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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : ['Kurzgeschichte'] Man trifft sich immer zweimal im Leben



Spike Spiegel
21.01.2006, 18:42
Anm.: Ursprünglich hierzu (http://forum.worldofplayers.de/forum/showthread.php?p=1659277#post1659277) geschrieben.

Ein regelmäßiges Topsen begleitete den Gang der beiden Gestalten zu dem kleinen, abgeschiedenen Betonfleck, rechts neben dem Kinderspielplatz. Direkt dahinter befanden sich einige Bäume und Büsche. Weiter rechts war der ramponierte Fußballplatz, dem meist mehr Beachtung geschenkt wurde als dem Betonplatz. Er war wirklich nicht sonderlich groß, viel zu klein um mit mehr als drei Personen darauf vernünftig spielen zu können. Aber hier spielte eh kaum noch wer Basketball. Die Aluminium Stange, an deren Ende der Netzlose Korb hing, wackelte zwar ein wenig, aber zumindest war sie schön hoch. Ehe die beiden das Spielfeld betraten, hielt der Junge mit dem Ball kurzzeitig Inne und sah zum Netz auf. Er hatte es selbst nach all den Jahren mehr oder minder regelmäßigen Spielens nie einen Dunking geschafft. Er war einfach zu klein...oder der Korb zu groß.
"Dann probier ichs heut eben noch mal...", schmunzelte er während er auf die Stange zu sprintete, sprang...und den Ball gegen die orangefarbenen Stange warf, der darauf gefährlich Nahe am Kopf seines Begleiters vorbei flog.
"Hey man! Lass den scheiß! Du kannst es eh nich...also lass es einfach sein. Is besser für dich."
"Ach nerv mich net...machs du doch besser."
Seufzend ging der andere Junge, ein zwei Meter Koloss (so kam es einem zumindest vor), den Ball holen, topste ihn zwei, dreimal auf den Boden, lief los, sprang und versenkte den Ball mit einem Quietschen des Rings im Netz.
"Man gehst du mir vielleicht aufn Sack..."
"Hehehe."
Nach einer Weile fanden die beiden wieder in ihren normalen Spieltrott und versuchten sich an allerhand wagemutigen Würfen, die ab und an tatsächlich auch den Weg in den Korb fanden. Doch als ein weiterer Ball am Brett abprallte hielt der Kleinere der beiden plötzlich inne.
"Spürst du das?"
"Was soll ich spüren?"
"Wart mal..."
Er steckte die Zunge heraus, wartete kurz und fuhr sie dann wieder zurück ins Mundesinnere.
"Schnee! Schnee, man!"
"Oh..."
"Ja, man, scheiße. Ich hasse Schnee, hab ich dir das schon mal gesagt?"
Der Große tat so als würde er einen Moment lang nachdenken.
"Ja, glaub schon...so ungefähr...jedes Mal wenns geschneit hat."
"Ach nerv net."
"Und was jetzt?"
"Wie, 'was jetzt?'. Weiterspielen."
Der Koloss täuschte ein Lachen vor.
"Das kannst ja mal voll vergessen. Bald is hier alles weiß. Dann kannst du doch kein Basketball mehr spielen."
"Wieso?"
"Sag ma, bist du blöd oder was? Der Ball wird nass, das Feld rutschig und außerdem is es sau kalt."
"Ach komm..."
"Ne, vergiss es. Ich geh heim, was zocken. Kannst ja mitkommen, meine neue PS3 ausprobieren."
Ein breites Grinsen schlich sich auf die Lippen des Kleineren. Er hätte fast ‚Ja.’ gesagt, aber heute war ein besonderer Tag. Heute musste er Basketball spielen, es ging einfach nicht ander.
"Hmm...sorry, aber ich muss echt mal wieder nen bisschen spielen. Aber kannst ja schon mal den Controller für mich warm halten, komm dann nach."
"Von mir aus. Bis denn."
"Jojo, bis gleich."
Er sah seinem Freund noch eine Weile nach. Dieser hatte eine äußerst merkwürdige Gangart. Solange er stehen blieb, behielt er ein einigermaßen gerades Rückrad. Sobald er allerdings anfing zu laufen beugte er sich ziemlich weit nach vorne und sah die ganze Zeit über zu Boden. So sahen die beiden zumindest beim Gehen ungefähr gleich groß aus.
