterte er sogar einige seltsame Wortfetzen aber Senyan hatte gar nicht die Geduld, ihm zuzuhören. Stattdessen schnipste er ein paarmal mit dem Finger und holte den Sumpfbruder damit aus seiner Trance. Dieser öffnete benebelt die Augen.
„Wo ist mein Stoff?“, fragte Senyan sofort schroff.
„Hach... mein liebster Mitbewohner. Was suchst du vergeblich, die Materie zu erhalten, wenn doch nur das Training des Geistes zur Unsterblichkeit führt?“
Inzwischen war auch Swiney mit seiner Krücke dazu gestoßen.
„Den drei Heiligen sei Dank, er ist noch da.“
„Danke nicht den alten Göttern, danke dem Schläfer! Denn nur er wacht über uns. Hihihihihi...“
„Was lachst du so dämlich?“, knurrte Senyan und packte den Sektenspinner am Kragen.
„Ich sagte: Der Schläfer wacht über uns. Er schläft und wacht zugleich. Ist das nicht unglaublich?“
Senyan seufzte und sagte zu Swiney gewandt: „Benehme ich mich auch so, wenn ich einen über den Verstand geraucht habe?“
„Nein“, antwortete der alte Fischkopf, „Aber du hast schon einmal den Drang gehabt, dich den ganzen Abend am Ellbogen zu lecken... Was machen wir nun mit ihm?“
Senyan runzelte die Stirn: „Sieht so aus, als hätte er nichts mehr dabei. Entweder er hat das ganze Kraut aufgeraucht, was ihn allerdings hätte umbringen müssen, oder er hat es irgendwo versteckt. Ich schlage vor, wir bringen ihn zu mir und fesseln ihn dort.“
Gesagt, getan.
Mit großer Mühe hievten die beiden Alten den Sumpfbruder in Senyans Hütte und während Swiney ein Seil holte, ging Senyan zu der Wand, an der er die Tage abzählte und kritzelte einen vierten Strich heran.
IIII
Isidro schlief inzwischen. Die beiden Schürfer trafen sich noch mit Horrace, um etwas essen, ehe sie ebenfalls wieder zu Bett gingen. Senyan wollte eigentlich nicht schlafen bis Isidro ihm sein Kraut wiedergegeben hatte, sonst würden die Träume wiederkehren. Doch er war von dem stundenlangen Wassertragen von gestern noch so erschöpft, dass er sich seiner Müdigkeit nicht lange erwehren konnte...
Geändert von Ronsen (18.11.2013 um 22:40 Uhr)
-
An einem warmen Herbstabend saß Senyan einmal auf der Mauer im Hof des Zimmermanns und beobachtete den Sonnenuntergang. Der große, rote Feuerball ging um diese Jahreszeit immer hinter der Wachturmspitze unter. Sobald dies geschah, begannen die großen Glocken der Kirche zu schlagen, die Schmiedeöfen hörten auf zu dampfen, die Ladenschilder wurden umgedreht und die Menschen suchten in ihren Häusern Schutz vor Kälte und Finsternis. Das Leben in der Stadt Montera unterschied sich kaum von der Zeit im Dorf Silden. Es stank nur mehr nach Abfall, als nach Tieren.
Senyan kaute auf seiner Pfeife herum, wie er es in letzter Zeit sehr gerne tat. Er hatte sie sich während seiner Zeit als Geselle selbst gefertigt. Der Korpus war aus Kirschbaumholz, etwa eine halbe Elle lang, zwei Finger dick und S-förmig gebogen. Bislang zierten weder Maserung, noch Veredelungen das aufwendige Stückchen Handarbeit, doch im Herzen war es dem Burschen der wertvollste Schatz.
Gerade als die Glocken verklangen, vernahm Senyan schnelle Schritte von der Straße, die vom Turm aus durch das Handwerkerviertel in Richtung Marktplatz führte. Wie ein Sausewind rannte ein junger Blondschopf an ihm vorbei, der es sich nicht entgehen ließ, Senyan in seinem eiligen Spurt noch zu winken. Der Geselle nahm die Pfeife aus dem Mund und sprang von der kleinen Mauer herab auf die Straße, um ihm hinterher zu schauen. Er bog in eine Seitenstraße ab.
„BLEIB STEHEN DU LUMP!“
Völlig außer Atem kam ein rundlicher Wachtmeister mit Schnurrbart und glühend roten Pausbacken die Straße entlang. Ganz offensichtlich war er dem Blondschopf auf den Fersen und gerade dabei, ihn aus den Augen zu verlieren.
„Hey Junge!“, wandte sich der Soldat an Senyan, „Hast du gerade einen lockigen Blondschopf hier vorbei rennen sehen? Etwa so ein Hänfling wie du, aber noch etwas größer?“
„Ja“, antwortete Senyan hilfsbereit, „Er ist in Richtung Marktplatz gerannt. Hat er euch etwa bestohlen?“
„Er hat für Erregung öffentlichen Ärgernisses gesorgt und sich über die Fülle der myrtanischen Soldaten lustig gemacht.“
„Aber es ist doch ein großes Heer, in Hülle und Fülle“, entgegnete Senyan schulterzuckend.
„Nicht diese Fülle, Junge“, brummte der Soldat und zog seinen Gürtel straffer, „Jetzt geh nach Hause, ich muss mir diesen Lausbuben schnappen!“
Atemlos stolperte der Soldat weiter durch die Straßen und als er nicht mehr zu sehen war, begann auch Senyan, sich auf den Weg zu machen.
Der Wachturm war keine fünfhundert Schritt entfernt, daher würde es nicht lange dauern, bis der Milizionär seine Verfolgung aufgegeben hatte und sich wieder auf den Rückweg machte. Für Senyan reichte die Zeit gerade so, den Turm zu erreichen und die Lage zu prüfen. Es hatte sich ein neuer Wachmann vor dem Tor eingefunden, ein durchtrainierter, dunkelhäutiger Jüngling. Enttäuscht lauerte Senyan hinter ein paar Kisten und wartete darauf, dass Aleph zurückkehrte. Er würde ihm die traurige Kundschaft übermitteln müssen, dass ihr Plan fehlgeschlagen war, da der Wachmann so schlau war, einen Ersatzmann zu rufen, ehe er sich auf die Jagd nach dem Blondschopf gemacht hatte. Doch es sollte sich alles noch zum Guten wenden.
Gerade als der dicke Wächter enttäuscht zurück kehrte, sprang Aleph erneut aus einer Seitengasse hervor und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal war der Dicke so dumm, seinen durchtrainierten Freund hinterherrennen zu lassen, doch wie er weitere Beleidigungen zu seiner Statur vernahm, nahm er auch selbst wieder die Verfolgung auf. Aleph war sich seiner Sache anscheinend wieder sehr sicher. Denn so gut bewaffnet die Soldaten auch machen, sie würden in ihren Rüstungen nie einen so schnellen und durchtrainierten Läufer wie ihn fangen. Da bekam Senyan also doch noch seine Chance.
Im Schutze der Dunkelheit schlich er sich an die Tür des Wachturmes und nahm seine Pfeife zur Hand. Mit einer Drehbewegung entfernte er das Mundstück und holte seinen dreikantigen Dietrich aus dem Geheimversteck. Es dauerte nicht lange, da war das alte Schloss geöffnet und er konnte sich in den Turm hinein begeben. Hier wurden nicht nur die Waffen und Rüstungen der Soldaten gelagert, sondern auch allerhand Schmuggelware und illegale Dinge, die von den Dienern Innos beschlagnahmt wurde. Senyan füllte seine Taschen mit Goldmünzen, die er in einer Kiste fand und mehreren Beutelchen voll Kraut. Plötzlich knallte die Tür des Turmes auf und der dicke Wachmann packte ihn von hinten am Kragen.
„Wo hast du es versteckt? Gib es wieder her!“
Senyan schreckte auf und sah sich selbst im Griff des wahnsinnigen Isidro wieder. Dieser hatte sich wohl aus den Fesseln befreien können und war nun wieder bei Verstand. Oder?
„Wo ist es hin!? Gib es zurück!“, krächzte er und rüttelte Senyan mit seinen knochigen Fingern.
„Pfoten weg, verdammich!“
Der Schürfer befreite sich aus dem Griff des Irren und hob drohend den Finger.
„Bleib mir fern oder ich rufe die Wachen!“
„Tu das, aber dann wirst du dein Kraut auch ganz schnell abgeben können.“
„Das sagt der Richtige... DU hast mir doch mein Kraut geklaut. Wo hast du es versteckt?!“
„Ich?“, Isidro griff sich verwirrt an den Kopf, „Ich weiß nur noch, dass ich mir das Kraut aus der Truhe genommen habe, raus gegangen bin und mir ein paar Züge genehmigt habe. Und danach weiß ich nur noch, dass du und der andere Mistkerl..., dass ihr beide mich gefesselt habt.“
Senyan seufzte schwer. Was für ein Schreck am Morgen. Und sein eigenes Verlangen nach der Droge wurde von Nacht zu Nacht auch schlimmer. Wenn Isidro sich das Zeug hatte abnehmen lassen, vermutlich von einem der Söldner, könnte dies noch eine lange und unerträgliche Woche für sie beide werden.
„Ich sollte dich den Söldnern ausliefern...“, knurrte Senyan finster.
