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[STORY] Winterberg

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    Forentroll Avatar von Harbinger
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    sodelle, mal wieder was von mir. diesmal weniger mit Fantasy und brutalität, mehr auf das innenleben, auf die subtilen gefühle des seins bezogen. der teil, den ich hier poste, ist nur die einleitung. ein paar weitere teile werden folgen. dabei sei gesagt, dass diese story mir sehr wichtig ist und ich jedes einzelne wort gut durchdacht habe, bevor ich es an seinen platz setzte ^^ mal schauen, was ihr dazu sagt

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    „Was ist schlimmer? Nach einem viel zu kurzen Leben den letzten Atem auszuhauchen, ohne jemals etwas von Bedeutung getan zu haben... Oder das schönste Geschenk der Welt zu erhalten, nur um es sofort wieder zu verlieren? Und das für alle Ewigkeit.“
    Als man mir diese Frage das erste Mal stellte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Zugegeben, ich verstand den Sinn des ganzen nichtmal. Doch ER, der mir diese Frage stellte, erklärte es mir. ER erklärte mir alles.
    Jedenfalls sitze ich jetzt hier, in einem kleinen, dunklen Raum, an einem schweren Holztisch, mit nichts vor mir, außer einem Stift und ein paar Blättern Papier. Sicher, es gäbe einfachere Wege, etwas aufzuschreiben. Aber ich will es nunmal so. Ich will die ganze Geschichte aufschreiben, mit meinen eigenen Händen.
    Wieso ich das tue? Die wichtigere Frage ist, wieso ich das versprechen breche, dass ich vor so langer Zeit gab. Das Versprechen, dass ich niemals ein Wort über diese Geschichte verlieren würde. Der Grund ist einfach. Was ER mir damals erzählte ist zu wichtig, als dass es vergessen werden dürfte. Ich erinnere mich noch in jeder Einzelheit daran, aber das ist nicht genug. Denn mein Leben neigt sich dem Ende zu.
    Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Tod naht. Ich kenne das Gefühl, wenn alles endet. Ich habe das alles schon einmal erlebt. Doch dieses mal ist es das tatsächliche Ende. Ich bin alt und das Alter kann man nicht heilen. Der Tod äußert sich in verschiedenen Dingen. Schmerzen hier und dort, Vergesslichkeit, Langsamkeit, alles ist ein wenig anders als früher. Aber vor allem verspüre ich eines, nämlich diese ungeheure Müdigkeit, die ich auch damals, als ich mich am Rande des Todes befand, verspürte. Sie ist nicht unangenehm, aber ich kann mich ihr erst hingeben, wenn ich aufgeschrieben habe, was gesagt werden muss.
    Beginnen wir ganz am Anfang...

    Meine Eltern bezeichnete mich in meinen jungen Jahren als einen Taugenichts, als das schwarze Schaf der Familie. Glücklicherweise verwendeten sie diesen Term eher liebevoll, als verbittert. Und dabei mögen sie sogar Recht gehabt haben. Anstatt zu studieren oder einen Beruf zu ergreifen schlug ich die Zeit in Kneipen tot, mit Freunden, mit Frauen... mit allem, was mir so über den Weg lief.
    Meine Eltern waren reich, deswegen war das auch nicht weiter schlimm. Und dann kam der Punkt in meinem Leben, an dem ich beschloss, mir die Welt anzuschauen. Das Geld meiner Eltern ermöglichte mir diesen Wunsch. Ich ging auf Reisen, besuchte fremde Länder, traf Menschen... dasselbe wie daheim, nur auf einer anderen Sprache.
    Ich weiß nicht genau wann es war und ich weiß nicht genau wo es war. Jeden Morgen wachte ich in einem anderen Bett auf und so auch an dem schicksalsschweren Tag.
    Die Sonne fiel durch ein kleines Fenster direkt auf mein Gesicht. Ich schlug die Augen auf und starrte die Strohdecke über mir an. Mein Kopf schmerzte, wahrscheinlich weil ich am vorigen Abend mal wieder mit ein paar Einheimischen gefeiert hatte. Vorsichtig setzte ich mich in dem primitiven, jedoch bequemen Bett auf. Ich zog meine Kleider über, packte meine Habseligkeiten zusammen und machte mich bereit, meinen Weg zum nächsten Dorf oder zur nächsten Stadt fortzusetzen.
    Es muss wohl ein kleines Dorf im Herzen von Afrika gewesen sein. Strohgedeckte Holzhütten auf einer durch Feuer gerodeten Lichtung, umgeben von Wald, ausschließlich bewohnt von dunkelhäutigen Ureinwohnern. Auf den staubigen Straßen spielten sorglose Kinder, wohl behütet von den Müttern, die sich an Straßenecken müßig miteinander unterhielten, wohl behütet von den Vätern, die in der Nähe ihrer Arbeit nachgingen. Ich war auf meiner Reise schon durch schlechtere Gegenden gekommen. Städte, die von Seuchen heimgesucht worden waren, in denen Angst herrschte, in denen Schmerz und Trauer regierte.
    Dieses kleine Dorf mit den glücklichen Kindern und den freundlichen Eltern bewies mir, dass das Leben doch schön sein konnte. Lächelnd stand ich in der Tür der kleinen Holzhütte und beobachtete das lebhafte Treiben, als der Mann an mich heran trat, der mir die Unterkunft vermietet hatte. Seine schwarze Haut glänzte in der Sonne. Er war alt, sein Haar und sein Bart weiß. Er lächelte, als er sich zu mir gesellte und drei Kinder beobachtete, die sich an den Händen gefasst hatten und im Kreis tanzten.
    »Hatten Sie eine schöne Nacht?« fragte er auf Englisch mit starkem Akzent.
    »Ich habe schon lange nichtmehr so gut geschlafen« log ich rasch.
    Es konnte nicht schaden, wenn ich diesen Leuten ein wenig schmeichelte. Und außerdem war mir der alte Mann sympathisch, weswegen es mir nicht schwer fiel, ihm ein paar nette Worte zu schenken.
    »Werden Sie Heute weiterziehen?« fuhr er fort, ohne den Blick von den spielenden Kindern zu nehmen.
    »Ich denke schon« antwortete ich »Das Land ist groß, es gibt noch viel zu sehen.« Ich seufzte wehmütig. »Ich fürchte, dass ich nicht überall so eine schöne Nacht und einen so schönen Morgen verbringen kann, wie hier.«
    »Da haben Sie recht« bemerkte er, frei von jeglicher Bescheidenheit »In unserem Dorf leben nicht nur die glücklichsten sondern auch die freundlichsten Menschen des Landes. Vielleicht überlegen Sie es sich nochmal und bleiben noch eine Nacht.«
    Während er sprach kramte ich in meiner Hosentasche nach einigen der Goldbrocken, die ich aus meiner Börse dort hinein getan hatte, für alltägliche Ausgaben. Als ich auf diesem Kontinent angekommen war, hatte ich sofort mein Geld in kleine Goldbröckchen eingetauscht, mit denen ich überall bezahlen konnte. Zwei davon zog ich hervor und drückte sie dem alten Mann in die Hand.
    »Gerne würde ich Morgen auch in diesem wunderbaren Dorf aufwachen« sagte ich rasch »Aber was sollte ich den ganzen Tag unternehmen? Von morgens bis abends auf einer Veranda sitzen und den Kindern beim Spielen zuzuschauen ist noch nichts für einen Mann meines Alters. Ich will das Land erleben.«
    »Das Land erleben...« Er lachte leise. »Ich hätte da eine Idee für Sie. Einen schönen Zeitvertreib für den heutigen Tag. Ich verspreche Ihnen auch, dass Ihr Zimmer für die Nacht hergerichtet wird und Sie Morgen ein mindestens ebenso freudiges Erwachen haben werden.«
    »Natürlich höre ich mir Ihren Vorschlag gerne an« antwortete ich.
    Insgeheim war ich natürlich der Ansicht, dass dieser alte Mann mir keinen triftigen Grund bieten konnte, noch einen Tag in dieser Gegend zu verweilen, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Also ließ ich ihn sprechen, während ich weiter das Treiben auf der Straße beobachtete.
    »Nicht weit von hier lebt ein Mann« setzte er an »Ein Mann, der aus Ihrem Land kommt. Der Ihre Sprache spricht. Niemand weiß wirklich, wer er ist. Einige gehen so weit zu behaupten, dass er schon immer dort war. Nun ja, vielleicht sehnen Sie sich ja danach, jemanden aus Ihrer Heimat zu treffen. Vielleicht können Sie in Erfahrung bringen, wer dieser Mann ist. Vielleicht weiß er ja ein paar Geschichten zu erzählen.«
    Für einen Augenblick erwog ich, das Angebot auf der Stelle auszuschlagen, bis mir dann bewusst wurde, was der alte Mann gesagt hatte. Jemand, der aus meiner Heimat kam. Jemand, der hier lebte. Und niemand wusste, wie lange schon. Es war wohl eine Sache, sich nur das Land anzuschauen, durch das man gerade reiste. Aber nun hatte ich die Gelegenheit, mich mit jemandem darüber zu unterhalten, in einer Sprache, die mir nicht die Gelegenheit für Missverständnisse ließ. Vielleicht kannte er Mythen, Legenden oder ähnliches, Geschichten aus vergangener Zeit. Als mir das klar wurde, hatte ich mein Gepäck bereits wieder, ohne mir dessen wirklich bewusst gewesen zu sein, in die Hütte getragen. Der alte Mann war mir gefolgt.
    »Also?« fragte er.
    »Kann mich jemand zu ihm führen?« erwiderte ich.
    »Selbstverständlich« sagte er »Ich werde das persönlich übernehmen.«
    Und so gingen wir schon nach kurzer Zeit die staubige Straße entlang, zwischen den spielenden Kindern hindurch, vorbei an den Frauen und den Männern, an den strohgedeckten Holzhütten, zwischen den ersten Bäumen am Rande der gerodeten Lichtung hindurch.