Langsam wanderte die Sonne am Horizont, während er sein Spiel fortfuhr. Es war Abend. Zu einer anderen Tageszeit ging er nur äußerst selten Basketball spielen. Immerhin war er hier direkt neben einem Spielplatz inklusive Bolzplatz, der zur Mittagszeit stets nur so vor Kleinkindern wimmelte. Und das konnte er nun gar nicht gebrauchen. Nach einer Weile des Spielens fiel ihm plötzlich etwas auf. Irgendwie war er immer besser, wenn er alleine spielte. Das war schon immer so. Vielleicht war es wegen der Nervosität, dem automatische Konkurrieren mit dem Mitspieler oder wegen mangelnder Konzentration. Er aber glaubte, dass es ganz einfach daran lag, dass jemand einen sehen konnte. Solange man alleine war, war man eben mit dem Ball alleine. Man konnte spielen wie man wollte, ohne Angst vor Fehlern oder fehlschlagenden Experimenten, ohne Erfolg oder Zeitdruck, ohne jede Scheu eben.
Sobald er jemanden jedoch um ihn herum bemerkte, büßte er mindestens 30 Prozent an Leistung ein und beschränkte sich auf altbewährte Würfe und Wurfpositionen. Er verstand es selbst nicht, weshalb er so krampfhaft versuchte sich keine Blöße zu geben. Oder lag es doch an etwas anderem?
Er verstand es einfach nicht. Es war eben so einer seiner Macken und zugleich der Grund, weshalb er es nie länger als ein halbes Jahr in einem Verein ausgehalten hatte. Er spielte gern allein. Doch eine Ausnahme gab es da. An diesem Tag waren es nun schon vier Jahre, die vergangen waren, seit er sie zum ersten Mal traf.
Er hatte komischerweise nie mit jemanden darüber gesprochen. Zu der Zeit hatte er sowieso kaum Freunde. Zwar pflegte er damals eine oberflächliche Freundschaft mit einigen Klassenkameraden, aber sein einzig wahrer Freund war der Basketball. Nach all den Freunden, Freuden und Leid, die er während seines Lebens kommen und gehen sehen musste, blieb nur er ihm, seit er ihn zum ersten Mal an seinem sechsten Geburtstag in die Hände nahm, treu. Er hatte mal versucht mit elf Jahren sich den Ball als Menschen vorzustellen und deckte einige verblüffende Ähnlichkeiten auf. Er hatte Luft im Kopf, wie viele Menschen auch, seine Haut war rot, wie die eines Menschen würde man ihn immer wieder auf den Boden werfen, und er konnte hoch springen...nun gut, letztendlich sah er auch ein, das man einen Basketball nicht mit einem Menschen vergleichen konnte.
Nichtsdestotrotz erwies sich der Seelenlose Gegenstand als hervorragender Wegbegleiter. Gute Noten im Sport Unterricht und Anerkennung seiner Leistungen waren nur einige der positiven Nebeneffekte die er beinhaltete. Aber wenn er so rückwirkend auf sein Leben mit dem Ball blickte, so war er ihm doch am dankbarsten für eine Begegnung, die ohne ihn nie zustande gekommen wäre.

Es war ein Dienstag, wie auch heute, und die langen Sommerferien waren schon fast vorbei, als er bei seinem täglichen Gang zum Basketballplatz auf ein Mädchen traf. Er wollte ursprünglich sofort umkehren, doch der etwas traurige Blick gen Korb ließ ihn einige Momente lang zögern. Als er sich dann doch umdrehte, rief sie ihm zu.
"Wolltest du nicht spielen? Wenn du willst, kann ich auch gehen."
Er wäre am liebsten in Grund und Boden versunken. Er konnte sich noch daran erinnern, ein heftiges, inneres Streitgespräch mit sich selbst über weibliche Reaktionen und deren Konsequenzen geführt zu haben. Da er sich bewusst war, das er dieser peinlichen Situation nur durch eine noch größere Peinlichkeit entfliehen konnte, gab er klein bei und ging schweigend auf das Feld.
"Nein, ist schon in Ordnung."