„Was!?“
„Swiney ist der Vorsteher der Schürfer, schon vergessen? Ich kann dafür sorgen, dass dein Arsch so tief in der von Minecrawlern verpesteten Mine landet, dass ich mir deine dumme Visage mit den dämlichen Kritzeleien darauf nicht mehr anschauen muss!“
„Das könntest du schon tun, aber...“, Isidro grinste angespannt, „Wir wissen beide, dass du auch nach Sumpfkraut gierst. Und ich weiß, wie wir an Kraut herankommen, an verdammt viel Kraut. Dazu bräuchten wir nur jemanden, der in der Lage ist, in das Lagerhaus einzubrechen, in dem sie mich gefangen gehalten hatten. Dort lagert mein ganzer Vorrat.“
„Danke für die Info, ich kann dich jetzt immer noch verpfeifen.“
„Aber du brauchst mich! Ich kann dir helfen, ich kann sie... ablenken, während du das Zeug klaust. Ich kenne dich doch, du bist seit Monaten schon einer meiner treusten Kunden gewesen und hast mir immer erzählt, was für ein geschickter Dieb du einst warst und...“
„Jetzt halt die Luft an“, Senyan atmete schwer aus, „Schon gut, ich werde mir etwas überlegen... und du strengst deinen Eierkopf an, vielleicht erinnerst du dich ja wieder, wo du das Kraut zuletzt gesehen hattest. Und jetzt lass uns erst einmal frühstücken gehen.“
Als wäre der Stress nicht schon groß genug gewesen, wurden alle Minenarbeiter am Vormittag unten im Kessel versammelt, wo Okyl einen Kerl in blauer Robe bei sich hatte, unverkennbar ein Wassermagier. Der Söldnerboss richtete heute einige wichtige Worte an seine Arbeiter.
„Männer, es ist euch vielleicht nicht entgangen, dass wir in den letzten Tagen verschärfte Sicherheitskontrollen und Ausgangssperren verhangen haben. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil ein paar Leuten... schlecht geworden ist, vermutlich von faulem Essen.“
Als er das hörte, blickte Senyan zu Isidro herüber und überlegte, ob das der Grund sein könnte, warum er den Sektenspinner nicht einfach gehen ließ. Denn Senyan konnte es sich beileibe nicht vorstellen, dass die Templer und Gurus Ärger machen würden, wenn einer ihre unzuverlässigen Hehler nicht mit dem gewünschten Erz auftauchte. Aber auch die Tatsache, dass faules Essen so ein Durcheinander verursachte, kam Senyan mehr als hanebüchen vor.
„Darum“, setzte Okyl fort, "Ist nun Meister Riordian bei uns. Er wird jeden von uns untersuchen und feststellen, ob derjenige etwas Falsches gegessen hat oder nicht. Ich habe den Test bereits über mich ergehen lassen und mir geht es tadellos, daher macht euch keine Gedanken. Wir werden mit den Arbeitern in der Mine beginnen und heute Nachmittag zu euch im Tagebau kommen. Das war's, macht euch wieder an die Arbeit!"
Senyan blieb nervös. Denn obwohl er erst einmal mit Okyl gesprochen hatte, so klang diesmal ein ungewohntes Zittern in seiner Stimme mit. Was verheimlichte man ihnen noch alles?
Geändert von Ronsen (24.11.2013 um 21:16 Uhr)
-
Als an diesem Tage der Gong zum Mittag ertönte, donnerte Senyan seine Spitzhacke noch gedankenversunken in den müden Felsen. Viele Fragen drängten sich ihm heute auf. Was für eine Untersuchung würde der Wassermagier heute Nachmittag mit ihm machen? Hing das Ganze wirklich mit Swineys Geschichten von dem Minenarbeiter zusammen, der angeblich von einem Minecrawler gebissen und vergiftet wurde? Oder war dies nur ein Vorwand von Okyl, seine Arbeiter auf den Konsum von Sumpfkraut zu testen? Und was passierte, wenn letzteres bei Senyan nachgewiesen wurde?
‚Eigentlich sollte das unmöglich sein‘, versuchte sich der alte Schürfer selbst zu beruhigen, denn so sehr wie er sich bereits nach einer kräftigen Portion Kraut sehnte, musste sich auch der letzte Rest, der noch in seinem Körper verblieben war, bereits verflüchtigt haben. Inzwischen wurden seine Kopfschmerzen immer schlimmer und er fühlte sich fieberig. Innerlich drohte ihm immer wieder eine gähnende Leere, die sich wie ein schwarzes, ihn verschluckendes Loch auftat. Und wie abwesend er nach außen wirken musste, machte ihm mit einem plötzlichen Ruck an der Schulter der kräftige Horatio klar. Beim Zurücktaumeln wäre der Alte beinahe hingefallen.
„Hey Senyan, ist alles in Ordnung? Normalerweise stehst du doch schon vor dem Gong in der Essensschlange.“
„Alles gut“, winkte er genervt ab und bat dabei mit einer abweisenden Kopfbewegung, ihn doch bitte nicht weiter mit leeren Worten zu belangen. Horatio begleitete ihn bis sie bei der Essensausgabe waren und Senyan versuchte tunlichst, sich nichts anmerken zu lassen. Vorne sah er schon seinen Freund Horrace, der fleißig seinen völlig zerkochten, matschigen Reis austeilte. Das Klitschen, so würde Senyan das Geräusch bezeichnen, bei welchem die Pampe von der Kelle in die Schüssel überging, war gut zu hören. Es wiederholte sich kontinuierlich wie das Schlagen einer Spitzhacke in den unerbittlichen Felsen. Senyan fand einen gewissen Gefallen darin, sich in derlei Eintönigkeit zu verlieren und Horrace dabei zuzusehen, wie er Schüssel für Schüssel mit seiner Reispampe füllte.
KLITSCH!
„Der Nächste.“
KLITSCH!
„Der Nächste.“
…
Plötzlich eine Unterbrechung. Ein Augenblick des Schweigens, bei dem Senyan den Kopf hob, die Augen zusammenkniff und den blonden Mitch erkannte, der bei Horrace stand und seine Schüssel fordernd ausstreckte.
„Du kriegst erst nachher was, schon vergessen? Oder soll ich noch mal die Söldner rufen?“
„Ich kriege mein Essen sofort, Schweinebacke!“, zischte der aufbrausende Jüngling. In seiner Rechten funkelte das Messer auf, das Senyan schon einmal hatte einen Schauer über den Rücken laufen lassen.
„Verfluchte Scheiße!“, vernahm er plötzlich den empörten Ruf von Horatio, der sich sogleich nach vorn begab und den blonden Mitch von hinten am rechten Oberarm packte. Der aber, mehr aus Reflex als absichtlich, versenkte den Ellenbogen in Horatios Magengegend und setzte beim Herumdrehen mit dem Messer nach. Der ehemalige Bauer konnte gerade noch einen Schritt zurücksetzen, womit ihn nur die Klingenspitze auf Brusthöhe streifte. Mit einer einzigen, gekonnten Bewegung versenkte er als Dankeschön seine eigene Rechte im schiefen Gesicht des Schürfers, wobei einige Herumstehende einen Schritt zurück traten, um der Blutspur zu entgehen, die der Getroffene beim Fallen ausspuckte. Horatio selbst gelang dies nicht, er musste sich die Spuren des Sieges mit einem Lappen, den der Koch spendierte, wegwischen.
Viel mehr hatte Senyan von dem Vorfall nicht mitbekommen. Zwei Söldner kamen, schrien herum und schleppten Horatio und Mitch fort. Nach einem weiteren Augenblick der Ruhe ging es endlich wieder eintönig weiter und ein leichtes Schmunzeln zierte die Lippen des Alten, als er endlich wieder dieses unverkennbare Geräusch wahr nahm, das ihm ein baldiges Essen versprach.
KLITSCH!
„Der Nächste!“
Geändert von Ronsen (24.11.2013 um 21:21 Uhr)
-
Senyan setzte sich auf eine Bank und beobachtete einen schwarzen Vogel, der am wolkenverhangenen Himmel über dem Kessel seine Kreise zog. Es war ein Rabe, ein großes und kräftiges Exemplar. Bis auf einige Fleischwanzen und die hier im Bergwerk viel häufiger vorkommenden Fleischasseln hatte Senyan hier noch kein Tier wahrgenommen, vor allem keinen Vogel. Man hörte zwar immer wieder von Minecrawlerangriffen und Razors, die zahlreiche Minenhelden hervorgebracht hatten, jedoch schienen die Biester immer dann anzugreifen, wenn Senyan im Neuen Lager war und eine Woche frei machte. Für ihn war schon ein solcher Vogel Grund genug, stutzig zu werden, die Hacke weg zu legen und einfach ein wenig mit der Natur zu kommunizieren.
„Was lockt dich denn an?“, flüsterte der Alte zum Raben empor, „Hat Horrace wieder eine Ration Fleisch im Topf?“
Das wäre eine Erklärung, denn Fleisch gab es wirklich nur aller Jubeljahre mal für die Bergarbeiter.
„Oder labst du dich nach dem verrottenden Fleisch derer, die in der Mine umgekommen sind, Aasfresser!?“
„Hey du!“, die raue Stimme eines Söldners riss ihn aus seinen Gedanken. Es war ein stämmiger Halunke, groß wie ein Schrank und mit einer schillernden Rüstung, die seine Wampe unter einer von ihr selbst gepressten Wölbung verbarg. Er war vielleicht dreißig Jahre alt, hatte kurzes, blondes Haar und einen auffällig breiten Mund. Sein Name war, so glaubte Senyan, Baloro, aber unter den Söldnerkollegen rief man ihn den „Schlinger“. Er hatte nämlich den Ruf weg, jene, die Essen oder sonstige Luxusgüter horteten, um ebendiese zu erleichtern. Der Schlinger war skrupellos zu denen, die nicht teilen wollten und wie ein Blutegel für die, die das Pech hatten, in seinem Wachbereich zu schürfen. Aber er war auch einer dieser Minenhelden, auf die Okyl wohl nicht verzichten wollte.
„Warum arbeitest du nicht, du Lump!? Ich sehe erst einen vollen Sack Erz, wo drei stehen sollten!“
Senyan neigte den Kopf und starrte dem Schlinger mit einem verklärten Blick in die Augen.
„Ich dachte der Doktor kommt gleich, um uns zu untersuchen...“
Der Schlinger setzte sich neben ihm auf die Bank und legte Senyan eine Hand auf die Schulter.
„Der Magier wird die Arbeiter Ebene für Ebene untersuchen. Ebene eins sind die Männer am Kesselgrund. Weißt du, auf welcher Ebene du arbeitest?“
„Ebene vier?“
„Richtig! Ebene vier, ganz oben am sonnigsten Plätzchen des Kessels. Du bist nicht auf den Kopf gefallen, was?“, während der Schlinger ihm die Schulter klopfte, nahm er mit der anderen Hand den Sack mit dem Erz und begann ihn zu begutachten.
