Winthor I.
22.09.2010, 19:01
Moin,
wir haben heute im Unterricht ein paar ziemlich interessante Texte von Friedrich Dürrenmatt bekommen, in denen er seine Weltsicht erläutert:
[...] Meine wichtigste Abwandlung ist die Frage: Wagen wir das Labyrinth zu verlassen? Der Gefangene im Labyrinth wagt nämlich nicht, es zu verlassen, weil er die Wahrheit nicht zu untersuchen wagt: Bin ich ein Gefangener oder ein Wärter in diesem Labyrinth? [...] Ich glaube, dass die Wissenschaft, indem sie das Labyrinth nachbaut, zu neuen Labyrinthen kommt. Sie steigert gewissermaßen das Labyrinthische. Das heißt, sie weitet sich aus, aber die Kompliziertheit des Labyrinths wächst.
Aus: Friedrich Dürrenmatt: Die Welt als Labyrinth. Ein Gespräch mit Franz Kreuzer. Wien 1982. S. 41 ff. Copyright 1986 Diogenes Verlag AG Zürich
Die Welt ist in Unordnung, und weil sie sich in Unordnung befindet, ist sie ungerecht. [...] Ideologien sind Ausreden, an der Macht zu bleiben, oder Vorwände, an die Macht zu kommen. Aber die Macht kann nur mit den Mitteln der Macht behauptet oder erobert werden: mit der Gewalt. So rechtfertigen Ideologen nicht nur die Macht, sie verklären auch die Gewalt, mit deren Opfern sie nachträglich wie Beerdigungsinstitute verfahren: Sie richten her, was sie hingerichtet haben. [...] Die beiden Gesellschaftsformen, die wir heute vorfinden, haben als bloße Ordnungssysteme der Macht ihre eigenen Ideologien, an denen sie festhalten, dermaßen verraten, dass die Rebellion gegen sie nur noch Recht haben kann, was nicht ausschließt, dass sie nicht stets das Rechte tut. [...]
Doch je komplizierter ein Staat wird, desto komplizierter wird die Durchführung der Demokratie [...]. Ein Land muss nicht nur regiert, es muss auch verwaltet werden. Es sind nicht nur Beschlüsse zu fassen, sie sind auch zu verwirklichen: Die Politik setzt sich aus Politikern zusammen, die die Politik beschließen, und aus Beamten, die die Politik durchführen. [...] Die Struktur der modernen Gesellschaft, in der ein jeder irgendwie ein Angestellter ist, arbeitet der Demokratie entgegen. Ein jeder ist gewohnt, sich verwalten zu lassen. Die Demokratie setzt jedoch Kritik voraus und die Angewohnheit, der Regierung auf die Finger zu sehen. Ein Parlament hingegen, das nur aus Beamten und Funktionären besteht, kommt in Versuchung, dem Volke vorzuschreiben, wie es zu sein hat [...].
Gesellschaftsordnungen sind nicht nur hinsichtlich der Gerechtigkeit, sondern auch auch hinsichtlich der Freiheit aufgrund ihrer Emotionen an sich Fehlkonstruktionen, oder, anders formuliert, Gesellschaftsordnungen sind ungerechte und unfreie Ordnungen, die wir errichten müssen, um überhaupt Ordnungen zu haben, weil wir zu einer rein vernünftigen Politik durch die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur nicht fähig sind. Noch böser: Es gibt keine gerechte Gesellschaftsordnung, weil der Mensch, sucht er Gerechtigkeit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als ungerecht, und sucht er Freiheit, mit Recht jede Gesllschaftsordnung als unfrei empfinden muss.
[...] Ich habe nichts gegen Gesellschaftsordnungen, die partiell vernünftig sind, ich weigere mich nur, sie heilig zu sprechen und den gewaltigen Rest ihrer Unvernunft und ihrer Tabus als gottgegeben hinzunehmen: ich halte halbwegs vernünftige Gesellschaftsordnungen für verbesserungswürdig. [...] Ich halte Revolutionen oft für sinnvoll, oft für sinnlos. In Südamerika zum Beispiel kann ich mir durchaus eine sinnvolle Revolution vorstellen, während in hoch industrialisierten Staaten mit einem riesigen Verwaltungsapparat, mit einer eng verflochtenen Wirtschaft und mit einem hohen Lebensstandard Revolutionen wahrscheinlich sinnlos sind, sinnlos darum, weil sie nur scheinbar wären, der Verwaltungsapparat müsste übernommen, ja noch zu einem noch abenteuerlicheren Gebilde aufgebaut werden, die Kompromisse wären zwangsweise derart, dass sich am Ende die Revolution nicht für die Masse, sondern bloß für die Köpfe der Revolutionäre lohnte: für ihre Einbildung, eine Revolution durchgeführt zu haben. [...]