Das hübsche Gesicht des fing an zu grinsen. Dabei fielen ihm besonders ihre schmalen Lippen und die funkelnden, fast schon smaragdgrünen Augen auf. Sie war relativ groß, vielleicht etwas kleiner als er, was ihn etwas freudig stimmte. Ihr Aufzug war auch nicht unbedingt des eines gut gepflegten Mädchens würdig, wie er fand. Kurze, grüne Hosen und ein weißes, kurzärmliges T-shirt darüber mit einer unleserlichen Aufschrift. Dazu noch verdreckte, weiße Tennisschuhe. Ebenfalls ihre zerzausten, kurzen, kastanienbraunen Haare ließen sie eher wie einen Jungen erscheinen, wäre da nicht die recht ansehnliche Oberweite.
"Na dann bin ich ja erleichtert. Macht es dir etwas aus, wenn ich dir etwas beim spielen zusehe?"
Innerlich hallte ein lautes 'Ja, das tut es!' in seinem Gehörgang wieder, doch auch wenn sein Mund die Worte formten kam kein Ton heraus. Er war eben ein Weichei.
"Ne, ne, geht schon klar."
Er hätte sich ja gern selbst verhauen, aber selbst dazu fehlte ihm der Mut. Außerdem war die derzeitige Situation nicht gerade passend. Natürlich hätte es selbst aus dieser Misere einen stilvollen Abgang gegeben. Mehrere sogar. Aber die fielen ihm allesamt erst später ein. Worauf er sich erneut am liebsten selbst verprügelt hätte.
Sein Plan bestand darin eine halbe Stunde zu spielen und dann schnell wieder zu verschwinden. Allerdings brachte er nichts zusammen. Eine eigenartige Nervosität lähmte ihn regelrecht. Er war froh, wenn er mal den Ring traf.
"Du bist ganz schön schlecht."
Oh, wie war ihm dieses Mädchen doch sympathisch. Seine Faust wäre zu dieser Zeit gerne eine innige Beziehung mit ihrer rechten Wange eingegangen, doch glücklicherweise war er kein Mann großer Taten.
"Ja...ich bring heut irgendwie nichts zusammen."
Die Fremde kicherte.
"Kenn ich. Wie wäre es mit einem Spiel? Du gegen mich."
Verblüfft sah er zu seiner Zuschauerin auf.
"Du kannst Basketball spielen?"
"Ein bisschen."
"Ja...aber gegen nen Mädchen..."
"Hey, was soll das nun bitte schön heißen?"
"Nix, nix, beschwer dich dann aber net wenns dich ma hinhaut."
Lediglich ein hinterlistiges Lächeln bekam er als Antwort, doch das sollte ihm schon genügen. Es war Zeit sie ihre eigenen Demütigung spüren zu lassen. Er nahm sich fest vor, sie in Grund und Boden zu spielen. Allerdings hatte er sich schon vieles in seinem Leben vorgenommen. Das meiste davon war noch im Entwicklungsstadium. Dieses Mal hatte er jedoch rasch seine Ziele umgesteckt. Bald schon wachte er aus seinem Irrglauben der Überlegenheit auf und versuchte mit allen Mitteln eine Niederlage zu verhindern. Wenige Minuten später versuchte er lediglich noch ein paar Mal ins Netz zu treffen. Er musste gegen ein unbekanntes Mädchen eine komplette Niederlage einfahren. Auf halber Strecke hatte er aufgegeben ihre Punkte mitzuzählen. Die Zahl, die sie ihm später nannte, weigerte er sich einfach zu glauben. Es war zwecklos gewesen. Was er auch tat, sie konnte durch jede seiner Finten hindurch sehen, ja fast schon jede seiner Bewegungen voraussagen. Seine Würfe wurden von seiner relativ großen Kontrahentin meist durch Blocks und der daraus folgenden Irritierung vereitelt, seine Versuche einen Korbleger zu starten wurden schon früh durch konsequentes herantasten an den Mann und Ballabnahme unterbunden und aggressive sowie defensive Blocks seinerseits wurden mit einfallsreichen Finten umgangen, sodass er nicht einmal die Chance dazu bekam sie zu Boden zu werfen.
Selbst wenn er so etwas in seinen spärlichen Spielen mit einigen anderen Dorfbewohnern noch nie erleben hatte müssen, gab er sich dennoch als fairer Verlierer. Er bewunderte viel mehr das Können seines Gegners, als das ihn seine mangelnden Fähigkeiten ärgerten. Erschöpft ließ er sich auf dem kalten Asphalt nieder und rollte den Basketball zwischen den Beinen hin und her.
"Man, man, man. Bist du in der deutschen Basketballnationalelf oder wieso bist du so gut?"