    »Es ist nicht weit« sagte der alte Mann über die Schulter, während wir uns unseren Weg durch das Unterholz bahnten »Er lebt in einer kleinen Hütte ganz in der Nähe. Als Einsiedler, versteht sich.«
    »Ich verstehe schon« antwortete ich, während ich meinen Kopf einzog, um ihn mir nicht an einem tiefhängenden Ast anzustoßen »Aber nimmt er nie Kontakt zu Ihrem Stamm, oder Volk oder wie Sie sich nennen, auf?«
    »Nicht wirklich« erwiderte der alte Mann »Wir versorgen ihn, aber wir kennen ihn nicht wirklich.« Er lachte. »Eine seltsame Anwendung des Prinzips der Brüderlichkeit zwischen allen Menschen. Wir kennen ihn nicht und haben keinen Grund, ihm zu helfen, trotzdem tun wir es. Nun ja, so sind wir eben.«
    »Ich verstehe. Aber wie kommt er hier her? Wo kommt er her?«
    »Das weiß niemand. Wie bereits gesagt, er war schon immer dort. Wir wissen nicht, ob dort ein Einsiedler mit seiner Frau lebt, die mittlerweile ein Kind gezeugt haben, aber solange ich mich erinnern kann, war diese Hütte von einem Einsiedler bewohnt, der von meinem Volk versorgt wurde.«
    Wir schoben einige biegsame Äste zur Seite und traten auf eine kleine Lichtung. Zwischen den Bäumen uns gegenüber stand eine kleine Holzhütte mit Holzdach, dessen Schindeln mit Steinen beschwert worden waren. Neben der Unterkunft waren ein paar Pfosten aufgestellt, zwischen denen Leinen gespannt worden waren. Auf diesen Leinen hingen verschiedene Kleidungsstücke, an manchen auch größere, rohe Fleischstücke oder andere Lebensmittel. Man konnte auf den ersten Blick sehen, dass dieser Ort bewohnt war.
    »Hier ist es« sagte der alte Mann »Ich mache mich auf den Rückweg. Wir sehen uns Morgen.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er sich um und verschwand wieder zwischen den Bäumen.
    »Danke« murmelte ich, aber ich bezweifelte, dass er es noch gehört hatte.
    Eine gewisse Nervosität ergriff mich, als ich mich der kleinen Hütte näherte. Ich hatte seit Monaten niemanden mehr getroffen, der meine Muttersprache beherrschte. Und hier, an einem Ort, an dem ich niemals damit gerechnet hätte, begegnete ich nun so jemandem. Mit feuchten Händen überquerte ich die Lichtung und klopfte an die Holztür.
    Es tat sich nichts. Ich klopfte ein weiteres Mal an, dann nochmal. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, drangen Geräusche aus dem Inneren, schwere Schritte, die sich der Tür näherten. Ehe ich mich versah, schwang die Holztür auf.
    Vor mir stand ein Mann, dessen Alter sich unmöglich schätzen ließ. Seine Haut war stark gebräunt und faltig, doch sein Bart und Haupthaar hatten noch immer eine kräftige, hellbraune Farbe. Und seine grünen Augen wirkten zeitlos, geradezu jugendlich. Er trug nur eine feste, braune Hose und ich konnte die gewaltigen Muskeln seiner Arme und seinen enormen Brustkorb bestaunen.
    Für einen Augenblick schwiegen wir beide. Sein Blick bohrte sich unerbittlich in den meinen. Es sah nicht so aus, als würde er mich von sich aus willkommen heißen. Also ergriff ich die Initiative.
    »Wunderschönen guten Morgen« sagte ich in meiner Muttersprache.
    Wenn er überrascht war, jemanden in dieser Sprache sprechen zu hören, so verbarg er es perfekt. Seine Mimik ließ keinen seiner Gedanken erahnen.
    »Morgen« brummte er durch seinen Bart.
    Dann schwiegen wir wieder.
    »Ich komme von weit her« fuhr ich schließlich fort.
    »Das merke ich« antwortete er sofort.
    »Ich bin auf der Durchreise« setzte ich wieder an »Mir wurde erzählt, dass jemand hier lebt, der meine Sprache spricht. Als ich das hörte, machte ich mich sofort auf, Sie zu sehen.«
    »Sag du zu mir. Mit dem Sie hab ich’s nicht so.«
    »In Ordnung.« Ich lachte nervös. »Und wie heißt du?«
    »Ich habe keinen Namen« brummte er »Was willst du hier?«
    »Ich wollte mich mit jemandem in meiner Muttersprache unterhalten« verteidigte ich mich sofort.
    »Wozu?« wollte er wissen »Worüber willst du dich unterhalten?«
    »Oh, dies und das. Die Gegend hier... Mythen, Legenden... vielleicht auch nur ein wenig Small Talk.«
    »Davon halte ich nicht viel« brummte er und drehte sich um.
    Ehe ich etwas erwidern konnte, war er in der Hütte verschwunden. Aber er hatte die Tür offen stehen lassen, was ich als Einladung ansah, einzutreten. Also folgte ich ihm.
    In der Hütte herrschte ein düster-dämmeriges Zwielicht und im ersten Augenblick konnte ich kaum etwas erkennen. Erst langsam gewöhnten meine Augen sich daran. Das Innere der Hütte war überraschend sauber. Ein primitives Bett stand in einer Ecke, in der Mitte des Raumes ein Tisch mit einem Stuhl und in der anderen Ecke eine Feuerstelle, über der ein gußeiserner Topf hing.
    »Hübsch« bemerkte ich.
    Er brummelte etwas unverständliches und ließ sich auf dem Stuhl am Tisch nieder.
    »Du lebst hier alleine?« fuhr ich fort.
    Für einen kurzen Augenblick huschte etwas über seine Züge, das ich als tiefsten Seelenschmerz interpretierte, aber genau konnte ich es nicht erkennen.
    »Ja« antwortete er »Ganz alleine.«
    »Kennst du dich hier in der Gegend aus?« setzte ich mein kleines „Verhör“ fort »Ich habe gehört, dass du schon eine ganze Weile hier lebst.«
    »Wieso willst du das wissen?« fragte er geradeheraus.
    Darüber hatte ich mir nie wirklich Gedanken gemacht und jetzt mit dieser Frage konfrontiert zu werden, verunsicherte mich ein wenig.
    »Zum Zeitvertreib« antwortete ich vorsichtig.
    »Zeitvertreib?« fragte er mit einem leicht missbilligenden Unterton.
    »Naja, ich reise eben durch die Gegend« fuhr ich fort »Ich will fremde Kulturen und Länder kennen lernen.«
    »Aber wieso?« wollte er wissen »Wieso tust du sowas? Einfach nur so oder steckt ein Sinn dahinter?«
    Ich dachte für einen Augenblick nach, bis mir die richtige Antwort in den Sinn kam.
    »Ich tue das für mich« antwortete ich schließlich »Ich hatte ein gewöhnliches Leben, war auf der Schule, hätte einen Beruf ergreifen können, Geld verdienen... Du verstehst? Aber das ist eben nichts für mich. Ich will nicht der Gesellschaft dienlich sein. Ich will keine Verantwortung für Dinge übernehmen, die mich nicht interessieren. Ich will mein Leben genießen. Deswegen habe ich alles hingeschmissen und mich auf den Weg gemacht.«
    Als ich ihm diese Antwort gab, leuchteten seine grünen Augen geradezu auf.
    »Dein Leben genießen« echote er »Ein nobler Vorsatz.«
    »Nobel?« Ich lachte. »Wohl kaum.«
    »Oh doch« fuhr er fort »Aber du musst vorsichtig sein, wenn du auf diesem schmalen Grat balancierst. Diesem schmalen Grat zwischen „Dein Leben genießen“ und „Dein Leben verschwenden“.«
    »Wie meinst du das?«
    »Es gibt so viele Menschen, die denken, sie würden ihr Leben genießen. Aber die meisten davon verschwenden es einfach nur mit Dingen, die keinerlei Bewandtnis haben.«
    Er stand von seinem Stuhl auf und drehte mir für einen Augenblick den Rücken zu. Und als er sich wieder zu mir wandte, stellte er diese Frage...
    »Was ist schlimmer?« setzte er an »Nach einem viel zu kurzen Leben den letzten Atem auszuhauchen, ohne jemals etwas von Bedeutung getan zu haben... Oder das schönste Geschenk der Welt zu erhalten, nur um es sofort wieder zu verlieren? Und das für alle Ewigkeit.«
    Ich wählte die erste Antwort, die mir in den Sinn kam... Weniger eine Antwort, eigentlich eine Gegenfrage.
    »Ist das nicht dasselbe?« fragte ich ihn.
    Er lachte nur und warf mir einen geradezu mitleidigen Blick zu.
    »Das sind die größten Unterschiede, die du dir vorstellen kannst« sagte er schließlich »Der Tod nach einem bedeutungslosen Leben ist denen vorbehalten, die ihr Leben verschwendet haben. Dafür werden sie nie diese unglaubliche Seelenqual des furchtbarsten Verlustes, den es geben kann, erfahren müssen. Jemand, der das schönste Geschenk der Welt erhalten hat, hat sein Leben genossen. Aber das beinhaltet für jeden die Gefahr, dieses wunderschöne Geschenk wieder zu verlieren und diese ewige Qual, diesen unvorstellbaren Schmerz zu verspüren.« Er lächelte wehmütig. »Und vielleicht sogar für alle Ewigkeit.«
    Ich starrte ihn einfach nur offenen Mundes an. Bis es dann aus mir heraus platzte.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du mir damit sagen möchtest« murmelte ich.