„Wie viel ist der dir wert?“
„Ich... ich habe nicht nachgezählt“, stammelte Senyan gedankenlos, „Aber ich verkaufe ihn dir für einhundert Brocken ähm... Erz?“
Der Schultergriff wurde fester, schmerzhaft.
„Versuchst du mich gerade zu verarschen?!“
„Nein...“
„Ich mag es nicht, wenn die Leute mich verarschen“, sein Doppelkinn bebte, „Ich weiß, dass du mit dem Sektenspinner unter einer Decke wohnst. Er hat doch bestimmt noch mehr Sumpfkraut da, oder?“
Als er das Wort hörte, fiel die Trance, unter der Senyan schon seit heute Morgen stand, wie ein Vorhang von ihm ab.
„Mehr… ? Du hast ihm also das Kraut gestern abgenommen?"
Dafür hatte der Schlinger nur ein breitmäuliges Grinsen übrig.
„Du bist wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Ich habe es ihm aber nicht abgenommen, um es selbst zu rauchen. Zumindest nicht alles. Okyl hat mich beauftragt, euch zu überwachen und ich könnte ihm jetzt sagen, dass ihr noch mehr bei euch hattet und es ihm geben...“
Plötzlich zückte der Schlinger das heiß vermisste Säckchen mit Sumpfkraut hervor und wedelte damit vor Senyans Augen herum, „Oder... du überzeugst mich, euch nicht zu verpfeifen.“
„Was willst du denn?“, fragte Senyan nun und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
„Für den Anfang reicht mir eine Hand voll Erz“, diese nahm er sich wie selbstverständlich auch gleich, „Und seit die Rationen gekürzt wurden, fühle ich mich furchtbar ausgehungert. Ich will, dass du zu deinem Kumpel, dem Koch, gehst und er mir eine Extraportion zurücklegt. Am besten mit Fleisch drin!“
„Ich weiß echt nicht, ob ich das machen kann, ich...“
Ruckartig packte der Schlinger ihn am Kragen und hob den mageren Senyan mühelos mit einer Hand hoch. Zum Glück ging in diesem Moment Swiney dazwischen.
„Senyan! Der Magier will dich sehen, kommst du mal eben?“
Als er Swiney gesehen hatte, ließ der Schlinger von Senyan ab. Aber nicht, ohne seinem Befehl Nachdruck zu verleihen.
„Ich will heute Abend noch meine Extraportion Reis oder ich verpfeif euch! Dann müsst ihr in die Mine! Da unten verreckt ihr!“
Dann durfte Senyan gehen.
„Bei Adanos, bin ich froh, dass du mich da weggeholt hast“, keuchte der Alte, als er außer Hörweite von Baloro war und mit dem Schürferboss hinunter bis in Ebene eins lief. Dann erzählte er ihm von der Erpressung.
„Keine Angst, mein Freund“, versuchte sein alter Kamerad ihn zu beruhigen, „Der blufft nur. So einen Auftrag hat er nie bekommen und so wie ich ihn kenne, zieht er sich das Kraut bei jeder Gelegenheit selbst rein. Hast du mal seine vergilbten Zähne gesehen?"
„Fast so vergilbt wie meine, was?“
„Ganz genau!“, Swiney lachte, „Vielleicht solltest du noch einmal mit Isidro reden. Wenn du ihn dazu bringst, Okyl zu erzählen, er hätte Baloro Sumpfkraut verkauft, dann landet Baloro in der Mine und dort wird er so schnell nicht mehr raus kommen.“
Senyan schluckte: „Wie meinst du das?“
„Bis auf weiteres darf keiner mehr raus, der schon drinnen ist, es sind wohl zu viele Leute krank geworden...“
„Was?!“
„Es kommt noch schlimmer: man munkelt, dass jeder, der sich etwas zu Schulden kommen lässt, ab sofort in der Mine landet. Darunter auch Horatio und Mitch, die sich heute Mittag geprügelt hatten. Mir kommt das langsam so vor wie eine Kolonie in der Kolonie.“
„Wir sollten hier verschwinden!“, überlegte Senyan laut, „Vielleicht sollten wir uns doch mit dem Gedanken anfreunden, dem Sumpflager beizutreten, solange es noch nicht zu spät ist...“
Swiney blieb vor einem Zelt stehen.
„Wir sind da. Dort drinnen wartet Riordian. Erweise ihm Respekt.“
Einer der Schürfer kam mit hängendem Kopf aus dem Zelt heraus. Ein Söldner kam und führte ihn in Richtung Mine. Senyan zuckte zusammen.
„Warst du schon zur Untersuchung?“
„Ja, ich bin gesund.“
„Adanos sei Dank.“
„Das bist du aber auch! Wir essen doch immer dasselbe und arbeiten auf derselben Ebene! Nur Mut.“
„Der Nächste!“, schallte es aus dem Zelt und Senyan trat mit rasendem Herzen ein.
Das erste, was dem Alten auffiel, war der strenge Duft scharfer Salben und exotischer Medikamente. Dann kam noch der Geruch von "alter Mann" hinzu, als er Riordian die Hand gab. Dabei war der Magier gewiss zehn Jahre jünger als Senyan, doch in seinem Aufgabenfeld schien es Voraussetzung zu sein, sich seriös zu kleiden, zu schminken und zu riechen. Hatte er Puder aufgelegt?!
„Sei gegrüßt, wie ist dein Name?“
„Senyan, Herr“, erwiderte er mit einer knappen Verbeugung. Der Magier notierte sich den Namen auf ein Stück Pergament.
„Bitte mach deinen Oberkörper frei und setz dich auf den Hocker dort.“
Senyan tat wie ihm geheißen und ließ die medizinische Tortur über sich ergehen. Dazu gehörte, dass ihm ein Holzlöffel in den Mund geschoben wurde, die Pupillen mit einem Lichtzauber untersucht wurden und die cremigen Finger des Magiers an verschiedene Stellen von Brust, Bauch und Rücken drückten.
„Du scheinst keinen Ausschlag zu haben. Deine Pupillen reagieren langsam und du trinkst zu wenig Wasser. Sieht mir nach Entzugserscheinungen aus. Versuche, den Tabakkonsum weiter zu drosseln und trink mehr Wasser. Du kannst wieder zurück an die Arbeit.“
Senyan fühlte sich peinlich ertappt, als der Magier ihm so kühl seine Sucht offen legte.
„Ich muss nicht in die Mine?“
„Nein, du hast Glück. Als einer der wenigen. Trotzdem solltest du den Kessel vorerst nicht verlassen.“
„Was werdet ihr mit den Kranken machen? Habt ihr schon ein Heilmittel gefunden?“
Der Magier schüttelte den Kopf: „Sobald ich weiß, wer alles erkrankt ist, werde ich mich mit meinen Brüdern beraten und nach einer Heilmethode suchen.“
Riordian geleitete ihn nach draußen.
„So lange werdet ihr noch im Kessel bleiben müssen.“
Senyan nickte: „Dann... danke ich euch, Meister.“
Ein Blitz flammte plötzlich am Himmel auf. Der Rabe war zu nah an die magische Kuppel geflogen und fiel Senyan vor die Füße, als dieser gerade aus dem Zelt getreten kam. Das Tier war von der Magie bis auf die Knochen verkohlt worden, einer der Flügel brannte noch.
Senyan brummte leise: „Mir kommt es immer öfter so vor, als ob die Magie nur zur Zerstörung und nie zur Heilung taugt“, und erstickte die Flammen mit einem gezielten Tritt.
Geändert von Ronsen (24.11.2013 um 21:34 Uhr)
-
IIII
Erst fünf Tage waren vergangen, seit Senyan seine Schicht im Kessel begonnen hatte, doch wegen des immer längeren Entzugs vom Sumpfkraut kam es ihm bereits wie ein Monat vor. Seine Motivation zur Arbeit sank mit jedem Schlag, den seine alte Spitzhacke in die blaugrau pulsierende Haut des Berges trieb. Die Lustlosigkeit machte sich besonders am Ende des Tages beim Abgeben der gefüllten Erzsäcke bemerkbar. Weil derzeit durch die Epedemie in der Mine die Exporte ins Neue Lager gestoppt wurden, hatte Okyl befohlen, die Erzsäcke unten in der ersten Ebene des Kessels, gleich neben dem Zelt des Magiers zu lagern. Als Senyan mit seinen anderthalb Säcken unten erschien, hatte der wachhabende Söldner wenig warme Worte für ihn übrig.
„Dir ist schon bewusst, dass du für so eine magere Ausbeute in die Mine kommen kannst, oder?“
Senyan sah den jungen Mann, der den ganzen Tag nur auf der faulen Haut saß und Wache schob, mit müden und verklärten Augen an.
„Lass das doch einfach meine Sorge sein, Jungchen...“
Ein flüchtiger Blick ins Zelt des Magiers verriet dem Alten, dass Riordian nicht mehr da war. Es schienen alle untersucht worden zu sein, der letzte erkrankte Schürfer wurde gerade unter wütendem Strampeln von zwei Söldnern zum Eingang der Mine gebracht. Dort standen die Kranken wie Gefangene hinter den Gitterstäben und griffen nach den Reisschüsseln, die ihnen von draußen gereicht wurden. Einige wollten ausbüchsen, als das Gitter kurz angehoben wurde, um den letzten Kranken einzuweisen, doch drei wachsame Bogenschützen passten auf, dass niemand es auch nur wagte, die Mine zu verlassen.
„Fresst euren Reis und haltet die Füße still!“, rief einer der Schützen, „Der Magier kommt bald mit Medizin zurück!“
„Aber ich bin doch gar nicht krank!“, hörte Senyan einen der Gefangenen rufen und die Stimme kam ihm vertraut vor. Das war Horatio.
„Ich befolge nur meine Befehle“, entgegnete der Söldner gereizt und ließ das Gitter wieder herunter.