Ein weiteres Kichern des Mädchens.
"Nein...ich spiele nur gerne Basketball und war deswegen auch eine Weile in einem Verein. Aber eigentlich bin ich gar nicht so gut, du bist nur ziemlich schlecht."
Das schelmische Lächeln seines Gegenübers entgegnete er mit einem leichten Grinsen.
"Vielen herzlichen Dank. Aber sag ma, wer bist du eigentlich? Hab dich hier noch nie gesehen."
Sie ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
"Anja."
Er nahm ihre Hand.
"Kevin."
Der Junge, noch immer von dem vielseitigen Wesen vor sich bezaubert, forderte ohne weitere Fragen eine Revanche. Zur gleichen Zeit schwor er sich, so oft gegen sie anzutreten, bis er gewonnen hatte. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet dass es allzu lange dauern würde. Doch genau das tat es. Während er noch seine zweite Niederlage zu verhindern versuchte, erfuhr er dass sie erst kürzlich in sein Dorf eingezogen war, da ihre Eltern dort in der Nähe Arbeit gefunden hatten. Mehr gab es an jenem Tag auch nicht groß herauszufinden. Stattdessen bat er sie, am nächsten Abend wieder gegen sie anzutreten. Ein Zyklus, der sich scheinbar endlos wiederholte. Nur sehr selten tauchte sie zu besagter Zeit nicht auf. Er hatte seit langem wieder einen echten Freund, mit echter Seele gefunden. Zwar besuchte er sie ab und an auch bei ihr zu Hause, doch die meiste Zeit verbrachten die beiden auf dem Spielfeld. Bestärkt durch das regelmäßige Spiel mit dem Jungen, entschied sich Anja wieder einen der örtlichen Vereine beizutreten. Zwar wollte sie Kevin dazu überreden es ihr gleich zu tun, doch er blieb seiner Sache treu. Das meiste was sie im 'professionellen' Training lernte, konnte er sich sowieso bei ihrem Match abschauen.
Während die Wochen verstrichen, konnte sich der Jugendlich sein Leben ohne das abendliche Spiel gar nicht mehr vorstellen. Es war zu seinem persönlichen Höhepunkt des Tages geworden. Grob drei Monate waren nun schon vergangen. Die Naivität eines jeden jungen Lebens diktierte ihm fast schon, das diese heile Welt ewig halten würde. Er hatte außerdem endlich den Mut gefasst den 'ersten Schritt' zu wagen und sie zum essen einzuladen. Zwar war er etwas ‚langsam’ in solchen Dingen, aber auf den Kopf gefallen war er deshalb noch lange nicht. Er hatte alles genaustens geplant, sowie jedes Detail und alle Reaktionsmöglichkeiten durchgegangen. Doch gerade, als er dachte, dass ihm nichts mehr überraschen konnte, fiel es ihm schwer die Kinnlade oben zu behalten.
"Ne...ne, das glaub ich jetzt nicht."
Beide standen sie auf dem Asphalt des Basketballplatzes.
"Das kann nich wahr sein..."
Er sah zu Anja herüber, die Geistesabwesend den an der Alu-Stange liegenden Basketball anstarrte.
"Nein...ich fass es einfach net...das gibst doch nicht...wie-?"
Er unterbrach sich selbst, sackte auf die Knie und sah zum Himmel.
"Oh Gott, Oh Gott, steh mir bei!"
Ein leises Kichern war neben ihm zu hören.
"Ich habe gewonnen! Der Sieg ist mein! Ich habe triumphiert!"
Innerhalb von Sekunden rappelte er sich wieder auf und rannte singend um das Spielfeld herum, sprang auf die Bank, gab mit einem breiten Grinsen seine ganz eigene Siegespose zu Gute und schnappte sich wieder den Ball.
"Komm, noch ne Runde, jetzt bin ich grad voll in fahrt."
"Tut mir Leid, aber ich kann nicht mehr. Ich bin völlig außer Atem. Du bist echt gut geworden."
Kevin kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf.
"Hehe, danke. Dann lass uns zur Feier meines glorreichen Sieges was essen gehen. Rechnung geht auf mich."
"Du lädst mich zum essen ein?"
Ein laut schallendes Gelächter ertönte im Inneren des Jungen. Auf diese Antwort war er vorbereitet. Seine Vorbereitungen fingen an sich auszuzahlen.