    »Das dachte ich mir« entgegnete er »Aber vielleicht kann ich dich ja dazu bringen, mich zu verstehen.« Er seufzte. »Du willst also dein Leben genießen? Nun, dann lass‘ mich dir eine Geschichte erzählen.«
    »Eine Geschichte?« fragte ich »Eine Geschichte über dieses Land, über Mythen, Legenden, was auch immer?«
    »Oh nein.« Er lachte. »Nichts dergleichen. Eine Geschichte über Genuss und Verschwendung, über Freundschaft, Verlangen, über das Leben, über Liebe und Tod.«
    »Liebe und Tod?« echote ich.
    »Liebe und Tod« bestätigte er »Die beiden größten Mächte im Leben eines Menschen, für immer untrennbar miteinander verbunden...«
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    okay, weiter geht's mit dem eigentlichen anfang der geschichte (das davor war nur eine art prolog). achso, das ganze poste ich hier mit Ankous segen und hab mit ihr extra abgesprochen, dass ich sowas hier reinstellen darf ^^

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    That war left scars on me. Without you now, I’m free.
    Liebe, Lust, Leidenschaft... Zwei Körper, eng verbunden, zwischen den zerwühlten Decken auf dem Bett... Die sexuelle Anspannung in der Luft, die Einigkeit von Mann und Frau... Verlangen, Verliebtheit... Nackte Haut aneinander gepresst... Lippen berühren sich...
    Er küsste sie und sie erwiderte seinen Kuss. Seine Arme waren um ihren nackten Körper geschlossen seine Brust gegen ihre gepresst. Ihrer beider sexuelle Ekstase steigerte sich. Er schloss die Augen und er spürte, wie sehr er sie liebte. Wie sehr er sie begehrte. Wie glücklich er sich schätzen konnte, dass sie in diesem Augenblick in seinen Armen lag.
    »Ich liebe dich« hauchte er atemlos, während er die Augen wieder öffnete.
    »Ich liebe dich auch« antwortete sie.
    Sie liebten sich. Sie liebten sich sehr. Sie hatten Sex miteinander und das jetzt schon eine ganze Weile. Und sie genossen es. Er küsste sie, wieder und immer wieder.
    I hate with as much passion as I love.
    »Ich liebe dich« sagte er ein weiteres mal.
    Etwas war anders. Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren hohl... fremd...falsch...
    »Ich liebe dich auch« antwortete sie wieder.
    »Ich liebe dich« wiederholte er sofort, weil ihn diese Veränderung verstörte.
    In seinen Ohren waren seine Worte nurnoch ein Wispern, ohne Bedeutung, unhörbar... Und wieder hohl, fremd und vor allem falsch. Vollkommen falsch. Als würde er eine offensichtliche Lüge ohne jegliche Überzeugung aussprechen.
    »Ich liebe dich doch auch« versicherte sie ihm mit einem warmen Lächeln.
    Ihr Lächeln hatte auch nicht die gewünschte Wirkung auf ihn. Er füllte sich nicht besser dadurch...
    »Ich liebe dich« hauchte er zum vierten Mal.
    Mit diesen kümmerlichen Worten konnte er nichtmal mehr sich selbst überzeugen. Sie waren so unglaublich falsch, dass sie ihm beinahe körperliche Schmerzen bereiteten. Die Falschheit drehte ihm beinahe den Magen um.
    »Aber ich liebe dich doch auch« lachte sie.
    Er schloss die Augen. Was war nur los? Was hatte sich verändert? Er liebte sie. Er liebte sie wirklich. Warum nur waren seine Worte so hohl? Sie musste es doch auch bemerken. Sie musste einfach.
    What is it you hope for, even though you are dying?
    Er öffnete die Augen und sah die Wand über ihrem Bett. Eine schattenhafte Hand griff durch den festen Stein und durch die schlichte Tapete, die düsteren Finger gespreizt. Langsam bewegte die Hand sich auf sein Gesicht zu, schien nach ihm greifen zu wollen. Er spürte Kälte, spürte Angst. Er spürte ein unerfülltes Verlangen tief in seinem Inneren. Wie gebannt starrte er auf die schattenhaften Finger, die vor seinen Augen schwebten.
    Kälte, Angst, Verlangen – nach etwas Anderem... Zwei Körper, eng verbunden, zwischen den zerwühlten Decken auf dem Bett... Die sexuelle Anspannung in der Luft war geschwunden, die Einigkeit von Mann und Frau nur ein kaltes Symbol ohne tiefere Bedeutung... Verlangen, Verliebtheit... Eine unheimliche Kälte in seinem Inneren... Nackte Haut aneinander gepresst und doch bedeutete dies nichts...
    The pain I think should go on forever. For always.
    Karina wälzte sich nach oben und kniete über Siegfried, die Ellenbogen links und rechts seines Kopfes auf die Matratze aufgestützt.
    »Ich liebe dich« hauchte sie atemlos »Ich liebe dich, Siegfried.«
    Er antwortete nicht. Auf dem Rücken liegend sah er sie an. Ihr schönes Gesicht, ihr langes, schwarzes Haar, ihre blasse, nackte Haut. Mit einer Hand strich er über ihre Brüste, über ihre Schultern, über ihren Rücken.
    »Siegfried« murmelte sie erneut.
    But no. Not mine. Not now. My life now begins.
    Er antwortete nicht. Sie beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf die Lippen. Er erwiderte ihren Kuss zögernd. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie ihn an. Er erwiderte ihren Blick scheinbar, doch seine Augen waren stumpf... zerbrochen... er sah sie an, doch sein Blick war in die Ferne gerichtet.
    »Was ist los, Siegfried?« fragte sie leise, während sie sich an ihn klammerte.
    Er atmete vollkommen ruhig und entspannt. In den letzten Augenblicken hatte sich etwas verändert. Siegfried und Karina hatten in der perfekten Vereinigung miteinander im Bett gelegen, hatten sich geliebt, hatten Leidenschaft empfunden, hatten Sex miteinander gehabt, wie jedes mal. Aber jetzt lag Siegfried dort, ruhig auf dem Rücken, berührte sie mit kalten Fingerspitzen, wie einen kalten, toten Gegenstand. Sie fröstelte unter seinem stumpfen Blick und unter der Berührung seiner Hand auf ihrem Rücken.
    »Siegfried« flehte sie ihn beinahe an »Sprich doch mit mir.«
    Er lag dort, nackt unter ihrem nackten Körper. Nichts deutete darauf hin, dass er ihre Worte überhaupt vernommen hatte. Keine Veränderung des stumpfen Ausdrucks in seinen Augen, kein Muskel in seinem Gesicht bewegte sich. Nur seine Hand, die auf ihrem Rücken lag, glitt etwas tiefer. Absolut gefühllos. Sie hob ihren linken Arm und fuhr damit über seine Brust, schloss ihre Finger zuletzt um seine Schulter und rüttelte sanft.
    Cross my path and you’ll suffer like no man before.
    »Siegfried« flüsterte sie, während sie ihren Schoß weiter an seinem rieb »Siegfried...«
    Etwas in seinem Blick veränderte sich. Als würde ein milchiger Schleier von seinen Augen rinnen, schwand der stumpfe Ausdruck aus seinem Gesicht. Wie jemand, der gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht war, sah er sich für einen Augenblick verwirrt um, bevor er sie anlächelte. Er ließ seine Hand, die mittlerweile auf ihrem Kreuz ruhte, seitwärts zu ihrer Hüfte gleiten, während er sich mit den Ellenbogen an der Matratze abstützte, sich vorbeugte und sie auf die Lippen küsste.
    »Ich... liebe dich auch« sagte er.
    Die Kälte war gewichen, die schattenhafte Hand verschwunden. Aber sie hatte etwas in ihm zurückgelassen. Etwas, was ihm zu denken gab. Aber nicht jetzt. Seine Hand wanderte tiefer, legte sich auf ihren Oberschenkel. Ein schabendes Geräusch erklang, als seine Finger über ihre seidenen Kniestrümpfe glitten. Sie lächelte jetzt, lächelte wegen seiner Liebesbekundung und seiner Berührung. Zufrieden begann sie, ihren Schoß wieder zu bewegen. Wie leer seine Worte doch gewesen waren, wie hohl... Und das dämmerte ihm erst jetzt.
    Liebe, Lust, Leidenschaft – doch nur einseitige Empfindungen... Zwei Körper, eng verbunden, zwischen den zerwühlten Decken auf dem Bett, verbunden in einem bedeutungslosen Augenblick, der nichts wirklich erfüllte... Die sexuelle Anspannung in der Luft... zurückgekehrt... Die Einigkeit von Mann und Frau wiederhergestellt... Doch zur Hälfte nur eine hohle Geste, eine verzerrte Maske, die Wahrheit verschleiernd... Verlangen, Verliebtheit, nur Worte, nicht mehr... Nackte Haut aneinander gepresst... Lippen berühren sich...
    Held you in my arms. In my arms, my love.
    Karina schrie ihre Lust heraus. Siegfried verspürte nichts dergleichen, doch in einem bedeutungslosen Akt schloss er ihren bebenden Körper in die Arme, küsste sie auf die Stirn. Er achtete kaum darauf, was er tat, war viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt. Seine Fingernägel krallten sich in ihre Schulter.
    »Au« rief Karina, während sie inne hielt »Was tust du denn?«
    »Entschuldige« murmelte er, während er seine verkrampften Finger entspannte.
    Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich wieder. Sie lächelte, beugte sich vor und küsste ihn, bevor sie ihre Arbeit wieder aufnahm. Arbeit... Nein, nur für Siegfried war es Arbeit. Sie verspürte etwas, doch er verrichtete nur eine Aufgabe, ohne Gefallen daran zu finden. In den letzten Augenblicken hatte sich nichts verändert, das war ihm jetzt klar. Er hatte nur etwas gekannt, was schon eine Weile in ihm geschlummert hatte.
