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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Der gestohlene Vater



Dark_Cow
10.11.2005, 14:08
Menschenraub

Weinend kniete Sophie Rieux am Sterbebett ihres Vaters. Sie hielt die Hand des Alten in der ihren. Schon seit 10 Minuten verweilte sie nun so. Kein Wort war in dieser Zeit gefallen, kein einziges. Langsam legte ihr Vater seine zweie Hand zu Maya. Mit seinen letzten Kräften fing er an zu sprechen: „Sophie mein Kind. Hör mir gut zu!“ Sophie blickte schmerzhaft auf und schaute ihn mit ihren verweinten Augen an. „Ich habe einen einzigen letzen Wunsch.“ Setzte er an. „Du weißt, dass ich in Frankreich geboren wurde und du weißt auch, dass dort alle meine verstorbenen Familienmitglieder in der Familiengruft ruhen. Es gibt dort einen kleinen Altar mit einer runden Einprägung. Man erblickt dort das Familienwappen und einst, bevor sie bei einem Ritual eines Geheimbundes zerstört worden ist, auch eine Bouteille de Rieux.“ „Du meinst eine Flasche unseres kostbaren Familienweines?“ flüsterte Sophie heiser. „Ja, genau den meine ich. Leider gibt es nur noch wenige Flaschen von ihm, weil meine Vorgeneration kein Mädchen gezeugt hatte, die die Firma hätte übernehmen können. Mein letzter Wunsch ist es, dass du mich in die Familiengruft bringst und dass auf dem Altar wieder eine Bouteille de Rieux steht, so wie es früher war. So bitte ich dich, meine liebe Sophie, eine dieser kostbaren Flaschen zu besorgen und sie an ihre rechtmäßigen Platz zu stellen. Erst dann kann ich in Frieden ruhen.“ Sophie nickte stumm und senkte ihren Kopf. „Doch...“ begann ihr Vater abermals „engagiere bitte kein Bestattungsinstitut. Nur meine engsten Familienmitglieder dürfen die Gruft betreten und da nur du mir übrig geblieben bist.“ „Aber Vater, was soll ich den sonst...oder willst du etwa...“ Sophie stutzte. „Ja mein Kind. Ich bitte dich! Bring mich über die französische Grenze nach Orléans und leg’ mich in die Familiengruft.“ Stille. 5 Minuten später kam Sophies Antwort: „ Ja, Vater. Wenn so dein Wunsch lautet, dann will ich dir diese Ehre erweisen und ihn erfüllen.“
Mit einem Lächeln im Gesicht klappten sich die Lider des Alten langsam zu. Sophie weinte bitterlich. Noch mindestens zwei Stunden kniete sie verlassen und einsam dort und gedachte ihrem geliebten Vater.
24 Stunden später saß Sophie in ihrem gelben Käfer aus dem Jahre 1952 und tuckerte in Richtung Frankreich. Vor ihr war die schier endlos lange Straße, hinter ihr ein drängelnder Opel und neben ihr ruhte der Alte, den sie eine Stunde zuvor noch mühsam in den Sitz bugsiert hatte. Sie schaute auf die Straße und erinnerte sich an ihre Kindheit. Ihr Herz wurde schwer und schwerer. So fuhr sie bis 22:15 Uhr mit einem Mann im Auto, der schon so lange geschlafen hatte, dass ein normaler Mensch danach mindestens 3 Tage lang kein Schlaf mehr benötigt hätte. 22:16 Uhr erblickte sie in der Ferne die Grenze zu Frankreich. Plötzlich entdeckte sie einen Parkplatz. Sophie riss das Steuer nach rechts und erwischte im letzten Augenblick noch die Einfahrt zum Parkplatz. Vorsichtig parkte sie in einer der 100 freien Lücken ein. Außer ihr standen noch 3 LKWs dort. Da ihr LKW-Fahrer schon immer etwas suspekt waren, verriegelte sie die Autotüren. Behutsam klappte sie den Sitz ihres Vaters zurück doch sogleich klappte sie ihn - aus biologischen Gründen- wieder zurück. Dann brachte sie sich in eine angenehme Lage und schaltete die Innenbeleuchtung des Käfers aus.