"Ja, wieso net? Und ich bekomm ja auch was zu essen, also is es nur halb so schlimm. Aber wenn ich schon ausgeb, dann geh ma auch zum Tornado. Der ist gut und preiswert. Und außerdem is es auch noch im Kaff."
"Italienisch...? Geht nicht auch was anderes?"
Er seufzte innerlich. Zwar hatte er auch eine solche Antwort in betracht gezogen, doch hatte er eigentlich gehofft das sie sich mit dem lokalen Restaurant zufrieden geben würde. So musste er eben seinen Charme spielen lassen...weshalb er lieber eine positive Antwort bekommen hätte.
"Der is net Italienisch! Das denkt nur immer jeder, weils da Pizzen gibt. Der is von so ner Insel...S-irgendwas...die machen da viel Besseres essen!"
"Sizilien?"
"J-, ne...des wars auch net. Sa...Sa...irgendwas mit Fisch."
"Tut mir Leid."
Seine energischen Handbewegungen, die seine Erklärungsversuche unterstützen hätten sollen hielten plötzlich schlagartig Inne.
"Ich kann leider nicht."
Ein Alarm im Kopfesinneren des Jungen ging auf einmal los. Er musste noch retten, was zu retten war.
"Wir können auch wo anders hingehen, so is des net."
Anja schwieg eine Weile, ehe sie antwortete.
"Nein, tut mir Leid, ich kann heute wirklich nicht. Ich hab noch so einiges zu tun. Morgen, okay?"
Zu einem solchen strahlenden Lächeln, wie sie ihm eines schenkte, konnte man nicht 'Nein.' sagen. Er gab sich einverstanden und ging mit heftigem Herzklopfen nach Hause. Er hatte sich zwar ein wenig mehr erhofft, doch wusste er auch dass es beim ersten Mal nie so richtig klappte, wie man wollte. Und erst recht nicht bei ihr. Er durfte froh sein, nicht dafür eine kassiert zu haben. Bei dem Gedanken musste er Lächeln. Nur drei Monate war es her, da hätte er ihr gerne eine gegeben.
Der nächste Tag war der erste im neuen Monat. Es waren nur noch zwei Monate bis Weihnachten. Und an jenem Abend würde er Anja ausführen. Ging es denn noch besser? Natürlich! Mit dem Basketball unterm Arm stolzierte er hinunter zum Basketballplatz, wo sie ihn schon erwartete. Eigentlich wollte er nur ein kurzes Spiel und dann gleich essen gehen, doch sie bat ihm immer wieder ein neues anzufangen. Es war 20.00 Uhr und sie hatten insgesamt vier Spiele bestritten. Kevin war verblüfft, wie gut er sich geschlagen hatte. Es stand 2-2.
"Ein Spiel noch. Gewinnst du, bleiben wir, gewinne ich, gehen wir."
"Hä?"
Mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen entriss sie ihm den Ball und punktete sogleich zum ersten Mal im neuen Spiel.
"Na gut."
So weit er das nun verstanden hatte, würden sie essen gehen, sollte sie gewinnen. Raffiniert. So musste er sie wohl oder übel gewinnen lassen. Doch das machte ihn wenig aus. Es gab, zumindest zu dem Zeitpunkt, keinen besseren Grund zu Verlieren.
Trotz der Niederlage im Hinterkopf, erbrachte der Junge eine ordentliche Leistung, die aber letztendlich, glücklicherweise, nicht zum Sieg führte. Lächelnd wandte er sich zu Anja, die etwas benommen zu Boden sah.
"Puh...gutes Spiel. Und nu lass uns essen gehen."
"Wieso hast du nicht so gespielt wie immer? Du hättest gewinnen können."
"Ich hab anders gespielt? Mag sein, bin ziemlich fertig."
"Nein...das stimmt nicht..."
"Was isn los mit dir...du zitterst ja...alles okay?"
"Ich...ich kann nicht mit dir essen gehen. Ich kann nirgendwohin mehr mit dir gehen. Wir ziehen wieder um! Es tut mir Leid! Tschüss!"
Sie rannte davon. Er sah er ihr mit einem leisen "Tschüss… " auf den Lippen nach. Geschah das alles wirklich oder war es nur ein Traum? Ein schrecklicher Traum, sollte es denn einer sein. Aber so konsequent konnte nur die Realität sein. Alles weg. Zerbrochen. Seine beste Freundin, seine Schwester im Geiste, seine Basketballkollegin. Das einzige was er zu spüren vermochte war der leere Schmerz in seinem Inneren und die leichte Nässe auf seiner Nase. Es hatte zu schneien begonnen.