Die Gerechtigkeit ist zweifellos etwas Grandioses, Niezuerreichendes, doch dann handkehrum eine selbstverständliche Kleinarbeit. Das ist natürlich kein Trost. Aber die Hoffnung bleibt, dass die Entwicklung der Menschheit und die Notlage, in die sie dabei gerät, den Menschen zur Vernunft zwingt. Das Verfluchte dabei ist nur, dass uns vielleicht verdammt wenig Zeit dazu übrig bleibt.
Aus: Friedrich Dürrenmatt: Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der Politik. Zürich 1969. In: Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe. Bd. 27. Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte und Reden, S. 36 - 107. Copyright 1986 Diogenes Verlag AG Zürich
Der heutige Staat ist jedoch unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden [...]. Der Staat hat seine Gestalt verloren, und wie die Physik die Welt nur noch in mathematischen Formeln wiederzugeben vermag, so ist er nur noch statistisch darzustellen. Sichtbar, Gestalt wird die heutige Macht nur etwa da, wo sie explodiert, in der Atombombe. [...]
Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie [...] eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist wie die unsrige. [...]
In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. [...]
Gewiss, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen.
Aus: Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme. Zürich 1955. In: Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe. Bd. 24. Theater. Essays, Gedichte und Reden. Zürich 1980. S. 31 - 72. Hier S. 59 ff. Copyright 1986 Diogenes Verlag AG Zürich
Ich hoffe, ihr lasst euch von diesem Batzen nicht abschrecken. :D
Wenn nicht, dann sagt doch mal, was eure Meinung zu seinen Aussagen ist.
(Für Rechtschreibfehler oder so entschuldige ich mich.)
wir haben heute im Unterricht ein paar ziemlich interessante Texte von Friedrich Dürrenmatt bekommen, in denen er seine Weltsicht erläutert:
[...] Meine wichtigste Abwandlung ist die Frage: Wagen wir das Labyrinth zu verlassen? Der Gefangene im Labyrinth wagt nämlich nicht, es zu verlassen, weil er die Wahrheit nicht zu untersuchen wagt: Bin ich ein Gefangener oder ein Wärter in diesem Labyrinth? [...] Ich glaube, dass die Wissenschaft, indem sie das Labyrinth nachbaut, zu neuen Labyrinthen kommt. Sie steigert gewissermaßen das Labyrinthische. Das heißt, sie weitet sich aus, aber die Kompliziertheit des Labyrinths wächst.
Aus: Friedrich Dürrenmatt: Die Welt als Labyrinth. Ein Gespräch mit Franz Kreuzer. Wien 1982. S. 41 ff. Copyright 1986 Diogenes Verlag AG Zürich
Die Welt ist in Unordnung, und weil sie sich in Unordnung befindet, ist sie ungerecht. [...] Ideologien sind Ausreden, an der Macht zu bleiben, oder Vorwände, an die Macht zu kommen. Aber die Macht kann nur mit den Mitteln der Macht behauptet oder erobert werden: mit der Gewalt. So rechtfertigen Ideologen nicht nur die Macht, sie verklären auch die Gewalt, mit deren Opfern sie nachträglich wie Beerdigungsinstitute verfahren: Sie richten her, was sie hingerichtet haben. [...] Die beiden Gesellschaftsformen, die wir heute vorfinden, haben als bloße Ordnungssysteme der Macht ihre eigenen Ideologien, an denen sie festhalten, dermaßen verraten, dass die Rebellion gegen sie nur noch Recht haben kann, was nicht ausschließt, dass sie nicht stets das Rechte tut. [...]