    Karina schrie und stöhnte, er lag vollkommen ruhig unter ihrem nackten Körper. Und nachdem sie ihren Höhepunkt erlebt hatte, schob er sie sofort von sich und setzte sich auf die Bettkante.
    »Siegfried« murmelte sie erschöpft »Was ist los?«
    »Nichts« log er »Es ist nichts.«
    Er ergriff seine schwarze Hose und schlüpfte hinein. Schnell stand er auf und ging die paar Schritte hinüber zum Spiegel.
    Karinas Zimmer war weder groß noch klein, vielleicht zwölf Quadratmeter, vielleicht ein bißchen mehr oder weniger. Doch größtenteils war es mit Möbeln vollgestellt. Da war das breite Bett mit den Decken und Kissen, auf dem sie lag. Dann noch ein Schreibtisch mit einem Drehstuhl davor, ein breiter Ledersessel und eine kleine Kommode, auf der ein Farbfernseher stand. Neben dem Bett befand sich ein Nachttisch und gegenüber ein Kleiderschrank. Und abgesehen von dieser Ecke, in der eine Art Schminktisch über einem Spiegel hing, machte das die gesamte Einrichtung des Schlafzimmers aus.
    But my tears. They fall for you. Only you. drangen die letzten Worte des Liedes aus den Lautsprechern des kleinen CD-Players, der neben dem Fernseher stand, an Siegfrieds Ohr.
    Schlagzeug, Bass, verzerrte Gitarre und Violine verhallten in der Stille. Nur Karinas regelmäßiger Atem war hörbar. Dann setzte die Geige wieder ein und die nächsten Worte wurden zu Siegfried hinüber getragen.
    You who stand there now, I will not tell you not to cry.
    Er stützte sich mit einer Hand auf dem kleinen Schminktisch ab und fuhr sich mit der anderen müde über die Augen. Die Kälte in seinem Inneren war noch immer da, ließ sich nicht vertreiben. Siegfried atmete tief durch, stieß sich von dem kleinen Schminktisch ab und blieb hoch aufgerichtet vor dem Spiegel stehen, die Arme hängen lassend.
    Da stand er, direkt vor seinen Augen. Siegfried Winterberg. Jung, groß, blaß, schmächtig - beinahe ausgemergelt. Keine nennenswerten Muskeln zeichneten sich unter der weißen Haut seiner Arme ab. Seine Schultern waren schmal und jede einzelne Rippe zeichnete sich deutlich auf seiner Brust ab. Doch über diesem schwachen Körper thronte sein scharf geschnittenes, markantes und nicht gerade unansehnliches Gesicht. Eingerahmt von braunem Haar, das bis zu seinen Schulterblättern hinab fiel, lagen dort in seinem blassen, schmalen Gesicht die ausdrucksstarken grünen Augen mit dem melancholischen Zug im Blick, die harten, beinahe farblosen Lippen, das spitze, glatt rasierte Kinn, die schmale Nase und die kaum sichtbaren Augenringe, die seine Augen noch durchdringender wirken ließen.
    »Siegfried?« hörte er Karinas Stimme vom Bett her.
    Der Klang der Worte vermischte sich mit der Musik aus den kleinen Lautsprechern.
    Sieg... I can crown you a God... fried... and I will suffer for your sins.
    Er antwortete nicht. Statt dessen streckte er eine Hand aus und fuhr damit über den Spiegels, fuhr über den Körper seines gläsernen Ebenbildes.
    Der Spiegel war so kalt wie die Berührung, die Siegfried Karina geschenkt hatte.
    »Siegfried, was ist los?« fragte die junge Frau auf dem Bett erneut.
    Wieder verschluckte der Gesang ihre Worte, nahm sie in sich auf, verband sich mit ihnen.
    Siegfried... On a pale and teary cheek... was... Tears cascade to your feet... ist los?
    Er zog seine Fingerspitzen von dem glatten Spiegelbild zurück und warf einen Blick über die Schulter.
    Dort lag sie auf dem Bett... Karina... seine Freundin... seit vier Jahren... Er erinnerte sich in jeder Einzelheit an den Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Er, groß und düster, schlank, unnahbar... Sie, nur etwas kleiner, gut gebaut, blaß... Das perfekte Paar... Das erste Treffen, die erste Berührung, der erste Kuss...
    Vier Jahre waren eine lange Zeit. Es war viel geschehen. Vielleicht zu viel... Er sah sie an, wie sie dort lag, zwischen den zerwühlten Decken auf ihrem Bett, auf dem Rücken, nackt, abgesehen von den Seidenstrümpfen. Ihr schwarzes Haar umrahmte ihr blasses Gesicht. Sicher war sie schön. Aber sie hatten sich beide verändert, seit ihrer ersten Berührung.
    Ihm war beinahe so, als würde er als unbeteiligter Beobachter hier stehen, würde sich selbst und Karina sehen, ohne eingreifen zu können. Er nahm die Szene aus einer gewissen Distanz in jeder Einzelheit wahr, verglich sie mit dem Bild von damals. Er, groß und düster, ausgemergelt, nur eine Karikatur seiner selbst... Sie, etwas kleiner, mit einem nunmehr massigen Körper, der sich geradezu auf dem Bett verteilte... Was war aus dem perfekten Paar geworden? Absolute Gegensätze. Ein schlechter Scherz. Eine Szene aus einem Fernsehfilm, die wohl witzig gemeint sein sollte, aber ihren Zweck vollkommen verfehlte. Wenn es nicht so traurig wäre, Siegfried hätte mit Sicherheit darüber gelacht.
    Aber es war so... Es hatte sich alles geändert. Vier Jahre können zwei Menschen näher zusammenschweißen, als sie sich sowieso schon sind. Aber in vier Jahren kann auch alles gesagt, alles getan werden. Schrecklich ist das nur, wenn es einem in einem einzelnen Augenblick auffällt. In dem unpassendsten Augenblick überhaupt.
    Zum Beispiel im Bett während dem menschlichsten Akt.
    Burning pain scars through your skin. But it’s „more“ you cry, for you are a sinner.
    Die Liebe war dahin, das wusste Siegfried. Das hatte er auch zuvor gewusst, unbewusst, doch er hatte es nicht erkannt. Und jetzt war es da, alles auf einen Schlag. Am liebsten hätte Siegfried laut geschrien, doch er tat es nicht.
    Er atmete tief und bewusst ein, um die wirren Gedanken zu verdrängen, die ihm im Kopf umher schwirrten. Dann noch einmal. Und beim dritten Mal schloss er die Augen und richtete den Kopf wieder dem Spiegel zu. Mit beiden Händen stützte er sich auf dem kleinen Schminktisch ab.
    Als er die Augen wieder öffnete stand Siegfried Winterberg vor ihm. Aber nur für einen kurzen Augenblick. Eine schattenhafte Hand griff von Innen aus dem Spiegel heraus, direkt an der Stelle, an der sich die Schulter seines gläsernen Zwillings befand, dann eine zweite Hand aus der anderen Schulter. Als würde der Siegfried aus dem Spiegel sich in einen düsteren Schatten verwandeln, so streckten die dunklen Finger sich weiter aus dem Glas heraus, gefolgt von undeutlichen Armen. Die Schattenhände senkten sich, stützten sich unweit von Siegfrieds Fingern auf dem Schminktisch ab. Wenn er ein Fingerglied gestreckt hätte, er könnte diesen Schatten berühren. Doch er tat es nicht.
    An der Stelle, an der sich der Kopf des Siegfrieds im Spiegel befand, trat weitere Düsternis hervor. Eine wirbelnde Kugel purer Schwärze, die sich langsam aus dem Glas schob und auf gleicher Höhe mit Siegfrieds Kopf verharrte. Aus seinem Spiegelbild war ein düsteres Monster geworden, das aus dem Glas kroch und ihn ansah. Ihm wurde kalt und er verspürte Angst, doch keine wirkliche Angst vor dem Schatten, der ihn anstarrte. Angst vor etwas anderem, vor etwas, was er nicht beschreiben konnte.
    »Siegfried« hörte er wieder Karinas Stimme »Warum sprichst du nicht mit mir?«
    Das letzte Lied der CD klang aus. Der Player sprang zurück zur ersten Nummer und die ersten paar Takte vermischten sich mit Karinas Worten.
    Siegfried... You can’t expect to see him and survive... Warum sprichst du nicht mir mir?
    Siegfried schüttelte langsam den Kopf, schob sich selbst ein Stück von dem Schminktisch weg, bis er wieder vollkommen aufrecht stand. Der Schatten, der aus dem Spiegel gekrochen war, schien seine Bewegungen zu beobachten, zu analysieren, ihn geradezu zu fragen, was er tat.
    Siegfried ließ diese Düsternis nicht aus den Augen. Mit seinen Fingern fuhr er über das Holz des kleinen Tisches, bis seine Hand gegen eine kleine Pillendose stießen. In quälender Langsamkeit schloss er die Finger darum, hob sie hoch, öffnete sie. Er schüttelte zwei der kleinen Pillen auf seine Handfläche, den Schatten noch immer mit den Augen fixierend. Er nahm die Pillen in den Mund und schluckte sie herunter. Ein paar Sekunden starrte er den Schatten, der aus dem Spiegel gekrochen war, noch an. Dann trat die Wirkung ein und das düstere Monster verschwand von einem Herzschlag zum nächsten.
    We live and die without hope.
    Die Kälte... Sie brannte sich in sein Herz... Beinahe konnte er die schattenhaften Finger sehen, die auf seiner Seele lagen.
    Und er wusste genau, dass er in diesem Augenblick ein Herz brechen wollte. Ihr Herz.