Er wusste nicht was er dachte oder denken sollte. Wieso? Weshalb? Warum? Eine Antwort darauf würde er sowieso nicht bekommen. Würde ein Grund den Schmerz der Tatsache lindern? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts. Er wollte allein sein.
Erneut war er von einem Freund verlassen worden. Erneut blieb ihm nur der Basketball. Allein, mit seinem Ball. So spielte er am besten. Das war schon immer so. Er mochte es allein zu spielen. Selbst wenn Schnee das Feld, den Ball und ihn selbst bedeckte, solange er alleine war, alleine mit seinem Ball, störte ihn das alles nicht. Alles was er tun brauchte, war seinen Kopf frei machen von all den lästigen Gedanken und sich einfach nur auf den Ball zu konzentrieren...und werfen.
"Blöder Mist!"
Der Ball prallte am Ring ab. Ein erneuter Wurf.
"Scheiße!"
Das rote Geschoss flog gegen das Brett. Ein weiterer Versuch.
"Verdammt noch mal...verdammt, verdammt, verdammt!"
Der Basketball flog am Korb und Brett vorbei ins Gebüsch. Es wurde zunehmend windiger und der Schneefall hatte sich verstärkt. Langsam ließ er sich nach hinten fallen und traf dabei mit dem Hinterkopf auf den Beton. Ein dumpfer Schmerz, gefolgt von Übelkeit und einer undurchsichtigen Dunkelheit überwältigte ihn. Er wusste nicht wie lange er 'geschlafen' hatte, als er allerdings seine Augen wieder geöffnet hatte, war er von Kopf bis Fuß mit Schnee bedeckt. Doch das war es nicht, das ihn schlagartig aufspringen ließ. Eine dunkle Gestalt mit einem länglichen Gegenstand in der Hand stand vor ihm und beugte sich zu ihm hinunter. Er hatte keine Ahnung wie lange sie schon dort stand. Da er keinerlei Fußspuren im Schnee ausmachen konnte wurde ihm erst recht mulmig.
"Alles in Ordnung?"
Die Stimme des Unbekannten kam ihm seltsam bekannt vor. Als sie dann die Kapuze ihres schwarzen Mantels nach hinten warf, wusste er die sie auch einzuordnen.
"Anja! W-was machst du denn hier? Weißt du wie spät es is?"
"Nein, du?"
"Ähh...spät."
Der Junge musste das rasche Wiedersehen mit ihr erst verkraften. Er hatte eigentlich damit gerechnet sie nie wieder zu sehen. Er wollte sofort fragen was los sei, doch kam sie ihm zuvor.
"Frierst du nicht?"
Erst jetzt bemerkte er, dass er am ganzen Leib zitterte. Ihm war verdammt kalt.
"N-ne, geht schon."
"Du hättest hier erfrieren können."
Das dieses Mädchen ihm aber auch immer zuerst die unschöne Realität an den Kopf werfen musste.
"Ich doch net."
"Vielleicht hätte ich dich dann doch nicht mit meinem Zweig hier anpieksen sollen."
Er war also nicht von selbst aufgewacht. Langsam wurden auch ihm die Konsequenzen, hätte sie ihn nicht aufgeweckt, etwas unheimlich. Aber sie hatte ihn ja zum Glück 'gerettet' und, was viel wichtiger war, war wieder zu ihm zurückgekehrt.
"Naja...viel-"
"Komm mal her. Wir setzen uns auf die Bank, dann bekommst du auch etwas von meinem Mantel ab."
Kevin tat schweigend wie ihm geheißen, befreite gemeinsam mit dem Mädchen die Bank von dem Schnee und setzte sich. Darauf zog sie ihren Mantel aus, rutschte so nahe wie möglich an den Jungen heran und legte den Stoffmantel um die Schultern der beiden. Ihm stockte der Atem. Er wusste nicht was er sagen oder denken sollte. Er konnte ihren Atem an seinem Nacken spüren. Glücklicherweise würde sein knallrotes Gesicht in der Dunkelheit nicht allzu sehr auffallen.
"Wieso lagst du eigentlich bewusstlos auf dem Spielfeld?"