„Senyan!“, rief der ehemalige Bauer nun, als er den Alten erblickt hatte, „So sag ihm doch, dass er mich herauslassen soll! Ich habe doch nur versucht, dich und den Koch zu beschützen!“
Aber Senyan konnte sich ihm nicht einmal zuwenden. Mit einer Gänsehaut verließ er den schaurigen Platz und taumelte leicht benommen zur Essensausgabe.
Er war der Letzte. Horrace war sogar schon dabei, die ersten Schüsseln abzuwaschen, als der Alte sich zu ihm gesellte.
„Sen“, flüsterte der korpulente Koch überrascht und seine sonst so traurigen Augen erhellten sich, "Du bist nicht krank. Den Göttern sei Dank.“
Und plötzlich fiel der Dicke ihm um den Hals: „Danke, danke, danke!“
Diese für den Außenstehenden womöglich übertrieben anmaßende Zuneigung des Kochs zu seinem Kumpanen kam nicht von irgendwo. Die beiden waren Freunde, seit sie sich vor ein paar Jahren im Alten Lager kennengelernt hatten. Horrace litt damals unter heftigen Depressionen, da er mit seiner Verurteilung aus seiner Familie und seinem Zuhause gerissen wurde. Senyan war zu dieser Zeit selbst Buddler im Alten Lager und hatte unter der gnadenlosen Ausbeutung der Gardisten zu leiden. Es war eine Zeit, in der sich mehrere Dutzend Freidenker und Individualisten zusammentaten und das Lager verließen, dem Ruf der Freiheit folgend. Es war die Geburtsstunde des Neuen Lagers. Und Senyan war einer der Ersten, die die Chance am Schopfe packten und dem Alten Lager den Rücken zukehrten. Er hatte mit Horrace damals in derselben Hütte gewohnt und ihn überzeugen können, bei der Nacht und Nebel-Aktion beizuwohnen. Bis jetzt hatten beide die Flucht nicht bereut. Im Gegenteil, Horrace schwärmte regelmäßig darüber, sich nicht mehr das Kreuz buckelig zu schuften, sondern nur noch für die Mahlzeiten verantwortlich zu sein. Dass er bei diesem Job selbst keinen Hunger litt, lag an der weniger strengen Aufsicht der Söldner im Kessel.
„Schon gut, Dicker, nun übertreib' mal nicht“, Senyan befreite sich aus dem Griff seines verschwitzten Freundes und schenkte dem Kochplatz einen flüchtigen Blick. Der große Topf war leer, die Glut bereits gelöscht.
„Hast du noch was zum Abendessen übrig?“
„Klar, als ob ich dich vergessen hätte“, unter den dreckigen Schüsseln schmuggelte er noch eine mit Reis hervor, „Aber er ist schon kalt.“
Missmutig wägte Senyan die Schüssel in der Hand.
„Stimmt was nicht?“
„Hast du noch mehr? Vielleicht auch noch etwas Fleisch?“
Horrace prustete laut auf, wurde aber ganz schnell wieder still, als er bemerkte, dass Senyan es ernst gemeint hatte.
„Öhm, lass mal schauen... hmm... nein. Senyan, was erwartest du? Wir hatten seit Tagen kein Fleisch mehr. Die Rationen sind auch gekürzt wurden, nachdem wir kein Erz mehr ins Lager transportieren. Ich habe sogar gehört, dass Lee in ein paar Tagen vorbei kommen will, um sich ein Bild von der Lage zu machen!“
Das war mal eine Ansage. Lee war, wenn man mal die Wassermagier außen vor ließ, der mächtigste Mann des Neuen Lagers. Wenngleich er sich selbst nie als Boss der Söldner bezeichnete, wurde er doch von den meisten anderen als solcher angesehen und respektiert.
„Hast du sonst noch irgendetwas? Einen Apfel, ein Stückchen Brot... oder eine Flasche Schnaps?“
„Das kostet alles extra und wir wissen beide, dass du dir das nicht leisten kannst“, jetzt fiel Horrace' Gesicht wieder ein wie das eines traurigen Köters, „Jetzt, wo jeder, der sich etwas zu Schulden kommen lässt, in die Mine gebracht wird, kann ich mir echt nichts Illegales erlauben. Ich fand es schon schrecklich, in dieses Gefängnis zu kommen. Bring mich nicht in ein noch schlimmeres...“
Senyan kaute sich auf der Unterlippe herum: „Dann brauche ich dich wohl nicht zu fragen, ob du bei einem Ausbruchsversuch mitmachen würdest?“
„Äh... hehe... nein“, antwortete der Koch verschmitzt.
„Swiney und ich wollen vielleicht ins Lager des Sumpfes auswandern.“
„Ich bleibe dabei… nein. Ich bin froh mit dem, was ich hier erreicht habe. Das will ich nicht auf's Spiel setzen, am Ende erwischen mich die Gardisten noch und ich muss wieder selbst schürfen“, und schon schien Horrace genervt, „Willst du deinen Reis nicht endlich essen? Ich will abwaschen.“
Senyan klopfte seinem Freund auf die Schulter und entschuldigte sich: „Den brauche ich noch. Ich bringe dir die Schüssel morgen wieder.“
Dann lief er zu seiner Hütte, denn er war hundemüde. Die Tür war abgeschlossen. Von drinnen vernahm er dumpfe Schläge, doch er war nicht aufmerksam genug, dieses Signal als Warnung zu erkennen. Als er öffnete, konnte er gerade sehen, wie Isidro auf den Boden geworfen wurde. In der Dunkelheit erkannte Senyan nicht, wie brutal zugerichtet dessen Gesicht war. Der Angreifer war ebenfalls im Raum und starrte Senyan kurz an. Von seiner Faust tropfte Blut. Er kam langsam auf den alten Schürfer zu und entriss ihm die Schüssel mit dem Reis. Mit verächtlichem Blick warf er den Brei zu Boden.
„Wenn du mir bis morgen kein Sumpfkraut oder Fleisch bringst, liegst du an seiner Stelle hier!“
Der Schlinger machte keine Scherze. Sein Tonfall war kalt und gnadenlos. Senyan wurde einfach mit der massigen Schulter zur Seite gerammt und die Tür wurde ins Schloss gedonnert. Etwas wehleidig blickte der Schürfer nach unten, wo sich Isidro vor Schmerzen krümmte. Dann beugte der Alte sich herab, seufzte und aß seine Portion Reis vom Boden.
Geändert von Ronsen (24.11.2013 um 21:44 Uhr)
-
Senyan lag mit dem Rücken an der Wand auf seiner alten Liege und starrte hinauf zur Decke. Ein leichter Nieselregen trommelte auf das flache Holzdach und eine frische Brise pfiff durch die zahllosen Wandlöcher in die alte Bruchbude herein. Während sich der Schürfer die Zeit damit vertrieb, seine Zunderbüchse, die in Ermangelung von Kraut belanglos geworden schien, von einer Hand zur anderen zu werfen, hörte er von draußen gequältes Wehklagen. Isidro hatte sich aufgemüht und nutzte das bisschen Wasser vom Himmel, sich die blutigen Schrammen zu säubern. Als er klitschnass wieder herein kam erkannte Senyan deutlich ein blaues Auge, das immer weiter anschwoll und nicht einmal von dem Gesichtstatoo des Sektenspinners überdeckt werden konnte. Doch trotz der Blessuren erkannte Senyan das Feuer in den Augen des Sumpfbruders.
„Beim Barte des Schläfers, das wird mir dieser Mistkerl büßen!“
Senyan stutzte. Woher wusste er denn, dass sein Gott ein Bärtiger war? Gerade weil sich seine Anhänger immer den ganzen Kopf rasierten, verwunderte ihn dieses neue Bild nun.
„Halte deine Emotionen lieber im Zaum“, riet der Alte ihm und warf ihm seine Decke zu, „Und trockne dich erst einmal ab.“
Isidro knurrte und tupfte sich die blutigen Wunden mit Senyans und seiner eigenen Decke ab. Als der Schürfer den klebrigen Stofffetzen wieder zurückbekam, keimte die Idee in seinem Kopf wieder auf; die Idee, keine Nacht länger hier verbringen zu müssen. Keine Albträume mehr, keine bedrohlichen Söldner und keine blutigen Decken.
„Hör mal, ich möchte dir etwas vorschlagen. Ich habe schon überlegt, den Mann, der dich so zugerichtet hat, bei seinem Boss zu verpfeifen, damit dieser in die Mine verbannt wird. Doch das wird unser Problem langfristig nicht lösen. Wir sollten versuchen, den Kessel gemeinsam zu verlassen, solange wir noch nicht selbst in die Mine gesperrt wurden. Ich... ich bemerke immer stärker, dass ich es hier ohne Kraut nicht mehr aushalte. Ich denke sogar schon darüber nach, meine Zukunft im Sumpflager zu verbringen. Mein Freund Swiney weiß sicher einen Weg, hier unbemerkt heraus zu kommen. Aber dann wüsste ich nicht weiter. Außer vielleicht... Wenn wir zu dritt fliehen, würdest du uns dann ins Lager der Bruderschaft führen?“
Isidro schaute ihn eine ganze Weile nachdenklich an. Dann schnaubte er verächtlich.
„Wieso sollte ich euch helfen? Wenn ich hier weg wollte, müsste ich nur einen Schlafzauber auf die Wachen aussprechen. Dazu brauche ich euch nicht.“
Davon hatte Senyan bereits gehört. Anders als die konventionellen Magieschulen von Feuer und Wasser, war wohl der eindeutige Beweis einer Existenz des Schläfers die Magie, die er seinen Anhängern beibrachte. Zauber, die das Bewusstsein beeinflussten, Windfäuste oder eben auch Schlafzauber. Trotzdem war Senyan skeptisch.