    »Siegfried, komm wieder ins Bett« sagte Karina gerade »Du hast lange genug in den Spiegel gestarrt.«
    »Du hast Recht« antwortete er und seine Stimme war kalt und emotionslos »Ich habe genug gesehen.«
    Er ergriff die kleine Pillendose und steckte sie in seine Hosentasche. Langsam drehte er sich um und ging hinüber zum Bett. Er setzte sich auf die Bettkante, ergriff seine Kleider, die auf dem Boden lagen, und zog sie über.
    »Was tust du denn?« fragte Karina »Wieso ziehst du dich an?«
    »Weil ich gehe« antwortete er schlicht »Es ist an der Zeit.«
    »Was, du gehst schon?« Sie fuhr mit ihren Fingerspitzen über seinen Rücken. »Zu schade. Wann sehen wir uns wieder?«
    »Wir sehen uns nie wieder« erwiderte er hart »Es ist aus, Karina. Leb‘ wohl.«
    Die junge Frau war zu perplex um sofort zu antworten. Mit offenem Mund starrte sie den Rücken ihres Freundes an, während er in sein T-Shirt schlüpfte.
    But rivers still run with reddest tears.
    »Das ist ein Scherz, oder?« fragte Karina leise und ihre Augen waren geweitet vor Unglauben.
    »Kein Scherz« antwortete Siegfried »Ich hätte es schon viel länger erkennen müssen. Wir gehören nichtmehr zusammen. Ich habe zwar gesagt, dass wir bis zuletzt unsere Leben miteinander teilen werden, aber...« Er seufzte. »Ich habe mich wohl geirrt. Es ist aus, Karina. Ich liebe dich nichtmehr.«
    Er spürte ihren Blick, der sich in seinen Rücken bohrte, während er seine Stiefel anzog, aber er drehte sich nicht um. Statt dessen stand er von der Bettkante auf, ergriff seinen langen Mantel, der neben der Tür lag, zog ihn über und verließ Karinas Schlafzimmer. Er durchquerte den Flur, stieg die Treppe hinab ins Erdgeschoss und blieb nur kurz an der Tür zum Wohnzimmer stehen.
    Karinas Vater lag nahezu in einem Sessel, seine Brille auf der Nase und eine Zeitung in den Händen. Karinas Mutter saß in seiner Nähe auf dem Sofa, die Fernbedienung für den Fernseher in der Hand. Siegfried stellte sich in die Tür und klopfte an den Rahmen. Karinas Eltern blickten auf.
    »Du gehst, Siegfried?« fragte die Mutter.
    »Ich gehe« bestätigte er »Lebt wohl.«
    »Lebt wohl?« echote der Vater »Was meinst du denn damit?«
    »Das was ich sagte« sagte Siegfried »Wir werden uns niemals wieder sehen.«
    Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging zur Haustür. Er durchquerte den Flur und kramte in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Er fand ihn und zog ihn heraus, hielt ihn in der Hand, während er die Haustür aufstieß und auf die Straße trat.
    Er hatte es getan. Er hatte ein Herz gebrochen. Er hatte Karina geliebt, wirklich geliebt. Und er hatte keine rationale Erklärung dafür, wieso er ihr das antun wollte. Aber eines musste er zugeben: Er hatte es tatsächlich genossen. Es war ein großartiges Gefühl gewesen. Und obwohl er Karina nicht hasste... wie hätte er sie auch hassen können? Gerade hatte er sie noch geliebt... wünschte er sich nur eine Sache: Er wollte, dass sie ihm folgte, dass er es ihr noch einmal ins Gesicht sagen könnte.
    »Siegfried.«
    Er stand mit dem Autoschlüssel in der Hand neben der Fahrertür und als er die Stimme hörte, warf er einen Blick über die Schulter zurück. Karina stand in der Tür, in einem weißen Morgenmantel. Ihr Haar war zerzaust, ihre Augen blickten ungläubig drein und eine einzelne Träne lief über ihre Wange. Er spürte noch das letzte Zerren der Gewohnheit in seinem Herzen, die Gewohnheit von vier Jahren. Ein kleiner Teil von ihr wollte zu ihr gehen, die Träne trocknen, sie trösten, ihr sagen, dass alles in Ordnung ist.
    Aber der größere Teil von ihm wollte ihr den seelischen Todesstoß geben, ihr Herz herausreißen und dann verschwinden, um sie nie wieder zu sehen. Es gab keinen wirklichen Grund dafür, er wollte es tun. Eine morbide Faszination erfüllte ihn, als er die Grausamkeit verspürte, die von seinen Worten ausging.
    »Nie wieder« sagte er schlicht, bevor er sich umdrehte und in sein Auto stieg.
    Mehr und mehr Tränen rannen über ihre Wangen, während sie ihn ungläubig anstarrte. Und so sehr er sich dafür schuldig fühlen wollte, er konnte es nicht. Seufzend schnallte er sich an und startete den Wagen. Melancholische Gitarren und eine klagende Stimme begrüßten ihn.
    Northern wind take my song up high to the hall of glory in the sky so ist gates shall greet me open wide when my time has come to die.
    Siegfried wechselte die CD, ließ sich von Blastbeats und dem unheilverkündenden Gekrächze über Tod, Verderben und das Böse begleiten, während er den Gang einlegte und anfuhr.
    Only the mist prevails, carried forth by the whispering wind.
    Er fuhr die Straße entlang und ließ die verzweifelte Karina mit gebrochenem Herzen zurück. Und es machte ihm nicht im Geringsten etwas aus. Es schenkte ihm nur die Gewissheit, dass er das richtige getan hatte. Das richtige, für sein zukünftiges Leben.
    Fünf Wochen... noch verdammte fünf Wochen...
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    trotz dem mangel an kritiken gebe ich noch nicht auf ^^ hier kommt jetzt der nächste teil des spektakels

    --------------------------------------------------------

    Thomas Winterberg saß an seinem Schreibtisch und laß einige Unterlagen durch. Er hatte die Nacht wenig geschlafen und arbeitete bereits den ganzen Tag mit nur einer Kanne Kaffe als Gesellschaft an dem Stoß Papiere, der an diesem Morgen auf dem schweren Holztisch gelegen hatte. Seufzend setzte er seine Brille ab und fuhr sich mit den Fingern über die Augen.
    Thomas lebte beileibe kein einfaches Leben. Er war recht wohlhabend, keine Frage. Aber das hieß nicht, dass er sich auf seinem Geld ausruhen konnte und, dass alles großartig für ihn lief. Er musste sich um seine Firma kümmern, was viel von seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Und der Rest wurde von zwei weiteren Komponenten in Beschlag genommen. Zum Einen das Andenken an Thomas‘ Frau Marie, das Beste, was ihm in seinem Leben passiert war. Eine wunderschöne Frau, klug, einfühlsam, seine große Liebe. Gestorben vor fast fünfzehn Jahren. Und seit diesem Tag war Thomas alleine.
    Alleine abgesehen von Siegfried, seinem Sohn, der kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag stand. Siegfried erinnerte Thomas vom Wesen her teilweise so sehr an Marie, dass er von Zeit zu Zeit einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz verspürte, wenn er seinen Sohn ansah und mit ihm sprach. Siegfried war ein guter Junge. Der frühe Tod der Mutter hatte ihn geprägt, hatte ihn ruhig und nachdenklich werden lassen. Ja, Maries Tod... und die Bürde, die Siegfried trug.
    Thomas vergrub das Gesicht in den Händen, während seine Gedanken zu seiner verblichenen Frau und seinem Sohn wanderten. Das Leben war alles andere als gut zu ihm gewesen. Aber er konnte es wohl nicht ändern.
    Als er den Blick wieder hob und die Brille auf die Nase setzte, sah er Siegfrieds Auto in die Einfahrt des großen Hauses einbiegen. Der junge Mann stieg aus, schloss den Wagen ab und machte sich auf den Weg zur Eingangstür. Aufmerksam lauschte Thomas auf das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss drehte. Er war etwas verwundert darüber, dass Siegfried gerade nach Hause kam.
    Die Haustür schwang auf und Siegfried trat in den Flur. Thomas trat an die Tür seines Arbeitszimmers und verfolgte die Ankunft seines Sohnes von der Seite. Siegfried schloss die Tür hinter sich, zog Mantel und Stiefel aus und warf sie unordentlich neben die Tür. Seltsam, dachte Thomas. So kannte er seinen Sohn garnicht. Offensichtlich beschäftigte Siegfried irgend etwas.
    »Siegfried« setzte er an »Alles in Ordnung?«
    »Alles Bestens, Vater« antwortete Siegfried abwesend, während er bereits die Treppe erklomm, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
    »Ganz sicher, mein Junge?« fragte Thomas.
    Doch Siegfried war bereits im ersten Stock verschwunden und hatte die Tür seines Zimmers hinter sich geschlossen. So kannte Thomas seinen Sohn ganz und garnicht. Nachdenklich ging er zu seinem Schreibtisch und setzte seine Brille ab. Er legte sie auf die Holzplatte und drehte sich wieder zur Tür um. Was mochte nur mit Siegfried los sein? Vielleicht hatte er Streit mit Karina. Das wäre des erste Mal, so lange Thomas sich erinnern konnte. Sehr merkwürdig.
    Er zögerte kurz, doch dann beschloss Thomas, dass es quasi seine Pflicht als Vater war, dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Er und Siegfried hatten immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt und Thomas war sich sicher, dass sein Sohn es ihm verzeihen würde, auch wenn er in etwas sensiblere Gefilde vorstoßen würde. Also stieg Thomas die Treppe im Flur hoch und machte sich auf den Weg zu Siegfrieds Zimmer.
    Als er vor der Tür stand, hörte er Musik aus dem Inneren.
    I’ve seen them. So dark. Black. And yet fine. The flower they carry had once been mine.
    Thomas trat an die Tür und wollte gerade anklopfen, als die Tür sich öffnete und Siegfried heraus trat, an seinem Vater vorbei und den Flur entlang ging. Etwas verwirrt sah Thomas ihm nach.