"Ich...äh...ich konnte nicht schlafen und hab dann eben weiter Basketball gespielt. Dabei bin ich dann wohl auf dem Schnee ausgerutscht und auf den Hinterkopf gefallen. Hehe..."
"Du konntest nicht schlafen...wieso?"
Wieso musste sie auch immer solche unangenehmen Fragen stellen? Konnte man das nicht zwischen den Zeilen lesen?
"Hehe...naja, da wir nichts essen gegangen sind hat ich nen zu großen Hunger und..."
"Zu großen Hunger, ja?"
Er seufzte leise.
"Eigentlich weiß ichs selber nich. Als du weggerannt bist, wusst ich net so recht was ich anfangen sollte, also hab ich weiter Basketball gespielt. Keine Ahnung...war wohl traurig und nen bisschen verstört vielleicht..."
Er meinte ein Lächeln bei ihr aufblitzen gesehen zu haben.
"Und wieso bist du hier?"
"Ich bin hier, weil es mir schwer fällt Abschied zu nehmen. Ich bin das ständige Umziehen gewohnt und es waren ja nur 3 Monate, aber dieses Mal fällt es mir besonders schwer."
Kevin wollte eigentlich etwas sagen, vergaß es im selben Moment als Anja ihren Mund schloss aber wieder. Er schwieg und wartete.
Das Warten hatte sich scheinbar ausgezahlt. Ohne etwas zu sagen schmiegte sich das Mädchen noch weiter an ihn heran. Er konnte ihr geschmeidiges Haar am Nacken und am Kinn und die Last ihres Kopfes auf der Brust spüren.
"Kevin...?"
"Hmm...?"
"Magst du mich?"
Sein Sprachzentrum brachte lediglich ein 'Wow!' hervor, das jedoch auf halben Wege zur Vertonung von seinem Verstand abgefangen wurde. Was sollte man darauf antworten? Natürlich mochte er sie...
"Ja, klar. Du bist voll cool und so. Ich find dich echt toll. Ja, ehrlich."
Wieder Schweigen.
"Wirst du mich vermissen?"
Schon wieder. Er war doch viel zu Nervös um irgendetwas zu sagen und dann kamen auch noch solche Fragen.
"Natürlich! Ich mein, mit wem soll ich denn jetzt spielen? Das wird echt scheiße ohne dich. Aber ich pack das schon irgendwie, denk ich. Hehe...heh..."
Eine erneute Stille wurde durch das Heulen des Windes unterbrochen. Der Schneefall hatte immer noch nicht aufgehört. Er bedeckte den Mantel Stück für Stück, bis auch er sich am einheitlichen weiß der Umgebung anpasste. Gerade als er froh war, seinen Herzschlag wieder einigermaßen unter Kontrolle bekommen zu haben, sprach das Mädchen ein weiteres Mal.
"Kevin, noch eine Frage."
"Okay..."
"Du musst mir aber versprechen ehrlich darauf zu antworten."
"Okay..."
Sie zögerte einen Moment.
"Liebst du mich?"
Er zögerte einen Moment.
"Ja, ich liebe dich."
"Ich dich auch."
Das nächste was er bewusst wahrnahm, war sein erster Kuss von seiner ersten und einzigen großen Liebe. Woher er das wusste? Er wusste es einfach. Wenn er auch vieles andere nicht verstand, so war er sich in dem nur umso mehr im Klaren. Mit der Zeit wurde seine Sicht etwas schwummrig und ihm fielen die Augen zu. Er merkte wie er kurz vor dem Einschlafen stand und er war sich bewusst, das dies ihr letzter gemeinsamer Moment sein könnte.
"Ich hab nur eine Frage…"
"Ja?"
"Werden wir uns wieder sehen?"
Das Mädchen schwieg und der Junge befürchtete, die Antwort nicht mehr mitzubekommen. Doch gerade als er dabei war in die Traumwelt zu entschwinden, flüsterte sie ihm etwas zu.
"Man trifft sich immer zweimal im Leben."