Doch je komplizierter ein Staat wird, desto komplizierter wird die Durchführung der Demokratie [...]. Ein Land muss nicht nur regiert, es muss auch verwaltet werden. Es sind nicht nur Beschlüsse zu fassen, sie sind auch zu verwirklichen: Die Politik setzt sich aus Politikern zusammen, die die Politik beschließen, und aus Beamten, die die Politik durchführen. [...] Die Struktur der modernen Gesellschaft, in der ein jeder irgendwie ein Angestellter ist, arbeitet der Demokratie entgegen. Ein jeder ist gewohnt, sich verwalten zu lassen. Die Demokratie setzt jedoch Kritik voraus und die Angewohnheit, der Regierung auf die Finger zu sehen. Ein Parlament hingegen, das nur aus Beamten und Funktionären besteht, kommt in Versuchung, dem Volke vorzuschreiben, wie es zu sein hat [...].
Gesellschaftsordnungen sind nicht nur hinsichtlich der Gerechtigkeit, sondern auch auch hinsichtlich der Freiheit aufgrund ihrer Emotionen an sich Fehlkonstruktionen, oder, anders formuliert, Gesellschaftsordnungen sind ungerechte und unfreie Ordnungen, die wir errichten müssen, um überhaupt Ordnungen zu haben, weil wir zu einer rein vernünftigen Politik durch die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur nicht fähig sind. Noch böser: Es gibt keine gerechte Gesellschaftsordnung, weil der Mensch, sucht er Gerechtigkeit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als ungerecht, und sucht er Freiheit, mit Recht jede Gesllschaftsordnung als unfrei empfinden muss.
[...] Ich habe nichts gegen Gesellschaftsordnungen, die partiell vernünftig sind, ich weigere mich nur, sie heilig zu sprechen und den gewaltigen Rest ihrer Unvernunft und ihrer Tabus als gottgegeben hinzunehmen: ich halte halbwegs vernünftige Gesellschaftsordnungen für verbesserungswürdig. [...] Ich halte Revolutionen oft für sinnvoll, oft für sinnlos. In Südamerika zum Beispiel kann ich mir durchaus eine sinnvolle Revolution vorstellen, während in hoch industrialisierten Staaten mit einem riesigen Verwaltungsapparat, mit einer eng verflochtenen Wirtschaft und mit einem hohen Lebensstandard Revolutionen wahrscheinlich sinnlos sind, sinnlos darum, weil sie nur scheinbar wären, der Verwaltungsapparat müsste übernommen, ja noch zu einem noch abenteuerlicheren Gebilde aufgebaut werden, die Kompromisse wären zwangsweise derart, dass sich am Ende die Revolution nicht für die Masse, sondern bloß für die Köpfe der Revolutionäre lohnte: für ihre Einbildung, eine Revolution durchgeführt zu haben. [...]
Die Gerechtigkeit ist zweifellos etwas Grandioses, Niezuerreichendes, doch dann handkehrum eine selbstverständliche Kleinarbeit. Das ist natürlich kein Trost. Aber die Hoffnung bleibt, dass die Entwicklung der Menschheit und die Notlage, in die sie dabei gerät, den Menschen zur Vernunft zwingt. Das Verfluchte dabei ist nur, dass uns vielleicht verdammt wenig Zeit dazu übrig bleibt.
Aus: Friedrich Dürrenmatt: Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der Politik. Zürich 1969. In: Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe. Bd. 27. Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte und Reden, S. 36 - 107. Copyright 1986 Diogenes Verlag AG Zürich
Der heutige Staat ist jedoch unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden [...]. Der Staat hat seine Gestalt verloren, und wie die Physik die Welt nur noch in mathematischen Formeln wiederzugeben vermag, so ist er nur noch statistisch darzustellen. Sichtbar, Gestalt wird die heutige Macht nur etwa da, wo sie explodiert, in der Atombombe. [...]
Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie [...] eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist wie die unsrige. [...]
In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. [...]
Gewiss, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen.
Aus: Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme. Zürich 1955. In: Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe. Bd. 24. Theater. Essays, Gedichte und Reden. Zürich 1980. S. 31 - 72. Hier S. 59 ff. Copyright 1986 Diogenes Verlag AG Zürich
Ich hoffe, ihr lasst euch von diesem Batzen nicht abschrecken. :D
Wenn nicht, dann sagt doch mal, was eure Meinung zu seinen Aussagen ist.
(Für Rechtschreibfehler oder so entschuldige ich mich.)