    »Siegfried« rief er seinem Sohn hinterher.
    »Einen Augenblick, Vater« bat Siegfried ohne sich umzudrehen »Wir können uns gleich unterhalten.«
    Thomas‘ Arbeitszimmer erstreckte sich über zwei Stockwerke, mit einer kleinen Wendeltreppe miteinander verbunden. Siegfried trat in diesem Moment in den Teil des Zimmers im ersten Stock. Langsam ging Thomas auf die Tür zu und als er nahe genug war, hörte er, wie sein Sohn in dem Raum herumlief, hier und da stehen blieb, wahrscheinlich etwas suchte.
    »Suchst du etwas, Siegfried?« fragte er vorsichtig von draußen.
    »Ja, tue ich« antwortete Siegfried und seine Stimme klang leicht abwesend.
    Er sprach nicht weiter, sondern ging die kleine Wendeltreppe hinab ins Erdgeschoss. Thomas trat durch die Tür in das Arbeitszimmer im ersten Stock. Einige der Bücher in den Bücherregalen waren offensichtlich herausgezogen und nicht ordentlich zurückgestellt worden. Während er auf die Geräusche seines Sohnes von unten lauschte, ging Thomas im Raum herum und rückte die Bücher wieder zurecht.
    »Du suchst ein Buch, oder?« rief Thomas die Treppe herunter.
    »Mhm« hörte er Siegfrieds Stimme »Aber ich habe es bestimmt gleich gefunden.«
    Die Stimme wurde leiser, während Siegfried diese Worte sprach. Er verließ das Arbeitszimmer und ging in den Flur. Thomas seufzte, da er anscheinend nichts aus seinem Sohn heraus bekam. Er drehte sich um und ging durch den Flur zurück, bis er wieder vor Siegfrieds Tür stand.
    Nach ein paar Minuten kam Siegfried wieder die breite Treppe aus dem Flur im Erdgeschoss hoch. In seiner Hand lag ein Atlas. Er hatte einen Zeigefinger an einer Stelle zwischen die Seiten gesteckt.
    »Hast du’s gefunden?« fragte Thomas.
    »Hab‘ ich« erwiderte Siegfried, während er an seinem Vater vorbei in sein Zimmer ging.
    Als er durch die Tür gegangen war schloss er diese, offenbar in Gedanken versunken. Thomas blieb etwas verwirrt im Flur stehen, bevor er die Hand hob um noch einmal anzuklopfen. Nach ein paar Augenblicken öffnete Siegfried wieder die Tür und sah seinen Vater an.
    »Ah« murmelte Siegfried »Du wolltest dich ja mit mir unterhalten.« Er öffnete die Tür vollends und trat seinem Vater aus dem Weg. »Komm‘ rein.«
    Thomas nickte und betrat Siegfrieds Zimmer. Für die Verhältnisse des Hauses, das sehr groß geraten war, war Siegfrieds Zimmer recht klein. Darin stand ein schmales, langes Bett, eine bequeme Couch, ein paar Schränke, eine Kommode, auf der Fernseher und Stereoanlage, in der gerade eine CD rotierte, standen, ein Nachttisch und ein hölzerner CD-Ständer, der gut befüllt war. An den Wänden hingen einige Poster, manche Kinoplakate, manche Poster mit den Namen von Bands darauf.
    Thomas beachtete all dies nicht weiter, sondern ging schnurstracks zur Couch hinüber und ließ sich darauf fallen. Siegfried folgte ihm ein Stück und setzte sich auf sein Bett, direkt neben den aufgeschlagenen Atlas. Thomas konnte sehen, dass sein Sohn sich wohl eine Karte von ganz Deutschland angeschaut hatte.
    »Alles in Ordnung, Siegfried?« fragte Thomas wieder, während er den Blick von der Karte nahm und seinem Sohn in die Augen sah.
    I had watched the snow all day.
    »Alles in Ordnung« bestätigte Siegfried.
    »Wieso bist du schon wieder zurück?« fuhr Thomas fort »Wolltest du nicht Heute und Morgen den ganzen Tag bei Karina bleiben?«
    »Ich habe mich von Karina getrennt« antwortete Siegfried und der Tonfall, in dem der junge Mann diese Worte sagte, ließen Thomas aufhorchen.
    Nicht die geringste Gefühlsregung konnte Thomas aus Siegfrieds Worten, aus seinem Tonfall oder seinem Gesicht lesen. Es schien, dass ihn das nicht im Geringsten berührte. All das verwirrte Thomas. Siegfried war immer ein recht gefühlsbetonter Junge gewesen und Thomas konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Sohn in seinem ganzen Leben jemals eine Regung, ein Gefühl unterdrückt hätte.
    Falling. It never lets up.
    »Getrennt?« fragte Thomas nach »Wieso das?«
    »Es erschien mir richtig« antwortete Siegfried.
    »Richtig?« Thomas sah ihn verwirrt an. »Junge, als du vorhin losgefahren bist, da warst du noch so verliebt, als hätte Karina dich Gestern das erste Mal geküsst. Und jetzt, ungefähr sechs Stunden später, erschien es dir „richtig“, dich von ihr zu trennen?«
    »Vater, es erschien mir richtig, das zu tun« wiederholte Siegfried »Unsere Liebe war nurnoch eine Farce. Das habe ich erst in den letzten Stunden verstanden. In unserer Beziehung wurde alles gesagt, alles getan. Das ist an sich nichts schlimmes, wenn man sich dennoch mit dem Partner wohl fühlt. Dann kann solch eine bedeutungslose Partnerschaft wundervoll sein.« Er seufzte. »Aber ich konnte nichtmehr bei Karina bleiben. Die Zeit war gekommen.«
    All day falling.
    Thomas sah seinem Sohn tief in die Augen.
    I lifted my voice and wept out loud, „So this is life?“.
    »Ich verstehe« sagte er schließlich »Ein Gefühl der Sterblichkeit, nicht wahr?«
    Siegfried nickte wortlos.
    »Du hast das Gefühl, dass dir die Zeit davon läuft« fuhr Thomas fort »Dass das Ende naht.«
    Wieder nickte Siegfried.
    »Oh Gott« murmelte Thomas »Solche Empfindungen bereits in deinem Alter zu haben muss die Hölle sein, oder?« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich meine, ich bin mehr als doppelt so alt wie du, mein Junge. Und ich verspüre dieses Gefühl nicht im geringsten. Seitdem deine Mutter gestorben ist, ziehen sich meine Tage bis ins Unendliche...«
    »Ist schon gut, Vater« antwortete Siegfried »Es ist nunmal so und weder ich noch du kannst etwas daran ändern.«
    »Ich weiß.« Thomas seufzte. »Also schön. Du hast bemerkt, dass du mit Karina keine Zeit ohne neue Erfüllung mehr verbringen kannst. Also hast du ihr gesagt, dass ihr von nun an getrennte Wege geht und hast sie verlassen?«
    »Es war finaler als das, Vater.«
    »Finaler?«
    »Ich habe ihr das Herz gebrochen. Ich habe es ihr herausgerissen und bin darauf herumgetrampelt.«
    »Wieso hast du das getan, Siegfried?« fragte Thomas, doch in seiner Stimme fand sich nicht der leiseste Hauch eines Vorwurfes, eher Neugierde.
    »Nur ein Gefühl« antwortete Siegfried »Ich stand dort und sah einen der Schatten.«
    »Einen der Schatten? Hattest du die Pillen nicht bei dir?«
    Als Antwort griff Siegfried in seine Hosentasche und präsentierte die kleine Dose mit den Pillen darin.
    »Ich muss vergessen haben, rechtzeitig eine zu nehmen« bemerkte Siegfried »Deswegen habe ich kurz etwas gesehen. Jedenfalls hat dieser Schatten etwas in mir ausgelöst. Vielleicht war es auch nur zeitlich gesehen ein Zufall, vielleicht war es unterbewusst. Jedenfalls wusste ich in diesem Augenblick, dass es vorbei ist, dass meine Liebe schon vor langer zeit verglüht ist, dass alles, was wir teilten, nurnoch eine hohle Geste war. Schön, aber absolut nicht von Bedeutung. Und, dass es an der Zeit war. Und dann verspürte ich dieses unglaubliche Verlangen, es zu versuchen.« Er lächelte wehmütig und starrte an seinem Vater vorbei ins Leere. »Ich wollte sehen, wie es sich anfühlt, wenn man jemandem das Herz bricht. Ich wollte diese Empfindung spüren. Wenigstens ein einziges Mal.«
    I’d fallen before but it never hurt like this.
    »Ich verstehe« antwortete Thomas aufrichtig »Ich schätze, du hast ihr gesagt, dass ihr euch niemals wieder sehen werdet?«
    Siegfried nickte.
    »Das ist sehr final.« Thomas fuhr sich mit einer Hand über die stoppelige Wange. »In Ordnung. Also bist du jetzt frei. Und was wirst du jetzt tun, mein Sohn?«
    Siegfried schwieg für einen Augenblick.
    »Wofür hast du diesen Atlas geholt?« fragte Thomas weiter.
    »Ich will mein Ziel ausmachen« antwortete sein Sohn schließlich.
    »Dein Ziel?« echote Thomas »Was für ein Ziel?«
    Siegfried seufzte.
    »Ich gehe fort, Vater« sagte er leise »Ich kann nichtmehr hier bleiben. Mein ganzes Leben war ich hier. Das engt mich zu sehr ein. Ich muss fort, ich muss weg. Ich will auch weg.« Er lächelte flüchtig. »Nicht unbedingt weg von dir, Vater. Aber irgendwie läuft es doch darauf hinaus. Gleich Morgen werde ich aufbrechen. Ich suche mir ein Ziel aus und dort werde ich hinfahren. Die restliche Zeit bis dahin werde ich verwenden, um mich noch um ein paar Dinge zu kümmern.« Er seufzte und sah seinem Vater tief in die Augen. »Ich fürchte, wenn ich Morgen aus der Tür gehen werde, wirst du mich das letzte Mal sehen, Vater.«
    The battle for our lives is oh, so brief.