„Wenn es so einfach wäre, warum bist du dann noch hier?“
„Pahaha“, lachte Isidro spöttisch, „Du willst ein Mitglied unserer Bruderschaft werden, weißt aber noch nichts von unserem Kult. Ich bin noch aus genau zwei Gründen hier. Der erste ist, dass ich meinem Herren Cor Kalom noch Erz im Wert von vierhundert Brocken für das ganze Sumpfkraut, das ich hier verkaufen sollte, schulde. Der zweite: ich brauche wie jeder andere Magier auch eine Rune zum Zaubern. Und die befindet sich wie auch mein Kraut noch in dem Raum, in dem sie mich eingesperrt haben. Also habe ich einen Gegenvorschlag für dich. Du brichst dort ein, bringst mir Kraut und Rune und ich bringe dich hier raus. Und erzähl mir nicht, dass du das nicht könntest. Dein Ruf als Dieb eilt dir schließlich voraus.“
Ein kalter Schauer lief dem Alten über den Rücken beim Gedanken an einen derartigen Einbruch. Wenn er erwischt wurde, landete er sicher geradewegs in der Mine. Doch die andere Seite der Medaille schien eine goldene Zukunft in Freiheit und voller ruhiger Nächte zu versprechen. Und in seiner ohnehin verklärten psychischen Verfassung willigte er ohne langes Zögern ein.
„Na gut, packen wir es an. Aber du musst mir Rückendeckung geben.“
Als sie sich auf den Weg zur zweiten Ebene machten, begann der Regen langsam, den Mut aus Senyans Kopf zu waschen. Er war seit Jahren nirgends mehr eingebrochen; der Taschendiebstahl war ihm zum ausreichenden Ersatz geworden. Er hatte schon fest damit gerechnet, eine Wache vor der Hütte zu erblicken, welcher er den Schlüssel abnehmen musste, doch diese schienen alle in der untersten Ebene zu sein. Selbst von hier oben erkannte Senyan, dass Okyl zu seinen Männern sprach, doch vom Inhalt verstand er kein Wort.
„Wir haben Glück“, flüsterte der Alte und lief zur Tür, um zu lauschen, ob nicht doch jemand drinnen war. Es war eines der wenigen aus Stein gemeißelten Häuser hier und hatte sogar Fenster, doch Licht drang nicht mehr von drinnen heraus. Ein behutsames Klinken verriet dem Alten, dass sie abgeschlossen war.
„Behalte die Situation dort unten im Auge“, wies Senyan Isidro an, „Und warne mich rechtzeitig, wenn jemand hoch kommt.“
Behutsam nahm er seine Pfeife aus der Tasche. Es war schon ewig her, dass er sie dazu gebrauchte, wozu er sie sich einst extra angefertigt hatte. Und der Dietrich darin hatte schon viel von seinem Glanz verloren. Doch als er ihn in dem ebenso maroden Schloss hin und her bewegte, fühlte er, dass er es immer noch drauf hatte.
Ein erlösendes Klacken und die Tür war offen. Sofort war auch Isidro zur Stelle und gemeinsam durchstöberten sie die finstere Hütte. Es dauerte nicht lange bis Isidro auf einem Tisch seine Runen gefunden hatte. Und binnen eines Augenblicks hatte er aus einem der magischen Steine bereits einen Lichtzauber gewirkt, der wie ein faustgroßes Glühwürmchen um sie herum schwebte und ihnen die Suche nach dem Kraut erleichterte. Das Päckchen befand sich in einem Schrank, gut versteckt hinter einem großen Bündel Waffen. Beide nahmen sich sogleich eine Hand voll Kraut pur in den Mund, füllten sich die Taschen mit dem Rest und einigen Erzbrocken und wollten gerade die Hütte verlassen, als...
„Da seid ihr ja!“, der Schlinger stand breit grinsend in der Tür, „Und ihr habt mir sogar einen Gefallen getan, da muss ich mir nicht selbst die Hände an dem Schloss schmutzig machen! Nun gebt mir das Kraut oder ich schicke euch eigenhändig in die Mine runter!“
Senyans Herz raste. Der Baal schien auch wie erstarrt.
„Isidro, dein Schlafzauber, schnell!“
Baloro schritt mit einem Satz auf sie zu und schubste Senyan gegen den Schrank. Doch Isidro hatte schnell allen Mut zusammengefasst und wirkte seinen Zauber. Dieser hatte allerdings eine völlig andere Wirkung als den Schlinger ruhig zu stellen. Es war kein Schlafzauber und auch keine Gedankenkontrolle. Isidro richtete die Rune gegen den fetten Wanst des Söldners und dieser begann plötzlich, wie von Beliar beseelt zu schreien.
„Scheiße, was machst du da? Du lockst die anderen an!“
Isidro würdigte Senyan keines Blickes: „Das ist die Rache des Schläfers, Mistkerl!“
Der Alte konnte nichts machen. Der Anblick dessen, was geschah, ließ ihn erstarren. Der für den dicken Wanst weit gewölbte Brustpanzer begann plötzlich, rot zu glühen. Von innen brannte sich ein Loch in den Leib des Schlingers, das selbst vor dem massiven Stahl keinen Halt mehr machte. Der Fettwanst sank auf die Knie und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Bauch. Dickes, kochendes Blut tropfte herab und wenig später verklang das Wehklagen des Schlingers.
Ja, diese Form der Schläfermagie gab es auch noch. Senyan hatte diesen Zauber nicht mehr in Erinnerung gehabt. Er hatte ihn verdrängt. Es war das Schmerzhafteste, was er je gesehen hatte.
Pyrokinese.
Geändert von Ronsen (24.11.2013 um 21:56 Uhr)
-
Senyan taumelte vor Schreck rückwärts und eckte, benommen vom Sumpfkraut in seinem Mund, mit der Leiste an der harten Tischkante an. Dort ließ er sich fallen und versuchte krampfhaft, seinen Blick von Isidro und der Leiche abzuwenden.
"Der Schläfer behütet mich!", schrie der Baal zu dem toten Baloro herab. Dann trat er hinaus in den Regen und blickte sich um.
"Jetzt bin ich frei!", Isidro hob die Hände zum Himmel empor und wurde sogleich von einem Pfeil in der Schulter getroffen. Ein zweites Geschoss traf ihn in der Brust, das dritte im Oberschenkel. Dann sackte er leblos zusammen.
Senyan beobachtete die Exekution aus der Hütte heraus und konnte sich keinen Meter mehr fortbewegen. Doch irgendwie hatte er noch genug Kraft, die gesamte Beute aus seiner Tasche zu entleeren. Dann machte er sich an seiner Pfeife zu schaffen.
'Vielleicht', hoffte er, 'Kann ich mich noch ein letztes Mal zudröhnen, dann spüre ich wenigstens keine Schmerzen...'
Doch diese Hoffnung erstickte in dem Moment, als zwei Söldner mit ihren Bögen am Haus angekommen waren und nach Isidro und Baloro schauten. Einer beugte sich zu dem Baal herunter und fühlte dessen Puls.
"Der ist tot."
"Was bei Beliar...?!", rief der andere, als er das riesige, klaffende Loch in Baloros Brustpanzer erblickte.
Vor Todesangst begann Senyan plötzlich, laut zu wimmern. Das nahmen die beiden kräftig gebauten Männer natürlich wahr und zielten mit ihren Bögen in die finstere Hütte.
"Da ist noch einer!", der erste Söldner kam herein und richtete ihm den Pfeil vor die Stirn.
"Halt!", schluchzte Senyan, "Das ist ein Missverständnis! Ich habe nichts getan! Er hat mich dazu gezwungen!"
"RAUS, SOFORT! Und keine Mätzchen!"
Der Söldner trat ihm in die Seite, dann setzte sich der Alte vor Schmerzen gebeugt auf allen Vieren in Bewegung und krabbelte zum Ausgang. Draußen hatten sich indes noch ein paar Schürfer und Söldner mehr eingefunden, darunter auch ihr Boss Okyl.
"Er hat mich gezwungen", wiederholte Senyan, als er vor dem Anführer der Söldner kniete, "Ich habe nichts getan."
"Steh auf!", befahl Okyl mit kalter Stimme. Der Alte rappelte sich mühsam auf und wurde derweil von einem Söldner durchsucht. Bis auf die Pfeife und seine Zunderbüchse fanden sie aber nichts.
"Du hast nicht nur meine Befehle missachtet, sondern bist sogar noch bei mir eingebrochen?", warf Okyl ihm vor.
"Isidro", wimmerte Senyan, "Er hat mich bedroht. Er hätte mich getötet, hätte ich ihm nicht beim Einbruch geholfen. Er hat Baloro ermordet... mit seiner Zauberrune. Ich bin unschuldig."
"Tut mir Leid, aber ihr habt mich heute auf dem falschen Fuß erwischt."
Okyl seufzte und deutete einem seiner Söldner mit einer Kopfbewegung einen Befehl an. Senyan verstand diesen erst, als der Krieger sein Schwert zog und ihn von hinten in die Kniekehle trat. Senyan landete auf den Knien, stützte sich mit den Händen auf dem schlammigen Boden ab und sendete ein Stoßgebet zu Adanos, wissend, dass dieses Schwert ihm jeden Moment seinen Kopf von den Schultern trennen würde.
Doch dann vernahm er aus der Ferne das vertraute Klacken des Gehstocks seines Freundes Swiney. War er zu ihm geeilt, um ihm in dieser finstersten Stunde seines Lebens beizustehen? Er war ein wahrer Freund! Senyan vergoss Tränen, als er hörte, wie der Fischkopf auf Okyl einredete, ihn zur Vernunft bringen wollte.
"Wenn du dafür bürgst...", brummte der Minenboss schließlich und gab seinem Söldner einen neuen Befehl. Dieser holte mit dem Schwert gegen Senyan aus...
... und donnerte dessen Knauf auf den Hinterkopf des Schürfers.
Geändert von Ronsen (30.11.2013 um 09:45 Uhr)
-
Es waren nur einige Stunden vergangen, da kam Senyan wieder zu Bewusstsein. Die Ohnmacht hätte ihn gewiss noch länger schlafen lassen, doch das ließ eine unermüdliche Seele nicht zu, die wieder und wieder auf ihn einredete, ihn schüttelte und leichte Ohrfeigen verpasste. Als er die Augen öffnete, sah er nur verschwommen die Schemen von zwei Menschen, der eine traktierte ihn, der andere spendete mit einer Fackel schwaches Licht.