Am nächsten morgen wachte Sophie schon sehr früh auf. Der Alte schief immer noch. „Er war schon immer ein Morgenmuffel“ dachte sie sich. Sie entriegelte die Türen des Autos und ließ den Motor an. Obwohl sie aus gutem Hause kam und daher gut erzogen war, achtete sie an diesem Tag nicht auf Hygiene. Sie kämmte sich nur kurz die Haare und ließ dann den Motor an. Kurze Zeit später hatten sie und ihr Beifahrer den Parkplatz verlassen. „Jetzt kommt der schwierige Teil der Fahrt.“ Ging es Sophie durch den Kopf. Angespannt fuhr sie zu Deutsch-Französischen Grenze.
Alle Autos vor ihr wurden ohne Kontrolle durchgewiesen. „Ruhig bleiben. Du bist ein ganz normaler Tourist. Ganz ruhig!“ Sie lächelte den Grenzbeamten zu, doch das machte den Grenzer misstrauisch und er hielt sein Stopschild vor Sophies Frontscheibe.
« Bonjour, Madame. Parlez vous français? »
« Bonjour ! Je ne parles pas français. Ne pas bien.»
Antwortete Sophie der Einfachheit halber.
Sie ärgerte sich, dass ausgerechnet sie angehalten worden war.
„Bitte zeigen sie mir ihren Ausweis und ihre Papiere!“ forderte der Grenzer sie mit französischem Akzent auf. Sie kramte in ihrer Tasche und holte beides heraus. Sophie reichte es dem Grenzbeamten. Dieser kontrollierte gewissenhaft ob alles in Ordnung war. Inzwischen hatte sich hinter dem gelben Käfer ein kleiner Stau aufgebaut. „Merci!“ bedankte sich der Franzose und gab die Scheine de Besitzerin zurück. Nun fiel sein Blick auf Sophies Beifahrer. „Monsieur, ihren Ausweis bitte auch!“ Sophie erschrak: „Ähm...er schläft. Er ist sehr krank. Sie sehen ja wie blass er ist. Ich bin froh, dass er endlich mal ein bisschen schläft. Warten sie kurz ich geb’ ihnen seinen Ausweis.“ Sie kramte abermals in ihrer Handtasche, diesmal ziemlich aufgeregt. Ihr Herz pochte wild.
Kurze Zeit später hielt ihr der Beamte den Ausweis des Alten mit einem freundlichen „Merci, beaucoup!“ entgegen. Er winkte den gelben Käfer durch und rief: „Au revoir!“ Sophie war nicht im Stande zu antworten. Sie drückte aufs Gaspedal und mit einem Reifenquietschen begrüßte sie Frankreich.
Nach 1 Stunde Fahrt kam sie bei der Brücke von Metz an die zur Überquerung der Moselle dient. Sie benutze die Brücke genau aus diesem Grund und kam eine Stunde später an der nächsten Brücke an. Mit Hilfe dieser entkam sie dem Nass der Meuse. Noch etwa 8 Stunden fuhr sie durch die Pampa Frankreichs und sah Städte, Felder, Wiesen und Flüsse.
Plötzlich erschien Orléans in greifbarer Nähe. Sophie ließ ihren Käfer aufheulen und „raste“ mit Tempo 90 ihrem Ziel entgegen.