Als er wieder aufgewacht war, war er in dem schwarzen Mantel eingewickelt. Von Anja fehlte jede Spur. Stattdessen stand eine alte, hagere Gestalt vor der Bank. Ehe sie auch nur ihren Mund öffnete um die tobende Flut des Gemeckeres los zu lassen, wusste er um wen es sich hier nur handeln konnte. Es war seine Oma. Mit unverständlichen Dialekt teilte sie ihm üblicherweise ‚höflich’ mit, das die ganze Familie krank vor Sorge den Abend verbracht hatten und sie seit heute früh auf den Beinen war, um ihn zu suchen. Glücklicherweise verstand er nur jedes zweite Wort, was ihn dabei half, sie schlichtweg zu ignorieren. Er wusste ja, dass auch er seine Herkunft nicht verleugnen konnte, aber zumindest konnte man ihn noch halbwegs verstehen. Aber bei seiner Großmutter hatte er selbst er Probleme. Er meinte zwar, er sollte sie in Ruhe lassen, denn er sei (verständlicherweise) nicht in der Stimmung, doch sie packte ihn kurzer Hand am Kragen und schleppte ihn wieder zurück nach Hause, wo ihn ein heilloses Donnerwetter erwartete.
Ihm war das jedoch relativ egal. Sogar das Fehlen im Unterricht machte ihn kaum glücklicher. Er hatte anderes im Sinn. Lange Zeit verfluchte er sich dafür das letzte Spiel verloren zu haben. Er hatte erkannt, dass das ‚wir’ wohl sie und ihre Eltern beinhaltete. Als sich der Zorn seiner Familie wieder gelegt hatte erfuhr er noch durch seine Eltern einige Gerüchte über den plötzlichen Wegzug Anjas. Sie waren ja nicht umsonst ein Dorf. Man sagte sich, das die Firma, an die Anjas Eltern versetzt wurden, kurze Zeit später eine Menge Angestellte entlassen hatte, darunter waren auch die beiden. Doch der eigentliche Grund des Umzugs soll die Tochter gewesen sein. Sie sagten, dass sie kaum Freunde hatte, da sie in der Schule wegen ihres Norddeutschen und ihrer korrekten Aussprache gehänselt wurde. Ihm war nie etwas aufgefallen und um sich kein schlechtes Gewissen zu machen, tat er es einfach als falsches Gerücht ab. Letztendlich war die Entscheidung bei ihm gelegen und er hatte sie weggeschickt…

Nun war er schon 19 Jahre alt. Er hatte dieses Jahr sein lang ersehntes Abitur geschafft und hatte sich seitdem frei genommen. Die Bundeswehr hatte sich glücklicherweise noch nichts von sich hören lassen, was ihm noch genügend Gelegenheit gab, sich von 13 Jahren Schule zu erholen. Danach würde er sich Gedanken über seine Zukunft machen müssen. Aber darin war er noch nie gut. Also hatte er sich schon seit einer ganzen Weile entschlossen etwas zu studieren, was ihm lag. Er wagte irgendwie immer noch nicht den Sprung in die Arbeitswelt.
Doch er wollte sich darüber jetzt keine Gedanken machen. Er war nun endlich, wenn auch nur eine kurze Zeit lang, frei von allen Verpflichtungen. Er konnte tun und lassen was er wollte. Und das tat er auch.
Er nahm den Ball fest in beide Hände. Sein Blick verharrte einige Momente am Korb. Er wartete. Wartete auf den richtigen Moment und sprintete dann los. Er war auf eine direkte Konfrontation mit dem Korb aus. Er umschlang den Basketball mit der rechten Hand, holte mit dem Arm weit aus, sprang und knallte den Ball in den Ring. Leider vergaß er vor lauter Freude jedoch sich festzuhalten und fiel somit ungebremst auf den Hintern. Allerdings hielt ihn das keineswegs vom Grinsen ab. All die Jahre…und heute hatte er es geschafft. Er konnte es nicht fassen. Er hatte es tatsächlich geschafft…
Ein leises Klatschen hinter ihm erregte seine Aufmerksamkeit.
"Du hast es also endlich geschafft. Gute Arbeit."
Als er sich aufrichtete und sich nach der fremden Gestalt umdrehte verschlug es ihm den Atem. Sie war größer, hatte nun schulterlanges Haar und ihre Stimme hatte sich etwas verändert, aber wusste sofort wer da vor ihm stand.
"Anja…?"
Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln und bejahte mit einem Nicken.
"Wie ich sehe hast du fleißig geübt."
Kevin kratzte sich wie auch damals verlegen am Hinterkopf. Kurz darauf zierte sein Gesicht aber wieder ein breites Grinsen und er hob den Ball wieder auf, um ihn kurzer Hand seinem Gegenüber zuzuwerfen.
"Probiers aus."