"Na los, komm zu dir", redete der Erste mit tiefer Stimme auf ihn ein. Er kannte die Stimme, konnte sie aber nicht direkt zuordnen. Wie er sich aufrichtete, begann sein Hinterkopf zu pochen und eine widerliche Übelkeit stieg gemeinsam mit einer Gänsehaut seinen Hals herauf. Der Geschmack von Sumpfkraut lag noch immer stumpf in seinem Mund; er ließ ihn würgen.
"Na bitte... hier, trink etwas!"
Der Mann mit der tiefen Stimme drückte ihm eine Feldflasche an den Mund. Kaum hatte Senyan einen Schluck genommen, übermannte ihn die Übelkeit und er musste sich übergeben. Er fühlte sich hundsmiserabel.
"Wieso hast du nicht auf mich gehört?", der andere Mann kam mit seiner Fackel näher an ihn heran. Senyan erkannte seine Fischaugen. Das war Swiney.
"Hey...", röchelte Senyan schwach.
"Wieso hast du Baloro nicht bei Okyl angeschwärzt? Deinetwegen sitzen wir jetzt hier fest. Deinetwegen sitze ICH jetzt hier fest! Weil ich so töricht war und für dich gebürgt habe."
"Swiney...", setzte der Alte ein zweites Mal an, "Wo sind wir denn?"
"Schau dich doch mal um", verlangte der Mann mit der tiefen Stimme. Jetzt erkannte Senyan ihn auch wieder. Das war Horatio. Und wie er sich umblickte - er saß in einer finsteren Grotte auf einer zerrissenen Decke, roch den staubigen Geruch von frisch abgeschlagenem Gestein und war bis auf ein paar flimmernde Fackeln von pechschwarzer Dunkelheit umgeben - konnte es nur zwei Möglichkeiten geben, wo sie waren.
Hoffnungsvoll fragte er: "Sind wir... tot?"
Horatio schüttelte den Kopf.
"Natürlich nicht", seufzte Senyan und trank etwas von dem Wasser. Doch kaum hatte er ein paar Schluck genommen, wurde die Flasche ihm schon wieder abgenommen.
"Das reicht", brummte Horatio, "Wir müssen sparsam sein."
Und damit trank auch er noch einen Schluck und verabschiedete sich ohne weitere Worte in die Finsternis. Swiney klackte mit seinem Stock über den nackten Felsen und schob die Decke zurecht.
"Wir sollten uns eine andere Ecke suchen... hier stinkt es zu sehr. Kannst du aufstehen, mein Freund?"
"Ich... ich denke schon."
Senyan ließ sich von dem Mann mit der Stütze stützen. Welche Ironie des Schicksals. Swiney führte ihn durch die dunkle Grotte in einen etwas helleren, großen Raum. In der Ferne konnte Senyan Tageslicht sehen.
"Wie spät ist es?", wollte er wissen.
"Abend", war die knappe Antwort des Fischkopfs. Sie passierten ein paar Männer, die am Boden kauerten und am Essen waren. Sie machten allesamt einen ziemlich verzweifelten Eindruck. Es waren alles Schürfer. Keiner würdigte ihn eines Blickes.
"Wo sind die Söldner?"
"Von denen ist keiner mehr in der Mine", berichtete Swiney und führte ihn weiter in eine andere Kaverne. Sie mussten sich etwas bücken, um hindurch zu kommen, doch auf der anderen Seite leuchtete ein kleines Lagerfeuer. Der Fischkopf steuerte auf einen kahlen, übergewichtigen Mann zu, der es sich hier richtig gemütlich gemacht hatte. Neben ein paar Schränkchen, einem Bett und zwei Stühlen zierte seine Kaverne sogar ein Teppich.
"Hallo Dimitri", grüßte Swiney den Kahlkopf. Senyan erschrak, als er sah, wie unnormal bleich der Mann war. Selbst sein linkes Auge zierte eine weiße Pupille. War er blind?
"Ist das Senyan?", fragte Dimitri mit heiserer Stimme.
"Genau. Senyan, das ist der Barbier Dimitri. Er war der Erste, der zur Rate gezogen wurde, als vor einigen Tagen ein paar Männer krank wurden."
Senyan schüttelte wortlos die Hand des Arztes und kam partout nicht davon ab, ihm in das leere Auge zu blicken.
"Beuge dich etwas ans Feuer", bat der Kahle, "Ich will mir deine Wunde ansehen."
Senyan tat wie ihm geheißen und ließ sich untersuchen. Die zweite Untersuchung in zwei Tagen. Das war ein persönlicher Rekord. Dabei war er in seinem ganzen Leben erst fünf Mal beim Arzt gewesen.
"Die Wunde ist nicht tief, aber ich werde sie trotzdem desinfizieren müssen."
Dimitri kramte in seiner Schublade nach einer Flasche mit klarem Alkohol und einem Lappen, träufelte ein wenig Schnaps darauf und tupfte Senyans Wunde sauber. Ein brennender Schmerz hämmerte im Kopf des Diebes.
"Das war sehr tapfer. Nimm dir einen Schluck und erzähl mir doch, wie du hier rein gekommen bist, während ich hier eine Kleinigkeit am Feuer erhitze."
Dimitri hielt eine Metallstange ins Feuer, während Senyan dankend einen Schluck Alkohol nahm. Auf leeren Magen und Übelkeit nicht gerade die beste Idee, aber er konnte sich ein weiteres Übergeben unterdrücken.
"Ich wollte den Söldnern Sumpfkraut klauen. Das Sumpfkraut von einem irren Sektenspinner namens Baal Isidro. Das hätte auch geklappt, wenn Isidro sich nicht mit einem der Söldner angelegt hätte. Er hat sich quasi... in ihn eingebrannt Jetzt sind beide tot."
"Welchen Söldner hat es denn erwischt?"
"Baloro."
"Den Schlinger, wirklich?", der Arzt war erstaunt, "Ich... hatte mal Probleme mit ihm. Er wollte sich an meiner Medizin vergreifen, hat mir übel zugesetzt. Ich bin dann freiwillig in die Mine gegangen, um ihm aus dem Weg zu gehen."
Senyan könnte schwören, dass darauf seine Verletzung am Auge zurückging, aber er hakte aus Höflichkeit nicht nach.
"Ohne ihn ist die Welt wieder ein bisschen besser. Lehn dich bitte etwas nach vorn."
Senyan bückte sich, doch plötzlich packte Swiney ihn fest an den Schultern und Dimitri setzte blitzschnell sein glühendes Eisen an die Wunde des Alten. Dieser schrie sich für einen Augenblick die Seele aus dem Leib, doch seine Stimme versagte schnell.
"Ist gut, du hast es überstanden", Dimitri klopfte ihm auf die Schulter.
"Was sollte das?!", keuchte Senyan schwach.
"Du bist nicht infiziert, das ist erstaunlich. Und ich will dafür sorgen, dass das noch lange so bleibt."
"Ich bin es auch noch nicht", betonte Swiney, "NOCH nicht."
Senyan wusste, worauf sein Freund hinaus wollte. Seinetwegen war er jetzt in der Mine, seinetwegen lief er Gefahr, selbst krank zu werden. Eigentlich sollten ihn jetzt schwere Gewissensbisse befallen, doch er fühlte sich gerade einfach nur leer.
"Wollt ihr nicht noch bleiben und mit mir speisen?", fragte Dimitri. Das Angebot nahmen die beiden alten Freunde dankend an.
"Ich hole Essen", sagte Swiney und verließ die Kaverne.
"Es ist schön, wieder etwas Gesellschaft zu haben", freute sich Dimitri.
"Ich dachte, du bist Arzt. Behandelst du die Leute etwa gar nicht?"
"Nur die, die nicht infiziert sind", sagte der Barbier kühl, "Ich habe keine Lust, mich selbst anzustecken, darum meide ich die meisten anderen Gefangenen. Noch etwas Schnaps gefällig?"
Gefangene. Ja, das waren sie. Nicht nur in ihrem Freiluftgefängnis. Jetzt waren sie Gefangene in der Freien Mine.
Geändert von Ronsen (30.11.2013 um 13:10 Uhr)
-
IIII I
"Was tust du da?", Dimitri kam am Senyan heran getreten und begutachtete mit seinem gesunden Auge die weißen Striche an der Wand, mit welcher der Alte die Kaverne verziert hatte.
"Nun ja, ist eine alte Angewohnheit", murmelte Senyan wie in Gedanken versunken, "Ich zähle die Tage, die ich schon in der Mine bin, um nicht zu vergessen, wann ich wieder raus kann."
Swiney hatte sich sein Nachtlager an der gegenüberliegenden Wand eingerichtet und brummte wie im Halbschlaf: "Das wird dir nichts bringen, Sen. So schnell lassen die uns hier nicht mehr raus. Wahrscheinlich nie mehr..."
Senyans Gesicht verfinsterte sich.
Doch Dimitri klopfte ihm auf die Schulter: "Das ist trotzdem eine gute Idee. Da behält man wenigstens ein bisschen einen Überblick, wie lange man schon in diesem Loch versauert."
Ein schwacher Trost für Senyan, aber er lächelte dankbar für die Aufmunterung und legte sich auch zum Schlafen. Es schien als hätte Dimitri keine Probleme damit, sie bei sich in der Kaverne nächtigen zu lassen. Senyan konnte sich den Umständen entsprechend wirklich glücklich schätzen. Warum nicht einmal die positiven Dinge betrachten?
Er war am Leben, das konnten Isidro und Baloro nicht mehr von sich behaupten.
Er war gesund, auch das war hier unten keinesfalls selbstverständlich, denn Dimitri behauptete, über die Hälfte der Schürfer hätten schon Ausschlag.
Er bekam Essen von draußen und musste trotzdem nicht arbeiten.
Er konnte den lieben langen Tag auf der faulen Haut liegen und warten bis der Magier mit der Medizin kam.