Plötzlich, kurz nach den Stadttoren Orléans, senkte sich ihr rechter Fuß auf das Bremspedal. Glücklicherweise hatte der Fahrer hinter ihr eine große Lücke gelassen und konnte rechtzeitig bremsen. Kurz darauf erklang ein lautes Hupen, das Auto scherte aus und überholte Sophies Käfer. Der Grund für ihre überraschende Bremsaktion war das Schaufenster eines kleinen Antiquitätenladens. Dort stand doch tatsächlich eine unberührte Bouteille de Rieux. Sophie traute ihren Augen nicht. Sie parkte ihren 52er, obwohl sie eine Frau war, rückwärts und unfallfrei in eine Parklücke ein. Hektisch stieg sie aus und knallte die Tür zu. Sie warf noch kurz einen Blick auf ihren Vater und entschuldigte sich in Gedanken für das Knallen der Tür bei ihm, denn er hatte dieses Geräusch verabscheut. Er pflegte immer zu sagen: „ Das ist doch kein Panzer!“
Sophie entriss sich ihrer Gefühlsduselei um keine Zeit zu verlieren. Sie stürmte zu Schaufenster des kleinen Ladens und presste ihre wohlgeformte Nase gegen sie. „Wahrhaftig,“ durchfuhr es sie „ eine geschlossene Flasche unseres Familienweines.“
Das Klingeln der Glöckchen kündigten dem Ladenbesitzer die Ankunft der Kundin an. Er trat aus dem Schatten eines riesigen Bücherregal hervor und positionierte sich hinter der Ladentheke. Seine freundlichen Augen musterten Sophie ausgiebig. „Bonjour. Monsieur.“ Fing sie das Gespräch an. „Bonjour!“ gab der Mann hinter der Theke zurück. „ Parler vous Allemande?“ „ Ja, was wünschen sie?“ Sophie dachte über ihre Wortwahl nach. „Ich hab in ihrem Schaufenster eine Flasche gesehen.“ „Die Bouteille de Rieux?“ „Ja, genau! Ich würde sie gerne haben. Es ist sehr wichtig für mich!“
„Tut mir leid. Die ist leider unverkäuflich.“
„Ich gebe ihnen was sie wollen! Ich bitte sie“ flehte Sophie den Ladenbesitzer an.
Eine dreiviertel Stunde und viele Argumente später spazierte Sophie Rieux mit der Flasche Wein unter dem Arm aus dem kleinen, unscheinbaren Antiquitätenladen, dessen Besitzer für den nächsten Monat ausgedient hatte, heraus.
Sie blickte umher. Sie schaute noch mal. Sie schaute noch mal und sie schaute noch mal. Da war nichts. Vor allem kein Auto. Kein gelber Käfer. Kein 52er. Sie schloss ihre Augen, sie zwickte sich einmal in den Arm und öffnete ihre Augen wieder. Es war immer noch keines da. „Hast du das Auto nicht genau hier geparkt. Bist du jetzt schon durchgeknallt? Konzentrier dich! Wo hast du das Auto hingestellt? ...... Genau hier!“ Erst jetzt verstand sie. Jetzt war es ihr klar. Das Auto und ihr Vater wurden GESTOHLEN. Sophie Rieux brach zusammen.
Als sie wieder aufwachte sah sie weiße, kahle Wände. Ein Mann beugte sich über sie und faselte irgendetwas. Das einzige was sie verstand war ihr Name. Man hatte Sophie nach ihren Zusammenbruch in ein Krankenhaus gebracht. Schon am nächsten Tag beantragte sie ihre Entlassung und da keiner etwas dagegen einzuwenden hatte, durfte sie gehen. Sophie griff nach ihrem Mantel und verließ völlig desorientiert das Krankenhaus. Sie torkelte durch Orléans und irgendwann kam sie, ohne zu wissen wie, an der Familiengruft der Rieux an. Sie holte den großen, alten Schlüssel aus ihrer Manteltasche hervor und steckte ihn in das verrostete Schloss. Das Tor ließ sich geschmeidig öffnen.
Sophie hob die Bouteille de Rieux, welche sie die ganze Zeit wie ihr eigenes Leben geschützt hatte, auf den Altar. Dann brach sie zusammen.
Niemand hat dir Gruft je wieder betreten.