    »Ich weiß« antwortete Thomas mit erstaunlich kräftiger und klarer Stimme.
    Jetzt war es Siegfried, der von seinem Vater überrascht wurde. Offensichtlich hatte Thomas etwas in dieser Richtung bereits erwartet. Er schien zumindest nicht überrascht, er schien sogar darauf vorbereitet gewesen zu sein.
    »Du wusstest, dass ich sowas sagen würde?« fragte Siegfried.
    »Ich war fast sicher« antwortete Thomas »Und wenn dein Gefühl dir sagt, dass es das Richtige ist, dann ist es auch das Richtige.«
    Siegfried stand auf und umarmte seinen Vater wortlos. Thomas gab sich weiterhin ruhig und gefasst, doch sein Inneres war das exakte Gegenteil, unruhig, aufgewühlt. Er hatte gerade seinen Sohn verloren. Nein, nicht verloren. Er hatte ihn gehen lassen und die ewige Zuneigung war ihm gewiss. Drei Menschen. Eine Familie. Die Mutter im Haus der Toten, der Sohn und der Vater schon bald getrennt. Doch im Geiste eine Einheit.
    Als sein Vater gegangen war, holte Siegfried einen großen Koffer herbei und begann zu packen.
    »Für fünf Wochen« murmelte er, während er T-Shirts, Pullover, Hosen und andere Kleidungsstücke in dem Koffer unterbrachte.
    Splendid victorious through the carnage. I wanted to touch them all.
    Schließlich war der Koffer gefüllt. Siegfried warf sich auf sein Bett und tastete mit einer Hand nach dem schnurlosen Telefon, das auf seinem Nachttisch lag. Zuerst löschte er Karinas Nummer aus dem eingebauten Telefonbuch, bevor er begann, Menschen anzurufen, von denen er sich verabschieden wollte. Freunde, Verwandte, Bekannte, seine ehemaligen Lehrer, sein Arzt, sogar den Verkäufer des Geschäftes, in dem Siegfried seine CDs kaufte, wenn es auch nur eine unbedeutende Geste war. Die Menschen sollten nicht in Unsicherheit vor sich hin leben. Jeder Mensch, dessen Leben er berührt hatte, sollte wissen, dass sie sich niemals wieder sehen würden.
    Es dauerte eine ganze Weile und im Laufe der Stunden erinnerte Siegfried sich an viele Ereignisse aus seiner Vergangenheit, frischte Freundschaften und Bekanntschaften auf, nur um jeden Einzelnen, mit dem er gesprochen hatte, für alle Zeit „Lebe Wohl“ zu sagen. Alles in allem war es ein schönes Gefühl.
    Als Siegfried das Telefon wieder auf den Nachttisch legte, war die Sonne bereits untergegangen. Langsam stand er auf und stellte sich ans Fenster, sah hinaus in die Nacht, sah den vollen Mond, der die Wiesen und Felder, die das Haus umgaben, in ein blasses Licht tauchte. Alles dort draußen wirkte surreal, unwirklich, wie aus einem Traum.
    Auch die schattenhaften Finger, die in einiger Entfernung aus dem Boden stießen, ohne ein sichtbares Loch zurückzulassen. Als die erste Hand aus dem Grund schoss, zuckte Siegfried unwillkürlich zurück. Aber danach blieb er am Fenster stehen und beobachtete das Auftauchen der Schatten mit beinahe klinischem Interesse. Wie die schattenhafte Hand, auf die das zwielichtige Mondlicht keinen Einfluss hatte, sich in den Boden krallte und wie dem folgend der düstere Körper des Schattens aus dem Feld aufstieg. Ihm folgte ein zweiter Schatten. Dann ein dritter. Sie verharrten dort draußen, schwebten über dem Feld, aus dem sie aufgestiegen waren.
    Und sie beobachteten Siegfried. Das wusste er. So als würden sie auf etwas warten, etwas, das von Siegfried ausging.
    Er seufzte, wandte sich ab und nahm die Pillendose aus seiner Hosentasche. Schnell nahm er zwei und als er sich wieder dem Fenster zudrehte, waren die Schatten draußen auf dem Feld verschwunden. Nur das Gras wiegte sich leicht im schwachen Abendwind. Abwesend legte er die Pillendose auf seinen Nachttisch.
    Alles war bereit, bereit für Siegfrieds Abschied. Aber als er sich in seinem Zimmer umsah, sah er, dass dem noch nicht ganz so war. Es war nunmal sein Zimmer und er war auch ein recht ordentlicher Mensch, aber dennoch hatte all das eine recht persönliche Note, die nicht mit der objektiven Sicht von perfekter Ordnung harmonierte. Zwischen den CD-Hüllen in dem Ständer waren teilweise leere Stellen, auf der Couch lag noch eine Hose, die er dort vor ein paar Tagen hingelegt hatte, andere Kleidungsstücke in seinem Schrank waren etwas unordentlich zusammengelegt, die DVD-Sammlung, die in einem anderen Schrank beheimatet war, neigte sich in eine Richtung... Solche Dinge eben.
    Siegfried dachte darüber nach wie es sein würde, wenn er ging. Sollte er sein Zimmer in diesem Zustand lassen? Dass wenn sein Vater es betreten würde er Siegfrieds Persönlichkeit wiedererkennen würde, in der Art, wie alles aussah? So dass der Vater, wenn er die Augen schließen würde, sich vorstellen könnte, das Siegfried in wenigen Augenblicken durch die Tür eintreten würde und alles so wäre wie früher? Er spielte kurz mit dem Gedanken, dass er eine perfekte Ordnung herstellen könnte, damit jeder, der diesen Raum betrat, den Siegfried vor sich sehen könnte, ohne seine Persönlichkeit zu kennen. Aber er entschloss sich, das Zimmer in exakt diesem Zustand zu lassen. Damit sein Vater diese persönliche Note erkennen könnte. Damit er sich zurückerinnern könnte.
    Siegfried legte sich wieder auf sein Bett und schloss die Augen. Und nach wenigen Augenblicken war er eingeschlafen.
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    so, und jetzt der letzte bislang bestehende teil von Winterberg. bin noch nicht wirklich dazu gekommen weiterzuschreiben, weil mir jetzt die zündende idee fehlt. hoffe auf weitere kritik ^^

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    Vogelzwitschern weckte Siegfried aus seinem Schlaf. Er schlug die Augen auf und sah die hölzerne Decke seines Zimmers. Bretter, die vor seinen Augen seltsame Formen bildeten, die verschwammen, die hin und her wirbelten. Schnell schloss Siegfried die Augen wieder, fuhr sich mit einer Hand darüber und zählte langsam bis zehn. Er richtete seinen Blick wieder auf die Decke über seinem Bett.
    Die Holzbretter brachen auf und wurden von einem gewaltigen Wirbel fortgerissen. Der Mahlstrom zerrte an Siegfrieds Haar und an seinen Kleidern, während zwischen den gesplitterten Brettern die hochrote Unendlichkeit aus wirbelndem Chaos sichtbar wurde. Dazwischen schwebten die düsteren Schatten, die Siegfried beobachteten und maßen. Wie immer auf etwas wartend.
    Schnell tastete Siegfried nach der Pillendose auf seinem Nachttisch, zog zwei Pillen hervor und schluckte sie hastig. Der Mahlstrom wurde schwächer, schwand schließlich vollends und die gesplitterten Deckenbalken wuchsen vor Siegfrieds Augen wieder zusammen. Siegfried blieb schwer atmend auf seinem Bett liegen, den Blick starr an die Decke gerichtet, als wollte er sie genau im Auge behalten, damit sie nicht sofort wieder aufbräche, wenn er den Blick abwendete. Langsam legte er die Pillendose zurück und tastete blind nach dem Telefon, das auf seinem Nachttisch lag. Anstatt den Blick von der Decke abzuwenden, hob er das schnurlose Gerät direkt vor seine Augen. Er drückte auf einige Knöpfe und hielt das Telefon schließlich ans Ohr. Es klingelte einige Male, bevor es in der Leitung klickte, da jemand abnahm.
    »Praxis Doktor Meinard, Willms am Apparat« meldete sich eine sanfte, weibliche Stimme am anderen Ende.
    »Guten Tag Frau Willms« antwortete Siegfried, die Augen noch immer auf die hölzerne Decke geheftet »Siegfried Winterberg hier. Ist der Doktor zu sprechen?«
    »Ah, Siegfried« sagte die Frau »Ja, Doktor Meinard ist im Augenblick da. Warte, ich stelle dich gerade durch.«
    »Vielen Dank« murmelte Siegfried.
    Es klickte ein weiteres mal und Siegfried wartete darauf, dass der Arzt sein Telefon abnahm. Es dauerte nur wenige Sekunden.
    »Meinard« meldete sich die rauhe Stimme von Siegfrieds Arzt »Guten Morgen Siegfried.«
    »Guten Morgen, Doktor Meinard« erwiderte Siegfried »Tut mir leid, sie schon so früh anzurufen.«
    »Früh?« Doktor Meinard lachte. »Es ist fast zwölf, Junge. Ich bin nur etwas verwundert, nachdem wir Gestern telefoniert hatten und du dein „Lebe wohl“ vom Stapel gelassen hast. Hätte nicht gedacht, dass du Heute gleich nochmal anrufst.«
    »Es ist nur... Die Schatten.«
    »Die Schatten? Was ist mit ihnen?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe die Medikamente genommen, aber sie tauchen in letzter Zeit unwahrscheinlich oft auf.«
    »Mach dir keine Gedanken, Siegfried« meinte Doktor Meinard »Vielleicht ist es nur ein Zufall und die Frequenz klingt schon bald wieder ab.«
    »Wenn Sie meinen« antwortete Siegfried »Ich kann es nur hoffen.«
    »Das wird schon, Siegfried. Nimm einfach die Medikamente, dann musst du dir keine Sorgen machen. Aber wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss mich um ein paar andere Patienten kümmern.«
    »Sicher, Doktor Meinard. Dann lasse ich jetzt wohl nochmal mein „Lebe wohl“ vom Stapel.« Er lächelte und das war seiner Stimme auch anzuhören. »Wie auch immer, machen Sie es gut.«
    »Mach’s gut, Siegfried« antwortete der Doktor, bevor Siegfried auflegte.