Und zu guter Letzt, das war wohl das Wertvollste von allem: Er war unter Freunden und gemeinsam mit Swiney hatte er schon so manche missliche Lage überstanden. Wovor sollte er sich überhaupt fürchten?
Mit diesen fünf positiven Gedanken zur derzeitigen Situation konnte er sich sorglos hinlegen und vielleicht endlich mal wieder eine ganze Nacht lang schlafen und sich erholen. Und da er völlig erschöpft war, dauerte es nicht lange bis er endlich frei war. Frei in seinen Träumen.
"In Zelle Neun ist noch was frei. Die zweite Tür hinten rechts."
"Gut", der Soldat nickte seinem Kollegen von der Kerkerwache zu und klapperte mit seinem Schlüsselbund auf der Suche nach Schlüssel Nummer Neun.
"Wie ist sein Name?", fragte der Bursche hinter seinem Schreibtisch und tunkte bereits seinen Federkiel zum Schreiben in ein kleines Tintenfläschchen.
"Kules", log Senyan.
Der Schreiber kniff die Augen ungläubig zusammen.
"Der verarscht dich nur", beruhigte ihn der Schlüsselmeister und meinte dann zu dem Lügner, "Johannes Kraut, Peter Silie und jetzt Kules. Dir gehen wohl langsam die Ideen aus, was?"
"Herr Kules", korrigierte Senyan den Wachmann grinsend. Dieser stieß ihn für den Scherz so heftig in den Rücken, dass der Dieb hätte stolpern müssen, sich aber durch die engen Ketten an den Händen gar nicht fallen lassen konnte. Er war ja nur ein Fliegengewicht verglichen mit dem kräftigen Schlüsselmeister.
Er wurde einen langen Korridor entlang geschleift, der zu beiden Seiten hin von Gitterstäben flankiert wurde. Dutzende Menschen waren hier gefangen und warteten darauf, überführt zu werden. Senyan war also nur einer von vielen. Für einen lausigen Diebstahl wurde er verknackt und das auf Lebenszeit. Und das mit Mitte Zwanzig. Innos sei Dank wusste sein Vater nichts davon.
"Zelle Neun, Lump. Hier kannst du versauern bis neue Männer in die Minenkolonie beordert werden."
Der Wachmann stieß ihn in die dunkle Kammer und schloss das Gitter rasch wieder ab, ehe irgendein Gefangener auch nur auf die Idee kam, ihn überwältigen und fliehen zu wollen.
Neben Senyan waren noch drei andere Kerle in der Zelle, aber zwei von ihnen waren alte Knacker, die bestimmt nicht mehr in die Kolonie beordert wurden. Sie saßen nur herum, aßen ihren Brei und meckerten den lieben langen Tag über die Drei und die Welt. Sie hatten mit ihrem Leben schon abgeschlossen. Aber einer von ihnen war in Senyans Alter. Ein junger Mann mit großen, neugierigen Augen und einem breiten Mund.
"Willkommen in Zelle Neun. Einem Paradies für Jung und Alt. Hier kannst du so lange schlafen wie du willst, bekommst gratis Essen und musst nicht einmal arbeiten. Komm und leiste uns Gesellschaft. Hier wird's dir gewiss nicht schlechter ergehen als draußen."
Der Dieb setzte sich zögerlich zu seinen Zellengenossen.
"Wie heißt du?", wollte der junge Mann wissen.
"Senyan", war die ehrliche Antwort.
"Freut mich Sen. Ich heiße Swiney."
Senyan wachte mit einem pochenden Schmerz im Hinterkopf auf. Es dauerte eine Weile bis er sich orientieren konnte, bis auf die schwache Glut des gestrigen Lagerfeuers war es in der Höhle stockfinster. Der Alte tastete wie blind nach seiner Zunderbüchse, musste aber feststellen, dass man ihm die Sachen abgenommen hatte, als er von Okyls Männern niedergestreckt und in die Mine verschleppt wurde.
Doch just in diesem Augenblick kam Dimitri herein und machte ihm mit einer Fackel neues Licht.
"Oh, du bist schon wach", stellte der Barbier mit einem müden Lächeln fest.
Senyan flüsterte, denn er sah, dass Swiney noch schlief: "Ist es schon Tag?"
"Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, aber die anderen schlafen alle noch. Komm, ich will dir etwas zeigen."
Dimitri führte ihn durch einen weiteren finsteren Stollen in eine große Höhle, in der Vorräte aufbewahrt wurden. Dort an einer mannshohen Wand erkannte Senyan hunderte von kleinen, weißen Strichen, genau wie die, die er jeden Tag an eine Wand ritzte.
"Wie du siehst, ist deine Idee nicht neu", erklärte Dimitri, "Ich habe immer fünf Sätze waagerecht und fünf senkrecht gestrichen. Fast zweieinhalb Wände habe ich schon voll."
"Oh Mann... das sind ja...", aber so weit konnte Senyan gar nicht zählen, das hatte er nie gelernt.
"Zweihundertachtundneunzig", Dimitri schmunzelte, "Übermorgen bin ich schon dreihundert Tage am Stück hier unten."
Geändert von Ronsen (30.11.2013 um 09:57 Uhr)
-
Die Unmengen an weißen Strichen, die Dimitri an die Wände dieser großen, kuppelförmigen Kaverne gekratzt hatte, war nur ein beeindruckendes Detail, das diesen Raum auszeichnete. In seiner Mitte lagerte ein riesiger Haufen magischen Erzes; nicht ganz so groß wie der Haufen, der bereits ins Neuen Lager abtransportiert worden war, aber groß genug um eine hundertköpfige Armee mit ausreichend Waffen und Rüstungen auszustatten. Senyan lief eine Runde um den gewaltigen Berg und musste der Verführung widerstehen, sich ein paar Brocken einzustecken. Doch was brachte es ihm? Hier drinnen war es wertlos. Es würde ihm in dieser Form weder gegen angreifende Minecrawler, noch gegen eine Seuche helfen. Und essen konnte er es auch nicht.
Er erblickte ein paar Fässer voll Wasser und Kisten randvoll mit trockenem Reis. Dazu lagen hier unzählige Flaschen Reisschnaps, die meisten waren schon geleert. In einem Fass wurden Spitzhacken, Schaufeln und rostige Schwerter gelagert. Ja, sie waren hier unten ganz gut eingedeckt, aber wie lange würden sie damit über die Runden kommen? Hoffentlich reichte es, bis die Magier mit der Medizin kamen. Plötzlich vernahm er ein lautes Knacken und Bersten. Erschrocken wandte er sich um, doch es war nur Dimitri, der eine der leeren Kisten auseinander nahm.
"Feuerholz", schnaufte er, "Komm, pack doch mal mit an."
"Klar", Senyan eilte zu seinem neuen Zimmergenossen und half ihm beim Auseinandernehmen der Kisten und Fässer. Einige davon waren völlig morsch, ihr Inhalt vermutlich vergammelt.
Der Lärm der beiden Frühaufsteher blieb nicht unbemerkt. Eine bis dahin ungeahnte Gefahr bahnte sich gerade ihren Weg zum Vorratslager. Ein kräftiger junger Mann mit langen, blonden Haaren und eisblauen Augen, die es direkt auf Senyan abgesehen hatten. Es war Mitch.
"Sieh an, wen es schließlich doch noch in die Mine verschlagen hat", der junge Schürfer trat selbstbewusst aus dem Schatten hervor. Er hatte einen Steinbrecher bei sich, eine Waffe der Söldner. Sie war blutverschmiert.
"Du schon wieder", knurrte Senyan und trat zu Dimitri herüber. Irgendwie fühlte er sich in dessen Gegenwart sicher. Obwohl er halbblind und übergewichtig war, strahlte seine kolossale Gestalt doch eine gewisse Sicherheit aus.
"Was willst du, Junge?", fragte Dimitri kühl, "Wenn du krank bist, dann komm mir bloß nicht zu nahe!"
"Ich, krank? Pah", er trat weiter an sie heran, "Du bist der Arzt hier, richtig?"
Dimitri nickte.
"Dann habe ich etwas zu tun für dich", er legte zwei Finger in den Mund und pfiff einmal kurz. Aus den Schatten traten zwei weitere Gestalten hinzu, ebenfalls Schürfer, ebenfalls bewaffnet. Und sie schleppten einen reglosen Körper mit sich, den sie dem Kahlkopf vor die Füße warfen. Senyan erkannte diesmal sofort, dass das Horatio war. Sein Gesicht war schwer entstellt, er musste das Opfer dieses Schlags mit dem Steinbrecher geworden sein.
"Ihr seid krank, ihr seid des Wahnsinns!", schimpfte Dimitri und kniete sich zu Horatio herab. Er spuckte Blut, sein Unterkiefer hing lose und völlig schief an seinem Mund. Und seine rechte Hand schien völlig zertrümmert.
"Halt die Backen oder du kannst deine Zähne gleich selbst vom Boden aufsammeln", drohte Mitch dem Barbier.
Senyan funkelte den Blondschopf finster an. Mitch trat näher an ihn heran und schubste ihn zu Boden. Dimitri erhob sich, bekam aber sogleich einen Schlag mit der blutigen Keule in die Magengegend und sackte hustend auf die Knie.
"Hier weht jetzt ein anderer Wind, nämlich das Gesetz der Wildnis. Nur die Starken und Gesunden werden hier überleben. Die Kranken, Alten und Schwachen haben hier nichts mehr zu sagen. Wir übernehmen ab sofort die Obhut über die Vorräte. Und ihr verkriecht euch lieber wieder unter den Stein, unter dem ihr hervor gekrochen seid. Na wird's bald!?"
Senyan krabbelte zu Dimitri herüber und half ihm hoch. Gemeinsam trugen sie den schwer verletzten Horatio aus der Vorratshöhle und hörten dabei höhnisches Gelächter von Mitch und seinem Gefolge hinter sich.
Dimitri sagte erst etwas, als sie wieder in ihrer Kaverne waren: "Hast du den Mistkerlen was getan oder warum haben die dich so auf dem Zeiger?"
"Ich habe mich mal in der Essensausgabe vor Blondi gedrängelt. Horatio hier hat sich deswegen mit ihm mal geprügelt."
"Scheint eine leicht cholerische Ader zu haben der Jüngling. Wie heißt er?"
"Mitch."
"Oh, na mit dem Namen wäre ich wohl auch cholerisch."
Sie legten Horatio auf das Bett und Dimitri begann sogleich mit der Behandlung.
Mit einem: "Was in aller Welt...?", wachte auch Swiney auf und erkannte mit Schrecken, was vorgefallen war.
"Ich brauche Wasser", stellte der Glatzkopf fest, "hat jemand von euch noch was?"
Senyan reichte ihm eine Flasche. Wenn er etwas in seinem Leben gelernt hatte, dann war es, am Leben zu bleiben. Er hatte natürlich eine Hosentasche voll Reis und eine Flasche Wasser eingesteckt, ehe Mitch und die Prügelknaben zu ihnen gestoßen waren.
"Das ist gut, aber es wird nicht reichen", seufzte Dimitri, "Wir brauchen auch noch welches. Im schlimmsten Fall müssen wir auf den nächsten Regen warten."
"Oder wir fragen die Söldner draußen", räumte Swiney ein.
"Horrace", fiel es Senyan ein, "Er kann uns vielleicht helfen."
"Dann geh zum Gitter und frag nach ihm. Ich helfe Dimitri."
Senyan stimmte dem Plan zu und machte sich eiligst auf den Weg zum Ausgang der Mine.
Inzwischen waren die meisten gefangenen Schürfer aufgewacht. Die, die noch im Bett lagen, waren die, die ohnehin nicht mehr gesund waren. Senyan mied die anderen Männer, er hatte genug Leid und Schmerzen für diesen Morgen gesehen. Das große Gitter war nach wie vor unten und es ließ sich nur von draußen öffnen. Zwei Söldner bewachten die Mine, Senyan wandte sich direkt an sie.
"Wir brauchen Wasser!"
Die beiden wandten sich zu ihm um.
"Geh vom Gitter zurück!"
Senyan trat einen Schritt nach hinten und wiederholte seine Bitte.
"Hört mich an: wir brauchen Essen und Trinken."
Der eine Söldner rümpfte die Nase.
"Das Gitter wird nicht mehr geöffnet, Befehl von Okyl. Außerdem habt ihr genug Vorräte für mindestens eine Woche in der Vorratshöhle."
"Die ist nicht zugänglich."
"Ist sie verschüttet?"
"J... ja genau, sie ist verschüttet", log Senyan, "Bitte sagt Okyl, dass wir dringend etwas brauchen."
"Na gut, machen wir beim nächsten Wachwechsel. Und jetzt tritt vom Gitter zurück."
Aber Senyan trat nicht zurück. Er kannte die Akustik im Kessel und wusste was zu tun war.
"HOOOOORRAAAAACE!", schrie er mit aller Kraft, "HOOOOORAAACE!"
"Jetzt halt die Luft an!", befahl der Söldner ernst. Senyan schrie noch drei Mal, danach war seine Stimme ohnehin weg. Kraftlos und hungrig setzte er sich vor das Gitter und wartete. Auf Horrace. Auf den Wachwechsel. Auf ein Wunder.
Geändert von Ronsen (02.12.2013 um 11:00 Uhr)
-
Die Zeit verging, die Sonne wanderte über den Kessel. Der Wachwechsel erfolgte auch irgendwann, doch von einer neuen Ration Lebensmittel oder Wasser keine Spur. Weder Horrace, noch der Wassermagier kamen Senyan zur Hilfe und nach einigen Stunden des Ausharrens wandte sich der Alte vom Gatter ab, kehrte hoffnungslos in die finstere Grotte zurück, in sein finsteres Grab.
Während an der Erdoberfläche anscheinend ein Stillstand eingekehrt war, formierten sich unter Tage die ersten Grüppchen innerhalb der Gefangenen. Da gab es zum einen die Starken, Mitch und seine Männer, die sich in der Vorratskammer mit Waffen und Proviant verschanzt hatten und darauf warteten, dass sie irgendwann von den Söldnern wieder aus der Mine befreit wurden. Die Kranken und Schwachen auf der anderen Seite schienen jegliche Hoffnung auf Befreiung bereits aufgegeben zu haben. Sie hatten den Eingangsbereich am Gitter besetzt, saßen oder lagen in den finsteren Ecken und keuchten ihr Elend in die Welt hinaus. Und dann gab es die Individualisten, wie Senyan sich, Swiney und Dimitri bezeichnete. Sie waren zwar schwach, aber sie waren gesund. Sie besaßen noch den Willen zum Ausbruch und zum Überleben, sahen ihre Chancen jedoch nicht im Warten auf Rettung, sondern mussten selbst handeln. Sie brauchten einen Plan, eine Aufgabe.
Und Senyans Aufgabe war es noch immer gewesen, Wasser für die Individualisten zu holen. Wenn er es nicht schaffte, Hilfe von außerhalb zu bekommen, würde er sich sein Wasser anderweitig beschaffen. Wer war denn der verdammt noch mal beste Dieb im Kessel?
Er sah sich um. Am Tunnel, der zur Vorratskammer führte, hielt einer von Mitchs Handlangern Wache. Es war so ein Bursche mit dunklem Vollbart und grimmiger Visage, ein richtiger Schlägertyp. In der einen Hand eine Axt, in der anderen Reisschnaps. Er saß auf einer Kiste und Senyan konnte seinen Arsch verwetten, dass da Reis drinnen war. So betrunken wie er war, sollte es ein leichtes sein, sich von hinten anzuschleichen, ihn mit einem stumpfen Gegenstand bewusstlos zu schlagen und dann die Kiste mitgehen zu lassen. Ein bisschen Wasser würde er auch bei sich haben, da war sich der Alte sicher.
Senyan seufzte und blickte zu einem anderen Burschen herüber, einem kränklichen Hänfling, der schon am Schlafen war. Er hatte eine Flasche Wasser neben sich stehen, vermutlich schon voller Krankheitserreger und nur noch halbvoll. Da fiel die Entscheidung nicht sonderlich schwer.
Der Meisterdieb schnappte sich unbeirrt das Wasser von dem Kranken und wollte damit zu Swiney, Dimitri und Horatio zurückkehren, wurde jedoch auf halbem Wege aufgehalten.
"Senyan!"
Er fuhr erschrocken herum. Es war ein Südländer mit einer Fackel und einem rostigen Schwert. Einer von Mitchs Männern? Irgendwoher kannte Senyan diesen Burschen, doch er konnte sich beim besten Willen nicht jedes Schürfergesicht merken.
"Kennen wir uns?", fragte der Alte kühl.
"Adanos steh mir bei... ich bin es, Hernandez!"
"Wer?"
"Du musst endlich mit dem verfluchten Sumpfkraut aufhören. Wir waren Mitbewohner, bevor ich in die Mine runter beordert wurde."
Oh, Sumpfkraut. Senyans Zunge wurde ganz trocken, gierig leckte er sich über die Lippen in der Hoffnung, dort einen Schweißtropfen oder noch ein Krümelchen Sumpfkraut zu schmecken.
Bevor Senyan gänzlich in Gedanken versank, meinte Hernandez genervt: "Ja. Ich bin auch froh, dass du noch am Leben bist. Na, geh ruhig mit deinem Wasser und vergifte dich und den Arzt, der mich nicht behandeln wollte. Ich wollte dir nur bescheid sagen, dass ich mich mit ein paar Männern auf den Weg nach unten mache."
"Aha..."
Irgendwo musste es hier doch noch etwas Kraut geben. Vielleicht hatte Swiney ja etwas. Na klar, das Fischauge MUSSTE etwas haben, er war doch um einiges süchtiger als Senyan.
"Also, wenn du oder einer deiner Kameraden Lust hat und uns begleiten will... wir machen uns jeden Augenblick auf den Weg."
"Ja... ja, ich frage Swiney", antwortete der Alte und dachte sich dabei, 'nach mehr Kraut.'
Als Senyan die Neuigkeit an das Fischauge überbrachte, war jener gar nicht erfreut, ganz im Gegenteil.
"Die Idioten werden sich noch umbringen", fluchte Swiney, "Da unten lauern Minecrawler und nur deswegen haben wir doch das Dilemma mit der Seuche."
"Ich werde auch keinen Schritt in die tieferen Stollen gehen", pflichtete Dimitri dem Schürferboss bei, "Je weniger von denen hier oben sind, desto gesünder bleiben wir."
Und mit diesen Worten flößte der kräftige Heiler dem geschwächten Horatio etwas von dem Wasser ein. Das meiste davon konnte dieser nicht schlucken, es floss einfach an seinem gebrochenen Kiefer vorbei. Er war am Leben, Kopf und Arm waren verbunden. Doch er würde wohl den Rest seiner Zeit nichts anderes essen können als völlig zerkochten Reisbrei. Seine einzige Hoffnung war ein Heiler, ein Magier.
"Das müssen wir noch etwas üben, was?", Dimitri lächelte und verabreichte dem ehemaligen Bauern noch etwas Medizin mit einem Löffel. Senyan wandte seinen Blick ab, dieses Elend konnte er sich nicht länger ansehen. Swiney war gerade dabei, die Höhle zu verlassen, sein hinkender Gang war ja nicht zu überhören.
"Was hast du vor?", fragte Senyan.
"Na was denkst du denn? Ich gehe mit Hernandez und hole Wasser. Verdammich, ich will hier nicht herum sitzen und warten bis ich verdurste. Ich brauche eine Aufgabe."
Eine Aufgabe. Das war es, was die Individualisten auszeichnete. Die Hoffnung, wieder aus dieser Hölle zu entkommen, wenn sie nur hart genug daran arbeiteten. Andererseits hatte Senyan schon seit jeher unglaubliche Angst vor Spinnen. Aber war es nicht so, dass er nur überleben konnte, wenn er auch einmal über seinen eigenen Schatten trat?
"Wie sieht's aus", hakte Swiney nach, "kommst du mit?"
Senyan seufzte: "Nein."
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
|