    Der junge Mann blieb noch einige Augenblicke auf dem Rücken legen, die Augen auf die Holzbretter an der Decke gerichtet, als fürchte er noch immer, dass die Schatten zurückkehren könnten. Doch schließlich setzte er sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und stand langsam auf. Mit einer Hand fuhr er sich durch die zerzausten Haare, die ihm ins Gesicht hingen, mit der anderen stützte er sich auf dem Nachttisch ab.
    Der Morgen seiner Abreise war gekommen. Siegfried zog sein T-Shirt, das er Gestern getragen hatte und in dem er eingeschlafen war, über den Kopf und warf es auf seine Couch. Er ging zum Kleiderschrank hinüber, suchte ein frisches Shirt heraus und schlüpfte hinein. Zuletzt band er seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, dann hob er seinen Koffer auf, öffnete seine Zimmertür und trat hinaus auf den Flur.
    Gemessenen Schrittes ging er zur Treppe, ließ den Blick über die Wände, über den Boden, über die Decke schweifen, prägte sich jede noch so kleine Einzelheit ein, jede Kerbe in den Holzbrettern, jeden Fleck auf der Tapete, jeden Kratzer in den Türen, einfach alles. Langsam stieg er die Treppe hinab ins Erdgeschoss, fuhr mit den Fingerspitzen über das Treppengeländer, spürte das Metall.
    Thomas saß wieder an seinem Schreibtisch, die Brille auf der Nase und eine Tasse Kaffe neben sich. Er überflog noch immer die Papiere, die bereits am vorigen Tag auf seinem Tisch gelegen hatten. Als er Siegfried die Treppe herunterkommen hörte, blickte er auf und sah seinen Sohn an.
    »Siegfried« sagte er so laut, dass der junge Mann seine Stimme hören konnte »Machst du dich auf den Weg?«
    »Ja, Vater« antwortete der junge Mann »Es ist soweit.«
    Er stellte seinen Koffer neben der Tür ab und ging hinüber zur Garderobe. Sein Mantel hing ordentlich an einem Haken und darunter standen seine Stiefel, die er Gestern so unordentlich hinterlassen hatte. Langsam nahm er den Mantel herunter und schlüpfte hinein, bevor er die Stiefel anzog, sich hinkniete und die Schnürsenkel zuband. Als er sich wieder erhob, stand Thomas neben ihm.
    »Fast einundzwanzig Jahre« murmelte der Ältere »Und ich habe keinen einzigen Tag bereut, dein Vater zu sein.«
    »Und ich habe mich niemals für dich geschämt, Vater« antwortete Siegfried.
    »Kommst du zurecht?« wollte Thomas wissen.
    »Das wird schon.« Siegfried zuckte mit den Schultern. »Ich habe alles bei mir und auf meinem Konto befindet sich noch genügend Geld, damit ich mich durchschlagen kann. Du hast es nie an etwas mangeln lassen, Vater.«
    »Wohin mit all dem Geld?« Siegfrieds Vater lachte leise. »Ich habe nie soviel gebraucht, wie ich hatte. Also kann ich mich doch angemessen um meinen Sohn kümmern.«
    »Angemessen?«
    »Etwa nicht? Du bist mein Sohn, Siegfried. Seit dem Tod deiner Mutter bist du alles, was ich noch habe. Ist da das Beste, was ich zu bieten habe, nicht angemessen?«
    Siegfried lächelte wehmütig.
    »Und was hast du noch, wenn ich gehe?« fragte Siegfried.
    »Erinnerungen« antwortete Thomas schlicht.
    Siegfried nickte und umarmte seinen Vater ein letztes Mal.
    »Ich werde dich vermissen, Vater« murmelte er.
    »Ich dich auch, Siegfried« erwiderte der Ältere »Pass‘ auf dich auf.«
    Vater und Sohn trennten sich voneinander. Siegfried hob seinen Koffer auf und trat an Thomas vorbei, öffnete die Haustür und verließ sein Heim. Und seinen Vater. Für immer.
    Er ging über den kleinen Fußweg, der durch den Vorgarten führte, schloss mit dem Schlüssel sein Auto auf, öffnete den Kofferraum und warf den gepackten Koffer hinein. Er schlug den Deckel wieder zu und setzte sich ans Steuer, atmete noch einmal tief durch, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.
    »Fünf Wochen« murmelte er »Jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Es war meine Entscheidung.«
    Loves golden arrow at her should have fled, and not Deaths ebon dart to strike her dead drang leise aus den Lautsprechern seines Radios.
    Flüchtig warf Siegfried einen Blick auf das Display des CD-Players. Lächelnd drückte er auf einen Knopf und die CD wurde ausgeworfen. Für solch melancholischen Gedanken war hier und jetzt kein Platz. Schnell wählte er eine andere Scheibe aus und schob sie in den kleinen Schlitz.
    To weak to make your own rules. To weak to follow your lust. To weak to live by yourselves.
    Ein Lächeln stahl sich auf Siegfrieds Lippen. Schnell legte er den Rückwärtsgang ein, trat aufs Gas und verließ das Grundstück seines Vaters. Er fuhr, achtete nicht auf seinen Weg, dachte an die Zeit, die vor ihm lag, sah nicht zurück. Doch plötzlich sah er sich direkt mit seiner Vergangenheit konfrontiert.
    Er hatte angehalten, geparkt direkt vor einem Haus, das ihm wohl bekannt war. Vor dem Haus, das Karinas Eltern gehörte. Er hob den Blick zu den Fenstern im ersten Stock. Die Rolläden vor Karinas Fenstern waren heruntergelassen, dahinter war kein Licht zu sehen. Etwas rührte sich in Siegfried. Kein Bedauern, das auf keinen Fall. Höchstens ein Bedürfnis, ihr seine Motive zu erklären. Natürlich nicht in ihrer Gänze. Er konnte einfach nicht in Worte fassen, warum er getan hatte, was er getan hatte.
    Siegfried beugte sich auf den Beifahrersitz hinüber, öffnete das Handschuhfach und kramte kurz darin herum. Er fand ein leicht verknicktes Blatt Papier und einen Kugelschreiber. Beides zog er unter den Fahrzeugpapieren und anderen Dingen heraus und begann zu schreiben.

    Karina,
    Ich will nicht heucheln, dass ich verstehe, was du jetzt durchmachst. Natürlich habe ich nicht die geringste Ahnung, welchen Schmerz du verspüren musst, welchen unendlichen Kummer, welche Seelenpein. Ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen, was ich bei dir angerichtet habe. Ich weiß nur, dass es furchtbar sein muss. Entweder das, oder du bist froh, dass du mich losgeworden bist, aber das glaube ich in meiner grenzenlosen Selbstüberschätzung nicht.
    Du musst mich für das gefühlloseste Arschloch halten, das es gibt. Wer weiß, vielleicht stimmt das sogar. Aber ich habe meine Gründe. Gründe, die wohl kein Mensch nachvollziehen kann. Gründe, die nur aus dem Augenblick entstehen. Gründe, die keiner Logik folgen, keinen Sinn ergeben. Aber Gründe, die für mich so wichtig sind, wie die Luft zum Atmen.
    Man könnte wohl sagen, dass du nur zur falschen Zeit am falschen Ort warst. Ich wollte nicht zwingend dir das Herz brechen. Aber so ist das Leben nunmal. Unfair und grausam. Und doch ist es all den Schmerz, all die Qual und all die Trauer wert, die wir durchleiden müssen. Das weiß ich. Und vielleicht wirst du es auch eines Tages verstehen. Was ich tat musste ich tun, um meinem Herzen zu folgen. Das mag abgedroschen klingen, aber es ist wahr.
    Es war nötig, deswegen werde ich mich nicht entschuldigen. Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich dich nicht hasse. Niemals könnte ich das. Aber Karina...
    Ich liebe dich nicht. Leb wohl.
    Siegfried


    Siegfried überflog die Zeilen, die er auf das Blatt gekritzelt hatte. Sie kamen ihm selbst so unbedeutend vor, so sinnlos. Vielleicht würden sie Karinas Schmerz auch einfach verstärken, unerträglich machen. Und dennoch fühlte der junge Mann sich besser, nachdem er diese Worte zu Papier gebracht hatte.
    I can’t describe the sight I saw, the sight of mighty fire. Nothing is more beautiful than fire.
    Siegfried faltete das Blatt zusammen und stieg aus. Er ging den kurzen Fußweg von der Straße zur Haustür entlang und sank dann auf ein Knie hinab. Den gefalteten Zettel legte er auf die Fußmatte, die auf dem Boden lag. Im Prinzip war es ihm völlig egal, ob Karina diese Zeilen jemals laß. Seine Schuldigkeit war getan und sie würden sich nie wieder sehen.
    Siegfried setzte sich hinters Steuer und machte sich wieder auf den Weg. Nach wenigen Minuten hatte er die Stadt hinter sich gelassen. Er erreichte die Autobahn und machte sich auf den Weg in seine unbekannte Zukunft.
    One with the night, stars by my side I hunt for visions so black.
    Harbinger ist offline

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